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Diese Werke sind ihren Autoren besonders wichtig Durch die Kälte


 
 
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MarianB
Geschlecht:männlichGänsefüßchen
M

Alter: 26
Beiträge: 23



M
Beitrag30.10.2020 21:26
Durch die Kälte
von MarianB
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Aus dem Fenster der BT-67 konnte er das Eis sehen. Die reflektierende Sonne ließ ihn an kleine Edelsteine denken.
„Sieht fast lieblich aus von oben.“
„Na, da täuschen Sie sich mal nicht“, antwortete der Pilot, „lebensfeindlicher geht kaum. Ist trügerisch hier.“
Er nickte. Wenn er eine Sache wusste, dann dass die Antarktis trügerisch war – und tödlich.
„Ist Ihr erstes Mal hier?“
„Genau.“
„Die meisten unterschätzen das. Passen Sie auf sich auf.“
Keine Antwort. Er war nicht hergekommen, um auf sich aufzupassen. Er wollte Antworten.
Ein Lämpchen des Bordcomputers leuchtete auf.
„Anschnallen! Wir landen gleich.“
Die Nase des Flugzeugs neigte sich dem Boden zu. Er schaute aus dem Fenster, sah die Landebahn aus Eis, die sich immer schneller näherte. Dann setzten die Vorderräder der BT-67 auf. Ein Knirschen war zu hören, doch die Landebahn hielt Stand. Dann setzte das Hinterrad auf und das Flugzeug verlor an Geschwindigkeit.
„Ich bring Sie zur Station. Herzlich Willkommen in der Antarktis.“

Vor ihm befand sich die Forschungsstation Neumayer III. Seine Augen blieben kurz an den hydraulischen Stützen hängen und wanderten hoch. Der Aufbau erinnerte ihn an ein unten abgeschnittenes Schiff. Ein halbes Schiff auf Stützen im Eis. Ein Summen riss ihn aus seinen Gedanken. Eine automatische Rampe fuhr herunter. Ein älterer Herr in roter Schutzausrüstung erwartete ihn.
„Ich bin der Stationsleiter. Willkommen an Board. Sie müssen der neue Geophysiker sein“, sagte er. Dem jungen Wissenschaftler fiel ein Namensschild auf, das in die Schutzausrüstung eingraviert war – Dr. Mehler.
„Ja“, antwortete er und versuchte sich nichts anmerken zu lassen. Der Doktor hatte das richtige Alter, ob er seinen Vater gekannt hatte? Er nahm sich vor, ihn bei passender Gelegenheit zu fragen.
„Kommen Sie rein. Ich zeige Ihnen Ihr Zimmer.“
„Danke, war ein langer Flug.“

Nachdem der Doktor das Zimmer wieder verlassen hatte, atmete der junge Geophysiker tief aus. Endlich war er angekommen. Er öffnete seinen Rucksack und holte ein Bild hervor. Unzählige Male hatte er das Bild schon hervorgeholt. Das einzige Bild. Antarktis, zwei Wissenschaftler in Schneeausrüstung. 1989. In der Mitte war das Bild geknickt, eine Seite war abgegriffen, die andere kaum betrachtet. Auf dem Bild befanden sich wellige Rundungen. Er dachte zurück an die Zeit, als sie entstanden waren, sah sich wieder als weinenden Jungen. Er wischte sich schnell über die Augen. Dann holte er einen vergilbten Zeitungsartikel hervor, eingehüllt in einer Klarsichtfolie. An den Ecken war er abgegriffen. Jedes Wort kannte er auswendig. Es war an der Zeit die Worte gegen die Wahrheit zu tauschen. Er wollte wissen, was wirklich passiert war. Wie konnte ein Geophysiker ertrinken? Wieso war er allein unterwegs gewesen? Was war wirklich passiert? Sein Blick wanderte zum Bett und er stellte seinen Wecker. Er drückte das Bild gegen seine Brust, erschöpft schlief er ein.

