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Worüber wir reden


 
 
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anderswolf
Geschlecht:männlichReißwolf


Beiträge: 1069



Beitrag23.09.2021 09:08
Worüber wir reden
von anderswolf
eBook pdf-Datei Antworten mit Zitat

Kondens

Nebel drückt sich an
die Scheibe auch von innen
dunstbeschlagen die Synapsen
im Kopf zertasten sich
die Worte fehlen mir und

Im Wannenbad schwimme ich
aus meiner Haut löst sich
mein Schweiß schmeckt
nach Mitternacht esse ich
meine Wut hält mich, nicht

Aus den Feldern steigt
der Mond verliert sich zwischen
den Sternen ist unser Streit
gleich sind wir

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Lorraine
Geschlecht:weiblichKlammeraffe


Beiträge: 648
Wohnort: France
Das goldene Stundenglas Ei 10
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Beitrag25.09.2021 10:21

von Lorraine
Antworten mit Zitat

Hallo anderswolf

Es geht um Streit und wie er endet, oder auch nicht endet. Kondens heißt das Gedicht, also einerseits denke ich natürlich an „Kondensation“: der Nebel, der sich an die Scheibe drückt, die wiederum auch von innen beschlagen ist. Da ist die Sicht schlecht, auch die auf sich selbst, wie die sich zertastenden Synapsen und die fehlenden Worte mir sagen. LI fährt aber nicht aus der Haut, es schwimmt aus ihr, später, als es versucht, zu ent-spannen. Dann, spät, kommt ein Bewusstsein, ich denke mal, vielleicht über die Kleinheit des Ganzen, wie es oft beim Anblick eines Sternenhimmels passiert. „Gleich sind wir“ … schließt für mich zum Titel auf: „Kondens“, also auch so etwas wie Nebel oder winzige Flüssigkeitsteilchen. Was aber auffällt, ist die Assonanz des Wortes „Kondens“ zu „Konsens“. Ersteres führt für mich zur Niedergeschlagenheit, die sich im Text ausdrückt, das zweite wäre das Zusammenkommen, „…  zwischen
den Sternen ist unser Streit …“, oder vielleicht ein Gefühl des Friedens oder sogar des Einsseins.

Auffällig ist das Komma:

„…  meine Wut hält mich, nicht

Aus den Feldern steigt
der Mond …“ - es ist das einzige im Gedicht, es trennt klar. Man kann hier keinen Übergang lesen, es gehört das „nicht“ dadurch zum Mond, der nicht aus den Feldern steigt und die Wut bleibt beim LI, was irgendwie widersprüchlich scheint, vielleicht darauf hinweist, wie LI allein mit der Wut bleibt.
Ein durchgängiges Versmaß erkenne ich nicht, aber ein gewisser Rhythmus entsteht, je nachdem, wie ich lese.
Mir gefällt dieses (erste?) Gedicht, das du unter „Worüber wir reden“ geteilt hast, hier kondensiert das Ungesagte, oder eine Auseinandersetzung hat schon vorher und woanders stattgefunden, jedenfalls: es hat was.

Gruß von
Lorraine
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anderswolf
Geschlecht:männlichReißwolf


Beiträge: 1069



Beitrag27.09.2021 09:07

von anderswolf
pdf-Datei Antworten mit Zitat

Hallo Lorraine,

vielen Dank für deine Auseinandersetzung mit meinem Gedicht. Ich kann deiner Interpretation wenig hinzufügen, da sie recht umfassend und vollständig erfasst, was ich ausdrücken wollte: dass da ein Streit ist oder war, und dass dieser Streit sich auf alles andere legt und und damit aus der Sicht nimmt; und dass dieser Streit letztlich (also vor dem Hintergrund von allem anderen) klein ist und vielleicht kleinlich.

Die "Niedergeschlagenheit", die du erwähnst, finde ich gleichzeitig passend und amüsant, denn auch Kondenswasser schlägt sich ja auch nieder, ein Wortspiel, das ich vielleicht auch hätte einflechten können, wenn ich daran gedacht hätte. Wenn es sich aber auch so im Text wiederfindet, ist es vielleicht umso besser.

