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anderswolf Reißwolf
Beiträge: 1069
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11.09.2022 19:00 Der AufbruchprEisberg 2022 von anderswolf
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Warum schreiben wir?
Hoffentlich schreiben wir, weil wir es können.
Vielleicht schreiben wir, weil wir schreiben wollen.
Manchmal schreiben wir, weil wir schreiben müssen.
Warum auch immer wir schreiben: Wenn wir es tun, zeichnen wir ein Bild der Welt, in der wir leben. Nicht immer ist dieses Bild akkurat, schön anzusehen oder überhaupt bewusst zu erfassen. Wie ein Text was in uns anrichtet, ist nicht immer zu verstehen.
In dieser zehnten Ausgabe des "Zehn Tage, zehntausend Zeichen"-Wettbewerbs vergeben wir den Aufbruchpreis nach unserer neuen Lesart: E wie Eisberg. Wir wollen damit eine Geschichte auszeichnen, die schwerelos wie ein Eisberg auf dem Wasser zu schwimmen scheint, tatsächlich aber tief hinabreicht in die Tiefen menschlichen Erlebens und nuanciert etwas über die Welt aussagt, die wir kennen, aber nicht ohne weiteres erkennen.
Der Aufbruchpreis 2022, der Schillernde Eisberg unerwarteter Tiefe geht an
Schmetterlinge von holg
Im Herbst, als alle Wespen irgendwohin verschwunden waren, habe ich
das Nest heraus geporkelt und gemeinsam mit den Kindern untersucht.
Wir konnten uns gar nicht sattsehen an dieser filigranen Papierblume, die
wie so vieles in der Natur gerade mal eine Saison Bestand hatte.
Natürlich könnte hier eine Laudatio folgen, tatsächlich ist aber schon alles gesagt: sleepless_lives hat Folgendes geschrieben: | Oh, Schreck, jemand hat es gewagt und schreibt über Schmetterlinge. Da ist der Sieg ja eigentlich garantiert. |
Dem wollen wir uns anschließen. Herzlichen Glückwunsch. Schönen Abend noch.
Nein? Das ist Euch als Erklärung zu einfach, zu oberflächlich gedacht, zu bequem für die Orga, sich aus ihrer Verantwortung herauszustehlen?
Na gut, dann nehmt das:
Schmetterlinge ist ein Text über das Vergehen der Zeit und die eigene Vergänglichkeit in dieser vergehenden Zeit. Ein Text aber auch über die Menschheit in einer Welt, die sich schneller verändert als die Menschheit aufzuholen noch in der Lage ist.
Selbst schuld, darf man denken, schließlich vernichten die Menschen wie zerstörerisch gefräßige Monsterchen alles, was ihnen angeboten wird, und lassen nichts zurück außer dem, was sie nicht gebrauchen können. Wir begraben Nutzflächen unter Pflaster und Beton, überschottern Grünflächen und fällen Bäume, weil sie uns im Weg sind. Wir streben nach dem weiten Blick, nach der Aussicht auf die Zukunft und die Sonne, erinnern uns aber nicht an Ikarus, der seine Nähe zur Sonne mit dem Leben bezahlt hat.
Aber so weit sind wir ohnehin noch nicht.
Schmetterlinge ist die Geschichte eines vorerlebten Urlaubs. Eine langweilig klassische Familie (Vater, Mutter, Tochter, Sohn) wird für zwei Monate ein Ferienhaus beziehen und die üblichen Familie-im-Urlaub-Dinge erledigen: Es wird gegrillt werden, auf den See hinausgefahren, spaziert, gespielt, gelesen, mit der einen Familie aus der Nachbarschaft wird sich angefreundet, ein anderer Nachbar wird überraschend zum Erzfeind, der das Fahrrad, das Boot, das Auto sabotiert; eine Eskalation, die in einer gebrochenen Hand resultieren wird.
Und dann, zwischendurch, wird geschaukelt. Dies ist ein schlüssiges Bild für uns in unserer Zeit: Die goldene Mitte zwischen Vor- und Rückschwung, der Moment größter Geschwindigkeit, die unhaltbare Gegenwart rast an uns vorbei, während wir zwischen Vergangenheit und Zukunft pendeln, unsere Gedanken irgendwie immer irgendwo, nur nicht da, wo wir gerade sind. Wo wir jetzt sind. Wo wir sein wollen.
In der Gegenwart geliebter Menschen planen wir schon den nächsten Urlaub oder erinnern uns an den Streit mit dem Nachbarn. Statt die unerwartete Umarmung des Sohnes zu spüren, stellen wir uns die Frage: Wie lange wird das wohl noch so sein? Wird das wieder verschwinden, wird das wiederkommen? Und wie lange ist es her, dass die Kinder so jung waren, dass sie die Nähe zu den Eltern nicht gescheut, sondern gesucht haben?
