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Seth Gecko
Geschlecht:männlichLeseratte


Beiträge: 131
Wohnort: Neu-Bielefeld


Beitrag26.10.2021 01:45
›V‹
von Seth Gecko
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Neue Version »

Es geschah über Wuppertal.
»Wechsel der Führungsspitze in drei Kilometern!«, gab Karl nach hinten durch.
»Welcher Schenkel?«, schrie Günni gegen den Wind an. »Wir oder die anderen?«
Karl gab die Frage nach vorne weiter.
»Die anderen!«, hörte Günni kurze Zeit später Brigitte rufen, welche direkt vor seinem besten Kumpel flog.
Karl drehte seinen Kopf zu ihm: »Die an...«
»Schon gut, hab’s gehört!«, rief Günni ihm zu. Wie immer flog er an letzter Position, niemanden mehr hinter sich, an den er die Info weitergeben musste. Es reichte. Der Gänserich hatte den Schnabel gestrichen voll. Er brach nach links aus Karls Windschatten aus, schlug ein paar Mal kräftiger mit den Flügeln und schon war er mit ihm gleichauf. »Das ist Tyrannei! Du weißt, dass ich recht habe.«
»Alter, bitte nicht schon wieder.«
»Oh, doch! Schon wieder. Und überhaupt, warum bist du zur Abwechslung nicht mal auf meiner Seite?«, fragte Günni.
Karl schaute zum anderen Schenkel der Formation. »Bin ich doch«, sagte er.
»Sehr witzig. Du weißt schon, was gleich passieren wird, oder?«
»Wir lassen Wuppertal erfolgreich hinter uns?«
»Nein! Wobei … ja. Aber das meinte ich nicht. Er übernimmt die Spitze.«
»Du meinst Nils?«
»Ja. Nils.«
»Na und?«, fragte Karl.
Brigitte meldete eine Anweisung von weiter vorn: »Kurskorrektur um drei Grad Steuerbord!«, rief sie und glich ihre Position dem neuen Befehl an. Karl tat es ihr gleich und flog ebenfalls ein Stück nach rechts, bis in den Auftrieb ihrer Wirbelschleppe.    
Günni verringerte den Abstand, bis sie erneut auf gleicher Höhe flogen. »Jetzt tu’ nicht so! Der Typ ist ein Pedant. Ständig meint er, alles besser zu wissen. Und dann seine arrogante Art …«
»Er bemüht sich halt um Effizienz«, erwiderte Karl.
»›Pfff‹ … das tue ich auch«, maulte Günni.
»Ach ja? Wann?«
»Immer! Wie oft habe ich schon vorgeschlagen, etwas Neues auszuprobieren? Einfach mal die alten Muster zu durchbrechen? Wenn sie mir nur einmal die Führung geben würden, dann …«
»Jetzt fang bloß nicht wieder mit der ›Raute‹ an …«, stöhnte Karl.
»Die Raute …«, fiel Günni ihm ins Wort »ist eine der vielversprechenden Flugformationen in der Geschichte der Aerodynamik!«
»Sagt wer?«
»Ich!«
Brigittes Stimme ertönte angespannt von vorne: »Passagiermaschine auf 12:00 Uhr! Ausweichmanöver einleiten!«, rief sie, legte die Flügel an und tauchte wie der Schwarm vor ihr im Sturzflug ab. Karl und Günni folgten ihr. Die Boing 747 donnerte über ihre Köpfe hinweg und es dauerte einen Moment, bis der Vogelzug seine Formation wiederfand.     
Karl seufzte. »Okay, Alter. Ich spiel ausnahmsweise mit. Nenn’ mir zwei zuverlässige Quellen, die deine ›Rauten-Theorie‹ bekräftigen.«