Dieses Alleinbleiben mit der Wut, das du siehst, ist tatsächlich beabsichtigt; und dass ich es erkläre, liegt vielleicht daran, dass ich neben den ineinanderfließen Zeilen auch einen anderen "Kniff" (in Ermangelung eines besseren Wortes) verwendet habe: die Auslassung des Du. Der Text endet mit einem "wir", aber der Widerpart im Streit fehlt, und so ist es zwar eine Auseinandersetzung mit jemandem, dieses Gegenüber aber ist nicht greifbar. Das Du ist das zweimal fehlende Wort am Ende der ersten beiden Strophen. Oder eben auch nicht fehlend, weil seine Abwesenheit ja erst die widersprüchlich scheinende Spannung von Übergängen ermöglicht.

Ein richtiges Versmaß ist in der Tat nicht gegeben, war aber auch nicht beabsichtigt; sein Fehlen unterstreicht vielleicht auch das Ungleichmäßige eines Streites.

Und letztlich, ja, geplant ist ein längerer Faden mit Verdichtetem, "Kondens" soll da nicht der einzige Eintrag bleiben, auch wenn die folgenden Gedichte noch nicht existieren. Aber irgendwo muss ich ja anfangen.

Vielen Dank nochmals für deinen Kommentar, der meine Intention nicht nur erkannt und erklärt hat, sondern auch unbewusst intendiertes bestätigt.

Gruß zurück!
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anderswolf
Geschlecht:männlichReißwolf


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Beitrag19.01.2022 18:04

von anderswolf
pdf-Datei Antworten mit Zitat

Schuppungen

das Zwischen teilt
es oder fällst du
nur ab vor Glauben

das Brechen der
Haut schilfert dich
suchst du denn Halt

schorfst dir die Worte
selbst am Wetzstahl
deiner Verheißung

der Riss reißt nur
dich in den Abgrund
die Klippe sind wir

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Nina
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Wohnort: Berlin


Beitrag20.02.2022 21:26
Re: Worüber wir reden
von Nina
Antworten mit Zitat

lieber anderswolf,

dein gedicht hat etwas geheimnisvolles. es geht um einen streit und eine
wichtige verbindung. die enge im auto und damit verbunden auch der
verengte blick, die fehlenden worte.
der sprung ins wannenbad will mir nicht so recht gelingen, aber vielleicht
ist es metapher für "schwimmen", d.h. unsicher sein, taumeln vielleicht.
wegen der wut, des unmutes, der schweißperlen, etwas sagen und
bewältigen zu wollen, das irgendwie nicht möglich zu sein scheint.
vielsagend die letzte zeile: gleich sind wir. das könnte heißen, dass die
streitenden einander ähnlich oder gleich sind. es könnte auch heißen,
dass die beiden gleich sind. d.h. etwas sind. einander vielleicht. kondenz
und konsens, was mir sofort dazu einfiel.
wie dem auch sei. hat mir gefallen. das zweite gedicht dazu habe ich
noch nicht gelesen.

lg
nina



anderswolf hat Folgendes geschrieben:
Kondens

Nebel drückt sich an
die Scheibe auch von innen
dunstbeschlagen die Synapsen
im Kopf zertasten sich
die Worte fehlen mir und

Im Wannenbad schwimme ich
aus meiner Haut löst sich
mein Schweiß schmeckt
nach Mitternacht esse ich
meine Wut hält mich, nicht

Aus den Feldern steigt
der Mond verliert sich zwischen
den Sternen ist unser Streit
gleich sind wir


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anderswolf
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Beitrag22.02.2022 19:32
Re: Worüber wir reden
von anderswolf
pdf-Datei Antworten mit Zitat

Hallo Nina,

vielen Dank für die Auseinandersetzung mit "Kondens". Ja, es geht um Streit, das hast du richtig erkannt, und es geht auch darum, wie trotz dieses Streits wieder Konsens gefunden werden kann: dass nämlich die Auseinandersetzung vor dem Hintergrund all dessen, was wirklich und wichtig ist, letztlich kleinlich und unnötig ist. Dass aber eine Versöhnung nicht stattfinden kann, weil das LI zu sehr auf sich bezogen ist und das LWir letztlich nicht findet.

In Lorraines Kommentar und in meiner Antwort darauf finden sich noch einige weitere Erklärungs- und Interpretationsansätze.

Das mit dem Wannenbad ist zugegebenermaßen schwer verständlich, es war sehr situativ bezogen und würde heute nicht mehr Eingang finden in diesen Text. Andererseits würde ich das ganze Gedicht wahrscheinlich so nicht mehr schreiben, weil ich keinen richtigen Zugang mehr zu dieser Emotion und diesen Bildern habe.

