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Traumszene


 
 
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Salzkocher
Geschlecht:männlichErklärbär
S


Beiträge: 2



S
Beitrag10.03.2021 19:52
Traumszene
von Salzkocher
eBook pdf-Datei Antworten mit Zitat

Vorab ein paar Worte zum Rahmen dieser Szene: Es handelt sich um eine Traumsequenz. Die Figur hat jede Nacht genau diesen Traum. Das ist dem Leser auch bekannt. Keiner der Charaktere ist bisher detailliert vorgestellt worden. Alle Namen bis auf Mel sind Platzhalter.
Ich habe nicht vor, diese Version so in meiner Geschichte einzusetzen, dafür ist sie zu düster geworden. Dennoch wüsste ich gerne, ob sie sich ohne Schmerzen lesen lässt.



In der Höhle war es so kalt, dass es wehtat.
Wie jedes mal.
Es war die Art von lähmender Kälte, die tief in die Glieder kroch und auf dem Weg alles erstarren ließ. So eisig, dass das Gefühl der eigentlichen Kälte nur dumpf hinter einem alles erfüllenden Schmerz nachklang. Eine Eiseskälte, die in Mel das unbändige Verlangen nach dem knisternden Kaminfeuer des Pechvogels auslöste, nach einer wärmenden Decke, dampfendem Eintopf und vor allem nach Kirin und Leon. Nach sorgloser Geborgenheit. Nach genau den Dingen, von denen sie jetzt so weit entfernt war wie noch nie.
Wie jede Nacht war sie übermüdet und völlig ausgezehrt. Nur der extreme Temperatursturz war neu und hatte sie buchstäblich kalt erwischt; ihre verschlissenen Kleider waren für die üblichen lauen Frühjahrsnächte bestimmt, die sie in den letzten Monaten erlebt hatte. Allerdings hätte sie in dieser Nacht auch in der dicksten Wolljacke gefroren. Die Kälte war in ihrem Innern, nicht nur in der Luft. Das spürte sie. Dennoch war die lebensfeindliche Kälte auch ein Grund zur Hoffnung, war sie doch ein Zeichen dafür, dass Mel endlich einen Durchbruch erzielt hatte.
Wie jedes mal.
Sie riss sich mit Gewalt von ihren Gedanken los und versuchte, sich auf das Wesentliche zu besinnen. Jeder noch so große Erfolg würde ihr nichts nützen, sollte sie hier erfrieren. Sie musste raus, so schnell wie möglich.
Ihre Beine fühlten sich an wie aus Metall gegossen und gehorchten ihrem Kommando nicht. Panik wollte sich in Mel breit machen, fand jedoch neben der besitzergreifenden Kälte keinen Platz, und wurde direkt verdrängt. Mel konzentrierte sich auf die wenigen Muskeln, die sie noch spüren konnte, versuchte sie abwechselnd anzuspannen, um irgendeine Bewegung hervorzurufen. Mit Erfolg. Ihr rechter Fuß hob sich tatsächlich vom Boden.
Jetzt kam der schwierige Teil. Wenn sie das Gleichgewicht verlor und stürzte, würde sie sich niemals wieder aufraffen können.
Ihr Oberkörper ließ sich etwas verlässlicher manövrieren. Sie drehte ihn mit so viel Schwung wie sie aufbringen konnte nach links. Ihr rechter Fuß folgte der Drehung, ihr linker drehte sich ein wenig am Boden mit. Ihre Arme schwangen teilnahmslos hinterher. Sie schaffte es, ihren Fuß gewaltsam wieder abzusetzen, kam dabei aber durch die schlecht kontrollierte Kraft ins Wanken. Mit mehr Anstrengung, als sie jemals für möglich gehalten hatte, presste sie ihre Füße auf den Boden und fokussierte ihren gesamten Willen darauf, aufrecht stehen zu bleiben. Wunderbarerweise funktionierte es. Sie hatte sich beinahe umgedreht und blickte nach oben auf den Ausgang, durch den Mondlicht in die kleine Höhle schien und die Kristalle an den Wänden zum Glitzern brachte.
Sie begann den Anstieg Richtung Ausgang, wieder zuerst mit dem rechten Fuß. Er hob sich langsam, ließ sich minimal nach vorn bewegen und wieder absetzen. Der linke gehorchte immer noch nicht direkt, das Knie konnte sie nicht beugen. Sie spannte an, was sich anspannen ließ, und schob ihre linke Hüfte nach vorn. Der Fuß schleifte hinterher. Eins.
Der nächste Schritt, erst rechts vor, dann links hinterher. Zwei.