Für einen kurzen Moment schwieg Günni der Gänserich, offenbar dachte er nach, während unter ihnen der Stadtteil Elberfeld im tristen Graubraun vorbeizog.
»Dieter und Jérome«, sagte er schließlich.
»Wer soll das sein?«
»Du kennst sie! Die beiden vom Teich, du weißt schon, die immer so für Stimmung sorgen!«
Karl schnappte nach Luft. »Die beiden Spinner? Das sind Flamingos!«
»Jetzt sei mal nicht so borniert, ja?«
»Was? Ich …«
»Die Raute«, begann Günni von Neuem,  »ist ein majestätisches Symbol, dass es als Formation zu erforschen gilt. Ich verwette meine Schwanzfedern, dass wenn wir …«
»Was ist hier los?«, schnitt eine strenge Stimme ihm das Wort ab.
Günni und Karl schauten beide nach rechts.
»Hallo Nils«, sagten sie unisono. Karl schlug mit einem Mal ein wenig kräftiger mit den Flügeln.
»Darf ich fragen, was das hier wird, wenn’s fertig ist?« Nils ignorierte Karl und sprach direkt mit Günni.
»Was meinst du?«, fragte dieser.
»Wieso verlässt du deinen zugewiesenen Platz?« Nils Stimme war kälter als der schneidende Nordwind.
»Was? Ich … äh … nein, wir haben nur …«, stammelte Günni.
»Studien haben ergeben, dass eine Nichteinhaltung der korrekten Flugpositionen innerhalb der Formation zu einem Energieeffizienzabfall von bis zum 37% führen kann«, blaffte Nils.
»Ja, aber …«
»Das hätte zur Folge, dass wir unser Etappenziel verspätet erreichen. Was wiederum dazu führen würde, dass wir auch im Winterquartier nicht wie geplant eintreffen. Was, wie du dir vielleicht denken kannst, absolut nicht akzeptabel wäre.«
Günni schwieg.
Nils taxierte ihn. »Wie heißt du?«
»Gün…ther.«
»Okay, Günther, jetzt pass mal gut auf. In etwa einem Kilometer übernehme ich die Spitze und wenn ich später erfahre, dass du nochmal aus der Reihe getanzt bist, dann wird das Konsequenzen für dich haben.«
Günni hob einen Flügel. »Darf ich was fragen?«
Nils Augen verengten sich zu schmalen Schlitzen. »Was?«
»Das Winterquartier. Wird es dieses Jahr Tunesien werden?«
Der Gänserich bedachte ihn mit einem sehr langen, sehr ernsten Blick. »Wir fliegen nie nach Tunesien«, zischte er. »Niemals. Es ist Italien. Und es wird immer Italien sein.«
Günni schluckte.
»Hab ich mich klar ausgedrückt?«, fragte Nils.
Günni nickte und reihte sich unter dem vernichtenden Blick des Gänserichs wieder hinter Karl ein.
»Das will ich dir auch geraten haben«, schnauzte Nils und flog nach vorne, in Richtung Keilspitze.
Karl atmete hörbar aus. »Puh, das war hart«, sagte er über die Schulter hinweg.
Günni brach nach links aus und flog erneut neben seinen Kumpel. »Hat er gerade gesagt, wir fliegen nach Italien?«
»Ins europäische Quartier. Was dachtest du denn?«, fragte Karl, bevor er seinen eigenen Fehler bemerkte und hastig nachschob: »Nein warte, ich …«, doch da war es bereits zu spät.
»Ha! Ich wusste es!«, triumphierte Günni. »Zehn Jahre in Folge! Meine ›Quartier-Theorie‹ hat sich damit bestätigt! Nils und seine Flügelmänner sind allesamt afrophobe … «
Karl hörte nicht mehr zu, sondern gab sich Mühe, seine Flugposition exakt hinter der von Brigitte einzuhalten.

