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Zur Erlasslage


 
 
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Christof Lais Sperl
Geschlecht:männlichKlammeraffe

Alter: 62
Beiträge: 942
Wohnort: Hangover
Der silberne Roboter


Beitrag09.01.2021 12:01
Zur Erlasslage
von Christof Lais Sperl
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Neue Version »

Ich möchte in einer Textreihe etwas Dystopisches schreiben. Ich bemühe mich, "Gesetzessprache" zu verwenden. Mal sehen, wohin das trägt. Würde auch das gefallen?
Zur Erlasslage.
Hier: Heimweg, Belegung und Nachtruhe

Nach dem Verlassen des öffentlichen Verkehrsmittels ist der Heimweg nach dem Erreichen der Zielhaltestelle unverzüglich auf kürzestem Wege anzutreten. Dabei gilt, ein möglichst zügiges Schritttempo anzustreben und nachfolgend einzuhalten. Gespräche auf dem Weg mit Anwohnern der Wege sind wie auch sonst grundsätzlich zu vermeiden. Nach Erreichen des Eingangsbereiches ist die Wohnungstür ohne Verzug aufzuschließen. Nach Betreten des Treppenhauses ist sicherzustellen, dass die Eingangstür ordnungsgemäß im Schloss eingerastet ist. Dabei ist dafür Sorge zu tragen, dass der Mechanismus durch zwei Drehungen entgegen des Uhrzeigersinnes das endgültige Verriegeln der Tür sicherstellt.

Nach sorgfältiger Überprüfung der Briefkästen nach Neueinwürfen gilt es, den Wohnungseingang möglichst schnell über die wöchentlich zu reinigenden Treppenstufen zu erreichen. Näheres über die Reinigungsgrundsätze regelt der entsprechende Erlass zur dritten Änderung des Reinigungserlasses in der Fassung vom 30.9.2040. Der Erlass wurde mehrfach kommuniziert.

Vor dem Betreten der Wohnung ist zu prüfen, ob die Treppenhausbeleuchtung sich regelungskonform (60 Sekunden Maximallaufzeit) ausgeschaltet hat. Nach Betreten der Wohnung ist auch diese analog zur o.a. Verschlussregelung des Hauseingangs von innen durch zweifache Schlüsseldrehung zu verriegeln. Dabei verbleibt der Schlüssel von innen im Türschloss. Dies gilt auch dann, wenn der/die Wohnungspartner/in noch nicht eingetroffen sein sollte.

Die Abendmahlzeit ist nach Ablegen der Tageskleidung in an dem dafür vorgesehenen Küchentisch einzunehmen. Auf eine ausgewogene Ernährung ist nach Maßgabe der Versorgungssituation und der aktuellen Ernährungsregelungen stets sorgfältig zu achten. Nach ordnungsgemäßem Konsum der Abendnachrichten, erfolgter Körperpflege sowie der anschließenden Besprechung etwaiger Besonderheiten des Folgetages mit dem/der Partner/in gilt es, die vorgegebene Bettruhe einzuhalten. Grundlage der Folgetragbesprechungen ist zunächst immer die meteorologische Situation und die entsprechende Auswahl geeigneter Arbeitskleidung. Sonstiger spachlicher Austausch wird auf ein Mindestmass beschränkt. Zur Bettruhe werden die Jalousien bis zum vorgeschriebenen Beobachtungsspalt heruntergelassen. Es ist unstatthaft, den Beobachtungsspalt durch Gegenstände zu obstruieren.

Vor dem kompletten Herunterlassen ist aus den zentral gelegenen, blockmittigen  Wohnungen ein letztes Mal zu prüfen, ob in vom Fenster aus sichtbaren Wohnungsfenstern noch Anwohnerlicht zu sehen ist. Die Blockmitten wurden über die Regelungen im Abschreiben zur Sicherheitskontrolle der Zentralbewohner bereits eingehend informiert. Sollte eine solche Beleuchtung länger als für den Zeitraum von 5 Minuten zu beobachten sein, ist die nächsthöhere Blockaufsicht unverzüglich fernmündlich zu informieren. Die entsprechenden Kontaktkanäle liegen in jeder Zentrallage aus. Etwaige Änderungen der Kontaktdaten sind nach Genehmigung vonseiten der nächsthöheren Aufsicht den Zentrallagen stets unverzüglich mitzuteilen. Die Auf- und Abwärtskommunikation durch die hierarchischen Schichten sichert den gesellschaftlichen Zusammenhalt. Die in den wöchentlichen Aufsichtsversammlungskonferenzen besprochene Vorfallslage ist schriftlich zu dokumentieren und der Quartierskontrolle auf schnellsten Wege zu überstellen. Nach Durchsicht der Informationen sind die Berichte öffentlich zu machen.
Nach Ablauf eines Kalenderjahres werden die jeweils schändlichsten Wohneinheiten ermittelt und davon abhängige Maßnahmen in die Wege geleitet.

Zweisamer Spannungsabbau erfolgt grundsätzlich im abgedunkelten Schlafraume. Damit wird gewährleistet, dass die Beobachtung etwaiger, auch nach Maßgabe als unsittlich wahrnehmbarer Schattenbewegungen der Anlieger durch unerfolgte Lichtlöschung unterbunden wird. Die Blockaufsicht trägt dafür Sorge, dass gegen 21 Uhr keinerlei Binnenaktivität in den Wohnungen zu beobachten ist. Die Zeitregelung gilt in der Warm- wie Kaltchronometrie. Sollten Aktivitäten oder bloße, verdachthafte Anzeichen für solche Tätigkeiten beispielsweise anlässlich unaufschiebbarer nächtlicher Toilettengänge zu verzeichnen sein, sind diese nach erfolgter knapper, immer aber  auch schriftlicher Erklärung (Textnachricht) der Gründe des eigenen Wachseins der Aufsicht unverzüglich mitzuteilen. Nach Maßgabe der vorliegenden Informationen ist die Aufsicht angehalten, notwendige Schritte nach eingehender Abwägung der aktuellen Regelungslage schnellstmöglich zu veranlassen. Das Nähere regelt der Erlass zu Anomalien während der Nachtruhe.

Unvermittelt partnerlos gewordenen Anwohnern (Tod, Krankheit) ist umgehend ein/e neu/r Partner/in zuzuweisen. Widersprüche gegen die Zuweisung sind trotz Anhörungsmöglichkeit nicht statthaft. Zugewiesene haben Anspruch auf respektvolle Aufnahme und Zuwendung in der Wohneinheit. Die Aufsicht behält sich vor, Zuweisungen ohne Angabe von Gründen auch ohne besondere Rücksicht auf Altersentsprechungen neu festzusetzen. Den Zuweisungen liegen in jedem Falle aber alle Berichte zugrunde, die im den zurückliegenden 12 Monaten zu verzeichnen waren. Beanstandungsfreie Zeiten bedürfen dabei besonderer Berücksichtigung. Die Blockaufsicht trägt der Zuweisungskommission alle relevanten Informationen zusammen.



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Lais
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Rodge
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Beitrag10.01.2021 09:18

von Rodge
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Moin Christof,

mein Problem damit ist, dass es völlig emotionslos ist (und ja auch so sein muss). Hier gibt es kein Personal, mit dem ich mitfiebern könnte. Aus meiner Sicht macht das höchstens als Einschub, z. B. zu Beginn eines Kapitel Sinn.

Möglicherweise könnte es auch funktionieren, wenn die (kurzen) Verordnungen kaskadierend schlimmer werden, man also das Drama aus den Verordnungen herauslesen kann. Dann müsste es für meinen Geschmack aber zugespitzter sein, als es jetzt der Fall ist.

Grüße
Rodge
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Christof Lais Sperl
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Alter: 62
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Der silberne Roboter


Beitrag10.01.2021 09:22
Rodge
von Christof Lais Sperl
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Gute Idee, Rodge, so etwas hatte ich vor. Danke!

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Lais
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Jarandrel
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Beitrag22.01.2021 18:44

von Jarandrel
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Hallo Christof,

die Hälfte habe ich geschafft, aufmerksam zu lesen.
Das ist allerfeinstes Amtsdeutsch!
Zitat:

unstatthaft

Daraus würde ich, wie später auch von Dir verwendet, "nicht statthaft" machen. Wenn, bei einer Schreibe bleiben. Das ist bürgernäher, gell. wink
Zitat:

Folgetragbesprechungen

Da vermute ich ein r zu viel.

Zitat:
Warm- wie Kaltchronometrie.

Sommers wie winters? Diese Formulierung wirkt auf mich derart übertrieben, dass es schon unfreiwillig komisch anmutet. Falls es Deiner erdachten Welt entstammt, habe ich nichts gesagt.

Irgendwo war ein Leerzeichen zu viel, aber das finde ich jetzt nicht wieder.

Es dauert ganz schön, zu begreifen, was da überhaupt alles an Regelungen gelten und was das für die Menschen bedeutet ... ganz schön beklemmend.

Ja, also wenn Du eine Einschlaflektüre für pensionierte Beamte entwickeln wolltest, kann ich nur gratulieren. Buch

Ich würde Dir dazu raten, nicht so viel Text auf einmal einzubinden. Vielleicht auf die Unterpunkte Heimweg, Belegung und Nachtruhe jeweils aufzuteilen.
Ich würde sonst ab der Hälfte den Rest überfliegen, bis es wieder richtig weitergeht.