Mel betrachtete die Bewegung distanziert und wusste irgendwo weit hinten in ihrem unterkühlten Verstand, dass sie sich darüber freuen sollte. Dass sie leben würde.
Den Rechten leicht anheben, vor, absetzen. Den Linken nachziehen. Drei.
Sie hatte den hoffnungsvollen Eindruck, den richtigen Rhythmus gefunden zu haben. Langsam, aber kontrolliert. Vier.
Gut, dass mich niemand sehen kann. Wenn Leon wüsste, dass sie mühsame, wackelige Schritte tat wie ein Kleinkind, dann würde er sie damit noch in Jahrzenten aufziehen. Oft genug gab er unter wildem Gestikulieren zum besten, wie sie vor Jahren einmal vor den Augen hunderter Zuschauer ausgerutscht und auf dem Hintern gelandet war. In einem fernen Leben.
Zehn.
Verdutzt förderte sie aus ihren wirren Gedanken wieder ihr rationales Bewusstsein zutage.Tatsächlich, sie hatte sich weiterbewegt. Obwohl sie ihre Füße kaum erkennen konnte hatte sie das Gefühl, dass ihre Glieder wieder ein klein wenig näher zu ihrem Körper gehörten, etwas weniger fremd und unkooperativ waren.
Weitere fünf Schritte. Sie hatte beinahe den halben Weg zum Ausgang zurückgelegt. Schade, dachte sie. Das ist das vermutlich das schwierigste, das ich jemals getan habe. Aber ich werde niemandem davon erzählen können.
Sie war fast draußen. Sie starrte immer noch auf ihre Füße, und am oberen Rand ihres Sichtfelds konnte sie das Gras vor der Höhle sehen. Ohne aufzublicken schleifte sie sich, so schnell wie es eben ging, aus der Höhle heraus.
Draußen war es warm, nein, es war heiß. Sofort breitete sich ein unerträgliches Brennen in ihren Armen und Beinen aus, während ihr Körper sich schlagartig wieder aufwärmte. Nach Luft japsend brach Mel an die kantige Felswand gelehnt zusammen und versuchte erfolglos, ein Schluchzen zu unterdrücken.
Wie jedes mal.
Sie musste zurück nach Hause, aber da war dieser grausame Schmerz. Er wummerte in ihren Ohren, hinter ihren Augen, in jedem Knochen und Muskel ihres Körpers. Aufzustehen war unmöglich. Allein beim Gedanken an den weiten Weg, der vor ihr lag, brannte das verzehrende Feuer in ihr noch stärker.
Ein Blick auf ihre Hände ließ sie erstarren und den Schmerz kurzzeitig vergessen. Die Knochen traten knotig unter der Haut hervor, jede Ader zeichnete sich pulsierend und beinahe schwarz ab. Ihre Arme waren völlig abgemagert und gehörten zu jemandem, der länger gehungert hatte als Mel auf der Welt war. Die Muskeln waren vollkommen verkrampft. Mit einem aufsteigenden Gefühl der Beklemmung schaute sie an sich herunter. Auf ein Gerippe aus Haut und Knochen, von der Kälte nahezu restlos ausgezehrt.
Nackte Panik ergriff sie. Dieser Schaden konnte nicht behoben werden. Sie hatte alles ruiniert, und jetzt auch sich selbst, ihren eigenen Körper. Das würde sie vor niemandem verstecken können. Sie würden es herausfinden. Alles.
Sie konnte die Tränen nicht mehr unterdrücken. Zu weinen war das einzige, zu dem Körper und Verstand noch fähig waren, der einzige gemeinsame Nenner. Also sträubte sie sich nicht länger dagegen, ging auf in jener Erlösung, die nur das Aufgeben jeglicher Hoffnung verschaffen kann.
Nach einer Weile drang ein Geräusch durch den Schleier aus Schmerz und Verzweiflung. Ein wohlklingender Ton. Beinahe vertraut. Beinahe... menschlich.
Ein letzter Funken ihres Verstandes, der sich noch an das Leben klammerte, riss ihren Kopf nach oben. Ein heller Fleck bewegte sich auf sie zu.
"Mel!"
Sie schaffte es zu blinzeln, um etwas klarer sehen zu können. Tatsächlich. Selbst durch den dichten Nebel, der ihre Wahrnehmung verschleierte erkannte sie Viana.
"Was ist passiert?" Vianas Stimme bebte, sie konnte sich kaum davon abhalten, zu schreien. Sie kniete sich neben Mel auf den Boden. Aus ihren Augen sprach Panik.
Mels Kehle ließ keine Antwort zu. Nur ein Röcheln entrann ihrem Mund.
"Was hast du getan?" Die Hilfslosigkeit, die in Viana aufstieg, war beinahe greifbar, und gesellte sich zu dem Orkan, der bereits in Mel tobte. "Kannst du den Kopf bewegen? Nicken?"
