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Das Kloster


 
 
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Weltenbruch
Geschlecht:männlichSchneckenpost
W


Beiträge: 8



W
Beitrag08.11.2020 12:55
Das Kloster
von Weltenbruch
eBook pdf-Datei Antworten mit Zitat

Leander drückte die Tür zu dem verwitterten Bahnhofsgebäude von Niederbach auf. Als er dort im Halbdunkel stand, sah er, dass es draußen zu regnen begonnen hatte. Er drehte sich um, verwirrt, aber auch hinter der Tür, durch die er reingekommen war, regnete es. Als hätte das Betreten, das Durchschreiten der Tür, den Regen verursacht.
Der Bahnhof war verlassen – nur noch leere Räume hinter Glas zeugten von früheren Verkaufsstellen. Seine Gedanken formten flüchtige Ideen, wie es einst ausgesehen haben könnte. Vielleicht hatte dort einmal ein Imbiss und dort drüben ein Tabakladen gestanden.
Er blickte noch einmal nach draußen. Der Regen war stärker geworden, prasselte gegen das Glas der beiden Türen. Den plötzlichen Wetterumschwung konnte er sich nicht erklären. Kein guter Start für die Unternehmung. Da dachte er wieder an sein Zuhause und an seine zwei Hunde, Happy und Flecki. Hoffentlich kümmerte man sich gut in der Pension um die beiden.
Er schaute auf seine Uhr. 19:57 Uhr. Gegen 20 Uhr sollte er von einem Fahrer abgeholt werden, so wurde es ihm versichert.
Gelangweilt stellte er seinen Rollkoffer auf und fummelte an seiner Hemdtasche herum. Ungelenk zog er eine Zigarette heraus und zündete sie an.
»Kann ich auch eine haben?«, ertönte eine Stimme aus dem Dunkeln und Leander erschreckte sich so sehr, dass er die Zigarette fallen ließ. Für einen Moment blickte er sich verwirrt um, bis er einen Mann sah, der sich aus der Dunkelheit löste. Ein Obdachloser, ungepflegt, mit fleckigen Klamotten.
»Wollt Sie nich’ erschrecken«, sagte dieser und hob beschwichtigend die Hände.
Leander bückte sich, hob die glimmende Kippe auf und rauchte weiter. Wortlos zog er eine weitere Zigarette aus seiner Hemdtasche und drückte sie dem Obdachlosen in die Hand.
»Danke. Kann ich noch Feuer haben?«
»Rauchen kannst du aber selbst«, sagte Leander, wie aus Reflex. Ein Spruch aus seiner Jugend. Der Obdachlose lachte, während Leander ihm das Feuerzeug gab.
»Merlin heiß ich«, sagte er und gab Leander das Feuerzeug zurück. »Was machen Sie hier?«
»Arbeit«, sagte Leander knapp.
Er war Schätzer und sollte hier in Niederbach für ein Unternehmen den Wert eines Kloster schätzen. Über das Kloster wusste er nicht viel, lediglich dass es seit mehreren Jahren verlassen war und gewisse Verträge ausliefen, sodass es bald in den Privatbesitz und damit auch Privatverkauf übergehen würde.
»Arbeit?«, fragte Merlin. »Was gibt es hier für Arbeit für einen von außerhalb? Sind Sie so ein Unternehmensberater?«
»Schätzer.«
Der Obdachlose nickte. »Scheinen ein guter Mann zu sein. Die Leute hier sind auch nett, zumindest soweit ich das bisher mitbekommen hab.« Eine Pause entstand und er fügte – als wollte er seinen Satz konkretisieren – hinzu: »Bin selber noch nich’ lang hier.«
Leander nickte.
Gerade als eine peinliche Stille entstand, öffnete sich die Tür und ein kleiner Mann kam herein, dürr, mit nervösen Schweineaugen. Er wirkte grotesk.
»Leander Tremens?«, fragte er, noch halb in der Tür. Leander warf die Zigarette weg und ging auf ihn zu, folgte ihm nach draußen, nachdem er sich mit einem Wort von Merlin verabschiedet hatte. »Pisst wie die Hölle«, sagte der Fahrer, während sie auf einen hellen Kleinwagen zuschritten, der nicht wirklich zu dem Mann passte. Zusammen verstauten sie den Koffer auf der Rückbank und setzten sich dann ins Auto.
»Scheiß Wetter«, sagte der Fahrer noch einmal und hielt Leander dann seine Hand hin. »Kevin. Kevin Dano. Aber Sie können mich Herr Dano nennen.« Nachdem er das gesagt hatte, lachte er schrill, als hätte er den Witz des Jahrtausends gemacht.
Leander reichte ihm stirnrunzelnd die Hand.
»Ihren Namen kenn’ ich ja«, sagte er, startete den Motor und fuhr los. »Große Sache – Kloster und so. Ich mein, sonst wär ich ja nicht ihr Fahrer.« Er lachte erneut. »Entschuldigen Sie die kleine Verspätung, war noch nie hier, komm von ein paar Dörfern weiter weg her, beim Kussmaultal, sicher kaum ’ne Stunde von hier, aber hier gibt’s ja kaum was Interessantes, also warum herfahren?«
Der Mann redete wie ein Wasserfall und schien gar keine wirklichen Antworten zu wollen, ab und zu schaute er herüber – nur eine Bestätigung, dass er noch zu jemand anderem und nicht nur zu sich selbst sprach.
»Das Kloster kenn’ ich aber – kann man selbst bei uns noch sehen, aber nur manchmal, wenn es ein sonniger Tag ist«, sagte er und zeigte in die Richtung. Leander beugte sich etwas vor, um seinem Finger zu folgen.
Er konnte das Klostergebäude selbst im Regen noch recht gut ausmachen – ein großes Gebäude, anscheinend mit einer Art Anbau.
Nach einiger Zeit kamen sie auf einem Parkplatz an, der für acht Autos Platz bot, und stiegen aus. Der Regen tobte noch immer und es schien sich zu einem heftigen Sturm zu entwickeln.
»Bis morgen dann«, sagte Herr Dano.
»Bis morgen«, sagte Leander, wollte sich abwenden, doch dann sah er, dass der Fahrer immer noch dastand und ihn mit seltsamen Blick ansah. »Ist etwas?«
»In der Regel geben die Leute Trinkgeld.«
Kopfschüttelnd zog er einen Fünfer aus seiner Tasche und drückte ihn dem Fahrer in die Hand.
»Schlafen Sie gut«, sagte Herr Dano, stieg wieder ins Auto und fuhr weg.
Leander zog seinen Koffer zum Hotel. Für einen Moment glaubte er etwas im Augenwinkel zu bemerken. Er sah noch einmal kurz zum Kloster und einen Augenblick lang schien es zu blitzen oder zu glänzen. Minimal, kaum wahrnehmbar.
Er schaute kurz zur Gaststätte, dann wieder zu dem alten Gebäude, aber das schwache Blitzen war verschwunden. Kopfschüttelnd ging er schnellen Schrittes auf den Hoteleingang zu. Die kurze Verwirrung hatte vor allem eines verursacht – seine Klamotten waren komplett durchnässt.
Er öffnete die Tür zu dem Gasthaus und ihm schlug eine dichte Wärme entgegen. Es roch nach Essen und Bier. Aus den hinteren Bereichen konnte er Gespräche hören. Vor ihm, an der Rezeption, war allerdings niemand zu entdecken.
Die Inneneinrichtung war rustikal gehalten. Landschaftsbilder an den Wänden, einfache Teppiche auf dem Boden – ein rechtskonservativ-heimeliges Ambiente.
Er drückte die Tischglocke und wartete einen Moment lang ab. Nichts. Immer noch gedämpfte Stimmen von weiter weg, aber nichts, was sich auf ihn zu bewegte.
»Hallo?«, fragte er halblaut.
Er zog seine Augenbrauen zusammen, nicht verärgert, nur ein wenig genervt. Den Koffer stellte er wieder auf und ging an der Rezeption vorbei, zu dem Bereich in dem die Gäste wohl aßen – ein länglicher Raum, links und rechts Tische und Stühle, gleichförmig, dazwischen manchmal eine Kommode mit Plastikblumen.
Eine Tür führte von dem Korridor in einen weiteren Raum aus dem Geräusche kamen. Er sah jemanden nahe des Türrahmens stehen, dieser stützte sich mit beiden Händen auf einen Stuhl und schien fröhlich mit mehreren Leuten im Nebenraum zu sprechen, die Leander aber nicht sehen konnte.
Er sah nicht aus wie ein Kellner, aber auch nicht wie ein Gast. Als hätte er den Blick von Leander bemerkt, drehte sich der Besitzer kurz zur Seite, schien sich zu verabschieden und kam dann zu ihm.
»Ich hoffe, ich habe Sie nicht zu lange warten lassen – war meine Frau bei Ihnen?«
»Nein, ich …«
»Maria!«, rief der Mann. »Oh, hab mich noch gar nicht vorgestellt. Idid. Pascal Idid. Sie sind der Schätzer, oder?«
Leander nickte.
»Wie lang bleiben Sie hier eigentlich? Die Firma sagte bis Samstag.«
»Vielleicht etwas länger – nicht viel länger, aber ein bisschen möglicherweise.«
»Oh«, sagte der Besitzer tonlos und schien etwas hinzufügen zu wollen, doch als Schritte näherkamen, brach er seinen Gedanken ab. »Maria, da bist du ja. Darf ich vorstellen – meine Frau; Maria.«
Leander drehte sich um und sah in das Gesicht einer Frau Anfang der Dreißiger. Seine Frau? Der Besitzer war um die sechzig Jahre alt. Es schien eines dieser Paare zu sein.
»Unser Gast – Herr Tremens, der Schätzer«, sagte der Besitzer und sie schaute ihn fast unterwürfig an.
»Ich erledige das sofort«, sagte sie. Herr Idid nickte Leander noch zu und ging dann wieder. »Kommen Sie mit, Herr Tremens – man hat uns über Ihre Ankunft informiert«, sagte die Frau des Besitzers.
»Mein Koffer steht noch an der Rezeption, ich werde ihn schnell …«
»Nein, das mach ich, warten Sie hier.«
Keine Minute später kam sie zurück, den Koffer im Schlepptau und zeigte auf einen Nebengang, den ich vorher nicht gesehen hatte.
»Folgen Sie mir.«
Leander lief ihr hinterher. Der kurze Gang führte zu den Toiletten, dann weiter zu einer Milchglastür. Hinter der Tür war eine Treppe, die nach oben führte, in einen weiteren Gang. Bis zum Ende des Ganges gingen sie, dann schloss Maria eine Tür auf.
»Fühlen Sie sich wie zu Hause«, sagte sie und ließ Leander vorbei.
Ein großes Zimmer mit Aussicht auf andere Häuser und ein paar Gärten und ein gemütliches Bad – sogar mit Badewanne. In einem bestimmten Winkel hatte er auch Blick auf das Klostergebäude.
»Falls Sie irgendetwas brauchen – geben Sie nur Bescheid.«
Leander nickte und die Frau gab ihm den Zimmerschlüssel.
»Vielen Dank«, sagte er.
»Möchten Sie noch etwas essen?«
»Danke, aber ich werde mich gleich hinlegen.«
»Dann schlafen Sie gut«, sagte die Frau lächelnd
»Werde ich. Sie auch«, gab er zurück und sie verließ den Raum.
Während im Fernsehen ein Programm für geistig Retardierte lief, wurde er immer und immer müder, bis er schließlich einschlief.