Interessieren würde mich, wie du ein Auto gefunden hast in dem Text, denn das habe ich da überhaupt nicht verankert.

Vielen Dank für deinen Kommentar!
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Nina
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Beitrag22.02.2022 19:35
Re: Worüber wir reden
von Nina
Antworten mit Zitat

anderswolf hat Folgendes geschrieben:


Interessieren würde mich, wie du ein Auto gefunden hast in dem Text, denn das habe ich da überhaupt nicht verankert.

Vielen Dank für deinen Kommentar!


gerne! und: das mit dem auto habe ich aus dem folgenden geschlossen:

Nebel drückt sich an
die Scheibe auch von innen


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anderswolf
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Beitrag22.02.2022 19:45
Re: Worüber wir reden
von anderswolf
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Nina hat Folgendes geschrieben:

gerne! und: das mit dem auto habe ich aus dem folgenden geschlossen:

Nebel drückt sich an
die Scheibe auch von innen


Oh, ok. Ich hatte da tatsächlich eher an eine Fensterscheibe gedacht, aber klar, Autofenster geht natürlich auch.
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Nina
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Beitrag22.02.2022 19:55

von Nina
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an ein fenster in einer wohnung hätte ich nie gedacht.
ist vermutlich so, dass sich einem ein "setting" oder
bild im geiste öffnet, wenn man etwas liest und wenn
sich das stimmig anfühlt/liest, bleibt es auch dabei.


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anderswolf
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Beitrag25.02.2022 00:18

von anderswolf
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Schwert/Feder

der Sturm
der das Gefieder
der Taube spreizt

bricht ihr

nicht Fahne
nicht Kiel

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anderswolf
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Beitrag15.03.2022 18:42

von anderswolf
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verschweige dem Feuer das Holz

seine Gier beißt sich
in unsere Augen
und
unsere Tränen entreißt uns
sein Hunger

in seinem Flackern
queren wir Schatten

erreichen wir bald
eine Lichtung
oder
gehen wir tiefer
hinein in die Glut

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anderswolf
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Beitrag10.04.2022 14:11

von anderswolf
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Doppelbelichtung

den Tod haben wir
abgeschafft
er passte uns
nicht mehr ins Bild

hier schlafen Menschen
mit Sand in den Augen
atemlos die Ruhe
zu wahren

dieser hier malte mir
Milchherzen auf den Kaffee
und schenkte mir
Kekse mit süßem Kern

hier hat er die Augen
geschlossen das Lächeln
verloren das Herz hart
und kalt seine Haut

wir legen ihn hier
unter Erde und Steine
die streunenden Hunde
wecken ihn nicht.
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Heidi
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Der goldene Durchblick


Beitrag29.10.2022 22:42

von Heidi
Antworten mit Zitat

anderswolf hat Folgendes geschrieben:
Doppelbelichtung

den Tod haben wir
abgeschafft
er passte uns
nicht mehr ins Bild

hier schlafen Menschen
mit Sand in den Augen
atemlos die Ruhe
zu wahren

dieser hier malte mir
Milchherzen auf den Kaffee
und schenkte mir
Kekse mit süßem Kern

hier hat er die Augen
geschlossen das Lächeln
verloren das Herz hart
und kalt seine Haut

wir legen ihn hier
unter Erde und Steine
die streunenden Hunde
wecken ihn nicht.


Hallo anderswolf,

gleich die ersten Zeilen ziehen mich richtig rein in den Text. Den Tod abschaffen, was für ein abstruser Gedanke. Es flackert sofort eine Explosion an Bildern in mir auf. Was ich besonders finde, ist, dass der Text und vor allem die erste Strophe einerseits etwas Bizarres ausstrahlt, beinahe schon erheiternd wirkt dadurch, dann aber schnell umschlägt und ein Gefühl von Traurigkeit.

