Halbzeit

[SteffiU70]

Es gibt Menschen, die bringen sich um, weil sie nicht weiter wissen….und es gibt Menschen, die bleiben zurück !
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Es ist nun etwa ein halbes Jahr alt, ihr Leben Nummer 2.
Die Geburtsstunde einer Frau, die gar nicht plante, noch mal neu zu beginnen, die mitten drin stand im Leben und dort ihren Frieden hatte, täglich mutwillig und unverfroren ihre Seele streichelte und viel zu oft allzu glücklich bei lauter Musik durch die Räume tanzte und sich verlor...im Guten.

Es war der Mensch an ihrer Seite, dieser Begleiter des Weges, dem man sich irgendwann anschließt um gemeinsam an irgendein Ziel zu gelangen, ganz fern in der Weite ungreifbarer Zukunftsfantastereien, der sich entschloß, einen plötzlichen und gnadenlosen Schlußstrich zu ziehen.
Manchmal sind die Zahnräder der Zeit so ineinander verkeilt, dass man dabei zusehen kann, wie die Erde knirschend aufhört sich zu drehen, und von der Erschütterung ihrer zeitlupenartigen Vollbremsung erstarrt sieht man ihre eine Hälfte davonfliegen, als gäbe es kein Vorwärts mehr. Die Andere löst sich unter den Füßen auf und hinterläßt einen Nebel, der das Gestern verschlingt.

Sein Leben zu verlieren, samt Betrug und dem unheilvollen Meer der Lügen, mit brutalen Spritzern von Realität die man nicht für solche halten mag, weil selbst Fiktion nachvollziehbarer ist als die wirren Ereignisse der wenigen Stunden....es zeigt eine neue Facette von Angst. In der sie sich verfängt.

Es gab vieles zu tun aber noch mehr zu überbrücken.  Funktionieren und rosa Pillen schlucken und weitermachen, obwohl alles nach Aufgeben schreit. Und irgend ein Selbsterhaltungstrieb kämpft sich ganz tapfer an die Oberfläche, säuselt ihr jeden Morgen ins Ohr, dass es weitergeht und sie sich aus dem Bett rollen sollte, weil sie nur so den Boden unter den Füßen wieder spüren kann. Triebe sind nervig, wenn man sie gerade nicht braucht, aber letztendlich kommen sie ja aus irgendwelchen - geographisch kaum definierbaren - Ecken und Ritzen unseres Seins und verlangen manchmal Gehör.

Nach einigen Wochen beendete sie ihren Rosa-Pillen-Kreuzzug und kehrte in den Schoß der Arbeit und der Mädels zurück, die dort auf sie warteten. Vom wandelndem Zombiedasein zur hochanspruchsvoll zeitfressenden Aufgabe samt Tarifbezahlung, um es nicht den guten alten Stress zu nennen, an den sie sich gleichwohl wieder schnell erinnerte. Und obgleich verständnisvolle Vorgesetzte, die aufgrund des mit Worten kaum taufbaren Traumas in ihrer Gegenwart mit Fröschen in Hälsen rangen, ihr immer wieder zusicherten, dass sie es langsam angehen lassen soll, bewarfen sie selbige vorausschaubar und entschuldigt mit Projekten und Herausforderungen. Da sie in Völkerball eine Null war, ließ sie sich selbstredend abwerfen…aber was wäre denn auch die Alternative. Sie war sich relativ sicher, dass das Casting für „the walking dead" längst im Kasten war, und auch in Staffel 6…7..8 (?) keine kleine blonde Frau mit anthrazitfarbenen Augenringen händeringend gesucht wurde.

Und wer hätte es geahnt, jetzt plötzlich ist da Ostern und ein Urlaub, und sie hatte die Halbzeit erreicht (da war doch so was mit Trauerjahr…schwarzes Kleid ?) .... Mittlerweile nahm sie nicht nur seit 4 Monaten keine rosa "Hab-Mich-Lieb"-Tabletten mehr, sondern war nun auch ohne Mädels und Aufgabe plötzlich sich selbst und dem Leben ausgesetzt. Wow. Und das ist gerade ganz schön viel SIE, und noch mal umso mehr viel WELT. Das hatte sie so eigentlich gar nicht auf dem Schirm, als sie forsch dachte, sie macht jetzt mal ein wenig Urlaub und erholt sich von dem Weltenretten in diesem Kunstlebenuniversum namens Berufstätigkeit.