Mel versuchte es.
"Gut." Viana atmete laut und tief durch. "Gut. Gut. Darf ich dich berühren?"
Mel nickte.
Vianas Hand näherte sich sehr, sehr langsam und vorsichtig ihrem Gesicht. Dann spürte Mel die Berührung, wie ein Fels in der tosenden Brandung ihres Leids. Sie klammerte sich daran wie eine Ertrinkende - dann war der Halt plötzlich wieder fort, und überließ sie dem Sturm.
Sie krächzte so energisch sie konnte, was ihrer Kehle das Letzte abverlangte. Viana verstand augenblicklich und legte ihr wieder die Hand an die Wange. Und warf damit für Mel das Rettungsseil wieder aus, an dem sie sich sofort festkrallte. Sie nahm nichts mehr war, nichts war da, nichts außer dieser Hand, die sie im Leben verankerte, weit weg vom Schmerz, von dem Feuer und der Kälte.
Sie tauchte erst wieder auf, als sie erneut den Halt zu verlieren drohte. Die Furcht riss ihre Augen auf, und sie sah, dass Viana zum Felsspalt sah, der in die Höhle führte.
Und jetzt hörte sie es. Den Ton, der in der Luft hing wie Nebel, und der Vianas Aufmerksamkeit erregt hatte. Der leise, beinahe zärtliche Ton, der so vollkommen besitzergreifend war, dass sie Mel nicht mehr zu beachten schien. Nein!, war alles woran sie denken konnte. Nein, lass nicht los. Nein, lass mich nicht allein. Nein! Sie versuchte ein weiteres Krächzen hervorzubringen, doch kein Laut drang aus ihrer zerfurchten Kehle. Sie wollte ihre Hand ausstrecken, aber mehr als eine leichte Krümmung ihres Ellenbogens brachte sie nicht zustande.
Der Ton erklang ein weiteres mal, diesmal lauter, eindringlicher. Viana begann aufzustehen. Ihre Finger glitten über Mels Wange nach oben, an ihrer Schläfe entlang, der Rücken ihres Zeigefingers, dann der Mittelfinger, der Ringfinger, dann - nichts. Sie hatte sich der Höhle zugewandt, die der Ursprung des Klangs zu sein schien, und ging langsam und gebeugt darauf zu. Mel erwartete, wieder zu versinken, doch stattdessen blieb sie innerlich leer. Das Gewicht des Verlusts hatte alles andere verdrängt.
Wie jedes mal.
Bleib hier!, schrie sie innerlich, tobte gegen die Grenzen ihres Bewusstseins an, um zu Viana durchzustoßen, sie zu bitten, nein, ihr zu befehlen bei ihr zu bleiben, nicht fortzugehen in die Höhle, zum Kristall, zu der - VIANA! BLEIB! BEI! MIR! - und es gelang. Im einen Moment umfing sie die beklemmende Enge ihres eigenen vernarbten Verstandes, und im nächsten war die Grenze aufgesprengt und weit hinter ihr. Sie konnte nicht mehr sehen, aber sie nahm sie jetzt auf eine vollkommenere Weise wahr - unmittelbar und roh, vielleicht so wie sie einstmals ihren eigenen Körper gespürt hatte. Sie drehte sich schockiert um, überwältigt von dem unmöglichen Eindringen in ihr Bewusstsein. Sie stürzte wieder zurück zu Mels Körper, doch nun vernahm sie den Ton ein weiteres Mal. Seine unirdische Grausamkeit verdrängte alles bisher dagewesene. Es gab nichts, nur diesen Klang, die Schwingung in der Luft, die ihr Trommelfell zum Schwingen brachte und auf ihr Hirn einhämmerte, bis dort kein Platz mehr war für belanglose Konzepte wie Persönlichkeit, Menschlichkeit, oder Leben.
Also wandte sie sich erneut zum Höhleneingang um, der klar herausstach zwischen der verzerrten Umgebung, die drohte davongerissen zu werden. Einen Fuß vor den anderen. Den Rechten leicht anheben, vor, absetzen. Den Linken nachziehen. Den Abstieg hinunter. Mit den letzten Überresten ihrer Sinne nahm sie die Glocke im Zentrum der Höhle wahr.
Rechts vor, dann links hinterher. Gerade darauf zu.
Bis sich ein weiterer Druck in ihr breitmachte, mächtig, schrecklich und wunderschön. Sie wirbelte herum, sah sie noch einmal deutlich vor sich, umrahmt vom grellen Mondlicht.
Dann wurde die Wirklichkeit von innen heraus aufgehebelt, fiel aus den Angeln, und zerbarst.
Wie jedes mal.