»Der Hotbutton brennt! Rufen Sie jetzt an. Das könnte Ihre Chance auf 200 Euro sein!«, schrie ein übereifriger Moderator und weckte Leander unsanft. Es war nicht einmal 7 Uhr.
Wer schaut sich so etwas um diese Uhrzeit an, dachte er. Wer schaut sich überhaupt so etwas an, fügte er noch in Gedanken hinzu, schaltete den Fernseher aus und zog sich an. Er war kein Teil dieser Zielgruppe, das wusste er.
Heute würde er zum Kloster fahren und die ersten Schätzarbeiten durchführen. Ein erster Eindruck quasi. Unten gab es ein reichhaltiges Frühstücksbuffet. Während er zwei Brötchen mit Käse, einen frischen Orangensaft und ein Croissant bearbeitete, beobachtete er aus dem Augenwinkel die wenigen anderen Gäste. Eine Kleinfamilie. Wenn er sich nicht irrte, waren es die Leute, mit denen der Besitzer gesprochen hatte. Dann noch ein einzelner älterer Mann und zwei junge Frauen ein paar Tische weiter – vermutlich Studentinnen, schätzte er. Aus dem Radio kam ruhiges Gedudel.
Als er sich gerade aufsetzen wollte, um noch einmal nach oben zu gehen, bevor er vom Fahrer abgeholt werden würde, kam der Besitzer auf ihn zu.
»Guten Morgen.«
»Ja?«
»Ich soll Ihnen etwas von Herrn Dano etwas ausrichten.«
»Was gibt es?«
»Im gestrigen Sturm ist die Straße zum Kloster blockiert worden – man schätzt, dass es erst morgen wieder frei sein wird.«
Alles verzögerte sich.
»Danke für die … Information«, sagte Leander und ging nach oben. Während er nachdachte, ließ er sich von dem redundanten Vormittagsprogramm berieseln.
Nur zweimal schaute er wirklich zum Fernseher – jeweils eine kurze Bildstörung, das Bild war schnell nach hinten gezuckt und hatte sich orange verfärbt. Es irritierte ihn etwas, aber er tat es als unwichtig ab. Es war schließlich auch nicht das neueste Modell.
Er musste trotz des Sturms erste Informationen sammeln. Er konnte ja nicht einfach auf Kosten der Firma seine Zeit vertrödeln. Im Rathaus und in der Bibliothek würde er beginnen.
Er packte Stift und Schreibblock, ging nach unten, sprach noch einmal mit der Frau des Besitzers und ließ sich die Abfahrtzeiten des Busses beschreiben, sowie die Haltestellen an denen er aussteigen müsste.
»Das Rathaus macht allerdings erst in zwei Stunden auf«, fügte sie noch hinzu. Also zuerst zur Bibliothek.
Gemütlich ging er zu der Haltestelle, bei der der Bus kurz darauf hielt.
»Guten Tag, ich bräuchte eine Tageskarte in die Innenstadt.«
»Tag auch«, sagte der Busfahrer drückte ein paar Tasten und das Gerät spuckte einen Fetzen Pappe aus. »Macht 2,10 Euro.«
Die Fahrt dauerte nicht lange und er stieg bei der winzigen Stadtbibliothek aus.
Als er hineinging, fiel ihm direkt eine dickliche Frau mit Hornbrille auf, die gerade ein paar Bücher sortierte.
»Entschuldigen Sie«, sagte Leander und die Frau drehte sich um.
»Hallöchen. Was kann ich für Sie tun?«
»Frau …«, Leander riskierte einen Blick auf das schiefe Namensschild, »Frau Verilo – ich bräuchte Bücher über das Klostergebäude.«
Die Bibliothekarin runzelte die Stirn.
»Sie kommen nicht von hier, oder?«, fragte sie in einem merkwürdigen Tonfall.
Leander schüttelte den Kopf.
»Nun, Ich bin Schätzer; ich soll das Kloster schätzen. Also … haben Sie irgendetwas über das Kloster?«
»Lassen Sie mich mal überlegen«, sagte die Frau. »Hinten müsste etwas sein – schauen Sie mal. Gehen Sie ganz durch, da irgendwo.«
Leander hatte inständig gehofft, direkt zu den Büchern geführt zu werden, da er die Gabe hatte alles Wichtige zu übersehen. Einen Moment stand er noch da, hoffte, dass Frau Verilo seinen Wink richtig deutete, aber diese sortierte einfach weiter.
Er ging nach hinten und durchsuchte das Abteil. Nach einigen Minuten hatte er zwei Bücher über das Kloster gefunden.
Mit einem Schreibblock bewaffnet ging er die ersten paar Seiten durch. Im ersten Buch schien es allgemein um die Geschichte der Umgebung zu gehen, allerdings war der Teil über das Kloster ausgesprochen umfangreich.
Ein paar Informationen bezüglich gewisser Materialien, die für das Fundament verwendet worden waren, konnte er notieren. Als er die ersten Jahrzehnte durch hatte, bemerkte er, dass einige Seiten herausgerissen worden waren. Verwirrt ging er mit dem Buch zur Bibliothekarin.
»Gibt immer wieder Vandalismus; danke, dass Sie es gemeldet haben«, sagte sie, schien aber nicht sonderlich schockiert oder überhaupt verwundert.
Das andere Buch schien sich vor allem mit der Klostergeschichte, insbesondere den Äbten und der sozialen Struktur im Kloster zu beschäftigen, doch als er zu den letzten zwanzig Jahren blätterte, waren mehrere Stellen geschwärzt. Alle bezüglich des letzten Abtes. Abt Benedikt.
Leander hielt es nicht für nötig, dies ebenfalls zu melden, es schien ja niemanden zu interessieren. Einige Randinformationen, die für die Schätzung relevant waren, konnte er trotzdem herausfinden. Er war tief in die Arbeit versunken und bemerkte erst gar nicht, dass er angesprochen wurde.
»Herr Tremens?«
Herr Dano war es. Verwundert schaute Leander zu ihm auf.
»Die Straßen sind früher frei als gedacht«, sagte er lächelnd, »wir können gleich los, wenn Sie wollen.«
»Woher wussten Sie, dass ich hier bin?«
»Die Leute im Hotel haben mir das gesagt.«
Leander notierte noch ein Detail, brachte die Bücher zurück und folgte dann dem Fahrer.
Der Weg zum Kloster war eine von Schlaglöchern übersäte Straße. Immer wieder klapperte es und die Stoßdämpfer schienen nicht wirklich zu funktionieren.
Ganz bis zu dem Kloster fuhren sie nicht, sondern blieben bei einem behelfsmäßigen Parkplatz stehen, von dem ein Weg weiter nach oben führte.
»Ich bleib dann hier«, sagte der Fahrer und Leander war kurz irritiert; aber es machte Sinn – er war nur der Fahrer. »Ich warte hier auf Sie, kommen Sie einfach, sobald Sie fertig sind«, sagte er und zog ein Buch aus dem Handschuhfach. 100 Rezepte der portugiesischen Küche.
»Ist spannender als man denkt«, sagte er lächelnd, als er Leanders Blick bemerkte.
Müde stieg dieser aus dem Wagen. Es waren von diesem Punkt aus keine fünf Minuten bis zum Kloster.
Die Sonne schien durch das lichte Blätterdach und wärmte seine Haut. Aus dem Kopfsteinpflaster brach stellenweise Unkraut. Die Natur holte sich den Ort zurück.
Das Gelände des Klosters war größer als er es angenommen hatte; die Unterlagen waren diesbezüglich falsch, da war er sich sicher. Er musste wieder an das kurze Leuchten denken, schob den Gedanken aber beiseite.
Es war seltsam still hier. Nicht die übliche Ruhe im Wald, sondern beinahe totenstill. Nur der Wind, der leise die Zweige bearbeitete.
Der Haupteingang war mit einer großen Kette verschlossen, aber Leander hatte von seinem Auftraggeber einen Schlüssel bekommen und öffnete das Schloss. Er stieß die schweren Ebenholztüren auf und trat in eine Art Vorhalle.
Oberflächlich gesehen war alles gut in Schuss – das würde den Preis um einiges in die Höhe treiben. Lächelnd betrachtete er die kunstvollen Verzierungen an den Wänden und trat tiefer hinein.
Er betrachtete gerade eine gemalte Bibelszene, als er plötzlich ein leises Geräusch hörte, das er nicht genau einordnen konnte. Fest stand allerdings: Er war nicht alleine hier. Ratten? Eine Angst beschlich ihn und für einen Moment wollte er einfach direkt wieder verschwinden, doch für so etwas war er zu alt.
Vorsichtig ging er in die Richtung, aus der er das Geräusch vermutet hatte, und sah dort Merlin auf einer steinernen Bank sitzen, eine Flasche Schnaps neben sich.
»Dass man sich so schnell wieder sieht«, sagte er lächelnd. »Was machen Sie hier?«
»Schätzen.«
»Ach, stimmt ja.«
Kurz entstand eine Stille.
»Wie kommen Sie hier rein?«
»Verrat ich nur, wenn Sie mich nicht verraten.«
Leander nickte.
»Eines der Fenster ist nicht richtig zu. Ich schlaf hier manchmal.« Er klopfte auf das Holz einer Tür, die direkt neben der steinernen Bank in die Wand eingelassen worden war. »Kleines Bett – keine Ahnung, wer da mal gepennt hat. In letzter Zeit bin ich nicht mehr so oft hier – man hört hier seltsame … Geräusche.«
»Geräusche?«
»Manchmal sind hier nachts Leute – also nicht hier, sondern drüben im neuen Trakt.«
»Was für Leute?«
»Was weiß ich. Komisch eben; kann dann nicht pennen. Gestern war es nur so schweinekalt im Bahnhof – manchmal stellen die da die Heizung nicht an. ›Interessiert ja keinen‹ – doch mich, verdammt!«
»Was weißt du über das Kloster?«
»Na ja, ich kann dir zeigen, wo alles ist.«
Eine inoffizielle Führung durch das Kloster – warum nicht, dachte sich Leander.
»Bin erst seit zwei Monaten hier ab und zu, aber man findet schon so einiges.«
Leander nickte und folgte Merlin durch die verschiedenen Gänge. Die Schlafquartiere der Mönche, die Küche, zwei verschiedene Orte zum Beten, einige weitere Räume, die mittlerweile vollkommen leer waren, weshalb nicht ganz klar war, wofür sie einst gedient hatten.
»Dann gibt’s noch das Zimmer vom Abt – ist aber zu – genau wie der neue Trakt«, sagte Merlin, nachdem er ihm eine Statuette gezeigt hatte.
»Wo ist das?«, fragte Leander.
»Da drüben gleich«, sagte Merlin und deutete an Leander vorbei. Dieser ging dorthin und versuchte die Tür zu öffnen. Abgeschlossen.
»Ist zu – hab ich doch gesagt. Vielleicht haben Sie ja den Schlüssel. Weiß ja nicht. Dort könnte man auch reinklettern – das Dach sieht irgendwie nicht vollständig aus. Gibt unten noch einen Keller und ’ne Bücherei vom Kloster.« Er führte ihn nach unten, zeigte ihm den Keller und dann die Bibliothek, die zwar nicht mehr allzu viele Bücher enthielt, aber immer noch ein paar. Grob geschätzt waren es wohl zwanzig Stück, die einsam auf verschiedenen Regalen ihr Dasein fristeten. Nach kurzer Sichtung stellte sich heraus, dass sechs Stück sich direkt oder indirekt auf das Kloster bezogen.
»Danke Merlin«, sagte Leander und zog einen Fünfer aus seinem Geldbeutel, den er seinem Führer in die Hand drückte. Dieser war etwas verwirrt, aber bedankte sich direkt.
»Ich muss jetzt weiter«, sagte Leander. »Mach’s gut.«
Mit den Büchern unterm Arm verließ er das Kloster; schloss wieder ab. Zurück beim Wagen bemerkte er, dass der Fahrer in einer unbequemen Haltung eingeschlafen war. Mit einem Klopfen weckte er den Fahrer auf, der ihn direkt hineinließ.
»Haben da ja reiche Beute gemacht«, sagte dieser und lachte wieder unangenehm schrill.
»Fahren Sie mich bitte zurück ins Hotel.«
Als sie dort ankamen und ausgestiegen waren, stand der Fahrer wieder in einer unangenehmen Pose da, wie das letzte Mal, als er Trinkgeld wollte.
»Ich geb Ihnen die nächsten zwei Tage frei. Muss hier einiges sichten und ordnen.« Das schien ihn noch mehr als den Fünfer beim letzten Mal zu freuen und so stieg er nach einem fröhlichen Abschied zurück in den Wagen und fuhr davon.
Leander brachte die Bücher nach oben in das Zimmer und aß wenig später noch ein leichtes Abendessen. Er bemerkte, dass er mittags nichts gegessen hatte. Das Abendbrot und die warme Suppe taten ihm gut. Danach ging er nach oben. Dieses Mal schaltete er den Fernseher kurz vorm Schlafengehen aus. Wieder hatte es für einen Moment diese seltsame Bildstörung gegeben.