Ein lieber Freund von ihr schreibt ihr täglich, sie solle die Freiheit genießen und sich Gutes tun. Sie  weiß schon, das ist dieses "Seele baumeln lassen und butterzartes Lavendelöl über Körperzonen runterrinnen sehen" mit einem teils eingeübtem, teils chronisch eingeforenem Dauergrinsen, weil keiner an einem rupft und zerrt. Dabei ist Rupfen gar nicht mal zu verachten, es erinnert doch allemal daran, dass man noch mitspielt im Zirkus Weltgeschehen. Sie möchte ihm ungern sagen, dass der Urlaub gerade eher ein kleiner Ausflug in die Vergangenheit ist, die sie sich noch mal ungefiltert ansieht und überlegt, ob sie einfach feste zuschlägt oder sie letztendlich unter weißen Laken verhüllt wie die Sofagarnitur in einer verlassenen Villa am Straßenrand

Sie hat noch einen langen Weg vor sich…

Und verdammt, es gab kein Lavendelöl, und das mit dem Grinsen probiert sie sowieso noch mal heimlich vor dem Spiegel

Aber wenn ihr nächster Urlaub ansteht...
Sorry Leute, nix mehr Trauma, keine langweilige Selbstfindung, bitte einfach nur Sand und Meer

[Calvin Hobbs]

Hallo
Gern gelesen, weil sehr gut geschrieben. Die Balance zwischen Trauer, Verarbeitung und Hoffnungsschimmer stimmt

Einziger Stolperstelle für mich

[hobbes]

Ich habe auch das wieder gern gelesen. Hast du was größeres damit vor? Oder bist du eher in der "hauptsache schreiben und dann mal schauen, was daraus wird"-Phase?

Du kriegst das jedenfalls ziemlich unterhaltsam hin Ich bin mir nicht sicher, ob ich das auf Dauer gut finden würde oder ob sich dann nicht irgendwann der Eindruck einschleicht, dass da jemand viel mehr gute Laune vorspielt, als eigentlich da ist. Obwohl es vielleicht viel weniger gute Laune als so etwas wie Galgenhumor ist. Und vielleicht hat das sowieso mehr mit mir als mit deinem Text zu tun, bin ich doch jemand, der lieber Dinge weglacht, als "es geht mir nicht gut" zu sagen.

[BlueNote]

[Globo85]

Hallo Steffi,

will mich meinen Vorredner:innen anschließen. Grandioser Text.

Da steck so viel Mut drin, den Blick ins eigene Selbst zu richten. Hinzuschauensehen und es dann auch noch nach außen zu kehren, niederzuschreiben und in die Welt raus zutragen.

Danke für den Mut.

[SteffiU70]

Hallo ihr lieben Alle,

Herzlichen Dank für euer feedback

@Calvin: oh ja, da bist Du gut gestolpert. Dank Dir für den Hinweis

@hobbes: hmh, momentan räume ich wohl erstmal nur den Kopf auf. Bevor ich mich auf das berühmte Gedankenkarussell vor dem Einschlafen einlasse, lasse ich die Worte lieber frei. Also noch kenne ich meinen Weg hier nicht...bin einfach schon mal losgelaufen

@BN: oh ja, Suizid/Todes-Depressionstexte mag ich auch nicht wirklich. Ist eigentlich ein Thema, das braucht echt kein Mensch. Interessanterweise ist mein miterlebter Suizid heute fast Nebenschauplatz, der eigentliche Krimi wurde erst danach geschrieben Ich wünsche Dir einen guten Einstieg in Dein Leben Nr. 2 - bzw., drin bist Du ja sicher längst

@Globo: Danke auch Dir, und ach nein, so mutig bin ich eigentlich nicht. Kleine Frau in viel zu großer Welt

Ich werde mich bald mit der Funktion des Zitierens hier Auseinandersetzen, hab es jetzt erstmal so gemacht, hmh...

GLG
Steffi