Was Du verfasst hast, passt sehr gut in eine Dystopie!
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Zirkusaffe
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Beiträge: 198
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Beitrag23.01.2021 01:36

von Zirkusaffe
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Ich bin da bei Rodge. Super kreative Idee, wie ich finde, steht da im krassen Widerspruch zum angenehmen Lesen. Durch deine Beschränkung der Sprache hast du natürlich sich immer wieder wiederholende Satzkonstrukte und Formulierungen.
Rodges Idee, dass sich das ganze mit der Zeit zuspitzt und man das dann auch entsprechend sprachlich verpackt, finde ich gut. Bin aber weiterhin unschlüssig, ob das reicht, vor allem in Bezug auf Tempo dieses Prozesses, den Leser bei der Stange zu halten.

Strebst du eine Kurzgeschichte an? Bzw. eine Sammlung derer? Da kann ich mir das ganze deutlich besser vorstellen. Als Roman fehlt mir da der Glaube an eine Leserschaft. Aber Hut ab für die Idee, wirklich.
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Christof Lais Sperl
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Der silberne Roboter


Beitrag23.01.2021 07:58
Danke
von Christof Lais Sperl
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...für eure konstruktive Kritik. Das wird eine Kurzgeschichte. Ich hoffe, heute weiter zu kommen. Der Erlass ist das Zentrum. VLG, C

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Lais
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Christof Lais Sperl
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Der silberne Roboter


Beitrag23.01.2021 17:35
Erlasslage 2
von Christof Lais Sperl
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Nun habe ich die Erlasslage in eine Kurzgeschichte eingebettet.

Zur Erlasslage

Beim Verlassen des Verbringungsmittels am Rande der Nordagglomeration hatte Vallejo an der Art der Vibration seines Signalgebers den Eingang einer pneumatischen Nachricht bemerkt. Auf dem Weg zur Wohneinheit dachte er über den Inhalt dieser Mitteilung nach. Das Nachdenken beschäftigte ihn sehr stark, zumal es mit einigen Befürchtungen verbunden war. Zudem hatte sich seit dem Vorabend fest vorgenommen, einen Namen in Erfahrung zu bringen, doch die Frau, die fast täglich an der Straßengabelung seine Richtung einschlug, war zu Vallejos großer Enttäuschung heute nicht zu sehen.  Eine Mitteilung, dachte er, da gibt es viele Möglichkeiten: Eine der harmlosen Informationen. Doch die kamen selten pneumatisch. Oder doch eine Verwarnung? Er befürchtete eine solche Mitteilung, im schlimmsten Falle waren sie mit einer langwierigen Vorbesprechung verbunden, die, wie er gehört hatte, ein großes Maß an Sanktionen zur Folge hatten. In der letzten Zeit was es für Vallejo schlecht gelaufen, denn er hatte sich durch seine Nachlässigkeit, die vor allem mit seiner Erschöpfung verbunden war, einiges an Ermahnungen und Ärger eingehandelt. Sogar seine junge Partnerin hatten sie ihm entzogen und durch eine andere ersetzt, die diesen Namen nicht verdiente.

Die Spannung in ihm wuchs an, doch weder die mit vielen Nachteilen verbundene Beschleunigung des Schrittes noch ein Abbremsen der Bewegung konnten sein Gemüt beruhigen. Ein schneller Heimweg war schließlich mit sofortiger Gewissheit verbunden, ein langsames Tempo verlängerte die Qual am Rhythmus der innerlich aufziehenden Fragezeichen. Auch die kindhaft konzentrierte Angewohnheit, niemals auf die Fugen zwischen den Steinplatten des Gehweges zu treten, konnte ihn von seiner Anspannung befreien. Im Strom all dieser Gedanken hatte er den Eingang schneller erreicht als je zuvor, wie er überrascht feststellte. Das war ärgerlich. Denn nun galt es, das Portal zu öffnen.

Er fürchtete sich vor der Enge der Wohnung und der bösartigen Großmutter, die sie ihm vor vier Tagen im Zuge einer Maßnahme eingestellt hatten, und die wohl schon sehnsüchtig seine Rückkehr und den Wirkungseinsatz des PDE-5-Hemmers erwartete, den er schon vor der Abendmahlzeit einzunehmen hatte. In schaurigen Gedanken an den von Operationsnarben übersäten Körper, dessen absurde und längst nicht versiegte Bedürfnisse er unter dem Zwang der Vorgaben und gegen die frechen Forderungen der Großmutter bloß zum zweiten Male bedient hatte, ein Leib, dessen entsetzlicher Anblick nur durch die strenge Beleuchtungsvorgabe gemildert werden konnte, drehte er den Verschlussmechanismus der Eingangstür sehr langsam in Verriegelungsrichtung und erinnerte sich mit Schrecken daran, wie er am Vortag diese Sicherungsmaßnahme und auch die Leerung des Postkastens vergessen hatte. Das Licht hatte sich schon zum zweiten Male eingeschaltet. Das wird zu einer Energiemeldung führen, dachte er. Und nun erblickte er im kleinen Bullauge des pneumatischen Eingangs die Kupferkapsel. Sie lag kühl in der Hand, weder leicht noch schwer, man musste nur den oberen Teil abschrauben, um ihm das eingerollte Schriftstück zu entnehmen, in dem es mit Sicherheit um die Verfehlungen ging, die ihm aufs neue angelastet werden konnten.

Sicher, er hatte nach den Aktivitäten der letzten Nacht das Fenster einen Spalt geöffnet, um seinem eigenen  Geruch und dem der Alten zu entgehen, nur ein wenig frische Luft einzuatmen, doch mehr als schwaches Licht und seine Mundöffnung hinter der Jalousie dürften auch für die Sichtgeräte der Wärter kaum aufzuzeichnen gewesen sein. Die junge Frau an der Gabelung hatte er ein wenig länger als erlaubt angesehen, doch war er sicher, dass niemand dies beobachtet hatte.

Der Oma hatte er oben angedeihen lassen, was absolut notwendig war, und daher nach seiner Auffassung auch keinerlei Anlass zu Beschwerden geben konnte, obgleich die bösartige Alte es sicherlich darauf angelegt hatte, das für sie geringe Risiko seiner Isolierung in Aussicht auf ein Mehr an Zuwendung gegeneinander abzuwägen. Schließlich konnte sie als Parteigängerin immer siegreich aus der Situation  kommen. Eine Neuzuweisung war ihr allenthalben sicher.

Vallejo aber konnte nur verlieren. Sogar eine zeitlich unbegrenzte Doppelzuweisung konnte ihm drohen, was seinen minimalen Bewegungsradius noch mehr eingeschränkt hätte. Das Bedrohlichste aber war die Isolierung, die das Doppelte an Arbeit, die Hälfte an Nahrung und einen Platz in einem schmutzigen Stockbett bereithielt, was selbst die Narben der Alten oben in der Wohnung als erträglich erscheinen ließ. Er öffnete die Kapsel, entrollte den Brief und las.

„Vallejo,
zu unserer großen Verwunderung ist es nach sowohl an uns herangetragenen als auch automatisch übermittelten Daten erneut zu einer erheblichen Anzahl von Abweichungen in der ordnungsgemäßen Abfolge und sogar auch der Art täglich vorgeschriebener schematischer und allgemeiner Ablaufelemente in Ihrer täglichen Routine gekommen. Durch die über eine bedeutende Menge an Meldekanälen übermittelte Sachlage kann unsererseits leider nicht weiter von der Möglichkeit der seltenen Fehleinschätzungen der obersten Steuerungsebene ausgegangen werden, die ohnehin zu Ihrer eigenen Sicherheit permanentem Controlling der Regierungsqualität unterliegen. Quantität und Art der Vorkommnisse limitieren im Übrigen die Möglichkeit einer rein statistischen Zufallsabweichung erheblich.

Nach erneuter Prüfung und kollektiver Durchsicht unserer Aufzeichnungen zu den oben bezeichneten Anomalien soll Ihnen dieses an Ihre individuelle Situation angepasste Schreiben Gelegenheit geben, sich zur detailorientierten Vorbereitung auf die unten genannten Besprechungen über die aktuelle Erlasslage zu informieren. Dies wird es Ihnen erleichtern, die erhobenen Vorwürfe einzuordnen und das obligatorische Schuldbekenntnis zu den aufgeführten Punkten zu festigen. Dazu wünschen wir Ihnen aufrichtig gutes Gelingen! Im Folgenden können Sie die einzelnen Themen einsehen, und damit Ihre Verstöße gegen die klugen Vorgaben der Führung kontrastreich wahrnehmen. Bitte denken Sie darüber nach, dass die Mühen der Erstellung dieser übersichtlichen Informationsschrift ein großes Entgegenkommen unsererseits darstellt.

1. Wege und Kontakte:
Nach dem Verlassen des öffentlichen Verkehrsmittels ist der Heimweg nach dem Erreichen der Zielhaltestelle unverzüglich auf kürzestem Wege anzutreten. Dabei gilt, ein möglichst zügiges Schritttempo anzustreben und dieses nachfolgend auch einzuhalten beziehungsweise zu beschleunigen. Gespräche auf dem Weg und Blickwechsel mit Anwohnern sind, wie auch sonst, grundsätzlich zu vermeiden. Nach Erreichen des Eingangsbereiches ist die Wohnungstür ohne Verzug aufzuschließen. Nach Betreten des Treppenhauses ist sicherzustellen, dass die Eingangstür ordnungsgemäß im Schloss eingerastet ist. Dabei ist dafür Sorge zu tragen, dass der Mechanismus durch zwei Drehungen entgegen des Uhrzeigersinnes das endgültige Verriegeln der Tür sicherstellt.

2. Kommunikation:
Nach sorgfältiger Überprüfung der pneumatischen Eingänge und Briefkästen nach Neueinwürfen gilt es, den Wohnungseingang möglichst schnell über die wöchentlich zu reinigenden Treppenstufen zu erreichen. Näheres über die Reinigungsgrundsätze regelt der entsprechende Erlass zur dritten Änderung des Reinigungserlasses in der Fassung vom 30.9.2040. Der Erlass wurde mehrfach übermittelt.