Als er aus halben Träumen erwachte, war er froh den neuen Tag begrüßen zu können. Nach dem Frühstück blieb er den ganzen Tag über in seinem Zimmer und studierte die Bücher, die ihm weitere Informationen über die Beschaffenheit, den Aufbau und die Struktur des Gebäudes gaben. Hier waren allerdings wieder einige Stellen geschwärzt, dennoch konnte er mehr über die Architektur und die verwendeten Materialien herausfinden. Zumindest im alten Teil des Klostergebäudes. Der neue Teil war immer nur kurz angerissen – hier waren auch einige Seiten herausgerissen.

Auch der nächste Tag verlief auf diese Weise, bis auf die Tatsache, dass es nun Samstag war.
»Wann planen Sie eigentlich abzureisen?«, fragte der Besitzer, als er die Abendsuppe brachte. Er hatte einen freundlichen aber durchaus bestimmten Ton in der Stimme.
Als der Besitzer die Schüssel abgestellt hatte, fiel Leander an der linken Hand des Besitzers ein Muttermal auf. Zu klein, um wirklich aufzufallen, aber zu groß, als dass man es dauerhaft übersehen könnte. Er sah schnell woanders hin, als er merkte, wie er den Besitzer für einen Augenblick angestarrt und ihm immer noch nicht geantwortet hatte.
Kurz sammelte er sich.
»Ich denke, ich werde nicht mehr lange brauchen, aber ein paar Tage sicher noch.«
Der Besitzer runzelte die Stirn, sagte aber nichts weiter.