Am nächsten Morgen folgte er dem Doktor eine metallene Treppe hinauf. Sie gingen durch einen engen Flur, der an eine Klinik erinnerte. In geringem Abstand befanden sich mehrere Türen, es herrschte konzentrierte Stille.  
„Die Labore“, sagte der Doktor knapp, doch er blieb erst am Ende des Flurs vor einer Tür stehen. Er klopfte vorsichtig an. Ein Brummen war leise zu vernehmen. Ein alter Mann in den Siebzigern öffnete.
„Der neue Geophysiker“, sagte der Doktor. Der alte Wissenschaftler schaute den Neuankömmling an.
„Moin. Bin der alte Geophysiker hier.“
„Ich freue mich auf die Zusammenarbeit“, sagte der junge Geophysiker förmlich. Der alte Mann kam ihm bekannt vor, doch genau zuordnen konnte er ihn nicht.
„Sag das nich' zu früh. Nehm' dich gleich mit zum Observatorium, muss noch eine Messung machen.“

Sie machten sich auf den Weg. Das Wetter hatte sich zugezogen im Vergleich zum Vortag. Die Stiefel versanken tief im Schnee. Die beiden Geophysiker konnten kaum ihre eigenen Hände durch den weißen Nebel sehen. Sie orientierten sich an einem Metallband, das ihnen den Weg zeigte. Es erinnerte den jungen Geophysiker an eine Rettungsleine. Nach einer gefühlten Ewigkeit sah er ein Licht durch den Nebel schwach schimmern. Je näher sie sich dem Licht näherten, desto besser wurde die Sicht. Die Lichtquelle kam von einer quadratischen Falltür, die einige Meter über dem Boden ragte. Sein Kollege öffnete sie und ein Schacht kam zum Vorschein, in dem sich eine eingearbeitete Leiter befand.
„Ich geh vor, Sie kommen nach. Vorsichtig“.
Eine Leiter führte in die Tiefe, 13 Meter in die Erde. Unten angekommen befand sich ein geophysikalisches Observatorium. Die Messgeräte erinnerten ihn an seine Zeit als Student.
„Wieso eigentlich Geophysik?“
„Mein Vater war Geophysiker, hat vor vielen Jahren hier gearbeitet. Ich bin in seine Fußstapfen getreten. Kannten Sie ihn?“
Dem alten Physiker stockte der Atem.
„Name?“
Und der junge Geophysiker sprach zum ersten Mal seit vielen Jahren den Namen seines Vaters aus.
„Kannte ihn nur flüchtig. Aber hab seinen Unfall natürlich mitbekommen.“
Es herrschte für einige Augenblicke Stille.
„Warum ist er…?“
„…raus gegangen in die Kälte? Soweit ich weiß, hatte er sich da so eine Theorie in den Kopf gesetzt.“
„Theorie?“
„Hat sich für Glaziologie interessiert. Dachte, dass es eine Korrelation zwischen dem Magnetfeld und den Gletschern geben müsste. Absoluter Unsinn, wenn du mich fragst.“
„Deshalb war er draußen? Ganz allein? Warum stand nichts davon im Artikel?“
„Tja, hat die Regeln gebrochen. Sie wollten seinen Ruf nicht zerstören. War ein Sturkopf.“
Er fühlte, wie sich sein Magen zusammenzog. Damit hatte er nicht gerechnet, das fühlte sich so falsch an.
„Gibt es irgendwelche Aufzeichnungen von ihm?“, fragte er und merkte, wie sinnlos das klang.
„Nein, Junge.“  

Nach der Messung gingen sie schweigend durch die Kälte zurück zur Forschungsstation. Kurz davor fiel dem jungen Wissenschaftler ein grüner Container auf, doch seine Gedanken waren woanders. Als sie angekommen waren, sagte der Geophysiker:
„Heute ist Billardabend. Einfach geradeaus die Tür links.“
„Sie kommen nicht mit?“
„Bin zu alt dafür und muss die Daten noch im Labor überprüfen.“
Der alte Mann drehte sich um und ging ohne sich zu verabschieden.
Der junge Geophysiker hörte gedämpftes Gelächter, das Geräusch rollender Billardkugeln und fühlte wie ihm schlecht wurde. Er fühlte sich nicht nach Menschen, wollte Zeit für sich, Zeit um das Gehörte zu verarbeiten. Auf dem Weg zu seinem Zimmer begegnete ihm der Dr. Mehler.
„Hallo, wollen Sie mit Billard spielen? Heute ist Billardabend, hat er ihnen das etwa nicht gesagt? Manchmal ist er ein echter Brummbär.“
„Doch, ich wollte nur etwas Zeit für mich. Zeit, um anzukommen.“
„Verstehe. Es wird allerdings etwas lauter heute Abend. Wenn Sie Ruhe wollen, dann empfehle ich die Bibliothek.“
„Bibliothek?“
„Sie müssten heute Nachmittag daran vorbei gegangen sein. Ist ein grüner Container.“
„Ich erinnere mich, danke.“