3: Gebäude und Energie:
Vor dem Betreten der Wohnung ist zu prüfen, ob die Treppenhausbeleuchtung sich regelungskonform (60 [Sechzig] Sekunden Maximallaufzeit) ausgeschaltet hat. Nach Betreten der Wohnung ist auch diese analog zur o.a. Verschlussregelung des Hauseingangs von innen durch zweifache Schlüsseldrehung zu verriegeln. Dabei verbleibt der Schlüssel von innen im Türschloss. Dies gilt auch dann, wenn der/die Wohnungspartner/in noch nicht eingetroffen sein sollte.

4: In den Einheiten:
Die Abendmahlzeit ist nach Ablegen der Tageskleidung in an dem dafür vorgesehenen Küchentisch einzunehmen. Auf eine ausgewogene Ernährung ist nach Maßgabe der Versorgungssituation und der aktuellen Ernährungsregelungen stets sorgfältig zu achten. Nach ordnungsgemäßem Konsum der Abendnachrichtenlesung, der Huldigung, erfolgter Körperpflege sowie der anschließenden Besprechung etwaiger Besonderheiten des Folgetages mit dem/der Partner/in gilt es, die vorgegebene Bettruhe einzuhalten. Grundlage der Folgetagbesprechungen ist zunächst immer die meteorologische Situation und die entsprechende Auswahl geeigneter Arbeitskleidung. Sonstiger sprachlicher Austausch wird auf ein Mindestmass beschränkt. Zur Bettruhe werden die Jalousien bis zum vorgeschriebenen Beobachtungsspalt heruntergelassen. Es ist nicht statthaft, den Beobachtungsspalt durch Gegenstände zu obstruieren. Nichtbeachtung kann zu erheblichen  Nachteilen führen!

5. Kontrolle und Hierarchisierung der Kommunikation:
Vor dem kompletten Herunterlassen der Jalousien ist aus den zentral gelegenen, blockmittigen  Wohnungen ein letztes Mal zu prüfen, ob in vom Fenster aus sichtbaren Wohnungsfenstern noch Anwohnerlicht zu sehen ist. Die Blockmitten wurden über die Regelungen im Abschreiben zur Sicherheitskontrolle der Zentralbewohner bereits eingehend und wiederholt informiert. Sollte eine solche Beleuchtung länger als für den Zeitraum von fünf (5) Minuten zu beobachten sein, ist die nächsthöhere Blockaufsicht unverzüglich fernmündlich oder pneumatisch zu informieren. Die entsprechenden Kontaktkanäle liegen in jeder Zentrallage aus. Etwaige Änderungen der Kontaktdaten sind nach Genehmigung vonseiten der nächsthöheren Aufsicht den Zentrallagen stets unverzüglich mitzuteilen. Die Auf- und Abwärtskommunikation durch die hierarchischen Schichten sichert den gesellschaftlichen Zusammenhalt. Die in den wöchentlichen Aufsichtsversammlungskonferenzen besprochene Vorfallslage ist schriftlich zu dokumentieren und der Quartierskontrolle auf schnellstem Wege zu überstellen. Nach Durchsicht der Informationen sind die Berichte dem Präsidium zu übermitteln und von diesem öffentlich zu machen.


6: Biologisch bedingte Aktivitäten/ Folgen der Nichtbeachtung:
Der vorgeschriebene zweisame Spannungsabbau erfolgt grundsätzlich im abgedunkelten Schlafraume. Damit wird gewährleistet, dass die Beobachtung etwaiger, auch nach Maßgabe als unsittlich wahrnehmbarer Schattenbewegungen der Anlieger durch unerfolgte Lichtlöschung unterbunden wird. Der Spannungsabbau ist abwechslungsreich und partnerorientiert durchzuführen. Durch die Gabe geeigneter Medikation wird die körperliche Leistungsfähigkeit sichergestellt. Auch bei Nichtgefallen des Partners wird der Spannungsabbau engagiert durchgeführt. Bei Minderleistung erfolgen Meldung und ggf. Behandlung. Die Blockaufsicht trägt dafür Sorge, dass gegen 21 Uhr keinerlei Binnenaktivität in den Wohnungen zu beobachten ist. Die Zeitregelung gilt in der Warm- wie Kaltchronometrie. Sollten Aktivitäten oder bloße, verdachthafte Anzeichen für solche Tätigkeiten beispielsweise anlässlich unaufschiebbarer nächtlicher Toilettengänge zu verzeichnen sein, sind diese nach erfolgter knapper, immer aber  auch schriftlicher Erklärung (Textnachricht) der Gründe des eigenen Wachseins der Aufsicht unverzüglich mitzuteilen. Nach Maßgabe der vorliegenden Informationen ist die Aufsicht angehalten, notwendige Schritte nach eingehender Abwägung der aktuellen Regelungslage schnellstmöglich zu veranlassen. Das Nähere regelt der Erlass zu Anomalien während der Nachtruhe.

7. Partnerschaft:
Unvermittelt partnerlos gewordenen Anwohnern (Tod, Strafe, Krankheit, Minderleistung) ist umgehend ein/e neu/r Partner/in zuzuweisen. Widersprüche gegen die Zuweisung sind trotz Anhörungsmöglichkeit nicht statthaft. Zugewiesene haben Anspruch auf respektvolle Aufnahme in der Wohneinheit. Jede(t) Zugewiesenen hat unabhängig vom Alter ein Recht auf  tägliche Zuwendung, auch körperlicher Art (siehe Punkt 6). Zugewiesene haben über Art und Qualität der Zuwendung sowie die individuelle Befriedigung Buch zu führen und der nächsthöheren Ebene zu berichten. Die Nichtbeachtung oder Nachlässigkeit in der der Zuwendungsregelung zieht scharfe Bestrafung und/oder Neumedikation nach sich. Die Aufsicht behält sich vor, Zuweisungen ohne Angabe von Gründen auch ohne besondere Rücksicht auf Altersentsprechungen neu festzusetzen. Den Zuweisungen liegen in jedem Falle aber alle Fehlerberichte zugrunde, die im den zurückliegenden 12 Monaten zu verzeichnen waren. Beanstandungsfreie Zeiten bedürfen dabei besonderer Berücksichtigung. Die Blockaufsicht trägt der Zuweisungskommission alle relevanten Informationen wie beschrieben zusammen. Als grob zu bezeichnende Abweichungen ziehen strenge Lagerisolation ohne Bewährungsmöglichkeit nach sich. Gute Führung ist keine Garantie für altersentsprechende Partnerzuweisung. Nur die Führungsebene ist besitzt Wahlfreiheit.

8. Grad der Regelungsbefolgung:
Nach Ablauf eines Kalenderjahres, im Falle der Dringlichkeit aber auch nach dem Monatsende, werden die jeweils schändlichsten Wohneinheiten ermittelt und von der Verstoßqualität abhängige, strengste Maßnahmen in die Wege geleitet. Diese können auch mit Kindesentzug und/oder Zuchthauseinweisung verbunden sein. Das Nähere regelt der Erlass zur verschärften Haft.

Zusammenfassung Ihrer Situation:
Das individuelle Berichtsprofil ist stets die Grundlage weiterer Maßnahmen zur Biographiesteuerung. In diesem Sinne wurde für den 7.8. eine zweistündige kollektive Vorbesprechung zur für den 14.8. festgesetzten ganztätigen Erklärungsanhörung im Präsidium anberaumt, der in jedem Falle Folge zu leisten ist. Verhinderungsgründe bestehen nicht. Der Arbeitgeber wurde über die Terminfestsetzung informiert. Sie bereiten sich eingehend auf den erstgenannten Termin vor. Eine vom Kollektiv nach Würdigung festgestellte Nichtvorbereitung wirkt strafverschärfend. Dem Kollektiv ist eine mindestens zehnseitige, höchstens aber fünfzehnseitige Stellungnahme (Schriftgrad 11/ A4) vorzulegen. Näheres zur Ausfertigung entnehmen Sie dem Erlass zur Ausfertigung von Schriften zur Verteidigung.

Dieses Schreiben wurde elektronisch erstellt und gilt daher ohne Unterschrift. Sein Eingang gilt mit der Öffnung des  pneumatischen Auffangkastens als bestätigt.

Gez. Bausch/ Präsidium“

Vallejo steckte das Papier in seine Manteltasche, legte die benutzte Kapsel in die Behälterablage und lenkte seine Schritte zum Treppenhaus. Als er die Wohnungstür öffnete war es ihm, als nähme er ein Lachen wahr.


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Jarandrel
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Beitrag23.01.2021 18:00

von Jarandrel
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Hallo Christof,

sehr schön gelungen ist Dir das Anschreiben, durch die Gliederung gewinnt es noch. Allerdings habe ich es nur überflogen und erst die Zusammenfassung wieder gelesen.

Mich packt der Anfang der Geschichte nicht. Der erste Satz ist mir viel zu lang und auch der gesamte erste Absatz ist mir zu komplex formuliert. Ich muss zu lange darüber nachdenken, was die Worte bedeuten, als dass es mich fesseln könnte. Eigentlich bin ich nach "Verbringungsmittel" und "Nordagglomeration" bereits raus.
Auch bin ich, anders als der mir unbekannte Protagonist, keinesfalls gespannt auf den Inhalt der Nachricht. Dazu schreckt mich der Stil viel zu sehr ab.
Wie kann ihn diese ominöse Nachricht ihn mehr interessieren als die Frau, sodass er seinen Gedankengang abrupt in diese Richtung wechselt?

Zitat:
Die Spannung in ihm wuchs an

Das ist eine Behauptung, die Du aus meiner Sicht einfach streichen kannst.