Diesen Abend ließ er den Fernseher laufen und wurde wieder unsanft in der Nacht geweckt. Technomusik wummerte aus den Boxen und eine Männerstimme sagte: »Diese perlenbesetzte Uhr müssen Sie haben. Es ist ein einmaliges Angebot. Ein einmaliger Preis. Nur, ich wiederhole, NUR 80 Euro für dieses einmalige Schmuckstück!« Dabei wurde eine riesige Nummer eingeblendet.
Und plötzlich wieder eine Bildstörung. Ein minimales Zucken.
Kopfschüttelnd schaltete er den Fernseher aus. Nun konnte er nicht mehr einschlafen. Genervt beschloss er eine Zigarette rauchen zu gehen und seine Gedanken ein wenig kreisen zu lassen, den Tag zumindest im Ansatz ein wenig zu planen.
Als er leise die Treppe nach unten stieg, hörte er zwei Stimmen, die gedämpft sprachen. Er bekam nur einzelne Worte mit, aber es schien der Besitzer zu sein und eine weitere Stimme, die Stimme einer Frau, die er nicht identifizieren konnte.
»Muss verschwinden« – »Nicht so viel Zeit« – »Ich tu was ich kann« – »Er wird schon bald abreisen« und andere Satzfetzen drangen an Leanders Ohr, aber er konnte sie nicht direkt zuordnen. Als er jedoch »verdammter Schätzer« vernommen zu haben glaubte, wurde ihm klar, dass es um ihn ging.
So leise wie er konnte, stieg er wieder nach oben und setzte sich zurück auf sein Bett. Was war los? Gab es irgendein Problem mit ihm?
Er wartete bis zu den Morgenstunden ab und ging dann hinunter, um zu frühstücken. Für einen Moment überlegte er den Besitzer darauf anzusprechen, aber er traute sich nicht.
Am frühen Nachmittag kam der Fahrer vorbei.
»Und? Vorangekommen?«, fragte er, halb neugierig, aber eher aus Nettigkeit.
Stumm nickte Leander.
»Dann wollen wir mal zum Kloster.«
»Nein, ich müsste erst zum Rathaus«, sagte Leander. Er hatte sich erst vor wenigen Sekunden dafür entschieden, aber es wäre wohl nicht schlecht zum Rathaus zu gehen.
»Dann auf zum Rathaus.«
Das Rathaus lag etwas abseits vom Zentrum der Stadt, aber durchaus noch zugehörig. Es war ein kleines hässlich-modernes Gebäude, ohne wirklichen Charakter.
Wieder ließ Leander den Fahrer alleine, welcher in seinem Buch blätterte. Er durchschritt die Tür. Ein junger Mann saß hinter einem Schreibtisch und bearbeitete ein paar Formulare.
»Ziehen Sie bitte eine Nummer, nehmen Sie Platz und warten Sie bis Sie aufgerufen werden«, sagte er, ohne von seinen Blättern aufzublicken. Weit und breit war niemand anderes zu sehen.
»Aber hier ist doch sonst keiner.«
»Ziehen Sie eine Nummer, nehmen Sie Platz und warten Sie bis Sie aufgerufen werden«, wiederholte der junge Mann.
Das Kind mag den Geschmack von Macht, dachte Leander, zog kopfschüttelnd eine Nummer und setzte sich. Es war Nummer 2.
»Nummer 2«, rief der junge Mann, keine zwei Sekunden nachdem sich Leander gesetzt hatte.
»Guten Tag, mein Name ist Leander Tremens – ich suche Informationen über das Kloster, haben Sie Aufzeichnungen dazu hier?«
»Haben wir tatsächlich – aber ich weiß nicht, ob ich Sie herausgeben darf. Warum brauchen Sie diese?«
»Recherche, zwecks einer Schätzung.«
»Sie sind der Schätzer? Ach, so ist das«, sagte er betont beiläufig. »Einen Moment. Ich frage die Bürgermeisterin.«
Er tippte eine Nummer in sein Telefon, wartete einen Moment ab, legte dann aber direkt wieder auf.
Eine Frau kam aus einer Seitentür. »Was ist los, Freddy?«
»Der Mann möchte ein paar Unterlagen zum Kloster.«
Irgendwie kam ihm die Stimme der Frau bekannt vor.
»Sind Sie der Schätzer?«
Leander nickte.
»Warum hast du Sie ihm nicht gleich gegeben?«
»Ich dachte …«
»Ach, papperlapapp.« Sie wandte sich zu Leander. »Warten Sie einen Moment und entschuldigen Sie bitte meinen Sohn.« Die Bürgermeisterin verschwand hinter einer Tür und kam einige Minuten später mit ein paar Blättern wieder. »Ich hoffe, damit können Sie etwas anfangen.«
»Vielen Dank, aber kann ich das so mitnehmen?«
»Wo bin ich nur mit meinen Gedanken? Freddy – kopier das bitte.«
»Ja, mach ich.«
Während der junge Mann verschwand und das penetrante Druckergeräusch gedämpft durch die Wand drang, fragte die Bürgermeisterin noch beiläufig: »Wann planen Sie eigentlich abzureisen?«
Leander fiel auf, dass sie die zweite Stimme gewesen war, die er gestern gehört hatte und zögerte deswegen.
»Die nächsten Tage, dachte ich«, sagte er zurückhaltend – es verunsicherte ihn noch mehr.
»Ich hoffe, Sie kommen gut voran.«
Nur einen Moment später kam ihr Sohn mit einem Stoß Papiere zurück und drückte sie ihm in die Hand.
»Schönen Tag wünsche ich Ihnen noch«, sagte die Bürgermeisterin und Leander verließ das Gebäude. Irgendwie erleichterte es ihn, dort herausgekommen zu sein.
»Jetzt noch zum Kloster?«, fragte Herr Dano.
»Nein, ich glaube nicht – fahren Sie mich bitte zurück ins Hotel«, erwiderte er.
»Das ging ja heute fix.«
»Morgen geh ich sicher noch einmal zum Kloster.«
»Übliche Zeit?«
Leander nickte.

Wieder vergrub er sich in den neuen Texten; mehr über das Material, nun teilweise sogar ein paar Informationen zum Neubau. Die Informationen waren zwar grob, schlossen aber trotzdem die eine oder andere Lücke.
Abends aß er wieder ein Süppchen und legte sich dann ins Bett.

Am nächsten Morgen wachte er mit Bauchschmerzen auf und fühlte sich fiebrig. Beim Frühstück kam der Besitzer zu ihm und fragte: »Wie fühlen Sie sich heute, Herr Tremens?«
»Nicht gut – hab mir vielleicht was eingefangen.«
»Vielleicht sollten Sie nach Hause fahren – die Arbeit ein andermal weitermachen.«
»Das ist nicht möglich«, sagte Leander und schüttelte den Kopf. »Selbst wenn ich 40 Grad Fieber hätte, würde ich das hier beenden, meine Fristen sind meine Fristen.«
»Das können Sie sich doch nicht antun«, versuchte der Besitzer ihn zu überzeugen.
Leander hatte immer mehr das Gefühl, dass hier etwas gewaltig faul war und schob den vorhin frisch nachgeschenkten Orangensaft von sich weg. Es war nur eine dumme Ahnung, aber die ganze Sache irritierte ihn.
Er sagte dem Fahrer für den heutigen Tag ab und fragte ihn lediglich, ob er bei der Bibliothek nachsehen könnte, wegen irgendwelcher Zeitungsartikel bezüglich des Klosters.
Abends sah er wieder fern, diesmal kam es häufiger zu Bildstörungen, viel mehr als die letzten Tage. Immer wieder zuckte das Bild hin und her, weswegen er den Fernseher ausschaltete und sich ins Bett legte.