Er ging durch die Kälte, fröstelte trotz seiner Schneeausrüstung. Nach einigen Metern blieb er vor dem grünen Container stehen. Er öffnete die Tür und ging hinein. Umrundet von Regalen voller Bücher stand ein kleiner Tisch mit einem Stuhl. Er setzte sich, die Stille lastete schwer auf ihm. Seine Hände verdeckten sein Gesicht. Er hatte sich seinen Vater immer als Helden vorgestellt, der aus Pech verunglückt war. In Wirklichkeit hatte er sich nicht an die Regeln gehalten und merkwürdige Theorien gehabt? Er schüttelte den Kopf, stand auf, hielt es nicht mehr aus. Während er nach Draußen gehen wollte, fiel ihm aus den Augenwinkeln ein altes Buch auf. Das Cover erinnerte ihn an sein Bild, das einzige Bild. Er holte es heraus, strich über die Staubschicht. Der Titel lautete: Geschichten der Neumayer Station 3, 1988. Als er das Buch öffnete verschlug es ihm den Atem. Es waren kurze Geschichten und Beschreibungen der Arbeit der Wissenschaftler. Dann sah er sein Bild. Zwei Wissenschaftler in Schutzausrüstung. Die Bildunterschrift lautete: Das sind unsere Geophysiker, die auch während der Winterzeit unzertrennlich sind. Darunter standen die Namen der beiden und ihre Titel. Sein Vater, Professor der Physik und dann sein Kollege, ein Quereinsteiger mit einem Doktor in Glaziologie. Plötzlich erkannte er den alten Geophysiker, deshalb war er ihm bekannt vorgekommen. Und er wusste, dass er gelogen hatte.

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Rodge
Geschlecht:männlichKlammeraffe


Beiträge: 847
Wohnort: Hamburg


Beitrag31.10.2020 10:54

von Rodge
Antworten mit Zitat

Hallo Marian,

das ist alles ganz gut geschrieben, aus meiner Sicht fehlt dennoch etwas. Mir bleibt dein Personal fremd. Da gibt es nichts, was sie näher charakterisiert, wir erfahren nichts von ihren Gedanken und ihren Gefühlen. Gerade der Prota scheint ja auf einer Mission zu sein, da legt man sich nicht einfach ins Bett und erwacht am nächsten Morgen. Wie wärs, wenn er nachts durch die Forschungsstation schleicht, dann lernen wir sowohl ihn als auch die Station besser kennen. Vielleicht findet er ja auch etwas, was er nicht finden soll. Oder es gibt irgendwelche Geräusche (Suspense?).

Auch sind mir manche Beschreibungen zu knapp, so würde es mir helfen, wenn die Forschungsstation beschrieben würde. "Ein halbes Schiff" genügt mir nicht. Wie sieht es dort aus? Wie kalt ist es wirklich? Welche Jahreszeit haben wir?

Wenn das ein Roman ist/werden soll und du in der Geschwindigkeit schreibst, bist du sonst nach 80 Seiten fertig. Werde ausführlicher, lass uns Leser teilhaben, wir wollen mit jemandem mitfiebern, erzeuge Spannung und löse sie nicht gleich auf!

Dran bleiben, der Plot klingt vielversprechend!

Grüße
Rodge
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Federschwärzer
Geschlecht:männlichGänsefüßchen
F


Beiträge: 32
Wohnort: Karlsruhe


F
Beitrag31.10.2020 12:20

von Federschwärzer
Antworten mit Zitat

Liest sich gut soweit. Du baust hier schon eine gewissen Spannung auf.
Ich schließe mich aber Rodge an. Irgendwie ist es noch zu wenig.