Interessant scheint es zu werden, als es um einen von Operationsnarben übersäten Körper geht, das macht mich neugierig - aber all das scheint eingebettet in einen viel größeren Kontext einer Welt, die mein Fassungsvermögen übersteigt. Ich habe keine Ahnung, was eine pneumatische Nachricht sein soll, ich kenne nur eine Pneumonie.

Deine Kurzgeschichte wirkt, als sei sie ein Ausschnitt aus einem größeren Projekt. Vielleicht brauchst Du nur mehr Raum, um den Leser in diese Welt zu führen, in der Du Dich offenbar bestens auskennst.
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Christof Lais Sperl
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Beitrag23.01.2021 18:26
Jarandrel
von Christof Lais Sperl
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Danke Dir!  Das mit der Rohrpost ist sicher richtig.  Auch die anderen Punkten werde ich bedenken! Lg C

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Christof Lais Sperl
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Beitrag11.02.2021 10:33
2,1
von Christof Lais Sperl
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Nun habe ich eure Kritik  (schwerfällige Satzkonstruktion, aufsteigende Dringlichkeit) noch einmal für diese kurze Geschichteeingearbeitet.
-
Zur Erlasslage

Beim Verlassen der Straßenbahn am Rande der Nordsiedlung hatte Vallejo an der Art der Vibration seines Signalgebers den Eingang einer Rohrpostnachricht bemerkt. Auf dem Weg zur Wohneinheit dachte er über den wahrscheinlichen Inhalt nach. Das Nachdenken beschäftigte ihn stark, zumal es mit einiger Befürchtung verbunden war, die ihm zugleich Hitze ins Gesicht und kalte Schauer über den Oberkörper trieben. Er versuchte sich zu beeilen, doch in regelmäßigen Abständen wurde sein Elan von Hoffnungslosigkeit gebremst. Sie befiel Vallejo in Wellen und ließ ihn an das Ausklingen der Amphetaminräusche denken ließ, die ihm seit ein paar Monaten von oberster Stelle verordnet worden waren.

Vallejo hatte sich seit dem Vorabend fest vorgenommen, einen Namen in Erfahrung zu bringen, doch die Frau, die fast täglich an der Straßengabelung seine Richtung einschlug, war zu Vallejos großer Enttäuschung heute nicht zu sehen.  

Eine Mitteilung, dachte er, da gibt es viele Möglichkeiten: Eine der harmlosen Informatiosschriften. Doch die kamen selten pneumatisch. Oder sollte es doch eine Verwarnung sein? Er befürchtete eine solch bedrohliche  Mitteilung, im schlimmsten Falle war sie mit einer langwierigen Vorbesprechung verbunden, die, wie er gehört hatte, stets ein großes Maß an Sanktionen zur Folge hatten. In der letzten Zeit was es für Vallejo schlecht gelaufen, denn er hatte sich durch Nachlässigkeit, die vor allem mit seiner Erschöpfung verbunden war, einiges an Ermahnungen und Ärger eingehandelt. Sogar seine junge Partnerin hatten sie ihm entzogen und durch eine andere ersetzt, die diesen Namen nicht verdiente.

Die Spannung in ihm wuchs an, doch weder die mit vielen Nachteilen verbundene Beschleunigung des Schrittes noch ein Abbremsen der Bewegung konnten sein Gemüt beruhigen. Ein schneller Heimweg war schließlich mit sofortiger Gewissheit verbunden, ein langsames Tempo verlängerte die Qual am Rhythmus der innerlich aufziehenden Fragezeichen. Auch die kindhaft konzentrierte Angewohnheit, zur Zerstreuung niemals auf die Fugen zwischen den Steinplatten des Gehweges zu treten, konnte ihn von seiner Anspannung befreien. Im Strom all dieser Gedanken hatte er den Eingang schneller erreicht als je zuvor, wie er überrascht feststellte. Das war ärgerlich. Denn nun galt es, das Portal zu öffnen.

Er fürchtete sich vor der Enge der Wohnung und der bösartigen Großmutter, die sie ihm vor vier Tagen im Zuge einer Maßnahme eingestellt hatten, und die wohl schon sehnsüchtig seine Rückkehr und den Wirkungseinsatz des PDE-5-Hemmers erwartete, den er schon vor der Abendmahlzeit einzunehmen hatte. In schaurigen Gedanken an den von Operationsnarben übersäten Körper, dessen absurde und längst nicht versiegte Bedürfnisse er unter dem Zwang der Vorgaben und gegen die frechen Forderungen der Großmutter bloß zum zweiten Male bedient hatte, ein Leib, dessen entsetzlicher Anblick nur durch die strenge Beleuchtungsvorgabe gemildert werden konnte, drehte er den Verschlussmechanismus der Eingangstür sehr langsam in Verriegelungsrichtung und erinnerte sich mit Schrecken daran, wie er am Vortag diese Sicherungsmaßnahme und auch die Leerung des Postkastens vergessen hatte.

Das Licht hatte sich schon zum zweiten Male eingeschaltet. Das wird zu einer Energiemeldung führen, dachte er. Und nun erblickte er im kleinen Bullauge des Rohrposteingangs die Kupferkapsel. Sie lag kühl in der Hand, weder leicht noch schwer, man musste nur den oberen Teil abschrauben, um ihm das eingerollte Schriftstück zu entnehmen, in dem es mit Sicherheit um die Verfehlungen ging, die ihm aufs neue angelastet werden sollten.

Sicher, er hatte nach den Aktivitäten der letzten Nacht das Fenster einen Spalt geöffnet, um seinem eigenen  Geruch und dem der Alten zu entgehen, nur ein wenig frische Luft einzuatmen, doch mehr als schwaches Licht und seine Mundöffnung hinter der Jalousie dürften auch für die Sichtgeräte der Wärter kaum aufzuzeichnen gewesen sein. Die junge Frau an der Gabelung hatte er am Vortag  ein wenig länger als erlaubt angesehen, doch war er sicher, dass niemand dies beobachtet hatte.

Der zugewiesenen Oma hatte er oben angedeihen lassen, was absolut notwendig war, und daher nach seiner Auffassung auch keinerlei Anlass zu Beschwerden geben konnte, obgleich die bösartige Alte es sicherlich darauf angelegt hatte, das für sie geringe Risiko seiner Isolierung in Aussicht auf ein Mehr an Zuwendung gegeneinander abzuwägen. Schließlich konnte sie als Parteigängerin immer siegreich aus der Situation  kommen. Eine Neuzuweisung war ihr allenthalben sicher. Vallejo musste an Nabokovs Zauberer denken, der, allerdings freiwillig, eine ähnliche Schmach durchlaufen hatte um an die Tochter seiner Gattin zu kommen.

Vallejo aber konnte im Gegensatz zu der Alten nur verlieren. Sogar eine zeitlich unbegrenzte Doppelzuweisung konnte ihm drohen, was seinen minimalen Bewegungsradius noch mehr eingeschränkt hätte. Das Bedrohlichste aber war die Isolierung, die das Doppelte an Arbeit, die Hälfte an Nahrung und einen Platz in einem schmutzigen Stockbett bereithielt, was selbst die vertrauter werdenenden Narben der Frau in der Wohnung als erträglich erscheinen ließ. Er öffnete die Kapsel, entrollte den Brief und las.

„Gesellschaftsmitglied Vallejo,
zu unserer großen Verwunderung ist es nach sowohl an uns herangetragenen als auch automatisch übermittelten Daten erneut zu einer erheblichen Anzahl von Abweichungen in der ordnungsgemäßen Abfolge und der Art täglich vorgeschriebener Ablaufelemente in Ihrer täglichen Routine gekommen. Durch die über eine bedeutende Menge an Meldekanälen übermittelte Sachlage kann unsererseits leider nicht weiter von der Möglichkeit der seltenen Fehleinschätzungen der obersten Steuerungsebene ausgegangen werden, die ohnehin zu Ihrer eigenen Sicherheit dem permanentem Controlling der Regierungsqualität unterliegen. Quantität und Art der Vorkommnisse limitieren im Übrigen die Möglichkeit einer rein statistischen Zufallsabweichung erheblich und lassen mildernde Umstände unmöglich werden.

Nach erneuter Prüfung und kollektiver Durchsicht unserer Aufzeichnungen zu den oben bezeichneten Anomalien soll Ihnen dieses an Ihre individuelle Situation angepasste Schreiben Gelegenheit geben, sich zur detailorientierten Vorbereitung auf die unten genannten Besprechungen über die aktuelle Erlasslage zu informieren. Dies wird es Ihnen erleichtern, die erhobenen Vorwürfe einzuordnen und das obligatorische Schuldbekenntnis zu den aufgeführten Punkten zu festigen. Dazu wünschen wir Ihnen aufrichtig gutes Gelingen! Im Folgenden können Sie die einzelnen Themen einsehen, und damit Ihre Verstöße gegen die klugen Vorgaben der Führung einsehen. Bitte denken Sie darüber nach, dass die Mühen der Erstellung dieser übersichtlichen Informationsschrift ein großes Entgegenkommen unsererseits darstellt. Eine eingehende Vorbereitung wird schließlich dringend empfohlen. Zur Erinnerung hier eine Aufstellung der Regelungen in aufsteigender Abfolge der Dringlichkeit.