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Levo
Klammeraffe
L


Beiträge: 869



L
Beitrag10.03.2021 20:07
Re: Traumszene
von Levo
Antworten mit Zitat

Salzkocher hat Folgendes geschrieben:

In der Höhle war es so kalt, dass es wehtat.
Wie jedes Mal.
Es war die Art von lähmender Kälte, die tief in die Glieder kroch und auf dem Weg alles erstarren ließ. So eisig, dass das Gefühl der eigentlichen Kälte nur dumpf hinter einem alles erfüllenden Schmerz nachklang. Eine Eiseskälte, die in Mel das unbändige Verlangen nach dem knisternden Kaminfeuer des Pechvogels das versteht man wahrscheinlich aus hier nicht vorliegendem Kontext? auslöste, nach einer wärmenden Decke, dampfendem Eintopf und vor allem nach Kirin und Leon. Nach sorgloser Geborgenheit. Nach genau den Dingen, von denen sie jetzt so weit entfernt war wie noch nie.
Wie jede Nacht war sie übermüdet und völlig ausgezehrt. Nur der extreme Temperatursturz war neu und hatte sie buchstäblich kalt erwischt; ihre verschlissenen Kleider waren für die üblichen lauen Frühjahrsnächte bestimmt, die sie in den letzten Monaten erlebt hatte. Allerdings hätte sie in dieser Nacht auch in der dicksten Wolljacke gefroren. Die Kälte war in ihrem Innern, nicht nur in der Luft. Das spürte sie. Dennoch war die lebensfeindliche Kälte auch ein Grund zur Hoffnung, war sie doch ein Zeichen dafür, dass Mel endlich einen Durchbruch erzielt hatte.
Wie jedes mal.
Sie riss sich mit Gewalt von ihren Gedanken los und versuchte, sich auf das Wesentliche zu besinnen. Jeder noch so große Erfolg würde ihr nichts nützen, sollte sie hier erfrieren. Sie musste raus, so schnell wie möglich.
Ihre Beine fühlten sich an wie aus Metall gegossen und gehorchten ihrem Kommando nicht. Panik wollte sich in Mel breit machen, fand jedoch neben der besitzergreifenden Kälte keinen Platz, und wurde direkt verdrängt. Mel konzentrierte sich auf die wenigen Muskeln, die sie noch spüren konnte Meinst Du, wie beim Muskelkater? Ansonsten würde ich eher "kontrollieren" wählen, denn einzelne Muskeln kann man sonst nicht spüren, nur Gelenkstellungen im Raum, versuchte sie abwechselnd anzuspannen, um irgendeine Bewegung hervorzurufen. Mit Erfolg. Ihr rechter Fuß hob sich tatsächlich vom Boden.
Jetzt kam der schwierige Teil. Wenn sie das Gleichgewicht verlor und stürzte, würde sie sich niemals wieder aufraffen können.
Ihr Oberkörper ließ sich etwas verlässlicher manövrieren. Sie drehte ihn mit so viel Schwung wie sie aufbringen konnte nach links. Ihr rechter Fuß folgte der Drehung, ihr linker drehte sich ein wenig am Boden mit. Ihre Arme schwangen teilnahmslos hinterher. Sie schaffte es, ihren Fuß gewaltsam wieder abzusetzen hier brauchte ich einen MOment, um zu verstehen, dass sie quasi in der Bewegung gefriert, ich überlegte kurz, ob die Schwerkraft außer Kraft gesetzt wäre - aber ich bin manchmal auch sehr bräsig, kam dabei aber durch die schlecht kontrollierte Kraft ins Wanken. Mit mehr Anstrengung, als sie jemals für möglich gehalten hatte, presste sie ihre Füße auf den Boden und fokussierte ihren gesamten Willen darauf, aufrecht stehen zu bleiben. Wunderbarerweise funktionierte es. Sie hatte sich beinahe umgedreht und blickte nach oben auf den Ausgang, durch den Mondlicht in die kleine Höhle schien und die Kristalle an den Wänden zum Glitzern brachte.
Sie begann den Anstieg Richtung Ausgang, wieder zuerst mit dem rechten Fuß. Er hob sich langsam, ließ sich minimal nach vorn bewegen und wieder absetzen. Der linke gehorchte immer noch nicht direkt, das Knie konnte sie nicht beugen. Sie spannte an, was sich anspannen ließ, und schob ihre linke Hüfte nach vorn. Der Fuß schleifte hinterher. Eins.
Der nächste Schritt, erst rechts vor, dann links hinterher. Zwei.
Mel betrachtete die Bewegung distanziert und wusste irgendwo weit hinten in ihrem unterkühlten Verstand, dass sie sich darüber freuen sollte. Dass sie leben würde.
