Stimmungsbild der Volksrepublik Polen in den 1960er Jahren (Białystok)

[BerndHH]

Guten Morgen,

hat jemand von Euch nähere Kenntnisse über das Leben in Ostpolen in den 1960er Jahren? Wie war das Leben VOR der Solidarność-Bewegung?
Solidarność kam in der Gegend um Gdansk hoch, sehr viel später, hatte mit Ostpolen, Grenze zur UdSSR erst einmal nichts zu tun. Aber das soll auch nicht das Thema sein.

Die Gegend um Białystok - Woiwodschaft Podlachien - Województwo Podlaskie aber noch im Sozialismus. Der Białowieża-Urwald, Belaweschskaja Puschtscha, heute Nationalpark aber was vor 60 Jahren?
Tiefe Wälder, Sümpfe, Moore, Wisente okay aber ist bekannt wie die Menschen dort damals lebten? 1960, zwanzig Jahre nach WK II, immer noch Kriegsschäden? Was hat der Sozialismus mit Ostpolen gemacht? Zurückdrängung des Katholizismus? Wie lebten die Menschen damals dort? Rückständlerisch hinterwäldlerisch oder gab es durch den Sozialismus auch dort tatsächlich Fortschritt?
Einfache Wald- und Landwirtschaft oder durch staatlichen Zwang durchgesetzte Kolchosenwirtschaft? Wie war das Leben der Landbevölkerung?
Vielleicht kann jemand von Euch Näheres dazu sagen?

Gruss

[BerndHH]

Ja, ich weiß, die Frage war anscheinend viel zu speziell.
Aber ich wollte es zumindest mal probiert haben.

[Thomas74]

Ein Bekannter stammt grob aus der Region, ist aber erst 1974 geboren. Ich frage ihn, kann aber etwas dauern. Podlachien ist auch heute noch sehr ländlich geprägt, so etwas wie Flächenzusammenlegung und große Staatsgüter gab es dort eher selten. Das Land war ja bis 1919 russisch. Die dort lebenden Polen gehören ja quasi zur Urbevölkerung, die nie umgesiedelt oder vertrieben wurden, wie in den Ost-und Westprovinzen.
OT am Rande: superidyllischer Landstrich mit tollen Holzhäusern. Die könntest du mit einflechten.

[Thomas74]

Als Tipp, such mal deutsche Kriegsberichte vom Einmarsch in die Sowjetunion. Die startete an Pisa/Narew. An der deutsch/russischen Grenze von 39. Die Landschaftsbeschreibungen dürften auch in den 60ern noch 1:1 passen.

Bist du bei Facebook?
Da gibt es die Seite klimaty podlasia .Eigentlich eine Bildersammlung. Alleine aus der Architektur und Infrastruktur kannst du viel ableiten.

[BerndHH]

Hi Thomas74,

besten Dank für Deinen Hinweis! Ich habe einfach mal die Gegend um den Białowieża-Nationalpark, Białystok, etc. genommen, um eine (zumindest damals in den 1960er Jahren) für uns Westler Terra Incognita zu haben und eine Bauernfrau, Waldbauernfrau sozusagen, die mit ihrer Freundin auf abenteuerliche Wege zuerst weiter nach Osten, ins damalige Leningrad, dann Karelien nach Finnland usw über viele Umwege nach Westdeutschland.
Eine entlegene Gegend, wenig "Zivilisation", wenig Verstädterung, in einem kleinen Dorf nahe der Grenze zu Belarus (oder Weißrussische Sowjetrepublik) wahrscheinlich kein fließend Wasser, keine Elektrizität und alles andere in Warschau etc. ganz weit fern.

Landschaftlich überwältigend schön glaube ich Dir sofort aufs Wort. Holzhäuser aus diesem schwarzen Holz wie die russischen Isbas, diese Urwälder, Sümpfe, Wisente, jahrhundertealte Bäume ... also eine vor 60 Jahren noch sehr, sehr jungfräuliche Naturlandschaft.

Facebook klimaty podlasia ist ein hervorragender Tipp von Dir! Die Frau in landestypischer Tracht - das ist für mich sehr, sehr hilfreich! Vielen, vielen Dank!

Beste Grüße

[BerndHH]

Auch der Tipp nach WK II-Quellen zu suchen war goldrichtig.

1941 Der Wald von Bialowieza. Wehrmachtssoldaten aus Bayern, Österreich, Hessen, Rheinländer, Thüringer u. Pommern gegen die Rote Armee. Sehr bildhafte Beschreibungen von Kosakenschwadronen (und das 1941!), den Dörfern Stary Berezow, Mochnata, etc.
Die 78. Infanteriedivision in der "grünen Hölle von Bialowieza" in der Naturfestung der Roten Armee. Waldkampf. Wehrmacht 1941 noch nicht vernünftig für diese Kampfweise ausgebildet. Sowjetarmee mit Stellungen i.d. Tiefes des Waldes - Alptraum f.d. dt. Soldaten. Kampf aus vollgetarnten Schützenlöchern heraus, Rundumstellungen mit "Stoßreserven" und viel Nahkampf, den die dt. Führung gerne verhindert hätte. Rote Armee zwingt der Wehrmacht einen "Indianerkrieg" auf, den diese so in dieser mühsamen und verlustreichen Form nicht gewollt haben. Der Wald von Bialowieza eine Herausforderung für die dt. Luftaufklärung. Bialowieza-Wald als eine blutige Lehrstätte für die Schlachten, die der Ostfeldzug noch bieten sollte. Also ein kleiner Vorgeschmack darauf, was da noch kommen sollte.
29. Juni 1941. Blutiger Nachmittag. III. Btl IR 215 kämpft um Popielowo. Bilanz der gesamten Operation: 600 gefallene Rotarmisten, 78. Infanteriedivision verliert 114 Mann und 125 Verwundete.
Na ja, so die zeitgenössischen dt. Quellen. Die sowjetische Sicht ist wieder ein anderer Schnack.
Danach wurde das Waldgebiet sicherlich zu einem größeren Partisanengebiet.

Diese Quelle ist auch interessant: https://www.welt.de/vermischtes/article156223521/Der-Urwald-der-Hitlers-Jurassic-Park-war.html Der Urwald, der „Hitlers Jurassic Park“ war
Wald von Bialowieza, der letzte Tiefland-Urwald Europas

https://www.youtube.com/watch?v=i2qnK87TtWs Hitlers Jurassic Park - Doku 2013

20 Jahre später werden diese Erlebnisse die dortigen Menschen noch intensiv geprägt haben.