1. Wege und Kontakte:
Nach dem Verlassen des öffentlichen Verkehrsmittels ist der Heimweg nach dem Erreichen der Zielhaltestelle unverzüglich auf kürzestem Wege anzutreten. Dabei gilt, ein möglichst zügiges Schritttempo anzustreben und dieses nachfolgend auch einzuhalten beziehungsweise zu beschleunigen. Gespräche auf dem Weg und Blickwechsel mit Anwohnern sind, wie auch sonst, grundsätzlich zu vermeiden. Nach Erreichen des Eingangsbereiches ist die Wohnungstür ohne Verzug aufzuschließen. Nach Betreten des Treppenhauses ist sicherzustellen, dass die Eingangstür ordnungsgemäß im Schloss eingerastet ist. Dabei ist dafür Sorge zu tragen, dass der Mechanismus durch zwei Drehungen entgegen des Uhrzeigersinnes das endgültige Verriegeln der Tür sicherstellt.

2. Kommunikation:
Nach sorgfältiger Überprüfung der pneumatischen Eingänge („Rohrpost“) und Briefkästen nach Neueinwürfen gilt es, den Wohnungseingang möglichst schnell über die wöchentlich zu reinigenden Treppenstufen zu erreichen. Näheres über die Reinigungsgrundsätze regelt der entsprechende Erlass zur dritten Änderung des Reinigungserlasses in der Fassung vom 30.9.2040. Der Erlass wurde mehrfach übermittelt.

3: Gebäude und Energie:
Vor dem Betreten der Wohnung ist zu prüfen, ob die Treppenhausbeleuchtung sich regelungskonform (60 [Sechzig] Sekunden Maximallaufzeit) ausgeschaltet hat. Nach Betreten der Wohnung ist auch diese analog zur o.a. Verschlussregelung des Hauseingangs von innen durch zweifache Schlüsseldrehung zu verriegeln. Dabei verbleibt der doppelt gedrehte Schlüssel von innen im Türschloss. Dies gilt auch dann, wenn der/die Wohnungspartner/in noch nicht eingetroffen sein sollte.

4: In den Einheiten:
Die Abendmahlzeit ist nach Ablegen der Tageskleidung in an dem dafür vorgesehenen Küchentisch einzunehmen. Auf eine ausgewogene Ernährung ist nach Maßgabe der Versorgungssituation und der aktuellen Ernährungsregelungen stets sorgfältig zu achten. Nach ordnungsgemäßem Konsum der Abendnachrichtenlesung, der Huldigung der geliebten Führung, erfolgter Körperpflege sowie der anschließenden Besprechung etwaiger Besonderheiten des Folgetages mit dem/der Partner/in gilt es, die vorgegebene Bettruhe einzuhalten. Grundlage der Folgetagbesprechungen ist zunächst immer die meteorologische Situation und die entsprechende Auswahl geeigneter Arbeitskleidung. Sonstiger sprachlicher Austausch wird auf ein Mindestmass beschränkt. Zur Bettruhe werden die Jalousien bis zum vorgeschriebenen Beobachtungsspalt heruntergelassen. Es ist nicht statthaft, den Beobachtungsspalt durch Gegenstände zu obstruieren. Nichtbeachtung kann zu erheblichen  Nachteilen führen!

5. Kontrolle und Hierarchisierung der Kommunikation:
Vor dem kompletten Herunterlassen der Jalousien ist aus den zentral gelegenen, blockmittigen  Wohnungen ein letztes Mal zu prüfen, ob in vom Fenster aus sichtbaren Wohnungsfenstern noch Anwohnerlicht zu sehen ist. Die Blockmitten wurden über die Regelungen im Abschreiben zur Sicherheitskontrolle der Zentralbewohner bereits eingehend und wiederholt informiert. Sollte eine solche Beleuchtung länger als für den Zeitraum von fünf (5) Minuten zu beobachten sein, ist die nächsthöhere Blockaufsicht unverzüglich fernmündlich oder pneumatisch zu informieren. Die entsprechenden Kontaktkanäle liegen in jeder Zentrallage aus. Etwaige Änderungen der Kontaktdaten sind nach Genehmigung vonseiten der nächsthöheren Aufsicht den Zentrallagen stets unverzüglich mitzuteilen. Die Auf- und Abwärtskommunikation durch die hierarchischen Schichten sichert den gesellschaftlichen Zusammenhalt. Die in den wöchentlichen Aufsichtsversammlungskonferenzen besprochene Vorfallslage ist schriftlich zu dokumentieren und der Quartierskontrolle auf schnellstem Wege zu überstellen. Nach Durchsicht der Informationen sind die Berichte dem Präsidium zu übermitteln und von diesem öffentlich zu machen.


6: Biologisch bedingte Aktivitäten/ Folgen der Nichtbeachtung:
Der vorgeschriebene zweisame Spannungsabbau erfolgt grundsätzlich im abgedunkelten Schlafraume. Damit wird gewährleistet, dass die Beobachtung etwaiger, auch nach Maßgabe als unsittlich wahrnehmbarer Schattenbewegungen der Anlieger durch unerfolgte Lichtlöschung unterbunden wird. Der Spannungsabbau ist abwechslungsreich und partnerorientiert durchzuführen. Durch die Gabe geeigneter Medikation wird die körperliche Leistungsfähigkeit sichergestellt. Häufig gefallen die Partner nicht und/oder entsprechen nicht den persönlichen Vorlieben. Auch bei solchem Nichtgefallen des Partners wird der Spannungsabbau engagiert durchgeführt. Bei Minderleistung erfolgen Meldung und ggf. Behandlungzuführung. Die Blockaufsicht trägt dafür Sorge, dass gegen 21 Uhr keinerlei irreguläre Binnenaktivität in den Wohnungen zu beobachten ist. Die Zeitregelung gilt in der Warm- wie Kaltchronometrie. Sollten Aktivitäten oder bloße, verdachthafte Anzeichen für solche Tätigkeiten beispielsweise anlässlich unaufschiebbarer nächtlicher Toilettengänge zu verzeichnen sein, sind diese nach erfolgter knapper, immer aber  auch schriftlicher Erklärung (Textnachricht) der Gründe des eigenen Wachseins der Aufsicht unverzüglich mitzuteilen. Nach Maßgabe der vorliegenden Informationen ist die Aufsicht angehalten, notwendige Schritte nach eingehender Abwägung der aktuellen Regelungslage schnellstmöglich zu veranlassen. Das Nähere regelt der Erlass zu Anomalien während der Nachtruhe.

7. Partnerschaft:
Unvermittelt partnerlos gewordenen Anwohnern (Tod, Strafe, Krankheit, Minderleistung) ist umgehend ein/e neu/r Partner/in zuzuweisen. Widersprüche gegen die Zuweisung sind trotz Anhörungsmöglichkeit nicht statthaft. Zugewiesene haben Anspruch auf respektvolle Aufnahme in der Wohneinheit. Jede(t) Zugewiesenen hat unabhängig vom Alter ein Recht auf  tägliche Zuwendung, verbaler und auch körperlicher Art (siehe Punkt 6). Zugewiesene haben über Art und Qualität der Zuwendung sowie die individuelle Befriedigung Buch zu führen und der nächsthöheren Ebene zu berichten, die die Datenlage der geliebten Führung aufbereitet. Die Nichtbeachtung oder Nachlässigkeit in der der Zuwendungsregelung zieht scharfe Bestrafung und/oder Neumedikation nach sich.

Die Aufsicht behält sich vor, Zuweisungen ohne Angabe von Gründen auch ohne besondere Rücksicht auf Altersentsprechungen neu festzusetzen. Den Zuweisungen liegen in jedem Falle aber alle Fehlerberichte zugrunde, die im den zurückliegenden 12 Monaten zu verzeichnen waren. Beanstandungsfreie Zeiten bedürfen dabei besonderer Berücksichtigung. Die Blockaufsicht trägt der Zuweisungskommission alle relevanten Informationen wie beschrieben zusammen. Als grob zu bezeichnende Abweichungen ziehen strenge Lagerisolation ohne Bewährungsmöglichkeit nach sich. Gute Führung ist keine Garantie für altersentsprechende Partnerzuweisung. Nur die Führungsebene ist besitzt Wahlfreiheit.

8. Grad der Regelungsbefolgung:
Nach Ablauf eines Kalenderjahres, im Falle der Dringlichkeit aber auch nach dem Monatsende, werden die jeweils schändlichsten Wohneinheiten ermittelt und von der Verstoßqualität abhängige, strengste Maßnahmen in die Wege geleitet. Diese können mit Kindesentzug und/oder Zuchthauseinweisung verbunden sein. Das Nähere regelt der Erlass zur verschärften Haft.

Zusammenfassung Ihrer Situation:
Das individuelle Berichtsprofil ist stets die Grundlage weiterer Maßnahmen zur Biographiesteuerung. In diesem Sinne wurde für den 7.8. eine zweistündige kollektive Vorbesprechung zur für den 14.8. festgesetzten ganztätigen Erklärungsanhörung im Präsidium anberaumt, der in jedem Falle Folge zu leisten ist. Verhinderungsgründe bestehen nicht. Der Arbeitgeber wurde über die Terminfestsetzung informiert. Sie bereiten sich wie beschrieben eingehend auf den erstgenannten Termin vor. Eine vom Kollektiv nach Würdigung festgestellte Nichtvorbereitung wirkt strafverschärfend. Dem Kollektiv ist eine mindestens zehnseitige, höchstens aber fünfzehnseitige Stellungnahme (Schriftgrad 11/ A4) vorzulegen. Näheres zur Ausfertigung entnehmen Sie dem Erlass zur Ausfertigung von Schriften zur Verteidigung.

Dieses Schreiben wurde elektronisch erstellt und gilt daher ohne Unterschrift. Sein Eingang gilt mit der Öffnung des  pneumatischen Auffangkastens als bestätigt.

Gez. Bausch/ Präsidium
CC Büro der geliebten Führung z.K.“

Vallejo steckte das rollenförmig gekrümmte Papier in seine Manteltasche, legte die benutzte Kapsel in die Behälterablage und lenkte seine Schritte langsam zum Treppenhaus. Als er die Wohnungstür öffnete war es ihm, als nähme er von oben das Lachen zweiter Stimmen wahr.