Am nächsten Tag wartete er nach dem Frühstück ungeduldig auf den Fahrer, der sich verspätete.
Während er bei geöffneten Fenster auf ein Motorengeräusch wartete, hörte er dumpf Stimmen. Er lehnte sich nach draußen, um die Leute etwas besser zu verstehen.
»Du musst nun wirklich abreisen.«
»Ich verstehe das nicht. Wieso kann ich nicht hierbleiben?«
»Bitte. Tu es für mich. In einer Woche sehen wir uns ja wieder.«
Es waren der Besitzer und seine Frau, die kurz darauf mit einer Tasche aus dem Gasthaus kam und zu einem Auto ging.
Es verwirrte ihn etwas, aber er wollte sich nicht weiter darin einmischen.
Wo blieb nur der verdammte Fahrer?
Er ging zu der nächsten Telefonzelle und tippte die Nummer des Fahrers ein, die er auf einem Zettel notiert hatte.
»Wo bleiben Sie – Herr Dano, ich brauche Sie.«
»Oh, Herr Tremens.« Er machte eine kurze Pause. »Ich dürfte eigentlich gar nicht mit Ihnen sprechen.«
»Was reden Sie da?«
»Man hat mir Geld geboten, ’ne ganze Menge, damit ich Sie nicht weiter fahre und niemanden informiere.«
»Ich werde Beschwerde einreichen.«
»Es ist mehr als genug Geld. Ich habe schon zu viel gesagt.«
»Wer? Wer hat Ihnen das Geld gegeben?«, fragte Leander mit bebender Stimme.
»Viel Glück noch. Zeitungsartikel gab’s im Übrigen nicht«, sagte Herr Dano und legte auf.
Wer sabotierte die Unternehmung? Und warum?
Wütend ging er einfach zu Fuß zum Kloster, es dauerte zwar seine Zeit, aber das war ihm egal. Schließlich erreichte er das Tor und wollte sie mit dem Schlüssel öffnen. Er wühlte in seinen Taschen, aber konnte ihn nicht finden. Nacheinander durchsuchte er die Taschen noch einmal. Er schüttelte den Kopf. Das war doch nicht möglich! Er wollte es nicht glauben, aber tatsächlich: Er hatte den Schlüssel vergessen.
Für einen Moment war er kurz davor loszuschreien, um die ganzen Widerstände der letzten Tage abzuschütteln. Diese ganze Unternehmung setzte ihm mehr und mehr zu. Er überlegte kurz und kletterte dann ungelenk durch das Fenster, von dem Merlin gesprochen hatte; es war glücklicherweise noch offen.
Er versuchte Merlin auszumachen, aber dieser schien nicht im Kloster zu sein.
Das Zimmer des Abtes war immer noch verschlossen, doch er versuchte, das Schloss irgendwie aufzumachen, bis er schließlich mit der Schulter gegen die Tür anrannte. Es passierte nichts. Beim zweiten Mal hatte er das Gefühl, dass sie leicht nachgab und beim dritten Mal splitterte das Holz. Er konnte hinein. Wenn er irgendwie weiterkommen wollte, dann nur auf diesem Wege.
Es roch modrig in dem Zimmer des Abtes. Fensterlos, winzig, aber durch die Tür kam genügend Licht hrrein, um den Inhalt des Raums oberflächlich durchzusehen.
Ein Bett, ein Regal, ein Schreibtisch. Das Regal war komplett leer und auch beim Bett fand er nichts; doch als er den Schreibtisch näher untersuchte, entdeckte ein paar Stöße Papier und ein ledergebundenes Buch – ein Tagebuch anscheinend.
Er verließ das Zimmer und setzte sich auf die Steinbank, um alles in Ruhe durchzulesen. Die Blätter beschrieben diverse Verträge und gaben genaue Auskunft über das Material und die Bauart des Klosters, was die Recherche deutlich vereinfachte. Die ersten Tagebucheinträge bezüglich des Baus unterstrichen die Informationen nochmal.
Doch dann wurde es seltsam. Verschiedene Einträge sprachen knapp von einem Widerstand innerhalb des Dorfes, dass die Leute den Anbau als falsch bezeichnetet hatten.

Am 22. Juli 1991 war notiert worden:

»In der letzten Nacht ist wieder Material abhanden gekommen – ich beharre auf der Vermutung, dass es geklaut wird. Einige der Dorfbewohner verbreiten beunruhigende Geschichten, außerdem wird des Nachts immer wieder der Boden aufgerissen. Ich weiß nicht, weshalb die Anwohner den Neubau so sehr verachten. Wie Verrückte erklären sie nur immer wieder, dass dies der falsche Ort wäre. Mittlerweile verspüre sogar ich ein wachsendes Unwohlsein – auch wenn die Schuld dafür wohl den Leuten gegeben werden kann. Bezüglich dieser ist mir ein absonderliches Muster aufgefallen. Viele von ihnen tragen ein unförmiges, quaderähnliches Muttermal an ihrer linken Hand. Ich zog bereits die Möglichkeit inzestuöser Verhältnisse in Betracht, wodurch sich auch ihre eigensinnige Art und unmögliches Verhalten erklären könnten. Trotz der zahlreichen Rückschläge hoffe ich auch weiterhin, dass weitere Hindernisse vermieden werden können.«

Als Leander von den Muttermalen las, hatte er wieder das Mal an der Hand des Besitzers vor Augen.
Leander las sich immer tiefer in die Texte und die Zunahme der Feindlichkeit gegenüber des Abtes zeichnete sich deutlich ab. Dieser war anscheinend von weither hierher versetzt worden; die Gründe wurden nicht genannt. Diese Feindlichkeit schien allerdings schon länger bestanden zu haben, da zusätzlich auch noch einige Mönche das Kloster verlassen hatten, als der Abt eingesetzt worden war. Ein paar mehr, als die Pläne des Nebenbaus genauer wurden.

Am 26. Juli 1991 hatte der Abt geschrieben:

»Bedauerlicherweise hat gestern auch Bruder Benedikt das Kloster verlassen. Unsere Hallen werden immer verlassener und schon wieder mussten neue Arbeiter angeworben werden.«

Leander wollte weiterlesen, doch ein Geräusch unterbrach seine Lektüre. Irgendwo wurde eine Tür zugeknallt. Es war mittlerweile spät geworden und als er genauer hinhörte, konnte er deutlich menschliche Stimmen draußen hören. Stimmen, die er zum Teil aus der Stadt kannte. Er schlich wieder heraus, kletterte aus dem Fenster und sah blitzende Lichter im Inneren des Nebengebäudes, hörte monotone Wortfolgen in einer Sprache, die er nicht kannte und je länger er hinhörte, desto unwohler fühlte er sich. Eine rhythmische Abfolge von prähumanen Sprachfetzen, die sich tief in seinen Kopf gruben.
Was war das? Irgendeine kranke Zeremonie?
Er wollte nachsehen, aber er wollte auch zurück zum Hotel, einfach weg, weit weg.
Weg von den monotonen Wortfolgen, weg von dem ganzen Geschehen. Er lief etwas abseits der Straße nach unten – niemand sollte ihn sehen. Am voll besetzten Parkplatz vorbei, weiter nach unten.
Dann sah er Autoscheinwerfer, anscheinend auch auf dem Weg zum Parkplatz. Er presste sich hinter einen der Bäume – tatsächlich beschlich ihn die Angst, dass er überfahren werden könnte, wenn man ihn bemerken würde – alles um ihn herum wirkte feindlich auf ihn. Einfach nur zurück zum Hotelzimmer, war sein einziger Gedanke.
Es dauerte einige Zeit bis er endlich unten ankam und sich durch die Straßen stahl. Er fühlte sich fremd, unerwünscht. Wie ein Eindringling.
Als er endlich im Hotel war, atemlos, weil er die meiste Zeit gerannt war und sich immer nur kurz versteckt hatte, ging er nach oben in sein Zimmer. Er wusch sich – wollte den ganzen Dreck von sich waschen, rein werden.
Er wollte den Fernseher ein paar Minuten lang einschalten, einfach nur um das Gefühl zu haben irgendeine minimale soziale Komponente zu haben, irgendetwas das ihm eine andere – normale – Welt zeigte. Doch auf der Mattscheibe zuckte das Bild nur hin und her. Immer wieder sah er zum Kloster und konnte kurz Lichter dort sehen, auch über dem Gebäude schien es mehr als einmal kurz zu flackern.
Er schaltete den Fernseher aus, aber fand nur wenige Stunden Schlaf.

Schon bevor die Sonne aufging, wurde er wieder wach. Das Leuchten beim Kloster hatte aufgehört, der Fernseher hatte allerdings immer noch seine Probleme, als er kurz einschaltete.
Er fuhr mit dem Lesen in dem Buch des Abtes fort.