Generell sollte es ja ein wenig trauriger Gedanke sein, wenn angenommen der Tod nicht mehr existieren würde (und wir Menschen es auch noch selbst geschafft hätten, genau dafür zu sorgen); es würde immer alles weitergehen, wir Menschen hätten quasi nichts mehr, oder kaum noch was zu fürchten. Und doch erfüllt mich dieser Gedanke mit keinerlei positiven Emotionen. Im Zusammenhang mit den schlafenden Menschen, die Sand in den Augen haben, wird das nicht besser. Ich lese diese Menschen als unbewusst und wenig klar. Nicht verwunderlich ist dann der Süßkram, der zum "Kaffeeherz" angeboten wird. Zucker kann durchaus kurzfristig trösten - eine äußere Wärme quasi, anstatt Seelenwärme. Das Herz als äußeres Bild für das, was innerlich nicht stattfindet, steigert sich dann in Kälte und Härte.
Warum dann am Ende jemand unter die Erde gelegt wird, obwohl der Tod nicht mehr existiert, kommt für mich nicht ganz raus. Klar kann damit ausgedrückt werden, dass der Tod nicht abzuschaffen ist und das innere Leben immer erkalten kann, auch, wenn das äußere vorhanden ist; dennoch halte ich die letzte Strophe noch für ausbaufähig.

Ansonsten finde ich den Text gelungen und niederschmetternd bis gnadenlos. Genau nach meinem Geschmack also.

Edit: Ach ja, der Titel. Der will nicht so recht zum Rest passen in meinem Lesen.

Viele Grüße
Heidi
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anderswolf
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Beitrag01.11.2022 16:48

von anderswolf
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Heidi hat Folgendes geschrieben:
Hallo anderswolf,

Hallo Heidi,
vielen Dank für die Beschäftigung mit meinem Text. Ich hatte schon fast vergessen, dass ich ihn überhaupt hier eingestellt hatte. Danke also auch fürs in Erinnerung rufen.

Geschrieben hatte ich diese Zeilen als Reaktion auf die zu Beginn des Ukrainekriegs verheimlichten Toten. Es sollten damals (so lange ist es schon her, dass man damals dazu schreiben kann) keine Bilder der durch die Kriegshandlungen umgekommenen Menschen gezeigt werden, aber nicht aus Respekt vor ihnen, sondern aus Angst vor der unweigerlichen Demoralisierung. So war das zuerst gemeint: der Tod passe nicht mehr ins Bild.

Darum also die Fehlbetrachtung, die Menschen schliefen nur, trotz Sand in den Augen, gleichzeitig aber streute man den Menschen Sand in die Augen, damit sie nicht sähen, was wirklich war. Eine Lüge über den Tod: die sind nicht tot, sie schlafen nur. Und man sollte es glauben, um keine schlafenden Hunde zu wecken.

Dann der Barista, der vielleicht Soldat, vielleicht auch einfach nur als Zivilist Opfer einer verirrten Kugel geworden ist. "Hier", also auf dem doppelbelichteten Bild ist er still zu sehen, erstarrt, tot und doch will der Blick auf dem haften bleiben, was er vorher war, ein junger Mann, der Kaffeeherzen und süße Kekse verschenkte.

Die letzte Strophe: wenn der Tod nicht zu überwinden ist, sondern nur aus unseren Bildern, unserer Sprache zu tilgen ist, dann müssen wir andere Worte dafür finden, was wir mit den Menschen tun, die nicht mehr um uns lebendig sind. Wir legen sie also unter Erde und Steine, damit die Hunde sie nicht wecken; aber auch, damit sie uns nicht mehr im Bild stehen und damit selbst die schlafenden Hunde wecken, die erkennen könnten, was denn auf dem doppelbelichteten Bild der gestörten Wahrnehmung wirklich zu sehen ist.

Zitat:
gleich die ersten Zeilen ziehen mich richtig rein in den Text. Den Tod abschaffen, was für ein abstruser Gedanke. Es flackert sofort eine Explosion an Bildern in mir auf. Was ich besonders finde, ist, dass der Text und vor allem die erste Strophe einerseits etwas Bizarres ausstrahlt, beinahe schon erheiternd wirkt dadurch, dann aber schnell umschlägt und ein Gefühl von Traurigkeit.