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Lais
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Beitrag15.02.2021 17:57
Re: 2,1
von Gast
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Hallo Christof,

liest sich ein wenig wie eine Mischung aus Kafka und Orwell.  
Ich habe mir mal den Anfang vorgenommen und meine Anmerkungen direkt in den Text geschrieben. Nimm, was du gebrauchen kannst.  
Bei dem Rohrpostschreiben stellt sich mir die Frage, ob du sämtliche Erlässe bereits hier in epischer Breite bringen musst, oder dich am Anfang nicht deutlich kürzer auf die konkreten Verfehlungen deines Protas konzentrieren könntest. Ich weiß ja nicht, was du ingesamt geplant hast.     
LG
Dlurie


Christof Lais Sperl hat Folgendes geschrieben:


Beim Verlassen der Straßenbahn am Rande der Nordsiedlung hatte Vallejo an der Art der Vibration seines Signalgebers den Eingang einer Rohrpostnachricht bemerkt. Auf dem Weg zur Wohneinheit dachte er über den wahrscheinlichen Inhalt nach. Das Nachdenken beschäftigte ihn stark, zumal es mit einiger Befürchtung verbunden war, die ihm zugleich Hitze ins Gesicht und kalte Schauer über den Oberkörper trieben. Er versuchte sich zu beeilen, doch in regelmäßigen Abständen wurde sein Elan von Hoffnungslosigkeit gebremst. Sie befiel Vallejo in Wellen und ließ ihn an das Ausklingen der Amphetaminräusche denken ließ, die ihm seit ein paar Monaten von oberster Stelle verordnet worden waren.

Vallejo hatte sich seit dem Vorabend fest vorgenommen, einen Namen in Erfahrung zu bringen, doch die Frau, die fast täglich an der Straßengabelung seine Richtung einschlug, war zu Vallejos großer Enttäuschung heute nicht zu sehen.  

Eine Mitteilung, dachte er, da gibt es viele Möglichkeiten: Eine der harmlosen Informationsschriften. Doch die kamen selten pneumatisch. Oder sollte es doch eine Verwarnung sein? Er befürchtete eine solch bedrohliche  Mitteilung, im schlimmsten Falle war sie mit einer langwierigen Vorbesprechung verbunden, die, wie er gehört hatte, stets ein großes Maß an (empfindliche?) Sanktionen zur Folge hatten. In der letzten Zeit was(r) es für Vallejo schlecht gelaufen, denn er hatte sich durch  (erschöpfungsbedingte?)Nachlässigkeit, die vor allem mit seiner Erschöpfung verbunden war, einiges an Ermahnungen und Ärger eingehandelt. Sogar seine junge Partnerin hatten sie ihm entzogen und durch eine andere ersetzt, die diesen Namen nicht verdiente.

Die Spannung in ihm wuchs an, doch weder die mit vielen Nachteilen verbundene Beschleunigung des Schrittes noch ein Abbremsen der Bewegung konnten sein Gemüt beruhigen. Ein schneller Heimweg war schließlich mit sofortiger Gewissheit verbunden (brachte sofortige Gewissheit?) ein langsames Tempo verlängerte die Qual am Rhythmus der innerlich aufziehenden Fragezeichen. seltsame Formulierung ab verlängerte...

Auch die kindhaft konzentrierte ( aus Kindertagen stammende?) Angewohnheit, zur Zerstreuung niemals auf die Fugen zwischen den Steinplatten des Gehweges zu treten, konnte ihn (nicht?) von seiner Anspannung befreien. Im Strom all dieser Gedanken hatte er den Eingang schneller erreicht als je zuvor, wie er überrascht feststellte. Das war ärgerlich. Denn nun galt es, das Portal zu öffnen.

Er fürchtete sich vor der Enge der Wohnung und der bösartigen Großmutter, die sie ihm vor vier Tagen im Zuge einer Maßnahme eingestellt hatten, und die wohl schon sehnsüchtig seine Rückkehr und den Wirkungseinsatz (die Wirkung?) des PDE-5-Hemmers (das musste ich erst mal googeln, warum nicht einfach Potenzmittel?) erwartete, den er schon vor der Abendmahlzeit einzunehmen hatte. In schaurigen Gedanken an den von Operationsnarben übersäten Körper, dessen absurde und längst nicht versiegte Bedürfnisse er unter dem Zwang der Vorgaben und gegen die (trotz der?) frechen Forderungen der Großmutter bloß zum zweiten (erst zweimal?) Male bedient (befriedigt?) hatte, ein Leib, dessen entsetzlicher Anblick nur durch die strenge Beleuchtungsvorgabe gemildert werden konnte, drehte er den Verschlussmechanismus der Eingangstür sehr langsam in Verriegelungsrichtung und erinnerte sich mit Schrecken daran, wie (dass?)er am Vortag diese Sicherungsmaßnahme und auch die Leerung des Postkastens vergessen hatte.

Das Licht hatte sich schon zum zweiten Male eingeschaltet. Das wird zu einer Energiemeldung führen, dachte er. Und nun erblickte er im kleinen Bullauge des Rohrposteingangs die Kupferkapsel. Sie lag kühl in der Hand, weder leicht noch schwer, man musste nur den oberen Teil abschrauben, um ihm (ihr?) das eingerollte Schriftstück zu entnehmen, in dem es mit Sicherheit um die Verfehlungen ging, die ihm aufs neue angelastet werden sollten.

Sicher, er hatte nach den Aktivitäten der letzten Nacht das Fenster einen Spalt geöffnet, um seinem eigenen  Geruch und dem der Alten zu entgehen, nur ein wenig frische Luft einzuatmen, doch mehr als schwaches Licht und seine Mundöffnung hinter der Jalousie dürften auch für die Sichtgeräte der Wärter kaum aufzuzeichnen gewesen sein. Die junge Frau an der Gabelung hatte er am Vortag  ein wenig länger als erlaubt angesehen, doch war er sicher, dass niemand dies beobachtet hatte.

Der zugewiesenen Oma hatte er oben angedeihen lassen, was absolut notwendig war, und daher nach seiner Auffassung auch keinerlei Anlass zu Beschwerden geben konnte, obgleich die bösartige Alte es sicherlich darauf angelegt hatte, das für sie geringe Risiko seiner Isolierung in Aussicht auf ein Mehr an Zuwendung gegeneinander abzuwägen.
(der Sinn des Satzes ab das für sie... erschließt sich mit nicht)
Schließlich konnte sie als Parteigängerin immer siegreich aus der Situation  kommen. Eine Neuzuweisung war ihr allenthalben sicher. Vallejo musste an Nabokovs Zauberer denken, der, allerdings freiwillig, eine ähnliche Schmach durchlaufen hatte um an die Tochter seiner Gattin zu kommen.

Vallejo aber konnte im Gegensatz zu der Alten nur verlieren.
(Im Gegensatz zu der Alten konnte Vallejo?..)
 Sogar eine zeitlich unbegrenzte Doppelzuweisung konnte ihm drohen (drohte ihm?), was seinen minimalen Bewegungsradius noch mehr eingeschränkt hätte. Das Bedrohlichste aber war die Isolierung, die das Doppelte an Arbeit, die Hälfte an Nahrung und einen Platz in einem schmutzigen Stockbett bereithielt (bedeutete?), was selbst die vertrauter werdenenden Narben der Frau in der Wohnung als erträglich erscheinen ließ. Er öffnete die Kapsel, entrollte den Brief und las.
...
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Hennessy
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Beitrag15.02.2021 18:30

von Hennessy
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Bukowskis "Der Mann mit der Ledertasche" beginnt mit so einer Amtssprache (er zitiert aus den Grundsätzen für Postangestellte), das funktioniert super, weil es einerseits auf das Kommende konflikthaft hindeutet (der Postbeamte soll die höchsten Werte der Nation verkörpern vs. es ist ein Bukowski-Protagonist) und andererseits ein 1-seitiger Abschnitt ist, dem 200 Seiten normale Sprache folgen.

In dieser Kürze kann das Ganze nicht so wirken, finde ich.
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Christof Lais Sperl
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Beitrag15.02.2021 18:57
Henessy und Lurie
von Christof Lais Sperl
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Danke für die guten Überlegungen und Korrekturen. Obwohl ich den Bukowski ganz gut kenne, habe ich den Mann mit der Ledertasche nicht mehr auf dem Schirm gehabt. Da sollte ich noch einmal reinlesen. Lurie, es sollte eigentlich nur eine Kurzgeschichte werden. Vlg, C

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Beitrag15.02.2021 19:38

von V.K.B.
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Hallo Christof,
liest sich anfangs ganz interessant (ich hab jetzt nur die neuste Version gelesen) aber bei der eigentlichen Erlasslage, die komplett zitiert wird, wird das Ganze recht schnell ermüdend. Ich denke zunehmend "okay, ich hab’s kapiert, eine Welt, in der wirklich jeder Atemzug bürokratisch geregelt ist" und bin zunehmend gewillt, gegen die allgemeingültige Leseverordnung Bildungsregulierungsvorschriften zum korrekten Erfassen textlicher Information zu verstoßen und querlesen zu wollen (ich Rebell, ich). Vieles wiederholt sich oder wirkt zumindest so, und ziemlich schnell wird klar, dass mich nichts an den folgenden Verordnungen noch überraschen kann. Kafka und Orwell wurden schon genannt, pauschal möchte ich noch Terry Gilliams Film "Brazil" (von 1985) hinzufügen, an den mich das vom Grad der dystopischen Groteske erinnert. Also alles schon mal gedacht und (zum Glück nur in Fiktionen) dagewesen. Auch frage ich mich, wie weit eine Dystopie eigentlich gehen kann, um halbwegs glaubwürdig zu bleiben. Irgendeinen Grund müssen Menschen ja haben, das mitzumachen, und ich glaube kaum, dass diese Regulierungen hier auf viel Gegenliebe einer Bevölkerung stoßen würden. Du sprichst von Medikation und Drogen, aber irgendwas fehlt mir hier. Irgendwas, das den Menschen trotzdem geboten wird. Würden die Medikamente die Bevölkerung dozil und fügsam machen, bräuchte man die ganzen Erlasse nicht mehr wirklich bzw die ganzen Sanktionsandrohungen nicht. Auch die Aussicht auf ein gesichertes Sexleben kann das kaum rausreißen, wenn es selbst bei bester Führung keine Garantie auf einen passenden Partner gibt. Und die letztendliche Frage hier ist doch, was hätte ein Mensch, der sich dagegen auflehnt (womöglich auch mit Gewalt, Stichwort Revolution) überhaupt noch zu verlieren, was ihn davon abhalten könnte, das nicht zu tun? Denn ein solches "Leben" kann doch schon nach maximal wenigen Wochen niemandem mehr annähernd lebenswert vorkommen.

