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Engelchen – Keine Kleingartenidylle


 
 
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Federfuchser
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Beiträge: 147



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Beitrag19.07.2021 09:28
Engelchen – Keine Kleingartenidylle
von Federfuchser
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Der Schauplatz
 
   Mit einem Kasten Bier fing alles an, mit einer Tüte Trinkschokolade hörte es auf...
   Um es klar zu sagen: Die Kleingartenanlage „Am Kalkbruchsee e. V.“ gehört nicht zu den Örtlichkeiten, die man unbedingt gesehen haben muss.   Es würde nur der Trübsal die Schleusen öffnen. Sie steht auch in keinem Stadtführer.
   An langen Zäunen vorbei, vorbei an Scheinzypressen, Taxodien und anderen dunklen Gestalten der Pflanzenwelt (gegen die ein mickrig blühender Pflaumenbaum wie eine mai-fröhlich geschmückte Festwiese erscheint), gelangt man in das Mietskasernen-Viertel der Oberstadt, zu dem die Kleingartenkolonie gehört. Beide, Oberstadt und Kleingartenanlage, verströmen – auch dies soll gesagt sein – den Geruch gutbürgerlicher Wohlanständigkeit, umweht von einem Hauch Küchendunst. Alles erscheint wie aus dem Ei gepellt – die Autos gewaschen, die Wege gefegt, die Grünflächen gemäht, die Mülleimer geleert. An späten Sommerabenden, wenn der sterbende Sonnengott sein Blut über die Stadt ausgießt, wirkt das Viertel, als wären seine Gärten nicht nur mit Blaukorn, sondern auch mit dem Schweiß der Rechtschaffenheit gedüngt.   
   Also eine Kleingartenanlage wie alle anderen auch?
   Jein. Zumindest nicht, was ihren vorderen, seewärtigen Teil betrifft. Auch Besucher, die dem Gedankengut des Daniel Gottlieb Moritz Schreber, ehemals Professor der Medizin zu Leipzig, nicht nahestehen, müssen zugeben: Das hat was! Zum See hin bricht der Grund nämlich fast dreißig Meter tief ab, wodurch sich ein herrliches Weitblick ergibt: Unten die gekräuselte Frohnatur des Sees, oben nachdenklich zerwühlte Wolkenkissen, dazwischen wie eine köstliche Fata Morgana das Panorama der alten Stadt mit ihren Mauern, Türmen und Zinnen, ein Highlihgt über trostloser Vorstadt-Einöde. Die Spitztürme der beiden Hauptkirchen ragen wie die Masten einer riesigen Kogge himmelwärts, Erinnerung an stolze Hanseaten-Herrlichkeit. Die Rundbögen ihrer Mauern – –
   Ich weiß. Der Kasten Bier!       
   Schon rollt er an, auf sandig-kiesigem Weg – dem Bubiweg – oben drauf die Hauptperson der Geschichte, Engelchen, davor der Vater, strirnenschweißbeperlt: Es ist nicht nur warm, sondern der Weg auch ziemlich anhöhig, die Schubkarre unwillig und anscheinend vom Drang beseelt, es dem Schieber möglichst schwer zu machen. Doch nun ist das Ziel erreicht, die Parzelle Nr. 26, nicht unbedingte das gelobte, aber doch das erstrebte Land, das Kleingartenparadies, jener eng bemessene Teil der Erdoberfläche, in oder auf dem nicht nur der elende Wurm Wurm, sondern auch der elende Wurm Mensch sich lang oder kurz machen, Verlierer oder Sieger sein kann, je nachdem, wo er sich gerade aufhält. Denn dieses Paradies, dieses Idyll, dieses schweißgetränkte Stückchen Erde, ist wie alle Paradiese und Idylle bedroht, doch diesmal nicht vom Menschen, sondern von Mutter Natur höchstpersönlich. Die Abbruchkante bröckelt, löst sich auf, besonders nach Starkregen und Hagelschlag, rutscht dann sang- und klanglos in die Tiefe, an legalem Brombeergebüsch und illegalen Gartenabfällen vorbei. Alles nur, weil der Abhang aus weichem Kalkmergel besteht, früher als Baumaterial hochgeschätzt, heute ein Albtraum derer, die an der Kante werkeln: Ein gefühlloser Wettergott stiehlt ihnen Jahr für Jahr bis zu einem halben Meter Paradies. Oder, um es geografisch auszudrücken: Die negative Kleingartenverschiebung landeinwärts schreitet unaufhaltsam voran.      
   Weil dem so ist und sich daran auch nichts ändern lässt, hat Heinz – wir bleiben zunächst bei Vornamen (erstens, weil sich hier oben alle duzen, zweiten, weil keineswegs alle Nachnamen bekannt sind, drittens, weil ich Heinz und Kai absolut passend finde, viertens, weil es so gemütlicher klingt) – aus diesem Grunde hat Heinz schon vor zehn Jahren eine Hecke in sicherem Abstand vom Abgrund gepflanzt. Damals waren es zwei Meter, mittlerweile sind es noch kümmerliche fünfzig Zentimeter. Immerhin, Heinz kann nun durch ein Loch in der Hecke bequem seinen Grünabfall den Hang hinunterkippen – was er nicht darf, denn er verfüllt damit das darunter liegende Naturschutzgebiet. Was soll´s! Auch Gras und Laub sind Natur!
    Normalerweise steht die Karre, mit dampfender Rasenmahd oder dergleichen gefüllt, aus Sicherheitsgründen vor der Heckenlücke. Doch nun fehlt sie, da zu höherer Verwendung berufen; der Blick geht frei auf lockeres Pappellaub, das in der starken Sonne wie Lametta glänzt, und dahinter –
   Heinz, der Gartenpächter und Kais Freud noch aus Schultagen, ist gerade dabei, den Grillkohlen glühende Augen einzuhauchen; seine Frau Martha, in der winzigen Küche der winzigen Laube, wickelt das üppig bemessene Grillgut aus. Kai hebt Engelchen vom Bierkasten und stellt es auf die Füße, dann folgt das Laufrädchen.
   „Fahr nicht zu nah an die Hecke heran, Engelchen, hörst du?“, mahnt der Vater. „Da unten lauert ein großer böser Wolf!“ Er nimmt den Bierkasten an den langen Arm und bringt ihn ins „Kabuff“.
   Als er wieder zurückkommt, ist Engelchen verschwunden.

Forts. folgt

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Elisa
Eselsohr
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Beiträge: 276



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Beitrag19.07.2021 10:38
Re: Engelchen – Keine Kleingartenidylle
von Elisa
Antworten mit Zitat

Hallo Federfuchser,

das arme Engelchen! Ich habe Deine Geschichte gern gelesen, kann mir diese Kleingartenidylle gut vorstellen.
Ich würde sie noch ein bisschen straffen, dann steigt die Spannung.
Anbei ein paar kleine Anmerkungen. Ich habe sie ganz gelesen, muss jetzt aber leider los, deshalb mein Kommentar nur bis zur Textmitte.

Lg Elisa

Federfuchser hat Folgendes geschrieben:
Mit einem Kasten Bier fing alles an, mit einer Tüte Trinkschokolade hörte es auf...

... hörte es auf ... (Leerzeichen fehlt)
Ich nehme an, Engelchen wird in der Fortsetzung gerettet, und dann gibt es zur Beruhigung Trinkschokolade, oder?

Federfuchser hat Folgendes geschrieben:
Um es klar zu sagen: Die Kleingartenanlage „Am Kalkbruchsee e. V.“ gehört nicht zu den Örtlichkeiten, die man unbedingt gesehen haben muss.   Es würde nur der Trübsal die Schleusen öffnen. Sie steht auch in keinem Stadtführer.
(Blau: Leerzeichen zuviel)
   An langen Zäunen vorbei, vorbei an Scheinzypressen, Taxodien und anderen dunklen Gestalten der Pflanzenwelt (gegen die ein mickrig blühender Pflaumenbaum wie eine mai-fröhlich geschmückte Festwiese erscheint), gelangt man in das Mietskasernen-Viertel der Oberstadt, zu dem die Kleingartenkolonie gehört.

Ist der Begriff "Taxodien" geläufig? Ich kenne ihn nicht, würde einen leicht verständlichen Namen nehmen.
Klammer finde ich überflüssig.

Federfuchser hat Folgendes geschrieben:
Beide, Oberstadt und Kleingartenanlage, verströmen – auch dies soll gesagt sein – den Geruch gutbürgerlicher Wohlanständigkeit, umweht von einem Hauch Küchendunst. Alles erscheint wie aus dem Ei gepellt – die Autos gewaschen, die Wege gefegt, die Grünflächen gemäht, die Mülleimer geleert.
An späten Sommerabenden, wenn der sterbende Sonnengott sein Blut über die Stadt ausgießt, wirkt das Viertel, als wären seine Gärten nicht nur mit Blaukorn, sondern auch mit dem Schweiß der Rechtschaffenheit gedüngt.

Blau: ich finde dieser Ausdruck passt nicht zum gewollten Schreibstil
Grün: gefällt mir gut!

Federfuchser hat Folgendes geschrieben:
Jein. (Vielleicht besser: Ja und Nein.)
Zumindest nicht, was ihren vorderen, seewärtigen Teil betrifft. Auch Besucher, die dem Gedankengut des Daniel Gottlieb Moritz Schreber, ehemals Professor der Medizin zu Leipzig, nicht nahestehen, müssen zugeben: Das hat was! Zum See hin bricht der Grund nämlich fast dreißig Meter tief ab, wodurch sich ein herrliches (herrlicher) Weitblick ergibt: Unten die gekräuselte Frohnatur des Sees, oben nachdenklich zerwühlte Wolkenkissen, dazwischen wie eine köstliche Fata Morgana das Panorama der alten Stadt mit ihren Mauern, Türmen und Zinnen, ein Highlihgt (Highlight) über trostloser Vorstadt-Einöde. Die Spitztürme der beiden Hauptkirchen ragen wie die Masten einer riesigen Kogge himmelwärts, Erinnerung an stolze Hanseaten-Herrlichkeit. Die Rundbögen ihrer Mauern – – (Pünktchen ...)


Ich bin auf die Fortsetzung gespannt!
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Federfuchser
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Beitrag19.07.2021 14:43

von Federfuchser
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Hallo Lisa,
vielen Dank für dein Feedback! Habe nicht damit gerechnet, dass es so promt kommt!

Das Leerzeichen! Da habe ich doch tatsächlich wieder etwas dazu gelernt! Danke!

Zitat:
Ich nehme an, Engelchen wird in der Fortsetzung gerettet, und dann gibt es zur Beruhigung Trinkschokolade, oder?

Nein, ganz falsch. Zugrunde liegt ein realer Kriminalfall, den ich in eine andere Dimension transponiert habe. Denn was in der Zeitung oder sonstwo steht ist die Oberfläche, ich will sehen, was darunter ist.

Zitat:
Ist der Begriff "Taxodien" geläufig? Ich kenne ihn nicht, würde einen leicht verständlichen Namen nehmen.

Taxodium=Sumpfzypresse.

Zitat:
Blau: Klammer finde ich überflüssig ... ich finde dieser Ausdruck passt nicht zum gewollten Schreibstil

Ich finde es poetisch. Ich sehe, wie die Häuser im Abendlicht erstrahlen. Ich hoffe nicht, dass der Schreibstil "gewollt" wirkt. Außerdem kennst du ihn noch gar nicht. Die Geschichte umfasst 22 ManuSeiten (huch!), zustandegekommen mit Lust am Fabulieren (lat. narrare). Ja, ich bin ein Narr, der die Götter anruft, seltene Wörter und bizarre Redewendungen liebt, Tiere reden lässt, manchmal die Tinte nicht halten kann wie andere das Wasser nicht. Es ist Poesie, keine "nüchterne" Kriminalgeschichte, von der ich hoffe, dass sie der einen oder dem anderen ein paar nachdenklich-vergnügte Minuten beschert.

Zitat:
Die Rundbögen ihrer Mauern – – (Pünktchen ...)

Die Pünktchen lassen den Satz unvollendet, obwohl der Erz. genau weiß, was er sagen will. Er reicht ihn an die Lesenden weiter damit sie sich eigene Gedanken machen ... Die Striche unterbrechen den Satz (so hab ich es irgendwo gelesen). In diesem Fall weiß der Berichterstatter sehr wohl, wie es weitergeht, er unterbricht sich aus verständlichen Gründen.

Zitat:
Ich bin auf die Fortsetzung gespannt!

O welches Lob aus anscheinend kompetentem Munde!

LG

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Federfuchser
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Beitrag25.07.2021 10:35

von Federfuchser
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Das Unglück                                                                          

   Brandauer ruft vergeblich nach Engelchen, schreit: „Heinz, hast du Engelchen gesehen?“, wartet die Antwort nicht ab – schaut hinter die Hütte, schaut in den Garten, ins Kabuff, hastet zu Martha in die „Küche“, doch es nützt nichts, mit unerbittlicher Härte ruft die Wahrheit – er läuft zur Lücke und blickt nach unten. Das Laufrad liegt auf dem Grünabfall, darunter leuchtet etwas Buntes. Sein Bauch zieht sich zusammen wie ein Braten, den man in heißem Fett wälzt. Er rennt aus dem Garten, hetzt den Bubiweg hinunter zum See, setzt über den Zaun, arbeitet sich, an Herz und Händen blutend, durch Berge von Brombeergestrüpp. Da sieht er Engelchen inmitten einer Schar halbwüchsiger Pappeln, „Engelchen!“, ruft er befreit, „was machst du denn –“ Armseliges Trugbild, eine Lichterscheinung hat ihn genarrt. Verzweifelt wirft er sich durch hinhaltendes Gestrüpp, stolpert über modernde Baumstümpfe, dringt weiter in den Uferbereich vor, in der irren Hoffnung, Engelchen spiele dort friedlich am Wasser. Mit gierigen Blicken sucht er die Seefläche ab – nichts, zumindest kein Engelchen. Er watet in den See hinein und steht schon nach wenigen Schritten bis zum Hals im Wasser. Dass Engelchen schon längst ertrunken sein müsste, kommt ihm nicht in den Sinn. „Ein Kind kann sich doch nicht in Luft auflösen!“ brüllt er wütend und stößt einen lästerlichen Fluch aus, den wiederzugeben ich mich weigere. Aber es scheint tatsächlich, als habe sich Engelchen tatsächlich in Luft aufgelöst. Nirgends auch nur die kleinste Spur, weder auf noch unter der Wasseroberfläche. Brandauer ist dem Wahnsinn nah. Auch Heinz ist mittlerweile vor Ort.„Die Kleine kann sich doch nicht weit gekommen sein, auch wenn sie wie durch ein Wunder unverletzt geblieben ist“, grummelt er. Das Gestrüpp ist dicht, ihre Beinchen sind schwach. Doch alles Suchen bleibt erfolglos, alles Rufen hilft nichts. Es ist unerklärlich. Zerkratzt und blutend geben sie schließlich auf.