Generell sollte es ja ein wenig trauriger Gedanke sein, wenn angenommen der Tod nicht mehr existieren würde (und wir Menschen es auch noch selbst geschafft hätten, genau dafür zu sorgen); es würde immer alles weitergehen, wir Menschen hätten quasi nichts mehr, oder kaum noch was zu fürchten. Und doch erfüllt mich dieser Gedanke mit keinerlei positiven Emotionen. Im Zusammenhang mit den schlafenden Menschen, die Sand in den Augen haben, wird das nicht besser. Ich lese diese Menschen als unbewusst und wenig klar. Nicht verwunderlich ist dann der Süßkram, der zum "Kaffeeherz" angeboten wird. Zucker kann durchaus kurzfristig trösten - eine äußere Wärme quasi, anstatt Seelenwärme. Das Herz als äußeres Bild für das, was innerlich nicht stattfindet, steigert sich dann in Kälte und Härte.

Ich mag deine Lesart auch, die ohne diesen Bezug zum Ukrainekrieg auskommt, die meinen Text allgemeingültiger sehen als ich. Und ja, eine gewisse Naivität lässt sich keiner Variation der  Menschen mit Sand in den Augen absprechen. Selbst wenn wir den Tod wirklich abschaffen könnten: wollten wir das wirklich? Unsterblichkeit an sich ist ein schöner Gedanke - bis er zu Ende gedacht wird.

Zitat:
Warum dann am Ende jemand unter die Erde gelegt wird, obwohl der Tod nicht mehr existiert, kommt für mich nicht ganz raus. Klar kann damit ausgedrückt werden, dass der Tod nicht abzuschaffen ist und das innere Leben immer erkalten kann, auch, wenn das äußere vorhanden ist; dennoch halte ich die letzte Strophe noch für ausbaufähig.

Ich hadere oft mit meinen letzten Strophen (oder allgemein den Enden meiner Texte). Hier ist es nicht anders; ich wüsste aber auch nicht, wie ich es besser machen sollte.
Hier vielleicht zur weiteren Erklärung: Nur weil wir den Tod abgeschafft haben, heißt es ja nicht, dass er nicht mehr existiert. Wir haben ihn nur aus unserem Betrachtungsrahmen entfernt, wollen ihn also nicht mehr sehen, wir streuen uns so viel Sand in die Augen, dass wir nicht die harsche Realität sehen können, die wir eigentlich nicht ignorieren dürften.

Zitat:
Ansonsten finde ich den Text gelungen und niederschmetternd bis gnadenlos. Genau nach meinem Geschmack also.

Das freut mich sehr smile Niederschmetternd war er gedacht und gnadenlos will ich gerne schreiben; Rücksicht auf das Publikum wird (zumindest in Originaltexten) oft überschätzt.

Zitat:
Edit: Ach ja, der Titel. Der will nicht so recht zum Rest passen in meinem Lesen.

Die Doppelbelichtung hatte ich tatsächlich von den Fotos genommen, die eigentlich nicht gezeigt werden sollten. Und wie dann eben diejenigen, die sich die Bilder anschauen könnten, die es tatsächlich von jenen Tagen des Krieges geben würde, sich wie in einer Doppelbelichtung aus dem Gezeigten das Ungezeigte, vielleicht Unsichtbare selbst herauslesen müssten.
Aber ja, das erschließt sich nicht zwangsläufig. Mit den Titeln habe ich es ähnlich gut wie mit den Enden der Texte.

Zitat:
Viele Grüße
Heidi

Viele Grüße zurück smile
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anderswolf
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Beitrag01.07.2023 13:57

von anderswolf
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mir alles über
müdet zur ruh
wie zum brunnen
der krug füllt nicht
die erschöpfung

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crim
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Beitrag01.07.2023 15:05
Re: Worüber wir reden
von crim
Antworten mit Zitat

anderswolf hat Folgendes geschrieben:
Kondens

Nebel drückt sich an
die Scheibe auch von innen
dunstbeschlagen die Synapsen
im Kopf zertasten sich
die Worte fehlen mir und

Im Wannenbad schwimme ich
aus meiner Haut löst sich
mein Schweiß schmeckt
nach Mitternacht esse ich
meine Wut hält mich, nicht

Aus den Feldern steigt
der Mond verliert sich zwischen
den Sternen ist unser Streit
gleich sind wir


Ich mache mal hier den Anfang, anderswolf, mit bruchstückhaften Gedanken zu einem Text der schon länger da steht, aber gerade hochgespült wurde, und dafür ein Danke, weil interessant sind diese Texte allemal. Hier hat es mir vor allem die mittlere Strophe angetan, wegen diesem abgetrennten "nicht", das da an dieser Stelle sichtbar geworden ist, sich vielleicht auch dahin kondensiert hat und am Ende der vier vorherigen Zeilen wars nur Nebel. Aber man kann es erahnen:

Statt
im Wannenbad schwimme ich (aus meiner Haut)
im Wannenbad schwimme ich nicht

Statt
aus meiner Haut löst sich (mein Schweiß)
aus meiner Haut löst sich nicht(s?)