Soweit meine Eindrücke zum Text, mit dem ich mich hauptsächlich inhaltlich beschäftigt habe. Schreiben kannst du ja, und dann rede ich niemandem in den Stil rein.

beste Grüße,
Veith


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Christof Lais Sperl
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Beitrag16.02.2021 06:33
Veith
von Christof Lais Sperl
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Vielen Dank für den Input! Das schärft die Sinne! Vlg C Very Happy

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Beitrag16.02.2021 10:25

von Selanna
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Hallo Christof,

ich finde das Ende der neuesten Version viel konkreter. Als Du nur vom Lachen einer Stimme geschrieben hast, dachte ich, seine neue Partnerin empfängt ihn hämisch lachend. Durch die zwei lachenden Stimmen denke ich, er wird von einem Menschen vom "Ordnungsamt/der Polizei" erwartet, der mit der neuen Partnerin lacht. Das gibt dem ganzen mehr Schärfe.
Ansonsten nur ganz knapp von mir: Ich denke auch, dass die gesamte Vorschriftenliste für eine Kurzgeschichte zu lang ist, und würde hier kürzen, auch wenn sie an und für sich ihren eigenen Wert besitzt. Aber innerhalb der Kurzgeschichte nimmt sie zu viel Raum ein und lässt zu wenig Raum für Handlung.

Auf jeden Fall gerne gelesen.
Liebe Grüße
Selanna


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Christof Lais Sperl
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Beitrag16.02.2021 10:30
Selanna
von Christof Lais Sperl
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Danke, Selanna, ihr habt Recht! : )

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Gast







Beitrag16.02.2021 14:19

von Gast
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Hi Christof,

wenn eine KG intendiert ist, könntest du dich z.B. auf den Aspekt der zwangsweisen Zuweisung eines Partners konzentrieren und die restlichen Überwachungsdetails deutlich kürzen.
Der Aspekt, dass der Große Bruder auch noch die letzte Bastion des Privatlebens, das Bett, durch verordneten Geschlechtsverkehr einzunehmen versucht: Das hat doch ordentlich dramatisches Potential, wie ich finde.  Allemal ausreichend für eine KG.

LG
DLurie
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Christof Lais Sperl
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Beitrag21.02.2021 12:12
Radikal gekürzt
von Christof Lais Sperl
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Vielleicht ist meine Geschichte nun stimmiger. Der Papierkorb hat sich gefüllt.
Danke für eure Anregungen.

Zur Erlasslage

Beim Verlassen der Straßenbahn am Rande der Nordsiedlung hatte Vallejo an der Art der Vibration seines Signalgebers den Eingang einer Rohrpostnachricht bemerkt. Auf dem Weg zur Wohneinheit dachte er über den wahrscheinlichen Inhalt nach. Das Nachdenken beschäftigte ihn stark, zumal es mit einiger Befürchtung verbunden war, die ihm zugleich Hitze ins Gesicht und kalte Schauer über den Oberkörper trieben. Er versuchte sich zu beeilen, doch in regelmäßigen Abständen wurde sein Elan von Hoffnungslosigkeit gebremst. Sie befiel Vallejo in Wellen und ließ ihn an das Ausklingen der Amphetaminräusche denken, die ihm seit ein paar Monaten von oberster Stelle verordnet worden waren.

Vallejo hatte sich seit dem Vorabend fest vorgenommen, einen Namen in Erfahrung zu bringen, doch die Frau, die fast täglich an der Straßengabelung seine Richtung einschlug, war zu Vallejos großer Enttäuschung heute nicht zu sehen.  

Eine Mitteilung, dachte er, da gibt es viele Möglichkeiten: Eine der harmlosen Informationsschriften. Doch die kamen selten pneumatisch. Oder sollte es doch eine Verwarnung sein? Er befürchtete eine solch bedrohliche  Mitteilung, im schlimmsten Falle war sie mit einer langwierigen Vorbesprechung verbunden, die, wie er gehört hatte, stets ein großes Maß an schlimmen Sanktionen zur Folge hatte. In der letzten Zeit was es für Vallejo schlecht gelaufen, denn er hatte sich durch erschöpfungsbedingte Nachlässigkeit einiges an Ermahnungen und Ärger eingehandelt. Sogar seine junge Partnerin hatten sie ihm entzogen und durch eine andere ersetzt, die diesen Namen nicht verdiente.

Die Spannung in ihm wuchs an, doch weder die mit vielen Nachteilen verbundene Beschleunigung des Schrittes noch ein Abbremsen der Bewegung konnten sein Gemüt beruhigen. Ein schneller Heimweg brachte schließlich sofortige Gewissheit, ein langsames Tempo verlängerte die Qual am Rhythmus der innerlich aufziehenden Fragezeichen. Auch die kindhaft konzentrierte Angewohnheit, zur Zerstreuung niemals auf die Fugen zwischen den Steinplatten des Gehweges zu treten, konnte ihn von seiner Anspannung befreien. Im Strom all dieser Gedanken hatte er den Eingang schneller erreicht als je zuvor, wie er überrascht feststellte. Das war ärgerlich. Denn nun galt es, das Portal zu öffnen.

Er fürchtete sich vor der Enge der Wohnung und der bösartigen Großmutter, die sie ihm vor vier Tagen im Zuge einer Maßnahme eingestellt hatten, und die wohl schon sehnsüchtig seine Rückkehr und das Anfluten des obligatorischen Potenzmittels erwartete, welches er schon vor der Abendmahlzeit einzunehmen hatte. In schaurigen Gedanken an den von Operationsnarben übersäten Körper, dessen absurde und längst nicht versiegte Bedürfnisse er unter dem Zwang der Vorgaben und trotz der frechen Forderungen der Großmutter bloß zweimal befriedigt hatte, ein Leib, dessen entsetzlicher Anblick nur durch die strenge Beleuchtungsvorgabe gemildert werden konnte, drehte er den Verschlussmechanismus der Eingangstür sehr langsam in Verriegelungsrichtung und erinnerte sich mit Schrecken daran, dass er am Vortag diese Sicherungsmaßnahme und auch die Leerung des Postkastens vergessen hatte.

Das Licht hatte sich schon zum zweiten Male eingeschaltet. Das wird zu einer Energiemeldung führen, dachte er. Und nun erblickte er im kleinen Bullauge des Rohrposteingangs die Kupferkapsel. Sie lag kühl in der Hand, weder leicht noch schwer, man musste nur den oberen Teil abschrauben, um ihr das eingerollte Schriftstück zu entnehmen, in dem es mit Sicherheit um die Verfehlungen ging, die ihm aufs neue angelastet werden sollten.

Sicher, er hatte nach den Aktivitäten der letzten Nacht das Fenster einen Spalt geöffnet, um seinem eigenen  Geruch und dem der Alten zu entgehen, nur ein wenig frische Luft einzuatmen, doch mehr als schwaches Licht und seine Mundöffnung hinter der Jalousie dürften auch für die Sichtgeräte der Wärter kaum aufzuzeichnen gewesen sein. Die junge Frau an der Gabelung hatte er am Vortag  ein wenig länger als erlaubt angesehen, doch war er sicher, dass niemand dies beobachtet hatte.

Der zugewiesenen Oma hatte er oben angedeihen lassen, was absolut notwendig war, und daher nach seiner Auffassung auch keinerlei Anlass zu Beschwerden geben konnte, obgleich die bösartige Alte es sicherlich darauf angelegt hatte, das für sie geringe aber unbefriedigende Risiko seiner Inhaftierung in Aussicht auf ein Mehr an Zuwendung gegeneinander zu bemessen. Schließlich konnte sie als Parteigängerin immer siegreich aus der Situation  kommen. Eine Neuzuweisung war ihr allenthalben sicher. Vallejo musste an Nabokovs Zauberer denken, der, allerdings freiwillig, eine ähnliche Schmach durchlaufen hatte um an die Tochter seiner Gattin zu kommen.

Vallejo aber konnte im Gegensatz zu der Alten nur verlieren. Sogar eine zeitlich unbegrenzte Doppelzuweisung drohte ihm. Ein Umstand, der seinen minimalen Bewegungsradius noch mehr einschränken würde. Das Bedrohlichste aber war die Isolierung, die das Zweifache an Arbeit, die Hälfte an Nahrung und einen Platz in einem schmutzigen Stockbett bedeutete, was selbst die vertrauter werdenden Narben der Frau in der Wohnung als erträglich erscheinen ließ.
Vallejo musste abwägen, für sich selbst kluge und maßvolle Entscheidungen treffen, den Schutz des Selbst mit Gefahren vergleichen, Leid mit Schauder auszugleichen. Begriffe kamen ihm in Gegensatzpaaren in den Sinn.