   Ach, Engelchen!  Was war es aber auch ein hübsches Kind! Kaum fünf Jahre, und schon eine solche Schönheit. Die großen blauen Augen, das süße Schnütchen, das allerliebste Näschen, die rosigen Pausbäckchen, diese herrlichen blonden Locken . . . und . . . und . . . und . . . Die Großeltern können sich nicht satt sehen. Und die Eltern erst! „Sieht sie nicht goldig aus?“ ruft der Vater ein übers andere Mal und bis über beide Ohren verliebt, „das reinste Engelchen! Mein ein und alles! Mein Augenstern!“
   Ja, das reinste Engelchen. Dass es Monika hieß, geriet allmählich in Vergessenheit.
   Als Engelchen dann verschwunden war, ging für seine Eltern die Sonne nicht mehr auf.

                                                          Schwarze Nacht.

   Ich verzichte auf alle unnötigen erzählerischen Intermezzi. Inzwischen sind ähnliche Fälle spurlos verschwundener Kinder bekannt geworden; so verschwand vor etlichen Jahren die dreijährige Madeleine "Maddie" McCann in Portugal, nach der immer noch gesucht wird. Die kriminalpolizeilichen Maßnahmen, die in solchen Fällen ergriffen werden, wie in unserem Fall von der SOKO „Engelchen“, sind bekannt.
   Zunächst: Monika Brandauer war und blieb verschwunden, obwohl Kripo und Suchdienst Himmel und Hölle in Bewegung setzten, wie man so sagt.
   Als Brandauer, zerkratzt und zu Tode erschöpft, zusammen mit Heinz den Bubiweg hoch stieg, rief er einem zufällig vorbeikommenden Spaziergänger zu: „Engelchen ist verschwunden!“ Eine verständliche Reaktion, oder schon das erste Anzeichen einer seelischen Trübung?
  Verständlich wäre es.
   Da sind die grauenhaften Abende vor dem Fernseher.
  Dann, in gespenstischer Nacht: Brandauer, ein Wanderer in endlosen Trauerhallen, schreckt hoch. Mit schweißnasser Stirn durchleidet er wieder jenen Moment, in dem er auf das Loch in der Hecke starrt und nicht glauben will, was geschehen ist. Die Szene ist eigenartig klar, wie in Kristall geschliffen. Er sieht sich, wie er voller Verzweiflung den Weg hinunter rennt, einen Pfad durch das dichte Ufergebüsch sucht und keinen findet – Engelchen kommt auf ihn zu, ruft: „Papi, Aam!“ Beglückt will er das Kind  hochnehmen – doch seine Hände greifen ins Leere, Engelchen zerfließt ins Unfassbare – –  
    Mit jeder Minute, die der Zeiger der Uhr vorrückt, wächst das Ungeheuer in seinem Kopf, schreit, flüstert, säuselt, raunt, brüllt, bäumt sich auf, greift nach ihm, verfolgt ihn . . . Das Ungeheuer der Selbstvorwürfe . . . Gewissensbisse stürzen sich auf ihn wie eisige Bergbäche . . . Wie konntest du nur . . . du hättest zuerst . . . Das Loch, das Loch, das verfluchte Loch . . . Dann die Drohung mit dem bösen Wolf! Ganz falsch, ganz falsch, ganz falsch . . . Das hat sie erst neugierig gemacht . . . Das Untier tanzt, tobt, hechelt, keucht, schnürt ihm ihm die Kehle zu, nimmt ihm den Atem, hämmert in seinen Schläfen . . .   
   Die furchtbarste Vorstellung: Dass Engelchen gerade ein Leid geschieht . . .
   Er springt aus dem Bett, rennt aus dem Zimmer, aus der Wohnung, aus dem Haus, hört nicht die verstörten Rufe seiner Frau, rennt zum See, rennt zum Zaun, hinter dem Engelchen verschwunden ist, rüttelt verzweifelt am Drahtgeflecht, schreit: „Engelchen, hörst du mich?“ Doch Engelchen antwortet nicht, da ist nur das seichte Plätschern fauligen Wassers, und zwischen den Bäumen schwarze Nacht.
   Brandauer zuckt zusammen. Ein Nachtvogel streicht mit unhörbarem Flügelschlag an seinem Ohr vorbei. „Engelchen!“, ruft er, „so warte doch!“

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FaithinClouds
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Beitrag31.07.2021 10:20
Re: Engelchen – Keine Kleingartenidylle
von FaithinClouds
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Hallo Federfuchser 😄

mir hat der Text wirklich sehr gut gefallen, ich mag die Metaphern und Bilder, den ausholenden Erzähler und den Shift im zweiten Text, wo vor allen Dingen aus Brandauers Perspektive erzählt wird und die innere Zerrüttung von ihm durch diese Stakkato-Sätze treffend dargestellt wird.

Den "sterbenden Sonnengott" fand ich auch zu pathetisch, um ehrlich zu sein.
Ansonsten war die Geschichte rund und hat mich auch bis zum letzten Satz gefangen genommen. Sehr schön!

Danke fürs Reinstellen und schönes Wochenende!
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Federfuchser
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Beitrag17.08.2021 12:53

von Federfuchser
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Hallo FaithinClouds!
Danke für dein freundliches Feedback! Das gibt mir Mut, weiterzumachen! Also auf zum nächsten Kapitel!


                                                                 Es geht bergauf.

   Um mich nicht in langwierigen und mühsamen Beschreibungen von Befindlichkeiten zu verlieren habe ich mich entschlossen, nur noch Kai Brandauers Entwicklung zu schildern und die seiner Frau nur am Rande zu erwähnen. Die Fülle der Emotionen, die dabei zutage träten, fürchte ich, würde jedes empfindsame Herz überlasten und diese Erzählung über die Maßen anschwellen lassen.
   Zunächst fragte ich mich: Wie lange braucht ein Mann wie Brandauer, der seine kleine Tochter abgöttisch geliebt hat und immer noch liebt, um aus Trauer und Niedergeschlagenheit zurück in die Normalität zu finden? Ich sagte mir: Es würde Jahre dauern. Deshalb war ich nicht wenig überrascht, als er schon nach einem halben Jahr wieder begann, sich mit Dingen des täglichen Einerleis zu befassen. Zwar wechsele seine Laune noch rasch zwischen Niedergeschlagenheit und halbherzigem Frohsinn, doch er tat die üblichen Handgriffe, ging, die Lippen zum Pfeifkonzert gespitzt, einkaufen, verteilte Handküsschen, wusch den Wagen, besuchte stille und weniger stille Orte, trieb mit den Nachbarjungen allerlei Schabernack – wie es ein Mensch tut, der unter keinen Umständen verraten will, wie es in ihm aussieht.
    Und immer seltener redete er von Engelchen.  
   Eines Abends stellte seine Frau beim Gutenachtkuss erstaunt fest, dass er den ganzen Tag über noch nicht ein einziges Mal das Wort „Engelchen“ über die Lippen gebracht hatte.
   Sollte ihm Engelchens Bild tatsächlich schon bis zur Unkenntlichkeit verblasst sein?   

                                                                    *                                                       
   Man könnte nun annehmen, dass der Kleingartenverein Kalkbruchsee e. V. ganz  allmählich aus dem Blickfeld Brandauers geriet. Doch genau das Gegenteil war der Fall.
  Der Arzt riet ihm, sein Gehirn wegen der Kopfschmerzen, die ihn in letzter Zeit quälten, gut mit Sauerstoff zu versorgen. Also gewöhnte er es sich an, zweimal am Tag einen ausgedehnten Geländelauf zu machen. Wie von selbst ergab es sich, dass er dazu den Weg um den Kalkbruchsee wählte. Warum er das tat, wusste er selber nicht. Hoffte er immer noch, alles sei nur ein Missverständnis? Hoffte er, Engelchen würde eines Tages auf ihn zukommen und „Papi, Aam!“ rufen? Auf jeden Fall flog er unter lachender Sonne oder regenschwangeren Wolkenbäuchen dahin; wenn er dann, erschöpft und schwitzend wieder zuhause ankam, fühlte er sich befreit von der drückenden Last der eigenen Schuld, und neue seelische Kräfte wuchsen ihm zu.
  Frau Brandauer atmete auf. Erfreut über die wieder erwachte Lebensfreude ihres Mannes nahm sie an, dass ihn das Laufen von seinen Depressionen ablenke. Schon sah sie ein halbwegs normales Familienleben, soweit es unter diesen Umständen möglich war. Auch dass er kaum mehr über seine Tochter sprach, erfüllte sie mit Zuversicht. Sie ließ es sogar ohne zu murren geschehen, dass er sämtliche Fotos von Engelchen verbrannte und ihr Kinderzimmer bis auf die blanken Möbel ausräumte.
   Seine Frau sah es mit Gelassenheit. Das Zimmer würde demnächst sowieso einen neuen Erdengast aufnehmen.
   
   Hmm . . . Erlaubt, dass ich den Bericht kurz unterbreche. Brandauer vernichtete Fotos seiner Tochter? Stehen nicht überall Wohnzimmer, Schlafzimmer, Nachttische, Schreibtische und weiß Gott was alles voll von optischen Erinnerungen? Und Brandauer löscht alles aus?
  Verständlich wird es, wenn man folgendes überlegt: Ein Foto zeigt ja nur, wie Soundso während der Dauer der Belichtungszeit ausgesehen hat, sagen wir: Während einer hundertstel Sekunde. Und das Gesicht vielfach auch noch kokett verzerrt. Wo bleibt da das wahre Wesen, wo die Person, der wirkliche Mensch, vom Schicksal durchdröhnt? Dann ist diese Person in aller Regel auch längst nicht mehr unter den Lebenden. Aber gerade diese Vorstellung ist für Brandauer, so können wir annehmen, immer noch die schrecklichste aller Möglichkeiten. Ha! Engelchen soll leben, wachsen, Fahrrad fahren, zur Schule gehen, sich entfalten, und nicht für immer auf ein paar Millisekunden beschränkt bleiben. Wir vermuten: In seinen Träumen erschien ihm Engelchen nicht, wie er sie zuletzt sah, sondern wie sie zum gegenwärtigen Zeitpunkt aussehen würde. Versteht sich, dass Fotos da nur stören.

                                                          Die ersten Anzeichen.

   Drei oder vier Monate vergingen, bevor Brandauers seelische Veränderung offen zutage trat. Eines Sonntagmorgens, am Frühstückstisch, fing er an, in aller Weitschweifigkeit über Spinnen zu dozieren. Von Vogelspinnen, behaart wie Kleiderbürsten, die ihre Opfer hinterrücks überfallen und gnadenlos aussaugen. Von zehnbeinigen Ungeheuern, schwarze Witwen genannt, die ihre Männer nach dem Liebesakt auffressen und deren Stich ein Kind töten kann. Von spindeldürren Geisterspinnen, die sich mit ekelhafter Schnelligkeit jedem Zugriff entziehen und auch noch mit der halben Anzahl Beine fliehen können. Von Spinnen, die bei Gefahr, um sich größer zu machen, in einen rasenden Taumel verfallen. Von Spinnen mit solch dünnen Beinen, dass man meint, keine Tier, sondern eine rollende Schleimblase vor sich zu haben. Genüsslich schilderte er den Todeskampf einer von giftigem Biss gelähmten Stubenfliege, die sich im Netz einer Kreuzspinne verfangen hatte. Es würde zu weit führen, alle seine Spinnenfantasien zu schildern.
   Immerhin erstaunt, wie geduldig Frau Brandauer, mit hohem Leib, zuhörte. Wir vermuten: Unter normalen Umständen hätte sie ihn gebeten, das Thema zu wechseln oder einfach den Mund zu halten. Doch jetzt erkannte sie, dass ihr Mann, indem er über Spinnen schwadronierte, seinen Angstträumen Gestalt geben wollte, um sie in Raum und Zeit zu bannen. Also ließ sie ihn gewähren.
   Ein andermal überraschte er mit der Ankündigung, er habe vor, Chinesisch oder Persisch zu lernen; je fremdartiger die Sprache, desto besser. Frau Brandauer wusste, dass Einwände zwecklos waren und hörte nur zu. Eine Sprache, erklärte er, deren Ausdrucksmittel man nur unvollständig beherrsche und deren Bildhaftigkeit man nur bruchstückhaft kenne, verführe nicht dazu, sich mühsamen und langwierigen Gedankengängen hinzugeben. Wenn er in der Lage sei, auch in der fremden Sprache zu träumen, sei dies nur von Vorteil; wenn ihm nämlich die sprachlichen Mittel fehlten, ein Ungeheuer zu beschreiben, dann könne er auch nicht davon träumen.
  Zufrieden lehnte er sich zurück und griff zur Bierflasche.
   Ja, auch das muss gesagt werden: Er begann zu trinken. Nicht eben viel, doch, da er Alkohol nicht gewohnt war, mit Wirkung.

                                                                              *
    Eine Runde um den Kalkbruchsee misst etwa drei Kilometer. Der Weg verläuft durch das Kleingartengelände über den 'Bubiweg' wieder dem Ausgangspunkt zu. Das ganze Gebiet ist naturgeschützt; es darf weder gebadet, noch gegrillt, noch gezeltet werden, und Hunde gehören an die Leine.
   Für einen kräftigen Mann wie Brandauer waren die drei Kilometer, auch zwei-, dreimal am Tag, kein Problem, und er legte ordentlich Tempo vor. Für die ältere Dame auf der Bank war der junge Mann geradezu eine Augenweide. Er erinnerte sie an ihren Sohn, der ebenfalls ein strammer Läufer gewesen war, und sie sah Brandauer wehmütig nach. Der Jogger überwand den Zaun und verschwand im Gebüsch am Grund des Abhangs. Die alte Dame dachte an nichts Bestimmtes. Sie wunderte sich nur, dass er nicht wieder zum Vorschein kam. Allerdings hatte sie kurz über den See nach den Enten geschaut und nahm an, dass er gerade in diesem Augenblick wieder hervorgekommen und weitergerannt war.
   Als sich die Szene in den nächsten zwei Tagen wiederholte, zwang sie sich am dritten Tag, das Gebüsch nicht aus den Augen zu lassen. Als der junge Mann nach einer kleinen Ewigkeit nicht wieder heraus kam, stand sie auf und ging auf das Gebüsch zu, denn sie war von Natur neugierig. Nun stand sie still und lauschte.
   Kein Zweifel, da sägte jemand! Jetzt erinnerte sich die Dame auch, dass der junge Mann mit einer Tasche unterm Arm vorbeigelaufen war. Aha!, dachte sie, da war die Säge drin! Betrübt schüttelte sie den Kopf. Warum tut er das? Es ist doch verboten!
   Allmählich senkten sich Schatten auf den See, der älteren Dame wurde es kühl und sie und trat den Heimweg an. Der Weg war nur kurz, denn sie wohnte in einem der Mietshäuser ganz in der Nähe. Er war aber lang genug, um zwei Männern vom städtischen Ordnungsamt in die Arme zu laufen, die am See ab und zu nach dem rechten sahen. Zunächst hatte sie vorgehabt, an ihnen vorbei zu gehen und zu schweigen. Sie war schon an den beiden vorbei, da drehte sie sich um und rief: „Hallo, Sie da! Warten Sie doch mal!“ Sie ging auf die Männer zu und flüsterte: „Da unten am Abhang sägt jemand!“
   Die städtischen Bediensteten fanden Brandauer, wie er gerade dabei war, ein Stück der Abhangbasis zu roden.
  Der Bußgeldbescheid über zweihundert Euro kümmerte Brandauer wenig. Er bezahlte ohne eine Miene zu verziehen und überlegte sich eine andere Möglichkeit, sein Projekt voran zu treiben und zu vollenden.