Schmetterlinge ist ein Anachronismus. Denn diese goldene Zeit der Ferien ist, freundlich ausgedrückt, naiv. Wie sorglose Schmetterlinge taumeln die Menschen von einem Wohlfühlmoment zum nächsten, selbst die nachbarschaftliche Eskalation wird irgendwie weggelächelt. Beneidenswert idyllisch mutet das an in einer Zeit, in der Idylle irgendwie aus ist. Der Text beschreibt eine geliehene Welt, ausgeborgt aus diesem anderen Hosenbein der Zeit, wo aus unerfindlichen Gründen nicht alles komplett am Abgrund steht (oder schon einen Schritt weiter ist).
Denn wer nicht gerade die letzten Tage, Wochen, Monate, Jahre unter einem Stein verbracht hat, wird mitbekommen haben, dass der Frieden dieser Welt irgendwie abhandengekommen ist. Die Zeit, in der wir Schmetterlinge sein konnten, mit uns selbst zufrieden, ja vielleicht sogar selbstvergessen; diese Zeiten sind einfach vorbei.
Das sagt der Text natürlich nur am Rande (oder in angedeuteten Spiegelungen). Der Ukrainekrieg, die Geflüchteten, eine Anspielung auf die Klimakrise: alles irgendwie weit weg, eigentlich auch uninteressant für Menschen im Urlaub. Und so schwebt Schmetterlinge im Irrealis einer sich nur selbst vergewissernden Zukunft, als ob es diese Zukunft tatsächlich noch geben könnte, als ob uns die letzten Jahre und Monate und Wochen, ja selbst die letzten Tage nicht gelehrt hätten, dass Voraussagen, Pläne, Erwartungen eigentlich nur dazu da seien, unterlaufen, über den Haufen geworfen und durchkreuzt zu werden. Wir sitzen auf der Schaukel der Zeit und blicken mal von weit oben, mal von nicht ganz unten auf die Welt hinab und sehen doch nie das ganze Bild. Immer nur das, was im Vorbeirauschen des eben gegenwartigsten Moments gerade nicht mehr greifbar ist.
So weit sind wir nämlich schon.
Schmetterlinge beschreibt einen Sommer, der sich schon nach Herbst anfühlt, beleuchtet eine Zeit, die schon zu Ende gegangen ist. Die Familie, ihrem goldenen Zeitalter schon entwachsen, klammert sich noch an die alten Rituale des Urlaubs. Aber das viele Futur zeigt: die Veränderung lässt sich nicht aufhalten, das was bleiben soll, ist schon längst vergangen.
Der hohe Sommer ist sowas von vorbei, der Herbst des Lebens ist längst eingezogen, wer jetzt noch ein Haus auszuräumen hat, der wird bis ans Lebensende beschäftigt sein, weil es mehr Kram im Leben gibt als Leben für diesen Kram. Plötzlich, denkt man, ist alles vorbei, der Text und die Kindheit, und aus den Monaten, in denen ein Roman entstehen sollte, ist ein Leben geworden, das für einen ganzen Roman vielleicht schon keinen Raum mehr hat. Und zurück bleibt die Sehnsucht nach einer verlorenen Zeit, die irgendwie doch in der Zukunft hätte liegen sollen.
Schmetterlinge ist ein ganzes großes Memento Mori, das zu spät kommen wird, weil die Zeit selbst für diejenigen nicht anhält, die das Einmalige ihres Verstreichens vorausahnen. Lakonisch und unprätentiös, still geschrieben, sentimental in die Zukunft greifend und um das Verlorene wissend, obwohl es noch gar nicht verloren ist. Vielleicht sich selbst bewusst, dass diese ganze große Selbstlüge von Wird-schon-gut-gehen in sich zusammenfallen wird.
Hermann Hesse hat Folgendes geschrieben: | Das Amt des Dichters ist nicht das Zeigen der Wege, sondern vor allem das Wecken der Sehnsucht. |
holg, mit Schmetterlinge hast du in uns eine bittere Sehnsucht geweckt nach den naiven Tagen des Sommers. Danke.
Außerdem bedanken wir, anderswolf und hobbes, uns bei allen Menschen, die sich an und in diesem Wettbewerb beteiligt haben. Es hat uns viel Spaß gemacht und mitunter auch in Hochspannung versetzt, den Wettbewerb mal von einer anderen Seite zu sehen.
Wir bedanken uns auch für die aufmunternden und lobenden Worte während dieses Wettbewerbs, die wir wahrgenommen haben, von denen wir uns aber nicht zu sehr beeindrucken lassen wollten (Spoiler: sie haben uns sehr wohl bewegt).
Wir bedanken uns vor allem bei sleepless_lives und Bananenfischin, die nicht nur den Zehntausender-Wettbewerb durch die letzten zehn Jahre getragen haben, sondern uns auch jetzt mit Rat und Tat zur Seite gestanden haben.
Und dann bleibt uns jetzt eigentlich nur noch, Onkel Günther ans DJ-Pult zu stellen und die Musik laut aufdrehen zu lassen, damit wir endlich, endlich, endlich (und vielleicht ein letztes Mal) tanzen können! Wer was von der Bar will, bedient sich bitte selbst!
Vielen Dank für einen wundertollen Wettbewerb euch allen!
Euer Orgateam
anderswolf und hobbes
PS: Bei allen Gewinnys melden wir uns per PN, um alle weiteren Details zu besprechen.