Deine Personen sind mir auch etwas zu abstrakt. Du stellst den Stationsleiter vor (Dr. Mehler), alle anderen haben keine Namen. Wenn der junge Geophysiker auf die Station kommt, dann kennt der alte Geophysiker seinen Namen.

In den Dialogen der beiden wechseltst du auch ein paar mal zwischen "du" und "sie". Der Alte duzt ihn ja ("Nehm' dich gleich mit") (finde ich gut), aber dann siezt er ihn auch wieder ("Ich geh vor, Sie kommen nach. Vorsichtig")

Ich würde es gut finden, wenn der junge Geophysiker vielleicht etwas von seinem Vater bekommen hat (eine Brief mit Andeutungen), wieso er daran zweifelt was seinem Vater passiert ist. Es ist auch nicht ganz klar, wieso wenn der Vater einen Unfall gehabt hatte, sie seinen Ruf nicht zerstören wollten. Und das mit dem gegen die Regeln verstoßen versteh ich auch nicht ganz. Wenn du damit meinst, das der Vater alleine raus ist, wäre vielleicht ein Satz besser wie: "Und Junge denkt dran. Geh niemals alleine nach draußen."

"quadratischen Falltür, die einige Meter über dem Boden ragte". Hier finde ich die Beschreibung etwas verwirrend.

Bei „Ich bring Sie zur Station. Herzlich Willkommen in der Antarktis.“
Hier würde ich nur den 2. Satz stehen lassen oder "Willkommen in antarktischen Sommer".

Sonst würde ich es mich auch interessieren, wie der junge Geophysiker hinter das Geheimnis kommt - da der Alte ja auch was zu verbergen hat.
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MarianB
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Alter: 26
Beiträge: 23



M
Beitrag31.10.2020 22:59

von MarianB
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Guten Abend @Rodge und @Federschwärzer,

vielen Dank euch beiden fürs Lesen und kommentieren. Finde die Anregungen interessant, vor allem, die Idee, dass er nachts durch die Station schleicht. Denke, dass ich noch etwas mehr den Fokus auf die Szenerie der Antarktis legen werde. Ich werde auf jeden Fall darüber nachdenken. Habt mir echt weitergeholfen, weil ich weiter an der Geschichte arbeiten wollte und hier jetzt gute Anregungen bekommen habe. Danke!


Beste Grüße
Marian
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Abari
Geschlecht:männlichAlla breve

Alter: 43
Beiträge: 1838
Wohnort: ich-jetzt-hier
Der bronzene Durchblick


Beitrag01.11.2020 12:53

von Abari
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Hey,

was mir auffält, ist, dass sich der Titel "Geophysiker" extrem häuft. Da fällt Dir bestimmt noch mehr ein; ansonsten ermüdet mich dieses sperrige Wort sehr schnell.

Und ja, komm ins Erzählen und Fabulieren. Nicht maßlos, aber ich denke, dass das bei Dir eher unwahrscheinlich ist. Prüfe, ob Du ein Bild von den Dingen in Dir trägst und wie Du das der Leserschaft vermitteln kannst. Streue einige Worte/Wortgruppen/Sätze ein, die Deine Innenwelt der Leserschaft darlegt.

Eben nicht:
MarianB hat Folgendes geschrieben:
Seine Augen blieben kurz an den hydraulischen Stützen hängen und wanderten hoch. Der Aufbau erinnerte ihn an ein unten abgeschnittenes Schiff. Ein halbes Schiff auf Stützen im Eis.


sondern:

"Seine Augen wanderten an den hydraulischen Stützen entlang nach oben, Der Aufbau erinnerte ihn an ein unten abgeschnittenes Schiff, in dessen metallischen Rumpf sich das bläuliche Weiß des Eises spiegelte. Kleine Bullaugen wehrten die Kälte ab, die sich unerbittlich im scharfen Westwind in ihre Gesichter schnitt ... "

Was denkst Du?


_________________
Das zeigt Dir lediglich meine persönliche, höchst subjektive Meinung.
Ich mache (mir) bewusst, damit ich bewusst machen kann.

LG
Abari
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SannyB
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Beiträge: 174
Wohnort: BaWü


S
Beitrag01.11.2020 18:48

von SannyB
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Hallo Marian,

ich schließe mich an: es ist eine spannende Geschichte. Die ersten Absätze fangen den Leser gut ein. Aber dann fehlt es an Details, die es lebendig machen.