 Frau Brandauer hatte es schon lange aufgegeben, ihren Mann nach seinem Kommen und Gehen zu fragen. Wenn er überhaupt reagierte, fielen seine Antworten immer geheimnisvoller aus. Deshalb fragte sie einfach nicht mehr. Inzwischen war auch das Baby zur Welt gekommen, ein strammer roter Knabe, der sie fast rund um die Uhr auf Trab hielt. Auch dass ihr Mann wenig Interesse an seinem Sohn zeigte, begriff sie allmählich. Was sie aber in zunehmendem Maße ärgerte war die Tatsache, dass er keinerlei Neigung zeigte, sich beruflich wieder zu engagieren. Seine diesbezüglichen Überlegungen  entpuppten sich als Lippenbekenntnisse.
  „Ich verstehe Kai nicht“, sagte sie eines nachmittags beim Tee zu ihrer Freundin. „Anstatt zu arbeiten läuft er am Tag um den See und drückt sich ins Gebüsch, und abends schließt er sich in sein Zimmer ein, sieht Kinderfilme oder surft in der Welt herum! Hat er sie nicht mehr alle? Sieht Kinderfilme anstatt zu arbeiten! Und wer bezahlt die Rechnungen? Mein 14-Stunden-Gehalt reicht doch hinten und vorne nicht! Wenn meine Eltern nicht so spendabel –  –“ Frau Brandauer schüttelte resigniert den Kopf. „Herrgottnochmal! Dabei wäre es so einfach. Leute in seinem Beruf sind gefragt, und er könnte wieder auf andere Gedanken kommen. Die Firma Seeloew um die Ecke sucht schon länger einen Abteilungsleiter. Aber nein –“
   „Ist er denn immer noch krank geschrieben?“, wollte die Freundin wissen.
   „Ja. Er klagt über ständige Kopfschmerzen und kann sich nicht mehr konzentrieren. Angeblich.“
  „Du musst Geduld mit ihm haben! Glaube mir, meine Liebe, das wird schon wieder! Zeit heilt Wunden!“
   Doch ihre Worte waren ohne Überzeugungskraft.
   Frau Brandauer schwieg. Sie hatte einmal mehr Gefühl, dass mit ihrem Mann etwas nicht stimmte. „Er hat den Verlust seines Engelchens eben doch noch nicht verwunden“, murmelte sie schließlich.

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FaithinClouds
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Beitrag17.08.2021 17:14

von FaithinClouds
Antworten mit Zitat

Hey Federfuchser, 😃

schön, dass du die Geschichte weiterschreibst. Auch der neue Teil hat mir gefallen.

Ein paar Kleinigkeiten sind mir beim Lesen aufgefallen. Ich markier sie dir, aber es ist ja deine Entscheidung, was du damit anfangen willst. Ich mochte die Idee, dass Brandauer die Bilder seiner Tochter entfernt, weil er will, dass sie weiterlebt. (Es gab da auch mal das Buch "Idaho" von Emily Ruskovich, wo die fiktiven Behörden sogar einen Maler dazu anheuern, Bilder von einem vermissten (und seit dem Vermissen gealterten) Mädchen zu malen, das gibt es scheinbar in Amerika wirklich).

Federfuchser hat Folgendes geschrieben:

   Zunächst fragte ich mich: Wie lange braucht ein Mann wie Brandauer, der seine kleine Tochter abgöttisch geliebt hat und immer noch liebt, um aus Trauer und Niedergeschlagenheit zurück in die Normalität zu finden? Ich sagte mir: Es würde Jahre dauern. Deshalb war ich nicht wenig überrascht, als er schon nach einem halben Jahr wieder begann, sich mit Dingen des täglichen Einerleis zu befassen.  


Hier finde ich den markierten Satz ein bisschen überflüssig. Es ist ja eigentlich die Antwort auf eine rhetorische Frage.😅 Ich würde den nachfolgenden Satz einfach umschreiben.
                                                  
Federfuchser hat Folgendes geschrieben:
  
   Immerhin erstaunt, wie geduldig Frau Brandauer, mit hohem Leib, zuhörte


Über den Satz bin ich einfach gestolpert, weil ich das erstaunt erstmals für ein Partizip gehalten habe. Also ich würde den umformulieren, um das klarer zu machen, aber vielleicht ging es einfach nur mir so.

Federfuchser hat Folgendes geschrieben:
  
Kein Zweifel, da sägte jemand! Jetzt erinnerte sich die Dame auch, dass der junge Mann mit einer Tasche unterm Arm vorbeigelaufen war. Aha!, dachte sie, da war die Säge drin! Betrübt schüttelte sie den Kopf. Warum tut er das? Es ist doch verboten!


Hier würde ich das mit der Tasche vielleicht schon bei der ersten Begegnung zwischen der Frau und Brandauer erwähnen. Es ist ja doch ein ungewohnter Anblick, dass der Jogger eine Tasche trägt (du kannst ihn ja auch einen Running-Rucksack tragen lassen, dann wiederum wäre es nicht so ungewöhnlich)

Das wars auch schon von meiner Seite. Wie gesagt: Ich finde die Geschichte bis jetzt gelungen. 😄

Alles Gute!
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Beitrag18.08.2021 09:11

von Federfuchser
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Hallo FaithinClouds,
vielen Dank für deine freundliche Anteilnahme.

 "Ich sagte mir: Es würde Jahre dauern."
 Das ist ja der Grund, warum sich der Verf. so wundert!

"Immerhin erstaunt, wie geduldig Frau Brandauer, mit hohem Leib, zuhörte...
Über den Satz bin ich einfach gestolpert"

Und zurecht! Muss heißen: Erstaunlich...

"Es ist ja doch ein ungewohnter Anblick, dass der Jogger eine Tasche trägt"

Gut beobachtet! Werde ich ändern, auch, dass die Tasche früher erwähnt werden muss.

LG


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Beitrag18.08.2021 21:07

von Gast
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Hallo Federfuchser,

es wurde schon einiges konstruktives zu deiner Geschichte gesagt, weshalb ich mich einfach mal damit begnügen möchte, dir zu einer wunderschönen und gelungenen Geschichte zu gratulieren! Mir gefällt dein Schreibstil. Am Anfang hatte ich an der ein oder anderen Stelle den Eindruck, dass Du zu verkrampft poetisch schreiben möchtest (Siehe sterbender Sonnengott - Auch eine recht abgegriffene Symbolik). Aber mit dem Fortschritt der Geschichte ist die Qualität deines Stils meines Eindrucks nach von ganz alleine in den Vordergrund getreten! Habe es sehr gerne gelesen und freue mich auf die Fortsetzung.

Beste Grüße
Janus
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Federfuchser
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Beitrag18.08.2021 21:29

von Federfuchser
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Danke, Janus, danke!

Das mit dem sterbenden Sonnengott... Na ja, ich muss zugeben, klingt irgendwie aus der Zeit gefallen. In Zukunft werde ich also schreiben: Es wird dunkel, statt: Orion schnallt seinen Gürtel um...
LG

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Beitrag22.08.2021 09:29

von Federfuchser
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Geheimnisvolle Machenschaften.

   Vom Bubiweg zweigte auf halber Strecke der Bambiweg ab, der auf die Kleingärten am Abhang zuführte. Etliche Gärten hier waren nicht mehr verpachtet; die Pächter hatten von der vielen Arbeit, die auch ein kleiner Garten auf Dauer macht, die Nase voll und den Pachtvertrag kurzerhand gekündigt. Dementsprechend sahen die Gärten auch aus: Moose, Farne, Schachtelhalme und andere Eunuchen der Pflanzenwelt hatten hier ein ungestörtes Zuhause gefunden. Zudem war dieses Areal ziemlich unattraktiv. Die Kronen hoher Pappeln versperrten die Aussicht und legten die Gärten schon früh am Tag in den Schatten.
   Für Brandauers Plan jedoch genau das Richtige.
   Er untersuchte den Abhang und stellte fest, dass er keineswegs so hoch und steil war wie am Garten seines Freundes Heinz. Mit einem festen Seil müsste es unschwer möglich sein, sich hinunter  zu lassen. Da man vom Abhang nicht in die Ferne schauen konnte, konnte man folglich aus der Ferne auch nicht auf den Abhang schauen. Wenn er sich nicht allzu auffällig benehmen würde, kalkulierte er, müsste sein Tun unentdeckt bleiben.
   In den nächsten Tagen gelang es ihm, eine dicke Reisetasche mit verschiedenen Gegenständen in einer der ungenutzten Gartenlauben zu verstecken. Die Tasche enthielt einen Overall, eine  Wolldecke, verschiedenes Werkzeug, ein Seil, mehrere Rollen festes Packband, einige haltbare Nahrungsmittel und allerlei Kleinkram.
 
                                                                               *
   Frau Brandauer versuchte sich vorzustellen, was ihr Mann, der gerade die Laufschuhe anzog, vorhatte. „Glaubst du immer noch“, fragte sie  mit dem Säugling auf dem Arm, „du könntest Moni da unten jemals wiederfinden?“
   Brandauer betrachtete den Säugling mit einem Gesicht, als sähe er ihn zum ersten Mal. „Aber natürlich, warum denn nicht?“ Nach anfänglichem Zögern erklärte er ihr, er sei überzeugt, Engelchen am Grunde des Abhangs bald wieder in die Arme schließen zu können. Denn wo solle sie auch sonst sein? Da man sie nicht gefunden habe und bisher auch keine Lösegeldforderung eingegangen sei, wäre das doch wohl die einzige vernünftige Erklärung!
  Die einzige vernünftige Erklärung! „Aber Kai“, rief Frau Brandauer verzweifelt „dann wäre unser Engelchen doch schon längst verhungert!“
   Brandauer entgegnete mit der größten Ruhe eines Menschen, der sich nicht beirren lässt: Zu dieser Sorge bestehe überhaupt kein Anlass. Es gäbe genug Beispiele, wo ausgesetzte Kinder von Tieren ernährt wurden. Zum Beispiel Romulus und Remus, die legendären Gründer Roms. Am Gesäuge einer Wölfin seien sie groß geworden. Oder der berühmte Kaspar Hauser, der ebenfalls die Milch einer Wölfin trank. Und warum sollte es Engelchen nicht ähnlich gehen? Wo doch in der Region immer mehr Wölfe gesichtet wurden! Oder . . . oder –“
  Frau Brandauer hörte nicht mehr zu. Es ließ sich nicht übersehen: Ihr Mann hatte bereits die Bodenhaftung verloren. Mit zitternden Knien, das Herz voll Kummer, blickte sie auf den Säugling, der wieder einmal nach Nahrung schrie. Vor Verzweiflung stumm legte sie ihn an die Braust.
      
                                                                             *                                                            
   Brandauer zog den Overall an und befestigte das Seil am Fuße eines alten Pflaumenbaums. Dann legte er sich die Tasche um und begann den Abstieg. In den Baumwipfeln über ihm lärmten die Krähen. Es ging leichter als gedacht. Das Seil hielt. Er stellte die Tasche ab, holte den Klappspaten heraus und begann zu graben. Die Höhle sollte so groß werden, dass Engelchen darin gut sitzen und liegen konnte.
  Da das lockere Material immer wieder nachgab, schnitt er mit dem Astschneider etliche  meterlange Stangen zurecht und band sie zu einer Art Floß zusammen. Dieses Gebilde schob er oben in den sich bildenden Hohlraum hinein. Dann kniff er eine Reihe dünner Zweige zurecht, aus denen er Seitenwände zusammenband. Schließlich hatte die Höhle die gewünschte Form, und jetzt waren Tisch, Stuhl und Bett an der Reihe.
   Der Tisch lag schon bereit, ein großer kantiger Stein, den er in die Höhle wälzte, nur Stuhl und Bett fehlten noch. Fürs Bett musste ein Lager aus dicken trockenen Moospolstern reichen. Aber Engelchen durfte auf keinen Fall unbequem sitzen. Er grub einen der morschen Baumstubben aus, die überall aus der Erde ragten, und begann, einem Hocker zurecht zu zimmern. Aber das Sägen und Hacken machte zu viel Lärm. Und wusste er, wer sich da oben gerade herumtrieb? Seine Miene verfinsterte sich. Schon einmal hatte ihn jemand heimtückisch verraten!
   Brandauer kroch in die Höhle und dachte nach. Die Strahlen der Nachmittagssonne brachen durchs grüne Blätterdach und zauberten geheimnisvolle Muster auf den Boden. Es hilft nichts, dachte er, ich muss noch mal nach oben und mich nach einem Stuhl umsehen. Er steckte die Astsäge ein und hangelte sich hoch.
  In einem Schuppen fand er einen halbwegs brauchbaren Stuhl, dessen Beine er auf halbe Länge absägte. Hier oben stand nicht zu befürchten, dass sich jemand über Sägegeräusche wunderte. Trotzdem vergewisserte er sich, dass niemand in der Nähe war, dann warf er Stuhl und Säge den Abhang hinunter und stieg nach.
   Der Rest war schnell erledigt. Er legte die Wolldecke auf das Moosbettchen, stellte die Kakaotüte, in der schon der Strohhalm steckte, sowie die Kekse auf den Steintisch. Er überblickte sein Werk und brummte zufrieden. Da waren Tisch, Stuhl, Bett, Essen und Trinken. Engelchen würde zufrieden sein. Er verdeckte den Höhleneingang mit einer Anzahl Stangen, aber so, dass der gedeckte Tisch noch zu sehen war. Bevor er sich wieder hochzog, ging er noch einmal zurück und überzeugte sich, dass alles am rechten Platz war.