»Heute stattete mir die Bürgermeisterin einen im höchsten Maße beängstigenden Besuch ab. Sie suchte mich auf um von einer Blutschande zu sprechen und um mir zu erklären, dass ich mein Vorhaben aufgeben müsse, da es sonst Probleme bedeuten würde. Seit diesem Besuch kann ich das Gefühl nicht mehr abschütteln, dass ich mich mitten hinein in ein Nest voller Gefahren begeben habe. Ich fühle mich zwischen den Wänden unseres kleinen Klosters bedroht. Auch die Umgebung weicht immer mehr von der Norm ab. Ständig leuchtet draußen ein seltsames Licht auf, aber es ist mir unmöglich, dieses genauer zu beschreiben.«

Ein weiterer Eintrag vom 4. August 1991 folgte:

»Es schmerzt mich, die Leere dieses Gotteshauses mitansehen zu müssen. Mittlerweile haben fast alle Mönche mich verlassen und auch von den Arbeitern sind nur wenige geblieben.«

Am 5. August 1991:

»Soeben hat mir auch noch der letzte Arbeiter verkündet, dass er kündigt. Der neue Trakt kann nicht fertiggestellt werden.«

Ein Klopfen ertönte. »Herr Tremens?«
Langsam sah Leander auf, legte das Buch zur Seite, stand auf, lief zum Eingang und öffnete die Tür halb.
Vor ihm stand der Besitzer und lächelte. »Wollen Sie nicht frühstücken?« Ein seltsames Glitzern lag in seinen Augen. Auch fiel Leander wieder das Muttermal seiner Hand auf.
»Nein. Nein, danke.«
Eine kurze Pause entstand.
»Herr Tremens, ich muss Sie bitten heute abzureisen.«
»Aber, ich bin noch nicht fertig.«
»Bitte. Sie reisen heute ab. Ist das in Ordnung?«
Leander schüttelte den Kopf. »Ich kann nicht.«
Der Besitzer griff zu seiner Brieftasche und holte einige große Scheine heraus. »Ich will Sie natürlich abfinden. Das sind 400, 450 … 500 Euro. Wegen Ihrer Unkosten.«
»Ich kann nicht, verstehen Sie?«
Mit einer Kraft, die Leander nicht vermutet hatte, packte der Besitzer ihn am Arm und zog ihn zu sich. »Gehen Sie. Gehen Sie auf der Stelle. Die anderen haben sich auch nicht so angestellt.« Leander zitterte. »Ich mu…«
»Verschwinden Sie jetzt«, zischte er und Leander wurde klar, dass er wirklich gehen musste. »Nehmen Sie Ihre scheiß Sachen und verschwinden Sie!«
Leander tat, was ihm gesagt wurde. Er konnte nur flüchtig ein paar Dinge in seinen Koffer packen und ging dann aus dem Gasthaus. Draußen standen mehrere Leute, Freddy, die Bürgermeisterin, die Bibliothekarin, der Busfahrer und auch andere seit Kurzem bekannte Gesichter konnte er entdecken.
Zwei Polizisten standen ebenfalls dort. Ihm blieb keine andere Möglichkeit.
Einer der Polizisten trat vor. »Nehmen Sie am besten den Bus.« Er zeigte in eine Richtung und Leander sah, dass dort das Fahrzeug stand, mit dem er auch zur Bibliothek gefahren war. Der Busfahrer schritt schon darauf zu und stieg ein. Leander hatte keine Wahl. Kopfschüttelnd ging er einfach mit hinein.
»Nächster Halt: Bahnhof«, verkündete der Busfahrer und sah ihn irgendwie mitleidig an. Leander bemerkte, dass auch der Fahrer das Muttermal hatte.
Stumm starrten ihnen die Leute hinterher, als sie den Ort in Richtung des Bahnhofs verließen.
Er fühlte noch immer wie die Blicke sich in seinen Rücken bohrten, selbst als sie das Bahnhofsgebäude erreicht hatten.
Man hatte ihn vertrieben.
»Der Zug kommt sicher bald«, sagte der Fahrer lächelnd und sah ihm noch hinterher.
Leander wartete bis der Bus verschwunden war. Dann war er allein.
Niemand war ihm gefolgt – zum Glück, dachte er und trat in das kalte Bahnhofsgebäude. Wieder die leeren Räume. Er ging direkt durch die Unterführung, auf sein Gleis. Nur ein einzelner Mann saß dort auf einer Bank und las ein Buch. Leander blickte kurz auf den Fahrplan und dann zur Bahnhofsuhr, die nur noch einen Zeiger hatte. Als wäre selbst die Zeit dem Ort fremd geworden.
»Entschuldigen Sie«, sagte Leander zu dem anderen Mann.
»Ja?«
»Wie viel Uhr ist es gerade?«
Er schaute kurz auf und dann auf seine Armbanduhr. »16:12 Uhr.«
Laut Fahrplan müsste der Zug um 16:22 Uhr kommen.
Der Zug kam eine Viertelstunde später. Als er eingestiegen war, bemerkte Leander verwirrt, dass der andere Mann einfach aufgestanden und gegangen war. Und ihm wurde klar: Dieser Mann war nur da gewesen, um ihn zu beobachten. Irgendwie bereitete ihm die ganze Unternehmung mittlerweile eine solche Gänsehaut, dass er froh war endlich weg zu sein.
Ihm fiel ebenfalls auf, dass er den Zimmerschlüssel noch hatte – in seiner Eile hatte er ihn nicht zurückgegeben und der Besitzer hatte es anscheinend vergessen. Irgendwie freute es ihn, dass der Besitzer dadurch ein paar Probleme haben würde.
Dieses verdammte Städtchen. Er hatte tatsächlich vor, nach Hause zu fahren. Zurück zu seinem Schrebergarten, zurück zu seinen Hunden Flecki und Happy. Dort wo die Welt noch in Ordnung war.
Doch dann bemerkte er, als er grob seine Aufzeichnungen durchsah, dass das Buch des Abtes fehlte. Es musste heruntergefallen sein – er wusste es nicht genau.
»Nächste Haltestelle Kussmaultal. Wir wünschen allen Fahrgästen, die hier aussteigen, eine gute Weiterfahrt.«
Es war der erste Bahnhof, nachdem er eingestiegen war.
Er packte seine Sachen, stieg hastig aus und rief ein Taxi zu sich.
»Ich müsste nach Niederbach.«
»Das geht nicht, nicht nach Niederbach«, sagte der Taxifahrer.
»Wieso? Warum?«, fragte Leander schon der Verzweiflung nahe.
»Niemand darf da gerade reinfahren, gibt so’n städtisches Verbot – vielleicht irgendein Dorffest oder sonst was. Keine Ahnung, kommt alle paar Jahre mal vor. Dann gibt’s auch immer etwas Feuerwerk.«
»Nur zur Stadtgrenze, bitte – ich zahle das Doppelte.«
»Vergessen Sie’s – wenn ich da rein fahr, krieg ich möglicherweise jahrelanges Fahrverbot für Niederbach; das kann ich nich’ riskieren.«
Der Taxifahrer kurbelte die Scheibe wieder nach oben und so blieb Leander nichts anderes übrig als zu laufen. Er spuckte auf den Boden und ging los.
Als er am Stadtrand ankam, sah er Merlin unter einem Baum sitzen.
»Dass man Sie auch mal wieder sieht«, sagte dieser, als Leander näher herantrat.
»Warum bist du hier – warst du nicht in der Stadt?«
»Man hat mir ’nen Hunderter in die Hand gedrückt, damit ich mich ein paar Tage verpiss – von einem Polizisten, muss man sich ma’ vorstellen. Keine Ahnung, aber Geld ist Geld.«
Leander runzelte die Stirn. Warum sollten so viele Leute die Stadt verlassen? Was war der Zweck? Was wollten sie damit erreichen?
»Ich muss weiter«, sagte Leander.
»Wohl auch die Prämie abholen?«, sagte Merlin grinsend, während Leander schon weiterging.
Als die Stadt immer näherkam, wuchs sein Unbehagen. Es war zwar einiges an Zeit vergangen, aber es war immer noch Mittag.
Er presste sich in eine Seitengasse, als der Bus vorbeifuhr. Er durfte nicht gesehen werden. Die ganze Stadt hatte sich gegen ihn gewandt, gegen alles Fremde. Auch wenn er nicht verstand, warum die Frau des Besitzers hatte gehen müssen.
Zögerlich betrachtete er das Gasthaus einige Zeit lang und stahl sich dann hinein. Weiter hinten hörte man leise Gespräche, aber er konnte ungesehen nach oben. Er wollte nur dieses Buch, die letzten Einträge. Gewissheit haben.
Die Tür war noch geöffnet und er trat ein. Das Zimmer war nicht weiter durchsucht worden – es sah aus, wie er es verlassen hatte. Am Boden lag das Tagebuch. Als er gerade danach griff, klappte die Tür seines Zimmers zu und er hörte ein Klicken.
»Sie sind krank! Wir haben wirklich alles versucht, verdammt!«, hörte er den Besitzer durch die Tür sagen. »Hoffen wir einfach mal, dass es genügt, wenn sie hierbleiben – es ist schon viel zu spät.«
Leander hörte wie der Besitzer sich von der Tür entfernte.
Kurz darauf versuchte er die Tür mit dem Schlüssel wieder zu öffnen. Er hörte auch das Klicken, allerdings war die Tür von außen blockiert. Er drückte fest mit der Schulter gegen die Tür und warf sich einmal dagegen, dann nochmal und nochmal, doch bis auf eine schmerzende Schulter brachten ihm seine Bemühungen nichts.
Er war gefangen. Man hatte ihn eingesperrt. Er setzte sich aufs Bett, vollkommen desillusioniert. Er schaltete wieder den Fernseher ein. Irgendjemanden hören, wenigstens irgendetwas, aber es war nur noch eine einzige Bildstörung, nur noch Fetzen des Gesprochenen waren zu verstehen.
Das Einzige, was ihm blieb, war das Buch des Abtes, welches er weiter durchblätterte.