ENDE



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Was einmal gedacht wurde, kann nicht mehr zurückgenommen werden.
Friedrich Dürrenmatt
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Grim
Eselsohr


Beiträge: 280



Beitrag27.10.2021 12:09

von Grim
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Ich finde die Idee nett und es ist unterhaltsam zu lesen.Bei: "der, der am Teich immer für Stimmung sorgt" musste ich lachen.

Ein wenig fehlt aber der Spannungsbogen bzw. irgendein Twist.
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Lindwurm
Geschlecht:weiblichSchneckenpost
L

Alter: 39
Beiträge: 9



L
Beitrag08.11.2021 11:50

von Lindwurm
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Hallo Seth,

Ich bin der gleichen Meinung wie Grim. Die Idee ist witzig und die Geschichte hat Schwung. Beim Lesen fühlte ich mich gut unterhalten.
Die Gänse hätten ein Finale verdient.

Danke und schöne Grüße

Lindwurm
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Merlinor
Geschlecht:männlichArt & Brain

Alter: 72
Beiträge: 8676
Wohnort: Bayern
DSFo-Sponsor


Beitrag08.11.2021 12:19

von Merlinor
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Hallo Seth Gecko

Ich schließe mich meinen Vorrednern an: Deine Geschichte ist sprachlich sauber und flüssig geschrieben. Sie ist unterhaltsam, aber es fehlt ein wenig die dramatische Würze.
Mein Fazit: Ich habe sie mit Vergnügen gelesen, doch wie Lindwurm sagt: "Die Gänse hätten ein Finale verdient".

LG Merlinor


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„Ich bin fromm geworden, weil ich zu Ende gedacht habe und nicht mehr weiter denken konnte.
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Gast







Beitrag08.11.2021 12:32

von Gast
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Hallo Seth,

schon unterhaltsam und witzig, aber inhaltlich sowas von fernab jeder physikalischen Korrektheit, dass man den Realitätsbezug völlig ausblenden muß... fängt schon mit "Auftrieb hinter der Wirbelschleppe" an. Das ist zwar nicht exakt ein Oxymoron, aber sieh z.B. mal hier: https://www.dlr.de/next/desktopdefault.aspx/tabid-6683/10964_read-25018/ . Wenn man/vogel weit genug hinter einer Wirbelschleppe fliegt, um nicht in deren Turbulenzbereich zu fliegen (best case, denn mit dem Fliegen in einer Wirbelschleppe ist nicht zu spaßen!), fliegt man/vogel in ruhiger Luft. Alle Fluggeräte mit Eigenantrieb (also auch Vögel) können ihren Auftrieb selber generieren; thermisch bedingter Auftrieb ist aber durch Warmluftaufstieg bedingt und hat mit Wirbelschleppen nicht das Geringste zu tun (sorry, ich bin ein Gleitschirmflieger... Wink)

Außerdem ist es für einen in der Formation fliegenden Vogel sehr unattraktiv, vorne dran zu fliegen, denn die Energieersparnis ist ja genau das, weswegen die Formation überhaupt exisitert. Jeder Vogel ist (um es mit Menschenterminologie auszudrücken) gottfroh, nicht vorne fliegen zu müssen. Das ist so ein bißchen wie die Pinguintrauben in der Antarktis: Kein Pinguin möchte gerne draußen stehen. Je näher im Zentrum, desto besser für den eigenen Wärmehaushalt. Durch den Positionswechsel hat also Jede/r mal die Arschkarte (bei den Pinguinen außen, bei den Zugvögeln vorne), gibt die aber gerne so schnell wie möglich ab.

Also Du drehst die Prämisse so ein bißchen (um nicht zu sagen völlig) auf den Kopf. Zusammen mit den physikalischen Inkonsistenzen ist das aber weder kompletter Nonsens (dann wäre es wieder gut) noch in irgend einer Form glaubhaft.

Vom Handwerklichen her aber sonst nichts zu beanstanden.
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Seth Gecko
Geschlecht:männlichLeseratte


Beiträge: 131
Wohnort: Neu-Bielefeld


Beitrag08.11.2021 14:18

von Seth Gecko
pdf-Datei Antworten mit Zitat

Zitat:
Hallo Seth,

schon unterhaltsam und witzig, aber inhaltlich sowas von fernab jeder physikalischen Korrektheit, dass man den Realitätsbezug völlig ausblenden muß... fängt schon mit "Auftrieb hinter der Wirbelschleppe" an. Das ist zwar nicht exakt ein Oxymoron, aber sieh z.B. mal hier: https://www.dlr.de/next/desktopdefault.aspx/tabid-6683/10964_read-25018/ . Wenn man/vogel weit genug hinter einer Wirbelschleppe fliegt, um nicht in deren Turbulenzbereich zu fliegen (best case, denn mit dem Fliegen in einer Wirbelschleppe ist nicht zu spaßen!), fliegt man/vogel in ruhiger Luft. Alle Fluggeräte mit Eigenantrieb (also auch Vögel) können ihren Auftrieb selber generieren; thermisch bedingter Auftrieb ist aber durch Warmluftaufstieg bedingt und hat mit Wirbelschleppen nicht das Geringste zu tun (sorry, ich bin ein Gleitschirmflieger... Wink)


Kein Grund sich zu entschuldigen. Es sind sprechende Vögel, daher darf man die Realität an dieser Stelle gerne ausblenden und einfach Spaß haben.