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holg Exposéadler
Moderator
Beiträge: 2396 Wohnort: knapp rechts von links
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11.09.2022 19:05
von holg
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Danke.
Ich weine.
_________________ Why so testerical? |
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anderswolf Reißwolf
Beiträge: 1069
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11.09.2022 19:08
von anderswolf
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Oh.
Taschentuch?
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dürüm Wolf im Negligé
Alter: 46 Beiträge: 966 Wohnort: Cape Town
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11.09.2022 19:18
von dürüm
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Meinen allerherzlichsten Glückwunsch und darauf einen Aperol Spritz.
Cheers!!
_________________ Versuchungen sollte man nachgeben. Wer weiß, ob sie wiederkommen.
(Oscar Wilde)
Der Willige wird vom Schicksal geführt. Der Störrische geschleift.
(Seneca) |
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d.frank Reißwolf
D Alter: 44 Beiträge: 1129 Wohnort: berlin
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D 11.09.2022 19:20
von d.frank
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Herzlichen Glückwunsch!
Ich habe beim Lesen auch geweint (kein Sarkasmus inbegriffen)
_________________ Die Wahrheit ist keine Hure, die sich denen an den Hals wirft, welche ihrer nicht begehren: Vielmehr ist sie eine so spröde Schöne, daß selbst wer ihr alles opfert noch nicht ihrer Gunst gewiß sein darf.
*Arthur Schopenhauer |
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Minerva Nachtfalter
Beiträge: 1150 Wohnort: Sterndal
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11.09.2022 19:42
von Minerva
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... schreit durch die wummernden Bässe von DJ Günther:
Meinen herzlichen Glückwunsch zum Eisbergsieg, lieber holg!
_________________ ... will alles ganz genau wissen ... |
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sleepless_lives Schall und Wahn
Administrator Alter: 58 Beiträge: 6477 Wohnort: München
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11.09.2022 20:01
von sleepless_lives
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Herzlichen Glückwunsch, holg! Jetzt ist aber ein Feuerwerk fällig und natürlich Posaunen und Trompeten.
Zweimal hintereinander den Aufbruchspreis. Bei dir wird das ja bald zur Gewohnheit.
Und natürlich ein großer Dank an hobbes und anderswolf für die perfekte Organisation.
_________________ Es sollte endlich Klarheit darüber bestehen, dass es uns nicht zukommt, Wirklichkeit zu liefern, sondern Anspielungen auf ein Denkbares zu erfinden, das nicht dargestellt werden kann. (Jean-François Lyotard)
If you had a million Shakespeares, could they write like a monkey? (Steven Wright) |
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Heidi Reißwolf
Beiträge: 1425 Wohnort: Hamburg
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11.09.2022 20:14
von Heidi
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Prima, das freut mich für dich, holg!
Allerherzlichsten Glückwunsch für den Sieg!
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V.K.B. [Error C7: not in list]
Alter: 51 Beiträge: 6155 Wohnort: Nullraum
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11.09.2022 20:35
von V.K.B.
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Herzlichen Glückwunsch auch von mir!
_________________ Hang the cosmic muse!
Oh changelings, thou art so very wrong. T’is not banality that brings us downe. It's fantasy that kills … |
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Bananenfischin Show-don't-Tellefant
Moderatorin
Beiträge: 5336 Wohnort: NRW
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11.09.2022 23:32
von Bananenfischin
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Allerherzlichsten Glückwunsch, holg, jetzt kannst du einen Hattrick anpeilen.
Und was für eine tolle Laudatio, und überhaupt: Ihr wart ein Klasseorgateam, hobbes und anderswolf!
_________________ Schriftstellerin, Lektorin, Hundebespaßerin – gern auch in umgekehrter Reihenfolge
Aktuelles Buch: Geliebte Orlando. Virginia Woolf und Vita Sackville-West: Eine Leidenschaft
I assure you, all my novels were first rate before they were written. (Virginia Woolf) |
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d.frank Reißwolf
D Alter: 44 Beiträge: 1129 Wohnort: berlin
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D 12.09.2022 00:42
von d.frank
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Ja, die Laudatio, die kriegt das in Worte, was der Text transportiert, ich möchte mich ebenfalls dafür bedanken
_________________ Die Wahrheit ist keine Hure, die sich denen an den Hals wirft, welche ihrer nicht begehren: Vielmehr ist sie eine so spröde Schöne, daß selbst wer ihr alles opfert noch nicht ihrer Gunst gewiß sein darf.
*Arthur Schopenhauer |
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Constantine Bücherwurm
Beiträge: 3311
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12.09.2022 15:03
von Constantine
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Wundervolle Laudatio!!!
hobbes und anderswolf, ihr habt diesen Jubiläums-Zehntausender klasse organisiert und geleitet. Danke.
holg, mein Lieber, Gratulation für den Aufbruchpreis 2022 und den tollen Schillernden Eisberg.
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Reimeschreiberin Eselsohr
Beiträge: 220
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15.09.2022 20:55
von Reimeschreiberin
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Herzlichen Glückwunsch, holg, auch von mir.
Und ein großes Dankeschön an die Organisatoren des Wettbewerbs.
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