Forts. folgt

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Beitrag28.08.2021 11:49

von Federfuchser
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Doch ein Intermezzo

    „Ach, das ist ja interessant!“ murmelte Kommissar Diercksen von der SOKO „Engelchen“. Er sah gerade die eingegangenen Meldungen durch. „Hör mal! Kai Brandauer wurde erwischt, wie er im Naturschutzgebiet am Kalkbruchsee Gebüsch rodete und mit einem Bußgeld von zweihundert Euro belegt.“
   Kriminalhauptkommissar Heinrich Hardtnack blickte von seinem Schreibtisch auf.
   „Brandauer! Steht da auch, wo er rodete?“
   „Am Abhang unterhalb der Kleingärten.“
   „Wo genau?“
   „Das steht hier nicht.“
   „Wann war das?“
   „Vor vierzehn Tagen.“
   Hardtnacks wollhaarige Pranke knallte auf den Tisch. „Und da kommt die Meldung erst jetzt? Es ist doch immer das Gleiche! Ehe wir etwas mitbekommen, sind die Herren und Damen Entführer schon über alle Berge! Ich glaube, da muss ich mal wieder irgendwo kräftig mit der Faust auf den Tisch hauen!“
   „Glaubst du, dann ändert sich was?“
   „Nein.
   „Vielleicht finden wir da unten ja eine Kinderleiche!“
   Der Hauptkommissar lachte kratzig. „Jetzt nicht mehr! Du weißt doch: Nach einem Mord oder Totschlag sind die ersten zwei Wochen die wichtigsten! Was dann nicht klar auf dem Tisch des Hauses liegt, kannst du vergessen. Aber immerhin, verdächtig ist es schon. Sag doch dem Kollegen Hauschild, er soll sich da unten mal umsehen.“
   „Ist schon geschehen!“
    Die massige Gestalt des Polizeiobermeisters Heribert Hauschild füllte fast den gesamten Türrahmen aus. „Ehe ihr euch über die Maßen wundert“, sagte er launig und ließ sich ächzend auf einem Stuhl nieder, „hört ihr mich erst einmal ruhig an. Einer der städtischen Angestellten, der den Brandauer beim Roden überraschte, ist ein alter Saunakumpel von mir. Und der fragte mich vor drei Tagen bei etwa neunzig Grad im Schatten, hahaha, ob wir schon etwas Neues vom Entführungsfall 'Engelchen' wüssten. Er habe den Vater dieses Engelchens dabei überrascht, wie er da unten gerade Büsche absägte. Natürlich wusste ich mal wieder von nichts, und ihr wart nicht da. Also machte ich mich in vorauseilendem Gehorsam auf die Socken und zwängte mich durchs Gestrüpp. War gar nicht so einfach, das Gebüsch da unten ist verfilzt wie ein oberbayerischer –“
   „Herr, kommen Sie zur Sache!“, dröhnte Hardtnack.
   „Ähem, gut, ich komme zur Sache. Sie raten nicht, was ich da vorfand.“
   „Nun mach´s nicht so spannend, Mann! Noch zwei Sekunden, und ich will´s nicht mehr wissen!“
   Hauschild befeuchtete sich die dicken Lippen. „Ich fand: Ein Tischlein deck dich fein, in einem Kämmerlein klein, mit Stuhl und Bettchen obendrein – kurz, eine Erdhöhle, in der auf einem Stein eine Packung Kekse und ein Kakaotrunk standen. Fotos liegen meinem Bericht bei.“
   „Wollen Sie damit sagen, Herr“, staunte Hardtnack, „Brandauer legt für seine Tochter Nahrungsmittel in einer Erdhöhle aus?“
   „Nicht nur das! Wie ich schon sagte! Ich entdeckte auch so etwas wie ein Nachtlager! Eine Wolldecke über einem Moospolster.“
   „Ich fasse es nicht!“, stöhnte Diercksen, „jetzt haben wir es auch noch mit einem Wahnsinnigen zu tun!“
   „Vorsicht, mein Freund!“, mahnte der Hauptkommissar. „Wahnsinnige gibt es nicht mehr. Heutzutage nennt man sie psychisch Kranke.“  
   „Das ändert nichts an der Tatsache, dass der Fall dadurch noch undurchsichtiger wird, als er schon ist.“
   Hardtnack grunzte ungehalten. „Wenn ich Ihre Beobachtung richtig deute, Herr Obermeister, dann geht Brandauer davon aus, dass seine Tochter noch lebt und sich da unten irgendwo im Gebüsch aufhält.“
   „So sieht´s aus.“
   „Wir sollten ihn vorladen und befragen“, schlug der Kommissar vor.
   „Warum? Fixe Ideen sind kein Fall für die Kriminalpolizei! Herr Hauschild, ruf doch bitte bei der Unteren Naturschutzbehörde an, schildere ihnen den Fall und sage, sie sollen den Mann in Ruhe lassen. Und Sie behalten ihn weiter im Auge, aber so, dass er nix merkt natürlich!“
   „Aye Aye, Chef!“
   „Und ich werde den Eheleuten demnächst einen Besuch abstatten! Da ist einiges im Busch, das ich nicht weiß, was ich aber gerne wissen möchte. Ich wette, das wird uns weiterbringen.“
   „Soll ich nicht mitkommen?“, fragte Diercksen.
   „Nein, nein, das mache ich lieber alleine.“
      
                                                                Ein Zwischenhoch.                                                             

   Brandauer kam von einer Seeumrundung zurück und trällerte wie ein verliebtes Amselmännchen. Er nahm seine Frau in den Arm, drückte ihr einen Kuss auf die Stirn und fragte aufgeräumt: „Wie geht´s denn dem Kleinen?“ Er war wie ausgewechselt. Er ließ es sich nicht nehmen, dem Baby das Fläschchen zu geben und es anschließend pfeifend durch die Wohnung zu schaukeln.
   Frau Brandauer überlegte, wie der überraschende Stimmungsumschwung zu erklären sei. Sie nahm sich vor, abzuwarten und keine voreiligen Schlüsse zu ziehen. Mit Genugtuung nahm sie jedoch wahr, dass ihr Mann am nächsten Morgen nicht lief.  Stattdessen beschäftigte er sich mit seinem Söhnchen.
   Zwei Tage später überraschte er sie mit dem Vorschlag, mal wieder auszugehen. Sie könnte ja ihre Mutter bitten, auf das Kind aufzupassen, sie beide würden dann in einem lauschigen Lokal zu Abend essen.
   „Wie wär´s mit La Mama?“, fragte er gut gelaunt, „du weißt schon, der neue Italiener am Markt!“
   Sie nahm ihn dankbar in die Arme, voller Hoffnung, dass die Krise endlich  überstanden sei, und dass nichts auf der Welt sie auseinanderbringen könne. In ihrer Sehnsucht nach Gemeinsamkeit verwechselte sie Wunschtraum und Wirklichkeit.
      Am anderen Morgen stand Brandauer zeitig auf und machte sich wieder auf den Rundlauf.

   Der See lag lustig glitzernd in der Morgensonne, kein Wölkchen trübte das reine Blau des  Himmels. Plötzlich ein kehliger, ungeheurer, unmenschlicher Schrei, weiß der Teufel woher, aus dem Schoß der Erde, aus der Tiefe des Sees, aus dem Inneren der Häuser, aus den Klüften des Abhangs; jetzt gingen die apokalyptischen Töne in eine Art Triumphgeheul über, man hörte es deutlich, das Geheul kam aus dem Gebüsch hinter dem Zaun, man hörte die Worte: „Hurrahhh! Engelchen lebt! Es hat gegessen und getrunken!“ Dann folgte tiefste Stille.  

   Brandauer kniet vor der Höhle, seine Finger betasten zitternd die Kakaotüte am Boden, als wär´s ein Heiligtum. Die Tüte ist so gut wie leer.
   Wir stellen uns vor: Oh, wie sieht ihm die Welt nun rosig aus! Nie zuvor ist sie ihm so schön erschienen, so rein, so harmonisch, so voll satter Formen und Farben, so voll unbekannten, glücklichen Lebens. Engelchen lebt! Weggeblasen sind die Verwirrungen der letzten Monate, die unsäglichen Zweifel, der schwarze Kummer, die endlose Trübsal. Wieder spürt er den belebenden Atem des Windes, sieht den jugendfrisch glitzernden See, hört den melancholischen Gesang eines unsichtbaren Vogels.
   Sein Blick liebkost die Kekspackung. Hei, Engelchen hat gegessen und getrunken! Da liegen die Krümel ihrer Mahlzeit! Da die leere Tüte! Er fühlt sich glücklich und befreit wie nie zuvor. Ja, er wünscht sich sogar, auf immer in diesem ätherischen Zustand des Glücks zu verharren, nie wieder diesen zauberhaften Frieden, den er jetzt in sich spürt, aufgeben zu müssen, nie wieder diesen köstlichsten aller Orte verlassen zu müssen.
   Doch leider, leider . . .
   Schon mischt sich in den Gesang des Vogels eine andere Stimme, schon beschwert die ungetrübte Heiterkeit ein Makel. Noch, für einen flüchtigen Augenblick, gelingt es ihm, die Stimme des Zweifels zu überhören. Doch je mehr Mühe er sich gibt, desto deutlicher flüstert es: Warum zeigt sich Engelchen nicht? Wo es doch hier ist? Warum zeigt sich Engelchen nicht?
   Und er gibt sich selbst die Antwort: Es wird schon wissen, warum!
   
  Brandauer kam nach zwei Stunden zurück und rief, kaum dass er in der Tür war: „Erika, du glaubst es nicht! Engelchen hat gegessen und getrunken!“
   Frau Brandauer wickelte gerade den Säugling. „Wie meinst du das, Engelchen hat gegessen und getrunken?“, fragte sie tonlos.
   „Mein Gott, Erika, wie ich´s sage! Die Kakaotüte war leer, und von den Keksen fehlte die Hälfte!“
   Frau Brandauer, totenblass, fühlt, wie ihr die Knie weich wurden. Sie muss sich setzten. Der halbnackte Säugling strampelt und schreit, sie merkt es nicht.
   Brandauer indes sprudelt weiter. „Sagte ich es noch nicht? Ich habe Engelchen vor ein paar Tagen eine Höhle gegraben, einen Tisch und ein Stühlchen hineingetan und etwas zu Essen und zu trinken hingestellt. Das mit der Wölfin ist mir doch zu ungewiss!“


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Beitrag02.09.2021 12:44

von Federfuchser
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Die Enttäuschung
                                                                                   
  Mit der Hellsichtigkeit, die Besessenen manchmal gegeben ist, fühlte Brandauer, dass er beobachtet wurde. Also lief er jetzt nur noch alle drei Tage zu Engelchens Erdhöhle und stellte reichlich Nahrung hin. Die Reste nahm er wieder mit und entsorgte sie in den Mülleimern am See. Zwar wunderte er sich, dass die Tüten immer halb voll am Boden lagen und viele Kekse angekaut auf der Decke verstreut, doch er dachte nicht weiter darüber nach. Wenn es Engelchen so wollte, dann war es gut so. Immerhin war die Wolldecke zerwühlt, also war Engelchen über Nacht hier gewesen. Auch die Kötel vor der Höhle wusste er zuzuordnen: Engelchen hat Freundschaft mit einem Tier geschlossen.
 
   Heute ist es wieder so weit. Brandauer steht vor der Höhle und lauscht. Eigenartige Laute, eine Art Grunzen, lassen ihn stutzen. Behutsam tritt er näher und linst durch die Stäbe. Auf der Decke sitzt ein Dachs und knabbert an einem Keks herum. Aus der umgekippten Kakaotüte neben ihm, deren Strohhalm fehlt, tropft es.
  Es lässt sich nicht sagen, wer erschrockener ist: Der Dachs oder der Mensch. Jedenfalls sinkt der Mensch mit einem leisen Aufschrei auf die Knie, der Dachs wackelt behäbig davon. Brandauer fühlt, wie ihm kalter Schweiß auf die Stirn tritt. Also hat nicht Engelchen hier gegessen und getrunken, sondern dieser verfluchte Dachs!
   Immer tiefer sinkt ihm das Kinn auf die Brust. Engelchen ist also schon weitergezogen, ohne ihm Bescheid zu geben! Liebt sie ihn nicht mehr?
  Obwohl es heller Tag ist und die Sonne warm durchs Blätterdach scheint, ist es plötzlich kalt und dunkel um ihn. „Engelchen hat mich zum zweiten Mal verlassen“, stöhnt er. Mühsam richtet er sich auf und sucht die Höhle nach einer Nachricht ab, die Engelchen ihm hinterlassen haben könnte. Ein Stück von ihrem Kleid? Eine goldene Locke? Drei Stöckchen in Form eines Richtungspfeils?
   Nichts. Wo er auch sucht und sucht: Nicht der kleinste Hinweis.
   Mit hängenden Schultern arbeitet er sich durch das Gebüsch auf den Uferweg zu. Es ist ihm jetzt egal, ob ihn jemand beobachtet. Zum Beispiel dieser dicke Polizist, der ihn wie ein neues Weltwunder anstarrt. Engelchen hat einen neuen Vater gefunden, denkt er betrübt. Dieser Gedanke ist zu grausam und raubt ihm die letzte Kraft. An Leib und Seele erschöpft schleicht er nach Haus.

                                                                                      *
   Brandauer ging sofort auf sein Zimmer, warf sich, verschwitzt wie er war, in einen Stuhl und legte den Kopf in die Hände. Er empfand eine unendliche Trauer. Es war die Trauer über das verlorene Paradies.
  Es klopfte. Seine Frau kam herein. Sie setzte sich ihm gegenüber und sah, wie er litt. Er saß da, zusammengeschrumpft, wie dahingewelkt, und weinte.
    „Was ist geschehen?“, fragte sie.
   Brandauer antwortete  nicht. Sie wartete. Endlich öffnete er sein Gesicht und blickte sie verstört an. Jetzt sah sie, wie alt er geworden war. In seinem Haar erste graue Strähnen, der Glanz seiner hellen Augen verblasst. „Engelchen war es doch nicht“, murmelte er.
   Obwohl sie ungefähr ahnte, was er meinte, fragte sie: „Was war Engelchen nicht?“ Sie wollte ihn zum Reden bringen.
   Brandauer schwieg.
   „Kai, rede! Was ist geschehen? Lass dir nicht jedes Wort aus der Nase ziehen!“
   „Die Kekse lagen auf dem Boden und der Dachs –“
   „Welcher Dachs?“
   „Der in der Höhle.“
   „Du meinst, ein Dachs hat die Kekse gefressen?“
   „Ja. Ich hab´ ihn sogar dabei überrascht.“
   Da sie nicht Komödie spielen wollte, wurde sie hart. „Kai, nun hör´ mir mal gut zu! Du verrennst sich da in ein Hirngespinst! Engelchen ist nicht da unten! Wie kommst du überhaupt darauf? Jemand muss ihren Sturz beobachtet haben, als er sich zufällig dort unten aufhielt. Er oder sie hat sich Monika geschnappt und ist mit ihr davon gerannt. Er gibt keine andere Erklärung. Solche hübschen Kinder werden für viel Geld an reiche Leute verkauft. Das Einzige, woran wir uns klammern können, ist die Hoffnung, dass es ihr gut geht und an nichts fehlt. Weißt du, die leiblichen Eltern –“
   Brandauer brauste auf. „Es gibt keine Entführung! Engelchen ist nicht entführt worden, wie oft soll ich das noch sagen! Ich weiß es!“
  „Überhaupt nichts weißt du!“, schrie die Frau zornbebend, „natürlich ist sie entführt worden! Wann geht das denn endlich in deinen verdammten Dickschädel hinein? Sonst hätte sie die Polizei ja gefunden.“
   „Die Polizei! Die Polizei findet so manches nicht!“ Schweigen. Dann: „Erika, du glaubst an eine Entführung?“
   „Aber ja doch! Kai, du solltest dich langsam mit dieser Tatsache abfinden, je eher desto besser! Weißt du, die leiblichen Eltern –“ Sie wollte ihm sagen, dass ein Kind nicht unbedingt die leiblichen Eltern brauche, sondern liebevolle Bezugspersonen. Doch als sie sein Gesicht sah, fuhr sie fort:
„Glaub ja nicht, dass es mir leicht fällt! Ich leide genauso wie du! Engelchen ist mein Kind genau so wie deines. Nachts liege ich wach und heule die Kissen nass! Aber es hilft ja nichts! Irgendwann musst du dich mit der Realität abfinden.“
   Wie er seine Frau so reden hörte, fand er ihre Argumente überzeugend. „Du hast recht, so kommen wir nicht weiter.“ Er seufzte. „Aber ich weiß jetzt schon: Richtig glücklich kann ich nie wieder sein! Es ist das Furchtbarste, was ich bisher erlebt habe.“
   Sie sprang auf. „Herrgottnochmal, was heißt schon Glück! Glück ist eine Sache von Stunden oder Tagen, und dann ist der Alltag wieder da! Wichtiger ist doch, dass man Schwierigkeiten gemeinsam überwindet! Und noch wichtiger ist, dass wir beide für immer zusammenbleiben!“ Frau Brandauer zog ein Taschentuch hervor und wischte sich die Tränen ab.
   Dieser starke Ausbruch verfehlte seine Wirkung nicht. Brandauer sprang auf und nahm seine Frau in den Arm. „Ich glaube, du hast recht. Wir schaffen das!“

                                                        Unhaltbare Verdächtigungen.