Zitat:

Also Du drehst die Prämisse so ein bißchen (um nicht zu sagen völlig) auf den Kopf. Zusammen mit den physikalischen Inkonsistenzen ist das aber weder kompletter Nonsens (dann wäre es wieder gut) noch in irgend einer Form glaubhaft.


Das bisschen an realistischer "Korrektheit" habe ich tatsächlich Wikipedia entnommen:
https://de.wikipedia.org/wiki/V-Formation
Vielleicht müsste da dann mal jemand den Artikel ändern.

Zitat:

Vom Handwerklichen her aber sonst nichts zu beanstanden.


Ich danke Dir! Es folgt sofort die neue Fassung, jetzt auch mit Finale und sogar Moral... wink

Beste Grüße
Seth


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Friedrich Dürrenmatt
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Seth Gecko
Geschlecht:männlichLeseratte


Beiträge: 131
Wohnort: Neu-Bielefeld


Beitrag08.11.2021 14:20

von Seth Gecko
pdf-Datei Antworten mit Zitat

Es geschah über Wuppertal.
»Wechsel der Führungsspitze in drei Kilometern!«, gab Karl nach hinten durch.
»Welcher Schenkel?«, schrie Günni gegen den Wind an. »Wir oder die anderen?«
Karl reichte die Frage nach vorne weiter.
»Die anderen!«, hörte Günni kurze Zeit später Erika kreischen, welche direkt vor seinem besten Kumpel flog.
Karl drehte seinen Kopf zu ihm: »Die an...«
»Schon gut, hab’s gehört!«, rief Günni ihm zu. Wie immer flog er an letzter Position, niemanden mehr hinter sich, an den er die Info weitergeben musste. Doch genug war genug. Der Gänserich hatte den Schnabel gestrichen voll. Er brach nach links aus, verließ damit Karls Windschatten, schlug ein paar Mal kräftiger mit den Flügeln und schon war er mit ihm gleichauf. »Das ist Tyrannei! Du weißt, dass ich recht habe.«
»Alter, bitte nicht schon wieder.«
»Oh, doch! Schon wieder. Und überhaupt, warum bist du zur Abwechslung nicht mal auf meiner Seite?«, fragte Günni pikiert.
Karl schaute zum anderen Schenkel der V-Formation. »Bin ich doch«, sagte er.
»Sehr witzig. Du weißt schon, was gleich passieren wird, oder?«
»Wir lassen Wuppertal erfolgreich hinter uns?«
»Nein! Wobei … ja. Aber das meinte ich nicht. Es ist immer dasselbe: Uwe gibt den Ton an und übergibt ihm das Kommando.«
»Du meinst Nils?«
»Ja. Nils.«
»Na und?«, fragte Karl.
Erika meldete eine Anweisung von weiter vorn: »Kurskorrektur um drei Grad Steuerbord!«, krähte sie und glich ihre Position dem neuen Befehl an. Karl tat es ihr gleich und flog ebenfalls ein Stück nach rechts, bis in den Auftrieb ihrer Wirbelschleppe.    
Günni verringerte den Abstand, erneut lagen sie auf gleicher Höhe. »Jetzt tu’ nicht so! Du hörst es doch selbst. ›Kurskorrektur um drei Grad …‹«, äffte er Erikas Mundart nach. Die Gans warf ihm einen bösen Schulterblick zu. Günni streckte ihr die Zunge heraus und ignorierte sie wieder. »Diese Typen sind totalitäre Pedanten! Umgeben von Speichelleckern, wie Wilhelm und Heinz.« Sein Kopf ruckte nach vorn zu der Keilspitze, um seine Aussage zu unterstreichen. »Ständig meinen sie, alles besser zu wissen. Und dann ihre arrogante Art …«
»Sie bemühen sich halt um Effizienz«, erwiderte Karl.
»›Pfff‹ … das tue ich auch«, maulte Günni.
»Ach ja? Wann?«
