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Lila X Leseratte
L Alter: 54 Beiträge: 148
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L 19.12.2021 09:57 Gefühlsroulette - Weihnachtsmarkt von Lila X
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Der Schein der Lichterketten spiegelt sich in den unzähligen Pfützen zwischen den Buden, zittert durch winzige Wellen hin und her, und wird nur selten durch den Fuß eines Passanten gestört. Die Trostlosigkeit immergrüner Zweige, die schwer vor Nässe hilflos über die Dachkanten überbordend dekorierter Buden hängen und Tropfen für Tropfen auf den Boden fallen lassen, ist die Gleiche, die auch an ihrer Seele zieht und sich als bleischweres Gewicht genau zwischen ihren untersten Rippenbögen einnistet. Wo sind die Menschenmassen, die sich hier sonst Tag für Tag durch die Gänge drängen, das fröhliche Gelächter und das an- und abschwellende Raunen mehr oder weniger glühweinbedudelter Besucher? Heute hätte sie es mehr als begrüßt, würden sie das Dröhnen ihrer Gedanken übertönen und ihr eine winzige, aber so dringend benötigte Atempause verschaffen. Hatte sie in der letzten Stunde überhaupt einen Atemzug getan?
Nach Hause oder weiter zwischen den Buden herumirren, immer auf der Suche nach etwas, an dem der Blick hängen bleibt? Obwohl im Herzen noch unentschlossen, setzt sie einen Fuß vor den anderen und passiert Stand um Stand bis sie den Platz mit der mannsgroßen Krippe und dem geschmücktem Baum erreicht. Sie starrt das Jesuskind an, das gerade geboren sein soll und doch eher aussieht wie ein kahlköpfiger Greis mit gestraffter Haut und geschrumpftem Leib, der Kopf zu groß für den Rest und wohl nur bei übermenschlicher Nackenmuskulatur mehr als ein paar Sekunden in dieser Haltung denkbar. „Wo warst du, als ich dich gebraucht habe?“ schreit sie innerlich, doch ihre Lippen bleiben stumm. Ihr Blick wird glasig und starr, erneut fixiert auf diesen einen Punkt in ihren Gedanken, der es ihr einfach nicht erlaubt, etwas anderes zu sehen als diesen letzten Blick, den er ihr geschenkt hat, bevor das Licht in seinen Augen erlosch.
Mila blieb der Mund offen stehen. Das war das schönste, was sie jemals gesehen hatte. Vor ihr erstreckte sich ein Dorf aus Häuschen, dicht an dicht, die den Sternenhimmel auf ihren Dächern zu tragen schienen. Dazwischen hantierten all die Figuren, die sie jeden Tag in ihren Märchen traf, wie der dicke Weihnachtsmann auf seinem weißglitzernden Schlitten, sechs Rentiere schon halb in der Luft. Sein Mund stand offen - das sah sie trotz des strahlend weißen Rauschebarts ganz genau - als habe er soeben die magischen Worte gesagt, um seine Tiere zu ihrer Reise um die Welt anzutreiben. Auf dem nächsten Dach stand trotz der Kälte der nasskalten Winternacht das Mädchen im dünnen Hemd, das genauso staunend wie Mila in den Himmel starrte und die Sterntaler in ihrem Schoß auffing, die mit all den anderen Lichtern um die Wette funkelten. Und da drüben, war das nicht eine Weihnachtsbäckerei mit loderndem Ofen und einem Fließband, an dem Plätzchen von Engelchen gestochen und verziert wurden, um sie in der Hütte darunter an all die hungrigen Mäuler zu verteilen, die in dichtem Pulk an ihr vorbeitrieben? Unvermittelt kam wieder Leben in Mila und die Begeisterung trieb sie voran, zog ungeduldig am Arm der viel zu langsamen Mutter, um die Wunder zu entdecken, die hier auf sie warteten und alles zu sehen, riechen und schmecken, was Weihnachten zur wundersamsten Zeit im Jahr machte.
Noch zehn Minuten bis seine Bahn die Türen schließen und mit all seinen Hoffnungen davonfahren würde. Er versuchte seinen Schritt zu beschleunigen. Fürs Rennen war er zu alt, aber es müsste reichen, wenn ihm diese Leute hier endlich einmal Platz machen würden. Wie konnte man nur so unaufmerksam sein. Und dann diese Buden, die viel zu dicht beieinander standen und vor denen sich dichte Menschentrauben gebildet hatten, die die Wege zustellten und ein Durchkommen nahezu unmöglich machten. Er wand sich mal mit der linken, mal mit der rechten Schulter energisch durch die Massen, während dieses ausdauernde, glöckchenverseuchte Gedudel an seinem zum Zerreißen angespannten Nervenkostüm kratzte. Sein suchender Blick fand den blau leuchtenden Würfel mit dem großen schlichten U zwischen all den kitschig um die Wette glitzernden Figuren auf den Budendächern und wies ihm die Richtung, die er rücksichtslos zu verfolgen gedachte, vorbei an Alten und Jungen, lallenden Betrunkenen und unberechenbar herumspringenden Kinder. Doch trotz seiner Zielstrebigkeit wollte es ihm kaum gelingen zwei Schritte hintereinander zu setzen, ohne dass man ihm stets aufs neue den Weg verstellte. So heizte sich das sanfte Brodeln seiner Ungeduld zu heißglühender Wut auf, und während er sich immer weiter kämpfte, überstieg der Druck in ihm die Schwelle des Erträglichen. Es war kein Raum mehr für den kleinsten abwägenden Gedanken, als sich der Weihnachtsmann ahnungslos und mit breitem Grinsen in seinen Weg stellte und ihm ein „Fröhliche Weihnachten.“ entgegen schmetterte. Seine Faust schnellte in dieses feiste Gesicht und zerschmetterte ihrer aller Weihnachten in tausende, nie mehr zusammensetzbare Einzelteile. Und der Widerhall ihres Aufpralls war noch nach Jahren in den Leben der Beteiligten und der Augenzeugen zu hören.
_________________ Lila X |
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schmurr Gänsefüßchen
Alter: 14 Beiträge: 32 Wohnort: Udine
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30.12.2021 20:00 zu Gefühlsroulette von schmurr
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Gute Idee, dasselbe Bild aus drei ganz verschiedenen Blickwinkeln darzustellen! Auch wenn mir der erste nicht ganz klar ist: ist ihr Freund gestorben? Zwei Korrekturen: herumspringenden KinderN. Doch trotz seiner Zielstrebigkeit wollte es ihm kaum gelingen, (Komma) zwei Schritte
Ciao aus Italien
_________________ Deutscher in Italien, Autor von lustigen oder tragikomischen Werken: schmurr.webs.com/dpl.htm Ich mag Wandern, wilde Orchideen, Lesen, Katzen und klassische Musik. |
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