Statt
mein Schweiß schmeckt (nach Mitternacht)
mein Schweiß schmeckt nicht

Statt
nach Mitternacht esse ich (meine Wut)
nach Mitternacht esse ich nicht

Da werden aus poetischen Bildern mehr oder weniger banale Feststellungen gemacht, da wird im Wortsinn Poetisches (ver)nichtet. Das muss so im Text angelegt sein, nicht?
Finde das zumindest hier am allerallerallerbesten für mein persönliches Lesevergnügen dieses Gedichts.

Wie gesagt, bruchstückhafte Eindrücke, oder Fundstücke aus dem Gedicht, anders kann ich gerade nicht, und werde erst mal zum Text gehen, der das wieder hochgespült hat, den eigentlich frischen.

Crim
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Beitrag01.07.2023 15:32

von crim
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anderswolf hat Folgendes geschrieben:
mir alles über
müdet zur ruh
wie zum brunnen
der krug füllt nicht
die erschöpfung


Und jetzt hier, nur fünf Zeilen, wo können die mich schon hin führen? Zum Brunnen und vielleicht auf Abwege, mal sehen.

mir alles über

es ist mir alles zuviel, lese ich und auch: ich schütte mir alles über, was da am brunnen geholt wird?

(über)müdet zur ruh

jemand legt sich hin, übermüdet, aber auch "müdet" als bewegung, hin zur ruhe, zur ruhe sich hinmüden, zum brunnen, der die ruhe ist, um mal die nächste zeile mit ins spiel zu nehmen: ein ruhebrunnen, ein brunnen, an dem sich etwas wieder füllen könnte, energie zurückgeholt werden könnte vielleicht.

wie zum brunnen

brauchts dieses wie? das gedicht-wie macht es sich ja oft einfach, ich mache es auch gern, dies wie das und zack, eine verbindung ist deutlicher geschaffen als zuvor, aber hier für mein empfinden vielleicht verzichtbar, aber zuviel gesagt, eigentlich will ich ja versuchen, etwas zu sagen, zu einem text.

Da bewegt sich also jemand, dem alles über ist, der erschöpft, übermüdet ist, auf einen brunnen zu, will sich mit ruhe erfrischen, diese übermüdung überwinden.

der krug füllt nicht

die erfrischung, die aus dem brunnen geschöpft werden soll, das mittel, das schöpfen soll, schöpft nicht genug daraus. kaum wasser im krug, krug kaputt? das werkzeug tut seinen dienst nicht, womit schöpft man auch ruhe?

die erschöpfung

wird nicht gefüllt von diesem krug, klar, die erschöpfung des übermüdeten jemand bleibt, egal vielleicht wieviel der krug aus diesem brunnen geschöpft hat, stattdessen könnte man vielleicht zurück zur anfangszeile und titel lesen:

mir alles über

ich schütte mir alles was der krug geschöpft hat über und halte mich künstlich damit wach, aber die erschöpfung - sie ist ja noch da.

Das sind so meine vielleicht sehr durcheinanderen ersten Gedanken zum Text. Fünf Zeilen nur, du siehst, da steckt für mich viel drin.

LG crim
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anderswolf
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Beitrag07.07.2023 17:15
Re: Worüber wir reden
von anderswolf
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crim hat Folgendes geschrieben:
anderswolf hat Folgendes geschrieben:
Kondens

Hier hat es mir vor allem die mittlere Strophe angetan, wegen diesem abgetrennten "nicht", (...)
Da werden aus poetischen Bildern mehr oder weniger banale Feststellungen gemacht, da wird im Wortsinn Poetisches (ver)nichtet. Das muss so im Text angelegt sein, nicht?

crim, ganz herzlichen Dank für die Auseinandersetzung mit dem Kondens, weil du mit der Nichtung poetischer Ansätze etwas ansprichst, das mir bislang gar nicht aufgefallen ist (insofern also nicht angelegt habe), was mir aber ganz wunderbar gefällt. Vor allem, weil in so einem Streit ja oftmals jede Poetisierung zerstört wird, auch jede möglicherweise jemals angelegte Romantisierung. Ein Streit, je bitterer umso mehr, enthüllt das Banale unter dem Firnis jeglicher Verkünstelung, denn da gilt keine Zurückhaltung mehr, sondern nur maximale Verletzung des Gegenübers. Und da ist ein einfaches "nicht" oftmals stärker als jedes triftige Argument, weil es die Gegenpartei einfach durch Delegitmation entmachtet.