»Immer! Wie oft habe ich schon vorgeschlagen, etwas Neues auszuprobieren? Einfach mal die angestaubten Muster zu durchbrechen? Was diesem Schwarm fehlt ist Progressivität! Wenn sie mir nur einmal die Führung geben würden, dann …«
»Jetzt fang bloß nicht wieder mit der ›Raute‹ an …«, stöhnte Karl.
»Die Raute …«, fiel Günni ihm ins Wort »ist eine der vielversprechenden Flugformationen in der Geschichte der Aerodynamik!«
»Sagt wer?«
»Ich!«
Karl seufzte. »Okay, Alter. Ich spiel ausnahmsweise mit. Nenn’ mir zwei zuverlässige Quellen, die deine ›Rauten-Theorie‹ bekräftigen.«
Für einen kurzen Moment schwieg Günni der Gänserich, offenbar dachte er nach, während unter ihnen der Stadtteil Elberfeld im tristen Graubraun vorbeizog.
»Dieter und Jérome«, sagte er schließlich.
»Wer soll das sein?«
»Du kennst sie! Die beiden vom Teich, du weißt schon, die immer so für Stimmung sorgen!«
Karl schnappte nach Luft. »Die beiden Spinner? Das sind Flamingos!«
»Jetzt sei mal bitte nicht so borniert, ja?«
»Was? Ich …«
»Die Raute«, begann Günni von Neuem,  »ist ein majestätisches Symbol, das es als Formation zu erforschen gilt. Ich verwette meine Schwanzfedern, dass wenn es der Schwarm ein Mal, nur ein einziges Mal versuchen könnte, wir niemals mehr anders fliegen wollen würden!«
Karl schmunzelte. Nach einer kurzen Pause knuffte er seinen Kumpel ins Gefieder und fügte hinzu: »Weißt du was? Ich würde jederzeit mit dir in einer Raute fliegen.«
Günni strahlte über das ganze Gesicht. »Alter! Wir wären die Könige von …«  
»Was ist hier los?«, schnitt eine strenge Stimme ihm das Wort ab.
Günni und Karl schauten beide nach rechts.
»Hallo Nils«, sagten sie unisono. Karl schlug mit einem Mal ein wenig kräftiger mit den Flügeln.
»Darf ich fragen, was das hier wird, wenn’s fertig ist?« Nils ignorierte Karl und sprach direkt mit Günni.
»Was meinst du?«, fragte dieser.
»Wieso verlässt du deinen zugewiesenen Platz?« Nils Stimme war kälter als der schneidende Nordwind.
»Was? Ich … äh … nein, wir haben nur …«, stammelte Günni.
»Studien haben ergeben, dass eine Nichteinhaltung der korrekten Flugpositionen innerhalb der Formation zu einem Energieeffizienzabfall von bis zu 37% führen kann«, blaffte Nils.
»Ja, aber …«
»Das hätte zur Folge, dass wir unser Etappenziel verspätet erreichen. Was wiederum dazu führen würde, dass wir auch im Winterquartier nicht wie geplant eintreffen. Was, wie du dir vielleicht denken kannst, absolut inakzeptabel wäre.«
Ein Bariton wehte von der Keilspitze herüber: »Nils!«
»Bin gleich da, Uwe!«, antwortete der Gänserich. Günni schwieg. Nils taxierte ihn. »Wie heißt du?«
»Gün…ther.«
»Okay, Günther, jetzt pass mal gut auf. In etwa einem Kilometer übernehme ich die Leitung und wenn ich später erfahre, dass du noch mal aus der Reihe getanzt bist, dann wird das Konsequenzen für dich haben.«
»Nils!« Uwe rief seinen Stellvertreter erneut. Dieser setzte zum Abflug an.  
Günni hob einen Flügel. »Darf ich was fragen?«
Nils hielt inne, seine Augen verengten sich zu schmalen Schlitzen. »Was?«
»Das Winterquartier. Wird es dieses Jahr Tunesien werden?«
Der Gänserich bedachte ihn mit einem sehr langen, sehr ernsten Blick. »Wir fliegen nie nach Tunesien«, zischte er. »Niemals. Es ist Italien. War es immer. Und es wird immer Italien sein.«