  Im Internet liest Brandauer den Bericht über das Verschwinden des kleinen Gabriel Puca. Da steht unter anderem: Der achtjährige Gabriel verschwand auf dem Weg zur Schule. Schnell gerät die Mutter ins Visier der Fahnder, denn sie verstrickt sich in Widersprüche. Im Verhör gibt sie endlich an, sie habe Gabriel während eines Streits einen unglücklichen Schlag versetzt und ihn anschließend erwürgt. Zum Grund des Streits sowie zum Verbleib der Leiche schweigt sie sich aus.

   Hinter Brandauers Schläfen beginnt es zu hämmern, für einige Sekunden wird ihm schwarz vor Augen. Der Bericht erfüllt ihn mit maßlosem Entsetzen. Natürlich! Seine Frau! Wieso kommt er erst jetzt darauf? Erika hat Engelchen entführt!
  Jetzt wird ihm einiges klar. Ihre Versuche, ihn von Engelchen abzubringen, ihre Bemühungen, ihn von einer Entführung zu überzeugen, das Geschwätz von einem neuen Leben – alles nur, um ihn auf eine falsche Fährte zu locken. Alles erlogen und erstunken!
  Ein Motiv hat er auch schon zur Hand: Eifersucht. Gemeine, hässliche Eifersucht. Erika hat Engelchen als Rivalin empfunden, entführt, umgebracht und die Leiche irgendwo verscharrt! Sie ist also doch nicht müde gewesen und ins Bett gegangen, als er mit Engelchen zum Kleingarten fuhr. Ihm ist diese Ausrede gleich unglaubhaft vorgekommen. Ha! Sie ist ihnen heimlich gefolgt und hat sich unten im Gebüsch verborgen. Oh, oh, welche unsägliche Heimtücke!
   Das Widersinnige dieses monströsen Vorwurfs ist ihm nicht bewusst.
   Jetzt fällt ihm auch auf, dass seine Frau mit Engelchen nie so richtig warm geworden ist. Da war immer eine eigenartige Barriere zwischen den beiden. Brutal reißt er seiner Frau die Maske vom Gesicht. „Das ganze mütterliche Getue war ein einziges Lügengebäude!“, murmelt er verstört. Nun wird das Unvorstellbare zur Gewissheit: Seine Frau, Erika Brandauer, eine Mörderin! Viel schlimmer: Eine Kindsmörderin!
   Brandauer holt die Cognacflasche, gießt sich eine halbe Tasse ein, trinkt sie auf einen Zug leer. Mit fahriger Hand versucht er, sich eine Zigarette anzuzünden. Dabei stößt er die Flasche vom Tisch.
   „So ein nichtswürdiges Aas!“ brüllt er, „diese Frau lässt mich graben und Essen hinstellen, obwohl sie weiß, dass Engelchen schon lange tot ist! Und mit der hab ich jahrelang Tisch und Bett geteilt! Mit ihrem blöden Liebesgestammel wollte sie mir Sand in die Augen zu streuen! Pfui, pfui, pfui! Na warte!“
   Er gießt sich den Rest, der noch in der Flasche ist ein und schleicht ins Wohnzimmer, das jetzt zum Wutraum wird. Innerlich kochend wirft er sich in einen Sessel und denkt über Bestrafungsmöglichkeiten nach.
   Schließlich stellt er den Fernseher an.
   Die maßlosen Gemütsbewegungen haben ihn erschöpft. Der Alkohol tut sein Übriges, er schläft ein.
                                          
   Frau Brandauer steht im Wohnzimmer, den schlafenden Säugling auf dem Arm. Sie kommt gerade vom Kinderarzt zurück. Verwundert riecht sie den Alkohol. Eine Weile betrachtet sie ihren schnarchenden Mann. Sein Kopf hängt über der Rücklehne des Sessels, der Mund, in dem ein ganzer Schlafsaal schnarcht, ist halb geöffnet. Widerwillen steigt auf. Dann ruft sie: „Kai, aufwachen! Wir sind wieder da-ha!“
   Brandauer schlägt die Augen auf. Wie betäubt sieht er seine Frau und das Kind an. Für einen Moment scheint es, als erkenne er sie nicht. Dann springt er auf. „Du hast Engelchen ermordet“, zischt er mit heißem Atem, zitternd vor Wut, „weil du eifersüchtig auf sie warst!“
   Frau Brandauer meint, sich verhört zu haben.
   „Rede keinen Unsinn“, sagt sie, noch beherrscht. „Du bist betrunken!“ Brüsk dreht sie sich um und geht ins Schlafzimmer, um den Kleinen ins Bettchen zu legen. Als sie sich wieder aufrichtet, steht Brandauer hinter ihr. „Du warst gar nicht im Bett, als ich mit Engelchen –“
   „Nicht hier!“, unterbricht sie ihn und schiebt ihn zur Tür hinaus. Aber er lässt nicht locker. „Du hast mich die ganze Zeit angelogen“, poltert er von draußen, „du . . . du . . . du bist eine Kindsmörderin!“
   Frau Brandauer fühlt sich, als habe man sie mit Nesseln gepeitscht. „Wie kommst du denn darauf?“ Sie lacht hysterisch. „Du bist ja wahnsinnig!“
  Nun ist alles aus.
   Eine Möglichkeit zur Verständigung besteht nicht mehr. Dazu ist der Vorwurf zu ungeheuerlich, zu verletzend. Sie läuft aus dem Schlafzimmer in die Küche, Brandauer hinterher. Ein Wort gibt das andere, schließlich wird es ganz arg. Tolldreiste Behauptungen auf beiden Seiten: Bewegungen, nervös, wahnsinnig, unbeherrscht. Sie keift, er brüllt. Die feucht-warme Küchenluft bebt. Vergessen Geglaubtes kommt wieder hoch, seltsam präsent. Harmlose Streitigkeiten werden maßlos aufgebauscht. Worte, spitz wie Pfeile, Sätze, scharf wie Rasiermesser, Beleidigungen, stinkend wie Jauchegruben, treffen und verletzten. Er läuft in sein Zimmer, knallt die Tür zu. Der Kleine, von dem Lärm geweckt, schreit –  

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Beitrag07.09.2021 10:06

von Federfuchser
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Da ich eine ganze Weile off-line sein werde, diesmal einige Kapitel mehr als sonst. Muss ja niemand alle auf einmal lesen.
            
                                                                       Das Donnerwort

   Brandauer, in seinem Zimmer, setzt sich und denkt nach. Da sind allerdings einige Ungereimtheiten, die nüchtern und mit klarem Verstand überlegt sein wollen. Zunächst: Woher konnte seine Frau überhaupt wissen, dass Engelchen abstürzen würde, wenn sie unten am Abhang stand und wartete? Hieße das nicht, dem Zufall Tür und Tor zu öffnen? Dieses Problem bringt ihn ziemlich aus der Fassung, denn es ist der Angelpunkt seiner Theorie. Und dann: Ist es sehr wahrscheinlich, dass seine Frau die Leiche in der kurzen Zeit so verstecken konnte, dass sie noch nicht einmal die Leichenspürhunde der Kriminalpolizei fanden?
   Er springt auf und läuft einige Male im Zimmer auf und ab, doch eine Lösung fällt ihm nicht ein.
  Sein bruchstückhaftes Gerechtigkeitsgefühl sagt ihm, dass er seine Frau vielleicht doch zu Unrecht bezichtigt. Das ist doch alles zu unwahrscheinlich, denkt er, den letzten Beweis werde ich wahrscheinlich nie finden. Trotzdem beschließt er, seine Frau genau zu beobachten. Irgendwann wird sie sich schon verraten.
    Doch wie es dann  weitergehen doll, darüber macht er sich jetzt noch keine Gedanken.
   
  Am nächsten Morgen versucht er, wieder mit ihr in Gespräch zu kommen. Schließlich muss sie sich, wenn sie sich verraten soll, in Sicherheit wiegen. Beim Frühstück redet er belangloses Zeug, so als wäre nichts gewesen. Was dieser gesagt und getan, was jener nicht gesagt und trotzdem getan hat, usw., usf. Doch man kann eher einen Atommeiler aus der Welt schaffen als ein  falsches Wort. Der Verdacht hängt in der Luft wie zäher Schleim und verhindert jegliche Kontaktaufnahme. Seinem Blick weicht sie aus. Nach einiger Zeit steht sie auf und geht hinaus.
    Er kaut nervös an einem Zahnstocher herum.
   Eines morgens, beim Frühstück, spricht Frau Brandauer das Wort aus, das schon seit Wochen in der Luft hängt: Scheidung. Sie wisse jetzt, dass ein Weiterleben in dieser Form keine Zukunft mehr hat. Deshalb werde sie in den nächsten Tagen einen Anwalt aufsuchen, um sich über das weitere Vorgehen zu informieren.
   Da ist es heraus, das Donnerwort! Scheidung!
   Brandauer nickt.

                                                          Der Konflikt spitzt sich zu.

   Als der Hauptkommissar  im Wohnzimmer der Brandauers steht, wirkt er wie eine alte Eiche in einer Baumschule. Vielleicht ist es aber auch nur das Alpenveilchen, das den Rahmen sprengt. Wann bringt die Polizei schon Blumen mit?
   Frau Brandauer nimmt den Topf zerstreut dankend entgegen und stellt ihn irgendwo ab.
   Brandauer kommt herein. Hardtnack erkennt ihn kaum wieder. Er ist stark gealtert, mit grauen Haaren und hängenden Schultern. Seine von Natur aus schon starken Wangenknochen treten noch weiter vor.
   Brandauer bittet Platz zu nehmen. Man setzte sich auf das abgenutzte Plüschsofa.
   Hardtnacks Röntgenblick trifft auf Brandauers Gesicht. Für einem Moment hat er das Gefühl, als stehe der Mann kurz vor einem Geständnis.
   „Frau Brandauer, Herr Brandauer“ beginnt Hardtnack, „ich kann Ihnen gar nicht sagen, wie tief ich mit Ihnen fühle. Trotzdem, auch auf die Gefahr hin, dass ich alte Wunden aufreiße, muss ich ein paar amtliche Fragen stellen. Zunächst an Sie, Frau Brandauer, wenn Sie erlauben. Sie gaben damals zu Protokoll, Sie seien zum Zeitpunkt des Unglücks hier in dieser Wohnung gewesen. Kann das jemand bezeugen?“
   „Warum fragen Sie? Glauben Sie, ich hätte –“ Schwarze Augenränder weisen auf große innere und lang anhaltende Spannungen hin.
   „Frau Brandauer, es handelt sich um eine reine Routinefrage nach dem Ausschlussprinzip! Sagen Sie 'Ja', frage ich weiter, sagen Sie 'Nein', gehe ich zur nächsten Frage über. Also bitte!“
   „Nein.“
   „Schön. Dann ist da noch etwas, das mich seit einiger Zeit beschäftigt. Sie gaben zu Protokoll, dass Sie nicht mit zum Kleingarten gefahren sind, weil es Ihnen zu schlecht gegangen sei. Das ist mehr als verständlich in dem Zustand, in dem Sie sich damals befanden. Wie soll ich es mir aber erklären, dass ein Paketdienst zu der Zeit mehrmals an ihrer Wohnungstür klingelte und niemand öffnete?“
   „Ich kann mich nicht erinnern. Da muss ich wohl geschlafen haben.“
   Hinter einer Tür wird Kindergeschrei laut. Frau Brandauer springt auf und geht hinaus.
   „Herr Brandauer“, fragt der Hauptkommissar, „Sie haben am Hang unterhalb der Kleingärten eine Erdhöhle gegraben und stellen Nahrungsmittel hinein. Glauben Sie immer noch, dass Ihre Tochter lebt?“
   Brandauer blickte verdutzt auf. „Das wissen Sie noch nicht? Engelchen ist wahrscheinlich ermordet worden.“
    Hardtnack, erstaunt: „Ach! Woher wissen Sie das?“
   „Weil nicht sie, sondern ein Tier die Nahrung gegessen hat. Ein Dachs.“
   „Hm . . . Und haben Sie schon einen Verdacht, wer Ihre Tochter ermordet haben könnte?“
   „Ja. Meine Frau.“
  Für einen Moment verschlägt es sogar diesem abgebrühten Kriminalisten die Sprache. „Ihre Frau? Wie kommen Sie denn darauf!“
  „Pst! Nicht so laut!“
   „Herr Brandauer, ist Ihnen klar, was Sie da sagen? Sie bezichtigen Ihre Frau des Kindsmordes! Das ist ein ungeheurer Vorwurf! Weiß ihre Frau davon?“
   „Ja. Ich hab´s ihr auf den Kopf zugesagt.“
   „Und wie reagierte sie?“
   „Na wie wohl! Sie leugnete und meinte, ich sei nicht mehr bei Verstand!“
   „Aber warum sollte Ihre Frau ihr eigenes Kind umgebracht haben?“
   „Aus Eifersucht! Weil sie in Engelchen eine Rivalin sah, die ihr den Mann wegnehmen wollte! Wäre nicht das erste Mal, dass so etwas passiert.“
   „Ein fünfjähriges Kind als Grund für tödliche Eifersucht? Herr Brandauer, entschuldigen Sie, aber das ist ziemlich hirnverbrannt, was Sie da sagen! Und es widerspricht auch allen kriminalistischen Erfahrungen! Ich bin nun schon einige Jahre in meinem Beruf unterwegs, aber ein solcher Fall ist mir noch nie  untergekommen.“
   Brandauers Augen werden hart. „Alles geschieht irgendwann zum ersten Mal! Und warum sollte gerade meine Frau eine Ausnahme sein?“
   „Haben Sie denn Beweise?“
   „Noch nicht! Aber ich bin sicher, bald habe ich welche! Darauf können Sie Gift nehmen!“
   „Was macht Sie da so sicher?“
   „Ich beobachte sie. Irgendwann macht jeder Mörder einen Fehler, der ihn verrät!“ Eine Tür fällt zu. Brandauer, nervös: „Bitte sagen Sie ihr nichts! Sie darf auf keinen Fall Verdacht schöpfen, dass ich ihr auf den Fersen bin!“
   Der Hauptkommissar steht auf. Das ist kein Fall für die Kriminalpolizei, denkt er bekümmert, das ist ein Fall für die Psychiatrie.
   Frau Brandauer erscheint mit dem Säugling auf dem Arm.
    „So, das wär´s von meiner Seite eigentlich schon.“ Hardtnack tätschelt dem Kleinen die Wange. Der dankt mit einem niedlichen Babylachen.
   Brandauer auf dem Sofa starrt vor sich hin.
    „Vielleicht hat ja jemand von Ihnen noch eine Frage oder eine Idee. Sie können mich jederzeit unter dieser Nummer anrufen.“ Er gibt beiden seine Karte. „Frau Brandauer, begleiten Sie mich zur Tür?“
   Auf dem Flur fragt Hardtnack: „Zeigte Ihr Mann vor dem Verschwinden Ihrer Tochter auch schon diese geistige Verwirrung?“
   „An sich nicht. Es sei denn, Sie bezeichnen zwanghaftes Laufen als geistige Verwirrung!“
   „Frau Brandauer, Sie sollten die Krankheit Ihres Mannes nicht auf die leichte Schulter nehmen! Er benötigt dringend eine Therapie, sonst geschieht noch ein weiteres Unglück!“
   Ein spitzes Lachen. „Pah! Das müssen Sie ihm schon selber sagen. Was ich ihm sage kümmert ihn einen Scheißdreck!“ Der Kleine wird unruhig. „Herr Hauptkommissar, Karl will sein Fläschchen. Bitte entschuldigen Sie mich!“
   Hardtnack ist schon durch die Tür, da ruft sie ihm nach: „Ach übrigens! Ich habe die Scheidung eingereicht!“

   Der Hauptkommissar verlässt die Wohnung mit dem unguten Gefühl, das sich einstellt, wenn man das Lager eines Schwerkranken verlässt: Der Mensch, ein höchst gebrechliches Wesen. Zudem ist er sich ziemlich sicher, dass ihm Frau Brandauer etwas verschweigt. Sein Bauch verrät es ihm. Und wenn sich der Hauptkommissar auf etwas verlassen kann, dann ist es sein Bauchgefühl. Abgesehen davon war das Manöver mit dem Säugling zu durchsichtig. Er besteigt sein Rad und tritt in die Pedalen, dass die Kette knackt. „Ich werde es herausfinden“, murmelt er.   
   