Den Rechten leicht anheben, vor, absetzen. Den Linken nachziehen. Drei.
Sie hatte den hoffnungsvollen Eindruck, den richtigen Rhythmus gefunden zu haben. Langsam, aber kontrolliert. Vier.
Gut, dass mich niemand sehen kann. Wenn Leon wüsste, dass sie mühsame, wackelige Schritte tat wie ein Kleinkind, dann würde er sie damit noch in Jahrzenten aufziehen. Oft genug gab er unter wildem Gestikulieren zum besten, wie sie vor Jahren einmal vor den Augen hunderter Zuschauer ausgerutscht und auf dem Hintern gelandet war. In einem fernen Leben.
Zehn.
Verdutzt förderte sie aus ihren wirren Gedanken wieder ihr rationales Bewusstsein zutage.Tatsächlich, sie hatte sich weiterbewegt. Obwohl sie ihre Füße kaum erkennen konnte hatte sie das Gefühl, dass ihre Glieder wieder ein klein wenig näher zu ihrem Körper gehörten, etwas weniger fremd und unkooperativ waren.
Weitere fünf Schritte. Sie hatte beinahe den halben Weg zum Ausgang zurückgelegt. Schade, dachte sie. Das ist das vermutlich das schwierigste, das ich jemals getan habe. Aber ich werde niemandem davon erzählen können.
Sie war fast draußen. Sie starrte immer noch auf ihre Füße, und am oberen Rand ihres Sichtfelds konnte sie das Gras vor der Höhle sehen. Ohne aufzublicken schleifte sie sich, so schnell wie es eben ging, aus der Höhle heraus.
Draußen war es warm, nein, es war heiß. Sofort breitete sich ein unerträgliches Brennen in ihren Armen und Beinen aus, während ihr Körper sich schlagartig wieder aufwärmte. Nach Luft japsend brach Mel an die kantige Felswand gelehnt zusammen und versuchte erfolglos, ein Schluchzen zu unterdrücken.
Wie jedes mal.
Sie musste zurück nach Hause, aber da war dieser grausame Schmerz. Er wummerte in ihren Ohren, hinter ihren Augen, in jedem Knochen und Muskel ihres Körpers. Aufzustehen war unmöglich. Allein beim Gedanken an den weiten Weg, der vor ihr lag, brannte das verzehrende Feuer in ihr noch stärker.
Ein Blick auf ihre Hände ließ sie erstarren und den Schmerz kurzzeitig vergessen. Die Knochen traten knotig unter der Haut hervor, jede Ader zeichnete sich pulsierend und beinahe schwarz ab. Ihre Arme waren völlig abgemagert und gehörten zu jemandem, der länger gehungert hatte als Mel auf der Welt war. Die Muskeln waren vollkommen verkrampft. Mit einem aufsteigenden Gefühl der Beklemmung schaute sie an sich herunter. Auf ein Gerippe aus Haut und Knochen, von der Kälte nahezu restlos ausgezehrt.
Nackte Panik ergriff sie. Dieser Schaden konnte nicht behoben werden. Sie hatte alles ruiniert, und jetzt auch sich selbst, ihren eigenen Körper. Das würde sie vor niemandem verstecken können. Sie würden es herausfinden. Alles.
Sie konnte die Tränen nicht mehr unterdrücken. Zu weinen war das einzige, zu dem Körper und Verstand noch fähig waren, der einzige gemeinsame Nenner. Also sträubte sie sich nicht länger dagegen, ging auf in jener Erlösung, die nur das Aufgeben jeglicher Hoffnung verschaffen kann.
Nach einer Weile drang ein Geräusch durch den Schleier aus Schmerz und Verzweiflung. Ein wohlklingender Ton. Beinahe vertraut. Beinahe... menschlich.
Ein letzter Funken ihres Verstandes, der sich noch an das Leben klammerte, riss ihren Kopf nach oben. Ein heller Fleck bewegte sich auf sie zu.
"Mel!"
Sie schaffte es zu blinzeln, um etwas klarer sehen zu können. Tatsächlich. Selbst durch den dichten Nebel, der ihre Wahrnehmung verschleierte erkannte sie Viana.
"Was ist passiert?" Vianas Stimme bebte, sie konnte sich kaum davon abhalten, zu schreien. Sie kniete sich neben Mel auf den Boden. Aus ihren Augen sprach Panik.
Mels Kehle ließ keine Antwort zu. Nur ein Röcheln entrann ihrem Mund.
"Was hast du getan?" Die Hilfslosigkeit, die in Viana aufstieg, war beinahe greifbar, und gesellte sich zu dem Orkan, der bereits in Mel tobte. "Kannst du den Kopf bewegen? Nicken?"