Günni schluckte.
»Hab ich mich klar ausgedrückt?«, fragte Nils.
Erika entließ ein Quietschen, als sich drei wohlgenährte Gänseriche in einer Phalanx von vorn näherten. Der mittlere knarrte mit tiefer Stimme: »Nils! Ich habe dich bereits zweimal gerufen. Du hast deinen Einsatz verpasst. Wir verlieren wertvolle Energie!«
Günni registrierte, wie bei der Standpauke ein Ruck durch das Gefieder seines Widersachers lief. »Uwe! Heinz, Wilhelm!« Nils setzte ein gequältes Lächeln auf. »Dieser renitente Querulant hier hat mich von der Arbeit abgehalten.« Mit seinem linken Flügel zeigte er auf den Angeklagten.
»Was!«, entfuhr es Günni. »Das ist Verleumdung! Ich habe nie …«, doch ein Wink von Uwes Flügel brachte ihn zum Schweigen.
»Günther. Was ist es diesmal? Willst du unsere Ernährung auf Fleisch umstellen? Oder sollen wir uns fortan mit Störchen paaren? Nein, lass mich raten, es ist natürlich wieder einmal …  ›die Raute‹!«, knarrte Uwe und wechselte einen Blick mit seinen Untergebenen. Heinz und Wilhelm glucksten, sichtlich amüsiert.
Günnis Schnabel klappte auf. Alle Augen lagen auf ihm. Die Wahrheit brannte wie ein heißer Ball in seinem Magen, langsam kroch sie ihm durch die Kehle, fast schon hatte sie die Zunge erreicht. Da sah er Nils süffisantes Grinsen. Und Karl, in dessen Augen ein Flehen lag und der fast unmerklich den Kopf schüttelte.
Günni sah beschämt zum Boden. »Es tut mir leid, wenn ich mal wieder den Betrieb gestört habe, es kommt nicht wieder vor«, flüsterte er und klappte den Schnabel zu.
»So ist’s recht«, brummte Uwe zufrieden.
»Das will ich dir auch geraten haben«, schnauzte Nils und die vier schickten sich an, abzufliegen.
Jemand stupste Günni sanft in die Seite. Er schaute auf. Es war Karl. Der flehende Blick war verschwunden. »Es tut mir leid«, sagte Karl leise und Günni erkannte, dass sein Freund Mitleid mit ihm hatte.
Die Wahrheit entfachte zu einem glühenden Ball, der lodernd aus seinem Schnabel schoss: »Hey! Ihr dämlichen Vögel! Ihr seid der Raute nicht würdig und würdet wahren Fortschritt nicht mal dann erkennen, wenn er im Gänsemarsch vor euch herwatscheln würde!
»Äh … was?«, fragte Karl, direkt neben ihm.
»Keine Ahnung, ich bin auf hundertachtzig!«, schrie Günni.
»Es reicht!«, rief Uwe. Die vier kamen zurück und plusterten sich vor den beiden auf. »Günther, ich bin es ein für alle Mal leid. Mit deinem abstrusen Gedankengut bist du eine ernsthafte Gefahr für die Gruppe. Sobald wir das Quartier an der Adria erreicht haben, werde ich beim obersten Gänserich Eberhardt ein Straftribunal fordern. Du wirst aus diesem Schwarm ausgeschlossen. Auf Lebenszeit!«
»Ach, leck mich am Bürzel, Uwe!«
»Wie kannst du es wagen …«, echauffierte sich Nils, doch es war Erika, deren Schrei alles übertönte: »Passagiermaschine auf 12:00 Uhr! Ausweichmanöver!«, kreischte sie, legte die Flügel an und tauchte im Sturzflug ab. Karl tat es ihr gleich und riss Günni mit sich in die Tiefe.
Die Boeing 747 donnerte über ihre Köpfe hinweg und die Hitzewelle des Abgasstrahls erfasste ihre Leiber und schleuderte sie hinfort. Günni hörte über sich noch das erschrockene Krächzen von Nils und Uwe, als das Duo ins Triebwerk gesogen wurde…