Danke für diese Lesart!
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anderswolf
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Beitrag07.07.2023 17:45

von anderswolf
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crim hat Folgendes geschrieben:

Und jetzt hier, nur fünf Zeilen, wo können die mich schon hin führen? Zum Brunnen und vielleicht auf Abwege, mal sehen.

Deine Gedanken zu diesem kleinen Fünfzeiler, der eigentlich mal mehr werden wollte (bis ich mich an meine Tendenz, alles zu zerreden statt es zu verdichten, erinnert habe), erzählen mir mehr darüber, was ich sagen wollte, als ich bewusst selbst hätte ausdrücken können.

Der Übermüdete, Erschöpfte gewissermaßen, ist einfach nicht zu entmüden, egal wie oft er zum Brunnen geht; und folgend dem Krug, der so oft zum Brunnen geht, bis er bricht, ist die Entmüdung aus der Position der Überschöpfung ohnehin nicht möglich, die Selbstentfüllung führt lediglich zu einem niedrigeren Grundwasserspiegel. Wer unbedacht und übermäßig aus sich selbst schöpft, dörrt sich selbst am Ende aus: wir füllen uns aus vielen Quellen.

Das "wie" vor "zum Brunnen" braucht es in der Tat nicht, eventuell braucht es die ganze Zeile nicht, denn der Brunnen steht vor allem da für den Krug, und damit vielleicht an "bis er bricht" gedacht wird. Vielleicht, das ist eben eine Überlegung, sollte ich den Text lieber mit "Zum Brunnen" betiteln und "mir alles über" als normale Zeile nehmen. Auch wenn dann die Lesart, da müdete sich jemand auf den Ruhebrunnen zu (wundervoll übrigens und nicht beabsichtigt, "müden" als Verb zu sehen), vielleicht nicht mehr so verständlich ist.  

Wobei - ich lese eben nochmal kritischer - das "wie" sich ja eigentlich auf den Krug beziehen sollte: "wie der Krug zum Brunnen" lege ich mich "übermüdet zur Ruh". Was aber nicht hilft, weder dem Übermüdeten noch dem Krug, denn er bricht ja. Wobei mir nie so ganz klar war, ob der Krug bricht oder der Brunnen, weil das Sprichtwort ja eigentlich bedeuten soll (denke ich), dass da jemand ein bisschen zu lange ausgenutzt wird und dann plötzlich alle Spendabilität aufgebraucht ist. Bricht da also der Brunnen oder der Krug? Oder brechen letztlich beide? Ist es ein Teufelskreis?

"der krug füllt nicht die erschöpfung" jedenfalls ist, glaube ich, relativ eindeutig: da ist jemand ausgebrannt, durch kein Mittel mehr zu retten, zumindest nicht kurzfristig, es braucht vielleicht ein paar Wochen Schlaf oder zumindest mal eine Auszeit.

Hmm, da habe ich mich in meinen eigenen Worten verheddert, befürchte ich, denn tatsächlich habe ich vielleicht doch noch mehr Gedanken dazu, als ich dachte. Zugegebenermaßen ist der Fünfzeiler schon fast zwei Jahre alt, ich bin mir auch nicht mehr so ganz sicher, was ich mir damals gedacht habe.

Jedenfalls vielen Dank für deine Gedanken zu meinem kleinen Text. Sie haben mir neue Lesarten gezeigt und Betrachtungswinkel, die ich vorher nicht bedacht hatte. Ich habe auf dem sich lang mäandernden Weg der Lyrik (und wahrscheinlich nicht nur da) noch einige Kilometer vor mir, insofern ist die Auseinandersetzung anderer mit meinen Texten mir sehr willkommen und hilfreich.

Vielen Dank!
Wenn ich jetzt noch Zeit hätte, diesen Beitrag zu redigieren, fühlte ich mich ein bisschen wohler, aber wo keine Zeit, da bin ich weg.
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