                                                 Ein unangenehmer Zwischenfall

     Da Brandauer noch immer keinerlei berufliche Neigung verspürte – sein Arzt hatte ihn erneut krankgeschrieben –  nahm er, um dem häuslichen Elend wenigstens für ein paar Stunden zu entgehen, seine Läufe wieder auf. Wie von selbst fügte es sich, dass er bald wieder um denn See lief. Dabei vermied er es, sich dem bewussten Gebüsch zwischen den Pappeln zu nähern. Zu schmerzlich war noch die Erinnerung an die zerstörte Hoffnung.
  Eines Tages lief er bei brütender Hitze – man schrieb den vierzehnten August – wieder um den See. Seit acht Tagen stand das Thermometer mittags bei dreißig Grad, und nachts kühlte es sich kaum ab. Kein Wunder, dass bei vielen Menschen die Nerven blank lagen.
   Jetzt hielt er an, um im Schatten eines Baumes kurz zu verschnaufen.
   Jemand hinter ihm sagte: „Suchen Sie noch immer nach Ihrer Tochter?“
  Brandauer drehte sich um. Auf der Bank saß ein älterer, dürrer Kahlkopf mit Sonnenbrille und einem Stock zwischen den Knien. Brandauer kannte den Mann nicht, aber offensichtlich kannte der Mann ihn.
   Brandauer ist auf einmal hellwach. „Sie wissen, wo meine Tochter ist?“ ruft er aufgeregt und kommt näher. In seinem kranken Hirn keimt Hoffnung auf. Vielleicht hat Erika Engelchen ja doch nicht umgebracht und es lebt noch! Es war ja auch nur ein Verdacht, redet er sich heraus, denn Beweise fehlen ja noch.
  Der Mann sieht Brandauers Augen und bekommt es mit der Angst. Der irre Blick! Also stimmt es doch, was man erzählt, er ist wahnsinnig geworden, und Wahnsinnige können unberechenbar sein. Und gerade der, mit seinen Muskelpaketen! „N-nein, nein, ich habe nichts gesagt“, stammelt er. Vorsichtshalber rutscht er zur Seite, um sich einen Fluchtweg offen zu halten.
   Aber Brandauer ist bereits außer sich. „Doch, Sie wissen es!“ brüllt er, „Sie wissen, wo meine Tochter ist!“ Da ist er wieder, der Schmerz, der unerträgliche Schmerz.
   Der Hals des Mannes, trotz der Hitze locker krawattenumzingelt, zittert. Nun wird es ernst. Brandauer ergreift die Krawatte, zieht, erst sanft, dann mit einem Ruck. Der Mann kommt hoch, vor Entsetzen wehrlos. Brandauer sieht den Kopf, die Brille, Augen einer Riesenspinne, den Mund, der die Wahrheit kennt aber nicht sagen will. Dieser arglistige, widerwärtige Mund über dem widerlich besabberten Kinn. Man muss sie quetschen, röhrt sein Hirn, diese Blase, diese beinlose Spinnenblase, abquetschen, abdrücken, damit der Weg für die erlösenden Worte frei wird, denn die Wahrheit sitzt nicht im Kopf, sondern im Herzen . . . Noch schreckt er vorm Äußersten zurück. Noch halten die Fesseln der Besonnenheit. Doch diese Finger . . . Oh, oh, diese Finger . . . Das Eigenleben der Finger lässt ihm keine Wahl. Diese Finger, sie zucken, sie krümmen sich, sie wollen drücken, zupacken, quetschen, dulden keine Gegenwehr . . . Sein ES mahnt: Lass es, es bringt nur noch mehr Verwirrung . . . Sein ICH brüllt: Er weiß es, er weiß es . . .   Aus dem Hinterhalt fassen sie zu, diese Finger, quetschen, drücken, vom schlaffen Fleisch gereizt . . . Gurgelnde Laute, kaum menschenähnlich . . . Brandauer schreit: „Sie wissen es! Sie wissen es! Warum sagen Sie nichts?“
   Vier kräftige Hände reißen Brandauer zurück. Zwei Jogger haben die Szene beobachtet. Sie halten den völlig Erschöpften fest, bis die Polizei eintrifft und ihn abführt.

   Brandauer, völlig verstört, gab zu Protokoll, der Mann habe ihn provoziert. Die Aussage des Angegriffenen stand dagegen. Dummerweise war er Diakon bei einer Freikirche. Ihm glaubte man, dem Angreifer dagegen nicht. Als Brandauer sah, dass sich die Gewichte zu seinen Ungunsten verschoben, schwieg er.
   Da er nüchtern war und der Polizei bekannt, schickten ihn Diercksen wieder nach Hause. Allerdings bestellte er ihn für den nächsten Tag, zehn Uhr dreißig, ins Präsidium. Als Hardtnack hörte, um wen es ging, sagte er: „Ranjet, den überlass mir mal.“
   Brandauer erschien mit leichter Verspätung. Der Hauptkommissar roch sofort, dass er getrunken hatte. Er bot ihm Kaffee an. Dann sagte er: „Herr Brandauer, dies ist jetzt keine Bagatelle mehr! Sie müssen ja total die Kontrolle über sich verloren haben. Die Würgemale am Hals des Bedrängten sind ziemlich kräftig. Man könnte fast meinen, Sie hätten vorgehabt, denn Mann tatsächlich zu erwürgen. Das liefe dann auf den Vorwurf der Körperverletzung mit Tötungsabsicht hinaus. Ich muss Ihnen nicht erzählen, was ein ehrgeiziger Staatsanwalt daraus alles machen kann. Bei einem Busgeldbescheid bleibt´s dann mit Sicherheit nicht! Mann, bei allem Verständnis für Ihre Situation, was haben Sie sich eigentlich dabei gedacht?“ Der Hauptkommissar hatte sich im Umgang mit 'leichten Fällen', wie er sich ausdrückte, einen kumpelhaften Ton angewöhnt.
   Brandauer war das alles in höchstem Maße peinlich. „Ich weiß es nicht“, murmelte er zerknirscht, „es kam plötzlich über mich.“
   „Sie gaben gestern zu Protokoll, der Mann habe Sie provoziert. Er bestreitet das. Was hat er Ihrer Meinung denn nun gesagt?“
   „Ich kann mich an nichts mehr erinnern.“
   Hardtnack seufzte. Natürlich. Darauf läuft´s immer wieder hinaus. Man kann sich an nichts mehr erinnern. „Aber der Diakon konnte sich erinnern. Und zwar sehr gut sogar. Er fragte Sie, ob Sie immer noch Ihre Tochter suchen. Daraufhin haben Sie ihn angegriffen. Ich frage Sie: Warum?“
   Er beugte sich vor und lächelte freundlich. „Herr Brandauer“, sagte er sanft, „Ihre Tochter ist entführt worden. Verdammt nochmal, wann begreifen Sie das endlich!“
   Brandauer brauste auf. „Das ist doch Unsinn! Er hat behauptet, er wüsste, wo sie sich befindet und wollte es mir nicht sagen!“
   „Sie glauben also nicht mehr, dass Ihre Frau ihre Tochter getötet hat?“
   Brandauer, überrascht: „Wer hat Ihnen denn diesen Unsinn erzählt?“
   Der Hauptkommissar schüttelte den Kopf. Hoffnungslos, absolut hoffnungslos. Hat keinen Zweck, das Gespräch weiter fortzusetzen. Außerdem ist die Kriminalpolizei nicht dazu da, Leute von ihren Wahnvorstellungen abzubringen.
   Er stand auf. „Herr Brandauer, ich weiß nicht, wie die Sache ausgeht. Aber es sieht nicht gut für Sie aus. Wenn Sie da noch mit halbwegs heiler Haut herauskommen wollen, besorgen Sie sich einen guten Anwalt!“
   Hardtnack sah Brandauer nach, wie er gebeugt und mit hängenden Schultern davonschlich. Und nun war da wieder dieses ungute Gefühl in seiner Magengegend. Das sagte ihm, es werde mit diesem unglücklichen Menschen kein gutes Ende nehmen.
 
                                                      Eine furchtbare Entdeckung.

   Er täuschte sich nicht.
  Etwa vierzehn Tage später klingelte ihn sein Handy nachts um halb eins aus dem Schlaf. Die Nachtwache. Er möge unverzüglich ins Kommissariat kommen, in seinem Büro sitze ein stark alkoholisierter Mann, der ein Geständnis ablegen wolle. Auf Hardtnacks Frage, worum es denn gehe, erklärte der Wachhabende, der Mann wolle nur mit ihm, dem Hauptkommissar Hardtnack reden.
   Verärgert ließ sich Hardtnack zurück in die Kissen sinken. Wieder einer dieser armen Schweine, dachte er böse, die im Suff Taten gestehen, die sie nicht begangen haben. Nur um sich aufzuspielen und ihren beißenden Minderwertigkeitsfantasien für ein paar Minuten zu entkommen. Das hat Zeit bis morgen früh. Vorsichtshalber fragte er noch: „Hat der Mann seinen Namen genannt?“
   „Ja, Brandauer.“
    Hardtnack schnellte aus dem Federn wie eine Rakete. Die Frage seiner Frau, was denn nun schon wieder los sei, überhörte er und stand in weniger als fünf Minuten in seinem Büro.
   Brandauer sah fürchterlich aus. Das Gesicht verquollen, als habe ihn jemand kräftig geohrfeigt. Die Augen blutunterlaufen, die Alkoholfahne steif wie ein Brett. Als  Hardtnack eintrat, wand er sich von der Besucherbank hoch und lallte: „Ich ha-habe meine Frau und das K-Kind erschlagen!“
   Der Hauptkommissar bot ihm Kaffee an. Doch Brandauer lehnte heftig ab. Obwohl er sich nur mit Mühe auf den Beinen halten konnte bestand er darauf, sofort mit dem Kommissar nach Hause zu fahren.
   Als sie die Küche betraten, blickte Hardtnack auf ein Inferno. Er sah auf einen Blick, dass hier jede Hilfe zu spät kam. Trotzdem rief er die Ambulanz an. Frau Brandauer hockte vornübergebeugt auf einem Stuhl, der Kopf, seitlich verdreht, auf der Tischplatte. Ihr Haar war blutverkrustet, an einer Stelle trat weißliche Gehirnmasse aus. Neben ihrem Gesicht lag ein Maurerhammer. Eine halbvolle Schnapsflasche, ein Schnapsglas, ein voller Aschenbecher, ein Gasfeuerzeug sowie eine Zigarettenschachtel ergänzten das makabre Stilleben. Ein Fläschchen mit erkalteter Milch stand auf dem Küchenherd.
   Der Kinderwagen neben dem Tisch . . .
   Der Hauptkommissar behauptete von sich, er habe schon mehr Leichen gesehen als manch ein Innendienstler lebende Menschen. Er wollte damit erklären, warum ihn der Anblick auch noch so schlimm zugerichteter oder halb verwester Leichen nicht mehr sonderlich tangierte. Doch diese kleine Kinderleiche raubte ihm die Fassung. Die Stirn des runden Lockenkopfes war vollständig zertrümmert. Der Mörder musste wie besinnungslos zugeschlagen haben. Das linke Auge war aus der Höhle getreten, Blut hatte die Augenhöhlen ausgefüllt und das Kissen rot gefärbt. An verschiedenen Stellen des Kinderwagens klebten Blut- und Hautreste.
   Hardtnack wandte sich ab. Diese grausame Tat überstieg selbst sein Fassungsvermögen. Der Drang, Brandauer mit der Faust ins Gesicht zu schlagen oder sonst wie zu demütigen, wurde fast unwiderstehlich. Früher, als er noch ein Greenhorn war, war ihm bei ähnlichen Situationen schon mal die Hand ausgerutscht. Er hatte damit gebüßt, dass man andere, weniger Fähige, bei Beförderungen vorzog. Aber jetzt war er kein Greenhorn mehr. Trotzdem kostete es ihn einige Anstrengung, wieder nüchternen Verstand walten zu lassen.
   Brandauer stand unbeteiligt und leicht schwankend daneben. „Da ist noch etwas. Kommen Sie“, murmelte er und führte den Hauptkommissar auf den Dachboden.

                                                                             *
   Der Doppelmord an Frau Brandauer und ihrem Kind schlug ein wie einen Granate in einen Gemüsegarten. Wochenlang hielt sich dieses furchtbare Verbrechen in Stadt und Land auf der Hitliste der Gesprächsthemen. Besonders die Tatsache, dass der eigene Ehemann der Mörder war, erhitzte die Gemüter. Spekulationen wurden laut, die Entführung der kleinen Monika damals sei nur vorgetäuscht gewesen. In Wirklichkeit habe ihr eigener Vater sie umgebracht. Angeheizt wurde die Debatte noch durch das Gerücht, der Mörder habe die Stirn seines Kindes zu Brei geschlagen. Die Gerüchteküche kochte, und die Suppe der Spekulationen und Vorverurteilungen schwappte bis in die überregionale Presse über
   Der Prozess fand am zweiten November vor der großen Strafkammer des Landgerichts statt.  Wegen des großen Andrangs wurde die Verhandlung über Lautsprecher ins Foyer übertragen. Die Zuschauer warfen gierige Blicke auf den Angeklagten. Viele waren gekommen, um einen Blick auf ein menschliches Ungeheuer zu werfen. Hartnäckig hielt sich nämlich das Gerücht, er habe schon einmal ein Kind getötet.

                                             Notwendiger Zwischenruf des Verfassers.