Dazu ist mir ein Absatz aufgefallen, in dem "Bild" sich 6mal wiederholt, davon 5 in direkt aufeinanderfolgenden Sätzen. Diese häufige Wiederholung nicht so elegant.

Eine Alternative wäre:
Er öffnete seinen Rucksack und holte ein Foto hervor, wie schon unzählige Male zuvor. Es war das einzige Bild, das er immerzu bei sich trug: Antarktis, zwei Wissenschaftler in Schneeausrüstung, 1989. In der Mitte war es geknickt - die eine Seite war kaum betrachtet, doch die andere abgegriffen, mit welligen Rundungen. Er dachte zurück an die Zeit, als sie entstanden waren, sah sich wieder als weinenden Jungen.

Wobei mir diese Sätze ein wenig zu abgehakt und kurz vorkommen, um ihre Wirkung voll zu entfalten.

Aber ich denke die Geschichte kann sehr interessant werden, wenn Du weiter daran arbeitest!

Viele Grüße,
Sanny
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MarianB
Geschlecht:männlichGänsefüßchen
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Alter: 26
Beiträge: 23



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Beitrag01.11.2020 20:24

von MarianB
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Guten Abend Abari,

und vielen Dank für deine Zeit und den Kommentar. Das mit dem Geophysiker stimmt, ich tue mich noch schwer, ihm einen Namen zu geben. Aber ich denke, dass es wohl darauf hinauslaufen wird.

Bei den Beschreibungen tue ich mich noch schwer, sehe allerdings, was du meinst. Es ist wichtig für die Atmosphäre. Danke für deinen Tipp! Ich sitze an der Überarbeitung, werde mir da allerdings etwas Zeit für nehmen, weil ich auch das Ende noch etwas erweitern möchte, um den Konflikt deutlicher aufzulösen.

Danke für diesen schönen Kommentar.


Beste Grüße
Marian



Guten Abend SannyB,

es hat mich gefreut, dass du es spannend findest und der Anfang funktioniert. Danke! Die Beobachtung mit dem "Bild"-Absatz ist top, mir ist das beim Schreiben und kritischem Lesen gar nicht so aufgefallen. Ich muss da noch einmal in mich gehen, wie ich das am besten lösen. Denn ich sehe das so wie du, dass es da noch Verbesserungspotential gibt.

Vielen Dank für die ermutigenden Worte, ich werde weiter daran arbeiten.

Du hast mir mit deinem Kommentar weitergeholfen und ich bedanke mich für deine Zeit und Mühe.


Beste Grüße
Marian
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MarianB
Geschlecht:männlichGänsefüßchen
M

Alter: 26
Beiträge: 23



M
Beitrag16.11.2020 00:06

von MarianB
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Ich schaue aus dem Fenster der BT-67, soweit das Auge reicht sehe ich Eis. Das Licht der reflektierenden Sonne lässt mich an Edelsteine denken.
„Sieht fast hübsch aus von hier oben“, sage ich zu dem Piloten neben mir.
„Na da täuschen Sie sich mal nicht. Ist trügerisch.“
Ja, ich weiß. Das weiß ich seitdem ich ein kleiner Junge bin. Doch ich antworte nicht.
„Passen Sie auf sich auf“, sagt der Pilot noch. Aber ich bin nicht hier, um auf mich aufzupassen. Ich bin hier, um Antworten zu finden. Echte Antworten, keine gedruckten Zeilen. Es vergehen ungefähr 15 Minuten, dann neigt sich das Flugzeug leicht nach vorne.
„Vorsicht, wir landen gleich.“
Die Landebahn kann ich von oben sehen. Es ist eine Eisbahn, der ich nicht traue. Ob sie das Gewicht des Flugzeugs wohl hält? Ich habe keine Wahl, muss blind vertrauen. Am liebsten würde ich die Decke über meinen Kopf zusammenziehen und wieder aufwachen. Ich bin noch nie gerne geflogen.
Es gibt einen Ruck und die Maschine scheint kurz zu hüpfen. Dann setzt das Hinterrad auf und die Maschine rollt auf dem Eis aus. Keine Komplikationen. Der Pilot bremst das Flugzeug gekonnt ab, wir kommen zum Stehen.