Mel versuchte es.
"Gut." Viana atmete laut und tief durch. "Gut. Gut. Darf ich dich berühren?"
Mel nickte.
Vianas Hand näherte sich sehr, sehr langsam und vorsichtig ihrem Gesicht. Dann spürte Mel die Berührung, wie ein Fels in der tosenden Brandung ihres Leids. Sie klammerte sich daran wie eine Ertrinkende - dann war der Halt plötzlich wieder fort, und überließ sie dem Sturm.
Sie krächzte so energisch sie konnte, was ihrer Kehle das Letzte abverlangte. Viana verstand augenblicklich und legte ihr wieder die Hand an die Wange. Und warf damit für Mel das Rettungsseil wieder aus, an dem sie sich sofort festkrallte. Sie nahm nichts mehr war, nichts war da, nichts außer dieser Hand, die sie im Leben verankerte, weit weg vom Schmerz, von dem Feuer und der Kälte.
Sie tauchte erst wieder auf, als sie erneut den Halt zu verlieren drohte. Die Furcht riss ihre Augen auf, und sie sah, dass Viana zum Felsspalt sah, der in die Höhle führte.
Und jetzt hörte sie es. Den Ton, der in der Luft hing wie Nebel, und der Vianas Aufmerksamkeit erregt hatte. Der leise, beinahe zärtliche Ton, der so vollkommen besitzergreifend war, dass sie Mel nicht mehr zu beachten schien. Nein!, war alles woran sie denken konnte. Nein, lass nicht los. Nein, lass mich nicht allein. Nein! Sie versuchte ein weiteres Krächzen hervorzubringen, doch kein Laut drang aus ihrer zerfurchten Kehle. Sie wollte ihre Hand ausstrecken, aber mehr als eine leichte Krümmung ihres Ellenbogens brachte sie nicht zustande.
Der Ton erklang ein weiteres mal, diesmal lauter, eindringlicher. Viana begann aufzustehen. Ihre Finger glitten über Mels Wange nach oben, an ihrer Schläfe entlang, der Rücken ihres Zeigefingers, dann der Mittelfinger, der Ringfinger, dann - nichts. Sie hatte sich der Höhle zugewandt, die der Ursprung des Klangs zu sein schien, und ging langsam und gebeugt darauf zu. Mel erwartete, wieder zu versinken, doch stattdessen blieb sie innerlich leer. Das Gewicht des Verlusts hatte alles andere verdrängt.
Wie jedes mal.
Bleib hier!, schrie sie innerlich, tobte gegen die Grenzen ihres Bewusstseins an, um zu Viana durchzustoßen, sie zu bitten, nein, ihr zu befehlen bei ihr zu bleiben, nicht fortzugehen in die Höhle, zum Kristall, zu der - VIANA! BLEIB! BEI! MIR! - und es gelang. Im einen Moment umfing sie die beklemmende Enge ihres eigenen vernarbten Verstandes Toll!, und im nächsten war die Grenze aufgesprengt und weit hinter ihr. Sie konnte nicht mehr sehen, aber sie nahm sie jetzt auf eine vollkommenere Weise wahr - unmittelbar und roh, vielleicht so wie sie einstmals ihren eigenen Körper gespürt hatte. Sie drehte sich schockiert um, überwältigt von dem unmöglichen Eindringen in ihr Bewusstsein. Sie stürzte wieder zurück zu Mels Körper, doch nun vernahm sie den Ton ein weiteres Mal. Seine unirdische Grausamkeit verdrängte alles bisher dagewesene. Es gab nichts, nur diesen Klang, die Schwingung in der Luft, die ihr Trommelfell zum Schwingen brachte und auf ihr Hirn einhämmerte, bis dort kein Platz mehr war für belanglose Konzepte wie Persönlichkeit, Menschlichkeit, oder Leben.
Also wandte sie sich erneut zum Höhleneingang um, der klar herausstach zwischen der verzerrten Umgebung, die drohte davongerissen zu werden. Einen Fuß vor den anderen. Den Rechten leicht anheben, vor, absetzen. Den Linken nachziehen. Den Abstieg hinunter. Mit den letzten Überresten ihrer Sinne nahm sie die Glocke im Zentrum der Höhle wahr.
Rechts vor, dann links hinterher. Gerade darauf zu.
Bis sich ein weiterer Druck in ihr breitmachte, mächtig, schrecklich und wunderschön. Sie wirbelte herum, sah sie noch einmal deutlich vor sich, umrahmt vom grellen Mondlicht.
Dann wurde die Wirklichkeit von innen heraus aufgehebelt, fiel aus den Angeln, und zerbarst.
Wie jedes mal.