Das Narbenübersäte gegen ein Stockbett
Gerüche gegen Hunger
Zeitlich begrenzte Abscheu gegen das gute Gefühl getaner Pflicht
Befriedigung der Alten gegen mögliche Erleichterungen
Unbehelligtsein gegen totale Kontrolle
Der entsetzliche Fleischberg gegen Wanzenbisse
Die chemisch potenzierte Begattung gegen den Hunger hinterm Stacheldraht
Ein von Häuten behängtes Skelett gegen den Hungerkörper im Lager

 
Er öffnete die Kapsel, entrollte den Brief und las.

„Gesellschaftsmitglied Vallejo,
zu unserer großen Verwunderung ist es nach sowohl an uns herangetragenen als auch automatisch übermittelten Daten erneut zu einer erheblichen Anzahl von Abweichungen in der ordnungsgemäßen Abfolge und der Art täglich vorgeschriebener Ablaufelemente in Ihrer täglichen Routine gekommen. Durch die über eine bedeutende Menge an Meldekanälen übermittelte Sachlage kann unsererseits leider nicht weiter von der Möglichkeit der seltenen Fehleinschätzungen der obersten Steuerungsebene ausgegangen werden, die ohnehin zu Ihrer eigenen Sicherheit dem permanentem Controlling der Regierungsqualität unterliegen. Quantität und Art der Vorkommnisse limitieren im Übrigen die Möglichkeit einer rein statistischen Zufallsabweichung erheblich und lassen mildernde Umstände unmöglich werden.

Nach erneuter Prüfung und kollektiver Durchsicht unserer Aufzeichnungen zu den oben bezeichneten Anomalien soll Ihnen dieses an Ihre individuelle Situation angepasste Schreiben Gelegenheit geben, sich zur detailorientierten Vorbereitung auf die unten genannten Besprechungen über die aktuelle Erlasslage zu informieren. Dies wird es Ihnen erleichtern, die erhobenen Vorwürfe einzuordnen und das obligatorische Schuldbekenntnis zu den aufgeführten Punkten zu festigen. Dazu wünschen wir Ihnen aufrichtig gutes Gelingen! Im Buch der Erlasslage können Sie die einzelnen Themen einsehen, und damit Ihre Verstöße gegen die klugen Vorgaben der Führung einsehen. Bitte denken Sie darüber nach, dass die Mühen der Erstellung dieser übersichtlichen Informationsschrift ein großes Entgegenkommen unsererseits darstellt. Eine eingehende Vorbereitung wird schließlich dringend empfohlen. Das Nichterscheinen kommt dem grausamsten Urteil gleich.

Gez. Bausch, Präsidium
Konforme Kopie z.K. an das Büro der geliebten Führung“

Vallejo steckte das rollenförmig gekrümmte Papier in seine Manteltasche, legte die benutzte Kapsel in die Behälterablage und lenkte seine Schritte langsam zum Treppenhaus. Zwar konnte er hinter den vielen dünnen Wohnungstüren keinerlei Geräusche vernehmen, doch war es ihm, als stünde ein Beobachter hinter jedem Türspion. Alle hatten schließlich bei ihrer Heimkehr bemerkt, dass eine Rohrpost in Vallejos Briefeingang lag. Als er die Wohnungstür öffnete war es ihm, als nähme er von weit hinten das Lachen zweiter Stimmen wahr. Er war sich nun sicher, dass sie ihn bereits vor der Anhörung mit der Doppelzuweisung belegt hatten. Doppelzuweisung bedeutete die zweifache Pflicht. Sicherlich hatte die Alte einer guten Freundin aus der Führungsebene den Zutritt zur Sättigung ermöglicht. Vallejo sah sie schon beide um ich kreisen, spürte die grell lackierten Krallen, die sich in seine Haut bohrten und glaubte, die rüden Befehle aus schlaffen und trockenen Kehlen hören zu können, mit denen ihn die zwei Vogelscheuchen in ein paar Sekunden steuern würden. Nicht einmal die Refraktärphase würden sie ihm gönnen, und er musste sich immer neue Techniken ausdenken müssen, diese zu überbrücken. Sie würden seinen Kopf wie in einem Schraubstock spannen, und ihn bald in die eine, bald in die andere Richtung zwingen.

Vallejo drehte den Schlüssel nach links. Er tat dies so behutsam, dass er selbst die so übergroß übersetzte Bewegung der Schlossmechanik kurz vor dem lauten Einschnappen in Zeitlupe ablief. Er ließ den Schlüssel weiter kreisen und verschloss die Wohnung in zweifacher Sicherung. Für jede eine,  dachte er und musste dabei kichern. Mit leichten vertikalen Bewegungen löste er den Schlüssel in einem vorsichtigen Ziehen lautlos aus der Mechanik. Als er auch sich selbst umgedreht und den Weg treppab gerade eingeschlagen hatte, öffneten sich alle Wohnungstüren gleichzeitig.

Ungläubige Augenpaare schienen aus der Dunkelheit zu raunen. Unten würden sie schon auf ihn warten. Doch Vallejo war erleichtert. Vallejo hatte die Dinge beschleunigt. Trug er nicht bloß die Gewissheit in sich, die wir alle in uns hin und wieder spüren?


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Lais
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Beitrag22.02.2021 10:57

von Gast
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  Ein paar Gedanken
Eine wunderschön totalitäre Gesellschaft wie Scientologen sie sich wünschen, oder Zeugen Jehovas, Jesuiten, Salafisten(oops, das wäre vielleicht "islamophob", da muss man aufpassen).

Totalitär heißt : Letzten Endes alle Bereiche des Lebens umfassend, öffentliches, privates, von der Wiege bis zur Bahre. Und: "Der neue Mensch" soll geschaffen werden.

"Der neue Mensch" setzt aber irgendein Dogmen- oder Glaubensgebilde voraus, die im letzten Satz so nett offenbarte
Zitat:
Gewissheit
, eine unumstößliche, unmittelbar einleuchtende Wahrheit. (Dazu passen immer Sprichwortwahrheiten und naiver Realismus (z.B. die Erde als Scheibe sehen)). Oder noch übler: Die Wissenschaftsdiktatur ...

Darüber hinaus erfordert die Ausübung von Macht über Menschen bestimmte Mittel: Zum Beispiel Charisma. Oder eben eine Verwaltung mit strammen Erlassen, die diese Regeln auch notfalls gegen Widerstand durchsetzen können.
Oder zumindest müssen die Regierten daran glauben, dass die Regierung die Macht hat, alles auch mit Gewalt durchsetzen zu können. Öffentliche Hinrichtungen (Iran, China (oops) sind bewährte Terrorinstrumente und bisweilen ein guter, zureichender Grund, etwas auf Anordnung hin zu tun.

Und als drittes halte ich es für erforderlich , dass es eine Hierarchie , eine Abstufung, Kasten oder so etwas gibt. Sagen wir mal eine Wächterkaste , eine Priesterkaste (allwissend, also letztlich Lehrer, oops) .... oder Gilden, Stände, die niemand hinterfragt.

Und es könnte vielleicht auch eine Art Weihe und Rituale geben, Ordination, Inauguration, Insignien. Für die Aufnahme in die Priestergilde wird rituell meinetwegen die Vorhaut geopfert (oops), Frauen sind demnach schon mal ausgeschlossen. Die werden ja auch "zugewiesen". Krönung wäre dann die
Zitat:
Zuweisung
von   x Jungfrauen , wenn man zur Gilde der Märtyrer (oops).

Bei "oops" besteht die Gefahr, dass bestimmte Dunning-Kruger-Experten Dir zunächst mal das Wort im Mund umdrehen und dann den Verstoß gegen den Anstand oder sonstwas, den sie selber gebastelt haben, in einem wortreichen Tribunal ....  (geschenkt)

Kurz:
Ich bin von der Idee und der düsteren Atmosphäre schon einmal sehr angetan.


Äh, den in Amtsdeutsch gestanzten Brief würde ich abkürzen auf eine brutale Drohung, etwa "... sehen wir uns unter Anwendung der heiligen Regel unumstößlich gezwungen Dir, lieber Freund/Bruder/Volksgenosse/Glaubensgenosse, eine Buße/Verwarnung ... Bis auf weiteres hast Du, lieber ..., folgendes zu tun"

Noch ein Gedanke:
Im Rechtsstaat ist alles erlaubt, was nicht ausdrücklich verboten ist - zum Vorteil für den Einzelnen.
Im totalitären Milieu ist umgekehrt alles verboten, was nicht ausdrücklich erlaubt ist - zum Wohle aller.
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Christof Lais Sperl
Geschlecht:männlichKlammeraffe

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Beiträge: 942
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Der silberne Roboter


Beitrag22.02.2021 13:09
Kazuyoshi
von Christof Lais Sperl
pdf-Datei Antworten mit Zitat

Vielen Dank für deine guten Ideen und Einordnungen. Teile ich komplett!
VLG, C


_________________
Lais
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Gast







Beitrag20.03.2022 13:41

von Gast
Antworten mit Zitat

Wollte doch wenigstens mal vorbeischauen ... und stelle zu meinem großen Vergnügen fest: Bin gekommen, um zu bleiben, hier kann ich was lernen, hier gefällt mir bereits Dein erster Text, den ich heute leider nur überfliegen konnte ...

Zit.: ..."Unvermittelt partnerlos gewordenen Anwohnern (Tod, Krankheit) ist umgehend ein/e neu/r Partner/in zuzuweisen ..."

Wie empathisch gedacht von BigBro! Cool
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