Am 9. August gab es einen Eintrag:

»Ich verbrachte die letzten Tage damit, mehr über die Situation dieses Dorfes in Erfahrung zu bringen. Mir wurde mehrmals von einer Art Kult berichtet, dem die meisten Bewohner wohl verfallen sind. Dies scheint der kränkliche Quell meiner bisherigen Probleme zu sein. Wiederholt riet man mir auch eindringlich, dass ich das Kloster ebenso verlassen solle, wie es die Mönche taten, wieder wurde von der Blutschande gesprochen, welche schon die Bürgermeisterin erwähnte. Außerdem wurde eine extraterrestrische Ankunft erwähnt. Dieses Dorf ist voller kranker, abstoßender Ideen.«

Der nächste Eintrag war auf den 10. August datiert:

»Angeblich soll es einen Stein geben, welcher auf eine mir noch nicht völlig klare Weise Teil dieser ganzen Angelegenheit ist. Diese Leuten wollen mich immer weiter verdrängen, ich bin mir sicher, dass sie allesamt dem Wahnsinn verfallen sind. Trotzdem habe ich beschlossen, diesen Ort nicht zu verlassen. Ich kann nicht zulassen, dass der neue Trakt dieses heiligen Gebäudes durch die Praktiken dieses Kultes verunreinigt wird.«

Entsetzt las Leander die Zeilen. Der Abt schien die letzten Einträge in kurzer Zeit verfasst zu haben.

»Ich habe mich nun in meinem Zimmer eingesperrt. Ich werde nicht herausgekommen, bis sie ihre kranke Messe abhalten.«

»Teuflische Rituale, verwirrte Seelen, die vom Weg abgekommen sind. Sie werden sehen, dass ein Mann Gottes ihre Messe verhindern kann!«

Weitere Einträge gab es nicht.
Leander wurde klar, dass er sich nicht hätte so behandeln lassen dürfen. Systematisch hatten ihn diese Kultisten vertreiben wollen. Sie hatten ihn brechen wollen. Das Leuchten legte sich auf das Kloster und Leander ballte die Fäuste. Mittlerweile flackerte es ab und an. Es sah aus, als würde es an diesem Tag viel zu früh dunkel werden.
Er tat etwas, von dem er nicht gedacht hatte, dass er es jemals tun würde. Er öffnete das Fenster, kletterte vorsichtig auf das Vordach und sprang gut zwei Meter hinunter auf den Boden.
Dieses Ritual würde er unterbrechen, diesem seltsamen Treiben würde er ein Ende bereiten. Es war totenstill hier, sodass er sich vorsichtig wieder nach innen traute, um aus dem Küchenbereich ein Messer zu holen. Ein wenig Sicherheit.
Die Stadt war mittlerweile menschenleer und als er auf den Berg etwas abseits der regulären Wege schritt, wurden die monotonen Wortfolgen lauter und er hörte ein dunkles Summen in der Luft. Die Luft war hier schwerer zu atmen und ein dünner Nebel breitete sich weiter oben aus. Was war das? Mischten sie irgendeinen Stoff in die Luft? Nebelmaschinen?
Geduckt lief er schnell zu dem neuen Trakt aus dem das Leuchten und die prähuman anmutenden Wortfolgen kamen. Aus dem fehlenden Dach drang ein Schimmer, der alles in der Umgebung in eine seltsame Farbe tauchte. Er würde diese verdammte Zeremonie stören, er würde klarmachen, dass man ihn so nicht behandeln konnte. Die Hand auf dem Messer als er die Tür zum Nebengebäude aufstieß und hineinging.
Überall standen Leute, starr im Kreis, ihre Worte rezitierend. Große Teile des Dorfes erkannte er wieder.
In der Mitte des Kreises lag ein glühender Stein in einer Mulde.
Erst wurde er gar nicht bemerkt, doch dann zeigte der Busfahrer auf ihn und rief: »Er ist noch hier!«
Die Leute drehten sich zu ihm um, unterbrachen aber nicht ihre Rezitation.
»Ich kümmer mich darum«, sagte der Besitzer. In dessen Augen lag unbändige Wut, als er auf ihn zutrat. Leander wollte schon das Messer packen, aber der Besitzer presste blitzschnell Leanders Arme an die Wand und machte ihn handlungsunfähig.
»HABEN WIR ES NICHT IM GUTEN VERSUCHT?!«, schrie er ihn an.
»Dieser kranke Kult muss ein Ende finden! Hören Sie mit diesem Ritual auf!«
»Wie der Abt.« Der Besitzer schüttelte den Kopf.
Das Summen wurde lauter und der Besitzer fing an noch lauter zu schreien, damit Leander ihn überhaupt noch verstehen konnte. Das Summen wurde lauter und lauter.
»WIR HABEN ALLES GETAN, ALLES VERSUCHT!« Er warf ihn auf den Boden. »Es ist zu spät. Zu spät.«
Das Summen erlangte eine unglaubliche Intensität und auch das Leuchten wurde stärker.
»Euer kranker Kult! Das alles muss ein Ende finden!«, schrie Leander und der Besitzer lachte ein verzweifeltes Lachen. Hinter ihm konnte Leander sehen, wie sich das Leuchten nun auf einen Punkt konzentrierte. Plötzlich war es ganz still.
Niemand rezitierte mehr.
»Weißt du, warum wir dich verjagen wollten? Nicht weil wir ein Kult oder eine Sekte oder so etwas sind. Diese Ankunft ist real.«
»Warum? Was passiert hier?«
»Ich weiß es nicht, verdammt! Dieser Meteorit hat den ganzen Ort verseucht, das Blut der Leute, unsere Körper.« Er zeigte Leander das Mal. »Alle paar Jahre kommen sie wieder. Alle paar Jahre gibt es eine neue Ankunft. Es beginnt mit einer winzigen Störung im Fernseher, ein paar weiteren Störungen und dann wird klar, dass es bald wieder so ist.« Er ging näher zu ihm heran. »Wir wollten dir nicht schaden – wir wollten dich retten … aber es ist zu spät.«
Er stand wieder auf und Leander sah sich einer sich formenden Gestalt gegenüber, die über dem Stein schwebte und entfernt einem Fötus ähnelte.
Leanders Gesichtsausdruck wurde immer entsetzter, als sich die Verwandlung des ersten Wesens dem Ende zuneigte und sich weitere Kreaturen herausbildeten. Die konkrete Form der Wesen wurde immer klarer.
Sein Blut, welches definitiv nicht zu dem Ort gehörte, hörte auf in seinem Körper zu zirkulieren und er spürte einen tiefen, brennenden Schmerz in seiner Brust.

Leanders Augen weiteten sich noch ein einziges Mal, als eines der Wesen ihn direkt ansah und er spürte, wie seine Haut und sein Fleisch in seinen letzten Momenten in Zeitraffer zerfielen.

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wunderkerze
Eselsohr
W


Beiträge: 381



W
Beitrag09.11.2020 19:57

von wunderkerze
Antworten mit Zitat

Hallo Weltenbruch,

 hab mal deine zweifellos stimmungsvolle Geschichte angelesen. Babei ist mir folgendes aufgefallen:

Verkaufsstellen...
Wäre es nicht besser, von Schalterstellen oder wie das heute heißt zu reden? Schleißlich ist´s ein Bahnhof

atte dort einmal ein Imbiss und dort drüben ein Tabakladen
2x dort ist unschön

guter Start für die Unternehmung.
Hauptwörter mit -ung klingen sperrig

, so wurde es ihm versichert.
stimmt hier die Zeitenfolge? Muss es nicht heißen: war ihm... oder: hatte...

Ein Obdachloser, ungepflegt, mit fleckigen Klamotten.
nicht jeder, der so rumläuft, ist ein O.

 ein Unternehmen
zu nichtssagend. Warum nicht Maklerbüro?

Er war Schätzer und sollte hier in Niederbach für ein Unternehmen den Wert eines Kloster schätzen.
hmmm... ich kann mich irren, aber dass ein Kloster auf den freien Immobilienmarkt kommt hab ich noch nie gehört. Die Klöster sind entweder im Besitz einer Klosterkammer oder gehören dem Staat (Bayern). Und die beißen sich eher die Zunge ab als eine Liegenschaft zu veräußern. In Italien ja, aben nicht in D. Sollte ich mich täuschen, belehre mich.