Karl war mit seinen Kräften am Ende.
»Land in Sicht, ich sehe die Küste!«, wehte Erikas heisere Stimme von der Spitze der Formation.
»Was habe ich dir gesagt, Alter!«, rief Günni von links, völlig außer Atem. »Wir schaffen es.«
Karls müder Blick wandte sich ab. Sie waren bloß noch zu viert. Alle anderen waren längst an Überanstrengung vom Himmel gefallen wie gefiederte Steine.
Erika flog vorn, sie hatte sich als ausgezeichneter Navigator hervorgetan. Günni bildete den einen Flügel, er selbst den anderen. Gustav flog hinten, er hatte nur durch pures Glück überlebt.
Die perfekte Raute.
»Du wirst sehen Karl, das wird tausendmal besser als Italien«, ächzte Günni von der Seite.
»Ich rede nicht mehr mit dir!«
Schweigend flogen sie auf das tunesische Festland zu. Natürlich konnte Günni es nicht lassen: »Du weißt aber schon, was die Moral von der Geschichte ist, oder?«
Karl knirschte mit dem Schnabel. »Sag’s mir, Günni, bevor ich dich umbringe!«
Sein Kumpel wartete einen Moment, dann sagte er feierlich: »Traue niemals einem Flamingo.«

ENDE


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wohe
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W

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Beiträge: 632
Wohnort: Berlin


W
Beitrag08.11.2021 14:46

von wohe
Antworten mit Zitat

Hi Seth Gecko,

Die 2. Version ist mit ihren Toten weniger locker als die 1.
Hat mir trotzdem gefallen, aber
Zitat:
Traue niemals einem Flamingo
Das scheint mir nicht schlüssig, denn von denen stammt doch die Idee mit der Raute und als solche kommen sie ja in Afrika an und es ist nicht so, dass Günni ("... feierlich") sich davon distanziert.

Btw. hierzu passt einer meiner Lieblingscartoons (der Link ist ein Google-Ergebnis zu "Echte Vögel kotzen nicht").
https://www.fs.tum.de/~rutzi/echte_Voegel_kotzen_nicht2.html

MfG Wohe
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Globo85
Geschlecht:männlichKlammeraffe

Alter: 38
Beiträge: 742
Wohnort: Saarland
Das silberne Eis in der Waffel DSFo-Sponsor


Beitrag08.11.2021 14:47

von Globo85
Antworten mit Zitat

Hallo Seth,

ich mag deine neue Version! (Die Ursprungsversion und auch die Kommentare hab ich nicht gelesen.)

Musste an vielen Stellen schmunzeln und ich finde deine Dialoge richtig richtig gut!

Stünde der Text im Feedback würde ichs dabei belassen, da wir in der Werkstatt sind noch ein paar wirkliche Kleinigkeiten, die wohl auch alle unter "Geschmacksache" fallen:

Seth Gecko hat Folgendes geschrieben:
tu’

Hast du auch an ein paar anderen Stellen genutzt, das Auslassungszeichen. Ist aber (meines Wissens nach) nicht zwingend und lässt mich persönlich immer minimal stolpern.

Zitat:
»Na und?«, fragte Karl.
[...]
»Was meinst du?«, fragte dieser.

Ich finde deine Inquits ganz gut dosiert, aber an den beiden Stellen finde ich sie wirklich redundant, da die Sprechenden klar erkennbar sind und das "fragte" keinerlei weitere Information trägt, als das eine Frage gestellt wird, was wiederrum durch das "?" ja schon deutlich ist.

Aber wie gesagt: das sind absolute Peanuts.

Sehr gerne gelesen!!
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Gast







Beitrag08.11.2021 15:22

von Gast
Antworten mit Zitat

Seth Gecko hat Folgendes geschrieben:


Zitat:

Also Du drehst die Prämisse so ein bißchen (um nicht zu sagen völlig) auf den Kopf. Zusammen mit den physikalischen Inkonsistenzen ist das aber weder kompletter Nonsens (dann wäre es wieder gut) noch in irgend einer Form glaubhaft.


Das bisschen an realistischer "Korrektheit" habe ich tatsächlich Wikipedia entnommen:
https://de.wikipedia.org/wiki/V-Formation
Vielleicht müsste da dann mal jemand den Artikel ändern.



Nein nein, der Artikel ist ok, aber dein Text steht damit im Widerspruch.
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