Mir gefiel, wie zäher und zäher ihre Bewegungen werden. Ihre Hilflosigkeit und die allzu brüchige Rettungsleine. Ohne dass Dein gut lesbarer Schreibstil ebenfalls zäh und hilflos wird.
Schöner, gelungener Text - und nicht schmerzhaft zu lesen Smile
Im Gegenteil, ich würde mehr lesen wollen.
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Salzkocher
Geschlecht:männlichErklärbär
S


Beiträge: 2



S
Beitrag10.03.2021 20:35

von Salzkocher
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Danke für das schnelle Feedback!
Der Pechvogel ist ein Gasthaus/Pub/Bar. Quasi das was für Harry Potter sein Gemeinschaftsraum ist.
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Rike La
Geschlecht:weiblichLeseratte


Beiträge: 164



Beitrag11.03.2021 08:03

von Rike La
Antworten mit Zitat

Hallo Salzkocher,

hmm...ich schildere mal meine Eindrücke, ja?

Am Anfang beschreibst du sehr detailliert die Kälte, teilweise ist mir das ein bisschen zu gestelzt, z.B. :

Zitat:
So eisig, dass das Gefühl der eigentlichen Kälte nur dumpf hinter einem alles erfüllenden Schmerz nachklang


Du hast mehrerer solcher Sätze drin, das wird dann alles ein bisschen zu viel, zu gestelzt - und an manchen Stellen auch dadurch etwas holprig.

Was ich nicht verstehe: du schreibst ja immer wieder: "Wie jedes Mal". Meinst du damit, dass sie genau das immer wieder träumt? M.E. hast du hier ein Perspektivproblem - oder weiß Mel, während sie träumt, dass sie genau diesen Traum oft träumt? Ansonsten wäre das schwierig...

So, und jetzt noch zum Gesamteindruck/deine Frage: mir ist das einfach viel zu viel, zu langatmig, also erst die Kälte, dann wieder - und ihre Schmerzen, das wiederholt sich immer wieder und liest sich teilweise auch ziemlich zäh. Außerdem erreicht es mich nicht auf der Gefühlsebene, deshalb kann ich es auch gut ohne Schmerzen lesen...

Vielleicht wartest du mal ab, was weitere Leser*innen dazu sagen, meinem Vorschreiber hat es ja gefallen und vielleicht ist das auch nur mein persönlicher Eindruck (ist auch nicht mein Genre)...

Liebe Grüße
Rike
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