   Auch wenn an dieser Stelle wohl niemand damit gerechnet hat, der Schreibende meldet sich jetzt in eigener Sache zu Wort. Er bekennt ohne Scham, dass er sich nicht verpflichtet fühlt, den Prozess in allen Einzelheiten vor dem inneren Auge der Leserschaft wieder auferstehen zu lassen. Es würde Bände füllen. Wer mehr erfahren will kann im Internet unter dem Stichwort

                                             „Die Kleingartentragödie vom Kalkbruchsee“

seine durchaus verständliche Neugier befriedigen. Man erinnert sich: Der Berichterstatter hat äußerste Stringenz und Zurückhaltung versprochen, und dieses Versprechen will er auch halten.
    Natürlich juckt es ihm in den Fingern, wie man so sagt, wenigstens den Schlagabtausch zwischen dem Staatsanwalt, einem Dr. Guido Steuernagel, und dem Strafverteidiger, einem Dr. Johannes Senftleben, detailliert wiederzugeben. Beide boten dem atemlos lauschenden Publikum ein einzigartiges Schauspiel. Der Staatsanwalt, ein hagerer Mann mit frühzeitig ergrauten Schläfen, dem seine Frau von früh bis spät mit der Frage in den Ohren lag, warum er noch nicht Oberstaatsanwalt war, versuchte mit allen rhetorischen Tricks und Kniffen, die Schar der Schöffen für seine Theorie zu gewinnen. Doch welches Argument er auch anführte, wie er die Tatsachen auch beleuchtete oder im Dunkeln ließ, wie die Krakenarme seiner Beredsamkeit sich auch drehten, wanden und wendeten – der Verteidiger war auch nicht auf den Groß-Kopf gefallen. Der, ein würdiger, etwas korpulenter Endfünfziger, führte die Keule hinterhältiger Verbalattacken ebenso hiebsicher wie sein staatliches Gegenüber – und war obendrein der geborene Schauspieler. Mit überraschend beweglicher Mimik spielte er mal den ahnungslos Überraschten, wobei er sich in den runden Hüften bog wie ein spätes Fräulein, das gerade einen überraschenden Heiratsantrag erhält; dann wieder, mit perfidem Grinsen und mokant aufgeworfenen Lippen und wie zerdrückt unter der offensichtlichen Unfähigkeit des Staatsanwalts, wischte er dessen Kabale weg wie ein feuchter Schwamm einen Kreidestrich. Hier gebärdeten sich zwei tolle Ritter der Rabulistik wie Todfeinde, auf der Bowlingbahn hingegen wie Milchbrüder. Kurz: Alles läuft auf die Frage hinaus, die sie sich in der Pause stellen werden: „Na, wie war ich?“
   Weil dem so ist, und weil sich daran so schnell nichts ändern wird, fährt der Erzähler folgendermaßen fort:

                                                      Ein toter Hund

   Die geschmeidige Komödianten-Figur des Verteidigers wächst hinter seinem Tisch hervor, in der Hand die schriftliche Wiedergabe eines Gesprächs, das er am Vortage mit seinem Klienten geführt hat (es liegt dem Gericht bereits vor). Jetzt liest er:   

   „An besagtem Abend kehrte Frau Monika Brandauer, die Gattin meines Mandanten, mit dem kleinen Karl gegen siebzehn Uhr dreißig von ihrer Freundin Karin Hempel zurück. Herr Brandauer gab an, dass seine Frau zu diesem Zeitpunkt nicht mehr ganz nüchtern war. In der letzten Zeit habe sie sich angewöhnt, Kognak zu trinken. Aus dem anfänglichen abendlichen Gläschen sei dann immer öfter drei und mehr geworden. In Karin Hempel habe sie eine Gleichgesinnte gefunden. Leider werde seine Frau, so Herr Brandauer weiter, nach Alkoholgenuss häufig aggressiv, und es sei gelegentlich zu heftigen Auseinandersetzungen zwischen ihnen gekommen. An diesem Abend nun sei sie aus irgendeinem Grunde besonders aufgebracht gewesen. Herr Brandauer habe am Küchentisch gesessen, und seine Frau habe ihm schon von der Küchentür aus zugerufen: Na, trauerst du wieder deinem Engelchen nach?, und dabei provozierend gelacht. Als Herr Brandauer nicht reagierte, habe seine Frau gerufen: Sieh doch mal auf dem Wäscheboden nach, vielleicht findest du sie ja dort!“
   Dr. Steuernagel beugt sich zu seinem Klienten hinunter, redet mit ihm. Zunächst schüttelt Brandauer energisch den Kopf, doch nach einiger Zeit nickt er.
  „Mit Erlaubnis meines Mandanten“, fährt Steuernagel, kochkommend, fort, „zitiere ich jetzt wörtlich: 'Ein kaltes Entsetzen erfasste mich. Sollte mein Verdacht, den ich immer mit aller Entschiedenheit bekämpft hatte, nämlich, dass sie wie diese Frau in Spanien ihr eigenes Kind umgebracht hat, doch zutreffen? Misstrauisch geworden rannte ich auf den Dachboden und blickte mich um. Nach einer Weile entdeckte ich unter allerlei Gerümpel einen alten Reisekoffer. Er sah seltsam aufgebläht aus, wie zum Bersten vollgestopft, und der Geruch von faulen Eiern ging von ihm aus. Vorsichtig zog ich an einer Stelle den Reißverschluss zurück, und sofort schlug mir ein infernalischer Gestank entgegen. Mir wurden die Knie weich, und ich musste mich an einen Balken lehnen. Da sah ich den Stapel Ziegelsteine und den Maurerhammer. Als ich wieder zu mir kam, lagen meine Frau und das Kind erschlagen vor mir'. Zitat Ende.“
   Der Verteidiger setzt sich.
   Brandauer hat dem Vortrag mit geneigtem Kopf gelauscht, mehrmals greift er sich aufstöhnend an die Stirn. Man versteht jetzt, warum er eben darum bat, sitzen bleiben zu dürfen. Auch bei den Zuhörern bleibt dieser Bericht nicht ohne Wirkung. Die Blicke, die man den Beschuldigten jetzt zuwirft, sind erheblich milder als noch vor wenigen Minuten. Sogar in die Reihe der Beisitzer kommt Bewegung.
    „Herr Hauptkommissar Hardtnack“, fragt die Vorsitzende, Frau Dr. Erdmute Wulff-Sauerländer, „können Sie diese Angaben inhaltlich bestätigen?“
   „Ja, Frau Vorsitzende. Diese Angaben kann ich inhaltlich voll bestätigen. Die Erschlagene roch deutlich nach Alkohol, auf dem Küchentisch stand eine halbvolle Kognakflasche.“
   „Was fanden Sie auf dem Dachboden vor?“
  „In dem Koffer lag die halb verweste Leiche eines Hundes. Auf dem Stapel Ziegelsteine befand sich eine staubfreie Stelle mit den Umrissen eines Maurerhammers.“
   „Gibt es Hinweise, wer den Koffer mit der Hundeleiche auf dem Dachboden abgestellt haben könnte?“
   „Nein. Die Befragung der Hausbewohner verlief negativ. Der Hund war offensichtlich überfahren worden. Sein Körper wies erhebliche Verletzungen auf.“
   Der Verteidiger meldet sich zu Wort. „Frau Vorsitzende, erlauben Sie eine Frage an den Zeugen?“ Gnädiges Kopfnicken. „Herr Hauptkommissar Hardtnack, haben Sie an dem Koffer Fingerabdrücke der Frau Brandauer gefunden?“
   Der Staatsanwalt, hellhörig wie ein alter Uhu, schnellt hoch. „Herr Verteidiger, worauf wollen Sie hinaus?“
   Dr. Steuernagel, mit gewinnendem Lächeln: „Es besteht die Möglichkeit, das Frau Brandauer, maßlos gekränkt durch den Vorwurf, ihr Kind umgebracht zu haben, selbst den Hund in den Koffer gelegt hat, um sich an ihrem Mann zu rächen.“
   Dr. Senftleben, kalt: „Lieber Herr Kollege, diese Theorie ist doch wohl etwas zu sehr angespitzt! Worin soll diese Rache denn bestanden haben? Dass sich ihr Mann ärgert? Ich bitte Sie! Sagen Sie doch klipp und klar, worauf Sie hinauswollen!“
   Dr. Steuernagel richtet sich zu voller Größe auf. „Hohes Gericht!“, ruft er, und seine Brille schmettert Blitze, „der Hinweis auf den Dachboden war keine unbedachte Bemerkung, etwa aus dem Bauch heraus, wie man so sagt, es war eine gewollte Provokation, die eine schreckliche Tat auslöste! Herr Brandauer, am Ende seiner seelischen Widerstandsfähigkeit, musste annehmen, dass sich in dem Koffer – –“
   Der Staatsanwalt: „Einspruch! Frau Vorsitzende, der Verteidiger versucht in unzulässiger Weise, Frau Brandauer eine Mitschuld an der Tat ihres Mannes anzulasten, wogegen ich mich in aller Entschiedenheit wehre! Dann müsste sie ja von dem Koffer und seinem Inhalt gewusst haben!“ Zum Hauptkommissar: „Herr Zeuge, haben Sie an dem Koffer Fingerabdrücke der Frau Brandauer gefunden?“
   „Ja. Allerdings stark verwischt.“
   Der Staatsanwalt (die Stimme, die Stimme!): „Herr Brandauer, kann es sein, dass Ihre Frau diesen Koffer in der Vergangenheit schon einmal benutzt hat?“
   Der Angeredete bleibt stumm. Offensichtlich ist er der Einzige im Saal, den das alles nicht interessiert. Wieder macht Dr. Steuernagel den Kotau, redet mit dem Beklagten. Dann verkündet er: „Mein Mandant weiß es nicht. Er beteuert, den Koffer am diesem Abend zum ersten Mal gesehen zu haben.“
   „Das ist doch Blödsinn!“
   Alles Blicke fliegen der Ruferin zu, eine üppige Blondine auf der Empore.
   Frau Dr. Erdmute Wulff-Sauerländer, die Vorsitzende, nach kurzer Verblüffung: „Zwischenrufe sind nicht –“
   Sie bekommt, noch ehe sie den Satz beendet hat, eine fröhliche Antwort. „Ich bin seine Schwester! Der Koffer ist ein altes Familienmöbel noch aus Uromas Zeiten! Dass er sich nicht erinnern kann ist doch sowas von – –“
    „Aha!“ Die Stimme des Staatsanwalts knallt sieghaft in den Saal. „Damit wäre Ihre Vermutung doch wohl hinfällig, lieber Kollege!“ Ein kühner Schwenk der Hüften: „Herr Hauptkommissar, fanden sich an dem Koffer noch weitere Fingerabdrücke?“
   „Ja. Etwa ein halbes Dutzend. Wenn Sie die genaue Zahl wissen wollen –“  
   „Meine Herren!“ Die Vorsitzende, aus langjährig-leidvoller Erfahrung gewitzt, unterbricht. „Meine Herren, um den Koffer kümmern wir uns später. Zunächst noch eine Frage an den Herrn Zeugen. Herr Hauptkommissar, welchen Eindruck machte der Beschuldigte, als Sie in der Küche standen?“
   „Ruhig und gefasst.“
   „Sie meinen kaltblütig?“
   „Nein. Eher wie jemand, der noch begriffen hat, was da geschehen ist.“
    „Danke. Ich bitte jetzt den Gutachter, Herrn Wieland –  –“

Forts. folgt

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Es ist nicht schlimm, alt zu werden, man muss nur jung dabei bleiben.
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Beitrag24.09.2021 11:53

von Federfuchser
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Das Gutachten

   Wie? Was? Sie bittet Herrn Wieland? So ohne alles, zum Beispiel ohne „Professor“? Ohne „Dr.“? Also quasi unbekleidet? Ist dieser Mensch überhaupt ernst zu nehmen?
   Ja, er ist es. Der Erzähler ist selbst überrascht.
   Zunächst sieht er sich allerdings genötigt, das Mienenspiel des Geschworenen Haustein, Maurermeister, zu beschreiben, denn es ist, das muss man schon sagen, der Würde des Gerichts keineswegs angemessen. Um die Mundwinkel des Ehrenwerten tobt ein heftiger Kampf, Lachmuskeln gegen Lippendisziplin – will sagen, der gute Meister weiß nicht, ob er sich amüsieren oder nur still lauschen soll. Fasziniert starrt er auf den Mund des Redners, eben des Herrn Wieland, des Gutachters, der ihn an das Maul eines dieser riesigen Goldfische im Mühlenteich erinnert, wenn sie sommertags an die Oberfläche kommen und nach Luft schnappen. Auch der Mund des Gutachters geht auf und zu, rund, groß, wort-freigiebig, nur schnappt er nicht nach Luft, der Mund, er stößt sie aus, in feinem Rhythmus, geschwängert mit klirrenden Worten, sodass nicht nur dem Maurermeister die Ohren klingen. Solche Worte wie: Paranoid-aggressives Potential, reiche schizophren-paranoide Symptomatik, und gar Exarzerbation! Hei, solche Worte haben die meisten der andächtigen Zuhörer noch nie gehört.
   Gut. Bleiben wir ernst. Die Tragödie verbietet eine albern-humorige Betrachtungsweise. Deshalb folgt jetzt ein Auszug aus dem Gutachten des Herrn Wieland, eines praktizierenden Diplompsychologen mit großer Erfahrung.
  
  „. . . Die Entführung des Kindes vor etwa einem halben Jahr nun ließ eine reiche schizophren-paranoide Symptomatik in vollem Umfang aufbrechen. Nach Aussagen seiner Frau flüchtete sich Herr Brandauer zeitweilig in eine primitiv-kindliche Vorstellungswelt, und die fixe Idee, seine Tochter hause in einer Erdhöhle am Grunde des Steilhangs nahm zwanghafte Züge an. Die Situation spitzte sich weiter zu, als Herr Brandauer in der Zeitung von der Ermordung des achtjährigen Gabriel in Spanien las. Es kam zu einer Exarzerbation der psychotischen Symptomatik, verbunden mit gesteigerter motorischer Agilität, Denkstörungen, optischen und akustischen Halluzinationen. Herr Brandauer gab den Vorsatz auf, beruflich wieder Fuß zu fassen. Teile seines unorganisierten Wahns richteten sich jetzt nicht nur gegen seine Frau und den Sohn, sondern auch gegen Fremde beziehungsweise Bekannte. Bei einer Abendeinladung kam es zum Eklat: Herr Brandauer beschimpfte einen Gast als Idioten und nannte die Dame des Hauses eine Schlampe . . .“
   Und so weiter, und so fort.
  Nach etwa einer halben Stunde beendet Herr Wieland das Stahlgewitter seiner Worte, die Vorsitzende, Frau Dr. Erdmute Wulff-Sauerländer, kündigt die Pause an.