 »Pisst wie die Hölle«,
dass es in der Hölle p., ist mir neu. Ich dachte eher, dort brennt´s. Also: falscher Vergleich.

 ein großes Gebäude, anscheinend mit einer Art Anbau.
puh, jetzt wird´s brenzlig... Ein Kloster ist kein Gebäude, sondern ein riesige Anlage mit Mauer, Garten, Kirchturm, Ställen, Remisen, Brennereien etc. pp... Aber sicherlich schwebt dir ein bestimmtes vor...

der für acht Autos Platz bot
unnötig, ein Parkplatz ist ein Parkplatz und wie viele Autos draufstehen interessiert nicht

Dann: zwei Hauptsätze werden durch ein Komma getrennt. Machst du selten bis nie.

Nichts für ungut, soll kein Gemecker sein. Irgendwo in den Forenregeln habe ich gelesen, dass wir uns unter die Arme greifen sollen. Die Geschichte hat Substanz, wär doch schade, sie durch Flüchtigkeit zu entwerten.

LG


_________________
wunderkerze
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nicolailevin
Geschlecht:männlichEselsohr


Beiträge: 259
Wohnort: Süddeutschland


Beitrag11.11.2020 10:06

von nicolailevin
Antworten mit Zitat

Hallo Daniel,

vielen Dank für diesen Beitrag. Ich hab ihn bis zum Ende durchgelesen, einfach, weil ich wissen wollte, wie es ausgeht.

Das ist ein Kompliment!

Denn die Geschichte ist natürlich mit ihren fast 8.000 Wörtern sehr lang, gerade für so ein Webforum wie DSFO eigentlich viel zu lang. Zur Orientierung: Wenn hier Wettbewerbe ausgeschrieben werden, liegt die Grenze in der Regel bei 2.000 Wörtern (oder 10.000 Zeichen).

Ich würde dir trotzdem nicht zum Kürzen raten – ich fürchte, wenn man das zu sehr eindampft, verliert es seine Atmosphäre.

Also eine klassische Horrorstory: Unbedarfter Fremder kommt in ein verschlafenes Provinzstädtchen, doch hinter dem vermeintlichen Idyll lauert das Grauen. Die Einwohner sind im Bann von Aliens, die regelmäßig wiederkehren und sie malträtieren. Gerade jetzt bahnt sich eine neue Heimsuchung an, die Einheimischen versuchen, den Fremden zu vertreiben, doch dessen Neugier ist stärker – am Ende bezahlt er sie mit seinem Leben.

Ich will mich gar nicht mit einzelnen Formulierungen oder kleineren sachlichen Ungereimtheiten im Text aufhalten – da gibt es schon einiges zum Nachfeilen -, sondern das Konstrukt als Ganzes betrachten.

Der Aufbau passt insgesamt für mich. Bisschen suspense, bisschen Rätseln, unheilvolle Zeichen, man ahnt das Grauen, das da lauert, die Spannung baut sich auf, knackiger Höhepunkt, der Bogen stimmt bis dahin.

Das Ende mit seiner knappen Erklärung zur Auflösung des Rätsels lässt mich ein bisschen zwischen Baum und Borke hängen. Ich bin hier in der seltenen Situation, dass ich mir mehr Informationen vom Text wünschen würde. Normalerweise ist es eine klassische Falle, dass die Autoren zu viel preisgeben (Infodump), hier hingegen fehlt mir was, um das Ganze zu  einem befriedigenden Ende zu bringen.

Aus meiner Sicht solltest du die Auflösung entweder ganz unbestimmt lassen, also ohne den allzu knappen Erläuterungsansatz des Hotelbesitzers, so dass ich mir als Leser komplett selbst zusammenphantasieren muss, was da los sein könnte (kann man machen, dann bleibt es eben eine Kurzgeschichte) – oder du gehst tiefer (dann hat die Story für meine Begriffe das Potenzial für eine „richtige“ Erzählung).

Dann aber sind eine Menge Fragen offen, über die ich gern mehr wüsste.

Ich brauch kein fauchendes Raumschiff und keine glubschäugigen Aliens, aber mich würde doch interessieren, was es für die Einwohner bedeutet, dass sie im Bann der Aliens stehen. Es sei in ihrem Blut, schreibst du, aber was heißt das? Wie äußert sich diese Quasi-Infektion? Wie sind die dadurch anders? Und: Was wird von den Einwohnern erwartet, wenn die Aliens wiederkehren? Singen? Blutspenden? Ringelpiez? Mit Anfassen? Was ist daran so schrecklich? Und dieses monotone Singen, als Leander im Kloster ist: Ist das schon Teil des Ankunftsrituals oder nur Charade, um ihn zu erschrecken und zu vertreiben?

Rein von der Logik verheddere ich mich in der Historie: Wann war der erste Einschlag bzw. die erste Heimsuchung? Ich vermute, zu einem Zeitpunkt, als das Kloster schon bestanden hat. Der Anbau allerdings darf nicht gebaut werden, das würde irgendwie die Landefläche / Kultstätte beeinträchtigen. Es gelingt, die Mönche zu vertreiben – aber warum sind die Mönche nicht Teil der Angesteckten? Und warum wird der Neubau trotzdem fertiggestellt?

Geografisch verstehe ich es so, dass das Kloster außerhalb liegt, so 5 bis 10 km (Leander kommt mit Mühe zu Fuß hin und zurück), und das Hotel am Stadtrand an der Straße aus dem Zentrum zum Kloster. Jedenfalls stellt man ihm eigens einen Fahrer für den Transfer – müssen dann alle Stadtbewohner mit dem Auto hin, wenn sie die Aliens empfangen? Das wird ein schönes Verkehrschaos geben …

Nicht nachvollziehen kann ich die rausgerissenen bzw. geschwärzten Stellen in den Büchern über das Kloster. Macht natürlich nebeligen Suspense, aber hey! Wenn ein Meteorit niedergeht oder Außerirdische landen (oder beides), dann steht das in der Zeitung  – und nicht in den Büchern zur Lokalgeschichte oder den Architekturführern der Region, die Leander in der Bibliothek findet.

Schließlich frage ich mich, wieso die Stadtbewohner sich solche Mühe um Leander machen. Offenbar steht nicht die erste Wiederkehr der Aliens bevor, die Einheimischen wissen also, was sie erwarten, und sie werden auch Erfahrungen mit Fremden haben, die da in die Quere kommen. Den Taxifahrer haben sie ja auch routiniert im Griff.

An diesem Punkt bietet sich vielleicht eine Ausbaumöglichkeit an, mit der du aus der Story eine umfassendere Erzählung machen könntest: Gib den Einheimischen einen Grund, Leander zu retten! Entweder die Tochter des Gastwirts verliebt sich in ihn oder er rettet die Katze der Bürgermeisterin oder er bewahrt die Bibliothek vor einem Feuer oder was immer da noch sein könnte.

Ein weitere Ansatzpunkt zur Erweiterung: Sind denn alle Einheimischen gleichermaßen betroffen? Nicht alle scheinen das Muttermal zu tragen. Vielleicht gibt es leichte Fälle? Leute, die entkommen konnten? Konflikte zwischen schwer und leicht Betroffenen? Da ließe sich sicher auch noch einiges ableiten, nur so als Ausbauangebot …

Insgesamt aber eine richtig gute, unterhaltsame Geschichte, finde ich. Hat Spaß gemacht, sie zu lesen! Ich freu mich auf mehr von dir!

VG
Nico.
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Ralphie
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DSFo-Sponsor


Beitrag16.11.2020 18:22

von Ralphie
Antworten mit Zitat

Jetzt brauchst du nur noch ins Detail gehen.

 Daumen hoch
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Weltenbruch
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W


Beiträge: 8



W
Beitrag30.09.2021 15:31

von Weltenbruch
pdf-Datei Antworten mit Zitat

danke für das nette Feedback und die Verbesserungsvorschläge! Ich muss nicolaivelin aber recht geben, die Geschichte ist wohl wirklich zu lang für ein Forum, werde in Zukunft auf kürzere Werke einstellen!
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Constantine
Geschlecht:männlichBücherwurm


Beiträge: 3311

Goldener Sturmschaden Weltrettung in Bronze


Beitrag01.10.2021 09:44

von Constantine
Antworten mit Zitat

Weltenbruch hat Folgendes geschrieben:
[...] Ich muss nicolaivelin aber recht geben, die Geschichte ist wohl wirklich zu lang für ein Forum, werde in Zukunft auf kürzere Werke einstellen!

Hallo Weltenbruch,

es ist nicht notwendig kürzere Werke einzustellen. Kannst deinen Stories gerne den Rahmen, den sie benötigen, geben und in mehreren Fortsetzungen unterteilen. So kann der Leser deine langen Stories in Etappen lesen:
https://www.dsfo.de/fo/viewtopic.php?t=26882&sid=6b0298774ba415177718472f12e5a139

LG Constantine
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