   Zwei Herren gehen im Hof des Landgerichts plaudernd auf und ab. Der eine ist der Jurastudent im dritten Semester Sebastian Vogelfrey, der andere der Gerichtsassessor Heinrich Heinze.
   „Wieder mal so ein Fall, bei dem man nicht weiß, wo hinten und vorne ist“, stöhnt Vogelfrey. „Hat die Frau nun ihr Kind umgebracht oder nicht?“
   „Das wird niemand mehr herausfinden“, brummt Heinze. „Auch nicht, wer die Hundeleiche in den Koffer getan hat. Ist für das Urteil auch belanglos.“
   „Wieso?“
   „Es geht jetzt darum, ob das Gericht dem Angeklagten Paragraf 20 zubilligt oder nicht.“
   „Ich denke, nach dem, wie sich der Gutachter für ihn eingesetzt hat, bleibt der Kammer keine andere Wahl.“
   „Wie?“ Heinze lacht überlaut. „Der Gutachter hat sich eingesetzt? Mein lieber Vogelfrey, da scheint dir einiges entgangen zu sein! Dieser Gutachter war von allen Beteiligten derjenige, der am wenigsten pro reo gesprochen hat.“
   „Echt? Er hat ihm doch eindeutig eine paranoide Schizophrenie attestiert! Besser konnte es doch für den Brandauer nicht laufen!“
   „Ha! Schlechter, mein Lieber, schlechter! Damit hat er den Angeklagten als Kandidaten für den unbegrenzten Maßregelvollzug vorgeschlagen. Was das für einen Straftäter bedeutet, muss ich dir ja wohl nicht erzählen. Der Verteidiger war´s, der ihn da wieder rausgehauen hat, indem er vortrug, sein Mandant bekenne sich zu seiner Schuld. Damit war eine mögliche Zubilligung der Schuldunfähigkeit vom Tisch.“
   „Hmm . . . Versteh´ ich nicht!“
   „Kannst du auch nicht, wenn du mich ständig unterbrichst! Erinnerst du dich noch, warum sie den Breivik in den unbegrenzten Maßregelvollzug gesteckt haben, he?“
   „Weil er an einer fronto . . . frontotemporalen Demenz litt!“
   „Quatsch! Daran leiden andere auch, und die bringen keine ganze Schulklasse um. Nein. Weil er nach den grausigen Taten steif und fest behauptete, er sei unschuldig.“  
   „Ah, jetzt dämmert´s! Durch das Schuldbekenntnis hat sich Brandauer als einsichtig und somit schuldfähig erwiesen und vom Maßregelvollzug gerettet! Hmm, nicht schlecht dieser Schachzug.“
   „Genau! Es wird höchstens auf verminderte Schuldfähigkeit hinauslaufen. Manchmal sitzen die Täter mit der Pistole in der Hand neben der Leiche und können sich an nichts erinnern. Das ist dann der Moment, wo der Staatsanwalt auf Schuldunfähigkeit geht. Diese Möglichkeit wollte die Vorsitzende erkunden, als sie den Zeugen fragte, wie sich Brandauer am Tatort benommen habe. Aber der gute Senftleben hat den Angriff geschickt abgewehrt, indem er darauf verwies, dass Brandauer als Wiederholungstäter ja nun nicht mehr infrage käme.“
   „Okay. Was ich dann allerdings nicht verstehe, warum fordert der Staatsanwalt eine so hohe Strafe, und der Verteidiger Freispruch? Müssen die beiden nicht befürchten, sich zu blamieren?“
   Heinze lachte unbeschwert. „Mein lieber Vogelfrey! Wenn du auch nur die geringste Absicht hast, an diesem Landgericht Fuß zu fassen, dann solltest du auf keinen Fall das Trio Wulff-Sauerländer, Steuernagel und Senftleben unterschätzen. Da blamiert sich niemand, höchstens der Gutachter. Die drei spielen sich geschickt sich die Bälle zu, damit nicht hinterher eine Revision herauskommt, und die wollen sie unter allen Umständen vermeiden. So eine Strafzumessung ist nämlich eine heikle Angelegenheit. Fällt die Strafe zu mild aus, geht die Staatsanwaltschaft in Revision, urteilt die Kammer zu hart, tut´s die Verteidigung. Und wegen der Überlastung des Gerichts wollen diese drei eine Neuverhandlung unter allen Umständen vermeiden. Also geben Staatsanwalt und Verteidiger coram publico der Vorsitzenden zu verstehen, mit welchen Spruch sie einverstanden wären. In diesem Fall läge er irgendwo in der Mitte zwischen Freispruch und sechs Jahren Freiheitsentzug.“
   „Lassen sich die Beisitzer denn auf solch ein Deal ein?“
   „Frau Wulff-Sauerländer ist dafür bekannt, dass sie solange beraten lässt, bis ein Urteil herauskommt, mit dem sie leben kann. Allerdings, leicht wird sie es diesmal nicht haben. Der Strauß, hmm . . . ist ein sturer Hardliner, der nur auf Abschreckung aus ist, und dieser Wilhelmi . . . Ein eitler Fatzke, der Schwierigkeiten mit vorgesetzten Frauen hat. Und die beiden Geschworenen – na ja, die nicken alles geduldig ab.“
   „Klingt nicht sehr hoffnungsvoll. Auf jeden Fall kann man auf das Urteil gespannt sein.“

                                                                      Das Urteil

   Brandauer wurde wegen Totschlags im Affekt an seiner Frau und seinem Sohn zu viereinhalb Jahren Freiheitsentzug verurteilt. Wenn er in eine Therapie einwillige und diese erfolgreich verlaufe, könne die Strafe auf drei Jahre herabgesetzt werden.

   Wieder meldet sich der Erzähler zu Wort. Viereinhalb Jahre Freiheitsentzug gegen zwei Menschenleben? Nachdenklich nimmt er es zur Kenntnis. Nicht, dass er den geringsten Zweifel an der Integrität des Gerichts hegt. Im Gegenteil. Es hat lange und sorgfältig beraten, die geballte Weisheit des Gesetzes hinter sich. Und doch . . . Nur viereinhalb Jahre!  Ein unausgewogenes Urteil? Eine zu geringe Strafe für die Vernichtung zweier Menschenleben?
    Wir meinen: Nein. Gemessen an der Schwere der Schuld vielleicht, aber nicht gemessen am Wert der Freiheit, diesem köstlichsten Schatz, den ein Staat seinen Bürgern gewähren kann. Wohlstand? Gut. Gesundheitsfürsorge? Auch gut. Aber über allem steht die Freiheit, mit dem Blut von Generationen erkämpft. Und dieses Blut-Gut darf der Staat nur in homöopathischen Mengen einschränken –
   Der Erzähler beißt sich auf die Lippen. Da hat er doch schon wieder –  –  

 Es folgt das bittere Ende

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Federfuchser
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Beitrag03.10.2021 09:47

von Federfuchser
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Das bittere Ende
  
  In der Haftanstalt gelang es Brandauer mit der Hilfe seiner Therapeuten,  das Geschehene in tiefere Schichten der Erinnerung zu verdrängen, und immer seltener übermannte ihn die Trauer über den Verlust seines Engelchens. Doch ihr Bild verblasste nicht.
   Eines morgens, auf dem Weg zur Arbeit, kam ihm eine junge Frau mit einem kleinen Mädchen entgegen. Das Kind hatte blonde Locken und ein entzückendes rosa Schleifchen im Haar. Brandauer wechselte sofort die Straßenseite, doch es war bereits zu spät. Auf einmal war die Erinnerung mit aller Kraft wieder da. Wieder kam Engelchen auf ihn zu und rief: „Papi, Aam!“ Wieder sah er die leere Öffnung in der Ligusterhecke, wieder sah er sich, fast besinnungslos vor Angst, den Bubiweg herunterrennen. Die Wunde war noch genauso tief wie damals und nur oberflächlich verheilt. Zeit heilt Wunden, sagt man. Ein törichter Spruch. Manche Wunden verheilen nie, sie setzen höchstens  Schorf an. Und was können drei Jahre bei einem solch tiefsitzenden Seelentrauma, wie es der Verlust eines Kindes darstellt, schon bewirken! Hinzu kam noch, dass Brandauer im Gefängnis natürlich nie ein kleines Mädchen zu Gesicht bekam und folglich dem Anblick jetzt hilflos ausgeliefert war.
   Mit aller Kraft versuchte er, die innere Ruhe, die er im Gefängnis erworben hatte, wiederzugewinnen. Doch schon nach er ersten schlaflosen Nacht begriff er, dass es mit der Ruhe vorbei war und ihn die Vergangenheit unerbittlich einholte. Wieder vernahm er Engelchens Ruf: „Papi, Aam!“   
  Weil die Obsessionen nicht nachließen, wandte er sich in an den Therapeuten, der ihn in der JVA behandelt hatte und dem er vertraute. Der verwies ihn an eine Kollegin, von der er behauptete, sie könne ihm helfen, denn sie sei auf solche Fälle von Realitätsverweigerung spezialisiert.
  Diese Therapeutin vertrat eine buddhistische Schule der Psychotherapie, deren Heilerfolge auf dem Glauben an die Seelenwanderung beruhten. Schon in der ersten Sitzung erkannte sie, wo die Probleme des neuen Patienten lagen: In einem wahnhaften Verlustsyndrom, dem auf herkömmlichen Wege nicht beizukommen war. Auf herkömmlichem Wege, das heißt: An den klaren Menschenverstand appellieren, mit dem Patienten vernünftig reden, versuchen, seine Wahnvorstellungen zu widerlegen. Bei diesem Patienten, das sah sie sofort, hätte diese Methode keinen Erfolg.
   Sie legte ihn auf die Couch und bestärkte ihn in der Annahme, dass seine Tochter keineswegs endgültig gestorben sei. Sie sei im Gegenteil ständig um ihn herum, nur sähe er sie nicht, weil sie sich in einer entmaterialisierten Form befinde und in eine Parallelwelt hinübergegangen sei. Solche Parallelwelten seien mathematisch beweisbar. Manche Wissenschaftler behaupteten sogar, es seien Hunderte solcher Welten möglich. Wenn er wolle, könne sie ihm ein entsprechendes Formelwerk zur nächsten Sitzung vorlegen.
   Wie man sich diese Parallelwelt vorzustellen habe. Sie sei doch bestimmt weit weg, diese Welt, denn sonst hätte er seine Tochter bestimmt schon einmal von Ferne gesehen.
   „Herr Brandauer“, sagte sie beschwörend und angelte nach einem dicken Folianten, „schauen Sie! Hier haben wir eine Buchseite. Sie und ihre Tochter sind zwei Sätze auf dieser Seite, Sie stehen auf der Vorderseite, ihre Tochter auf der Rückseite, oder meinetwegen umgekehrt. Jede dieser beiden Seiten enthält dieselbe Wissenschaft“ – es war der 'Grundriss der klinischen Psychiatrie' – „es sind sozusagen zwei Parallelwelten eines Universums. Nun frage ich sie, Herr Brandauer, sind Sie und ihre Tochter sich nahe? Sie sagen es!“
   Frau Mechthild Schulze-Klöppel lehnte sich zufrieden zurück. Das Argument schien zu überzeugen, denn der Patient dachte nach. Doch dann sagte er: „Aber wenn wir auf zwei verschiedenen Seiten existieren, dann besteht ja überhaupt keine Möglichkeit, Engelchen jemals wiederzusehen!“
   „Aber Sie sehen Ihre Tochter doch!“ Ihre von eigenem Leid frühzeitig gealterten Augen hefteten sich auf Brandauers Gesicht. „Oder wollen Sie behaupten, dass Sie das Bild Ihrer Tochter nicht ständig im Kopf haben?“
   „Ich sehe sie, das stimmt schon, aber sie ist nicht wirklich bei mir.“
   Frau Schulze-Klöppel bewegte resigniert die Arme. „Ich sagte es doch schon. Ihre Tochter befindet sich in einer entmaterialisierten Form. Wie ein Spiegelbild. Sagen Sie, Herr Brandauer, halten Sie ein Spiegelbild für real? Na sehen Sie! Und doch besitzt es keine materielle Substanz!“

  Nach dieser Sitzung dachte Brandauer viel über diese Parallelwelt nach, in der sich sein Engelchen jetzt befinden sollte. Ja, diese Vorstellung schien einleuchtend und würde manches erklären. Zum Beispiel die Art, in der ihm Engelchen in seinen Träumen erschien. Nach dem Aufwachen brauchte er eine ganze Weile, um festzustellen, dass es wirklich nur ein Traumgebilde gewesen war. Engelchen hatte „Papi, Aam!“ gerufen, und er hatte sie in die Luft geworfen. Dann hatte er ihr ein Eis spendiert, und er war so glücklich gewesen, so unsagbar glücklich. Er erwog sogar die Möglichkeit, dass der Traum die Wirklichkeit, und die Wirklichkeit der Traum war. Denn manche Erscheinungen des Alltags sind so unwirklich, dass sie eigentlich nur geträumt sein können.
   Und doch . . . Irgendetwas an der Argumentation der Frau Schulze-Klöppel stimmte nicht. Schon als er auf ihrer Couch lag und sie das mit der Buchseite erzählte, war ihm etwas unlogisch vorgekommen. Er wollte nicht einsehen, warum zwei Menschen, die in eng benachbarten Parallelwelten ein und desselben Universums existieren, sich nicht doch eines Tages begegnen können. Je länger er darüber nachdachte, desto stärker wurde der Verdacht, dass die Therapeutin ihm nicht die ganze Wahrheit erzählt, dass sie ihm etwas Wichtiges verschwiegen hatte.
   Auf die Vorderseite eines weißen Blatt Papiers malte er mit schwarzem Stift eine große männliche Figur, auf die Rückseite eine kleine, kindliche. Er hielt das Blatt gegen das Licht – und siehe da, beide Figuren standen nebeneinander! Er setzte sich wieder hin, nahm ein neues Blatt und zeichnete die Figuren so, dass sie sich im Durchlicht bei den Händen halten mussten. Und siehe da – es klappte!  
   „Also ist es doch möglich!“, jubelte er, „die Therapeutin hat mich angelogen!“
  Brandauer klatschte vergnügt in die Hände. Er würde Engelchen wiedersehen! Es war nur noch eine Frage der Zeit. Diese Erkenntnis erfüllte ihn mit Zuversicht, und allmählich beruhigte er sich, nur der Schmerz in seinem Herzen blieb. Die Therapie brach er ab.

  Es war ein Freitag im September. Der Himmel schwitzte ein graues, schleimiges Licht aus. Brandauer war er auf dem Weg zu seiner Wohnung. Auf der gegenüberliegenden Straßenseite hielt ein Auto, eine Frau und ein blondes Mädchen, eine Kakaotüte in der Hand, stiegen aus. Brandauer erkannte das Kind sofort: Es war Engelchen im Alter von acht Jahren. Er breitete die Arme aus und lief lachend auf die Straße, dem Kind entgegen.
   Reifen quietschten, Leute schrien auf. Brandauer war genau vor den Lastwagen gelaufen; der Aufprall schleuderte ihn vor die Frau mit dem Kind. Da lag er, umgeben von Entsetzen, der rechte Arm in Richtung Engelchen ausgestreckt. Das Kind starrte ihn an, er starrte das Kind an. Jetzt zerrte die Frau das Mädchen weg.
   Auf einmal überkam ihn eine große Ruhe. Wenn es auch in seinem Leib tobte und schrie, sein Herz schmerzte nicht mehr. Mühsam hob er den Kopf und sah dem Mädchen nach. „Ich wusste es doch“, murmelte er, „Engelchen lebt!“
   Kai Brandauer starb noch auf dem Weg ins Krankenhaus.

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