„Herzlich Willkommen in der Antarktis“, sagt er und ich finde, dass er das viel zu theatralisch sagt. Die Antarktis ist kein Vergnügungspark, aber er betont es so. Ich kann ihn nicht leiden, er schaut so selbstbewusst aus der Wäsche. Kam bestimmt aus einer guten Familie, hat immer alles bekommen, was er wollte und ich bin mir sicher, dass er einen Vater hatte. Einen Vater, der sich um ihn gekümmert hat. Ich schaue in den Himmel, will mich ablenken. Das tiefe Blau in Kombination mit der Eiseskälte beruhigt meine Gedanken. Es lässt mich an den Kunstunterricht denken. Damals musste ich selbst Farben zusammenmischen, das dunkle Blau war immer mein Favorit. Bis heute ist es meine Lieblingsfarbe. Es hat so etwas beruhigendes, wie ein weites Meer, das sich endlos vor mir erstreckt. Der Pilot räuspert sich geräuschvoll.
„Die Station ist da vorn“, sagt er. Ja natürlich, du willst mich loswerden, denke ich.
„Ja, ist gut“, sage ich kurz angebunden. Meine Stiefel versinken im Schnee, das Gefühl befriedigt mich. Es gibt mir ein Gefühl der Kontrolle. Endlich bin ich es, der die Schneespuren hinterlässt. Davon habe ich geträumt. Schritt für Schritt komme ich voran, sehe mein Ziel mittlerweile schon. Die berühmte Neumayer Station 3, die Station des Unglücks, wie ich sie insgeheim nenne. Hier ist es vor vielen Jahren passiert und das ist der Grund, warum ich heute diese Spuren hinterlasse. Ich verdränge die Gedanken und gehe einfach weiter - Schritt für Schritt, denn das ist das einzige, was ich tun kann.

An der Forschungsstation angekommen, begrüßt mich ein Mann in einem roten Schutzanzug. Ich erkenne ihn aus dem Bewerbungsgespräch, das wir via Skype Business durchgeführt hatten. Dr. Mehler, der Arzt und Stationsleiter. Meine Recherchen haben ergeben, dass er meinen Vater nicht kannte. War vor seiner Zeit, dass mein Vater hier Geophysiker gewesen ist.
„Willkommen an Bord“, sagt er und ich frage mich erneut, warum hier alle so verdammt theatralisch sind, als wüssten sie den Ernst der Lage nicht zu schätzen.
„Sie müssen der neue Geophysiker sein.“
„Genau“, antworte ich und versuche mir meinen Unmut nicht anmerken zu lassen. Verdrängen, das kann ich nur zu gut.
„Ich zeige Ihnen alles“, sagt er und ich folge ihm die Rampe hinauf.
„Machen Sie sich keine Umstände. Das Zimmer können Sie mir später zeigen, interessiere mich für die Labore. Kann ich den Kollegen Zimmermann schon kennenlernen?“
Er nickt und biegt dann in einen Flur ein. Es geht eine enge Treppe hinauf. Ich habe das Gefühl, in einem Krankenhaus zu sein - überall Türen, die Gänge eng und der Farbton grau.  Der Doktor bleibt stehen: „Hier ist es.“
Er klopft an, ein Brummen ist zu hören. Dann: „Herein“.
Ich öffne die Tür und sehe einen alten Mann mit tiefen Falten im Gesicht. Sie lassen mich an einen Romanhelden aus einem Film denken, den ich als Kind gerne gesehen habe. Ein Cowboy mit tiefen Falten, ein Gewehr über der Schulter und einer Zigarette im Mundwinkel. Ich kann mich erinnern, dass er der beste Schütze war und wenig geredet hat. Typisches Westernklischee. Das ist er also, der alte Geopyhsiker. Ich habe alle Publikationen auf die Jahreszahlen überprüft – sein Name stand neben dem meines Vaters. Er ist meine Spur in die Vergangenheit.

Ich hole Luft, warte eine Sekunde und fange dann an zu sprechen:
„Hallo, ich bin der neue, der neue Geophysiker.“
Er antwortet mir nicht, schaut mich lange an. Ich frage mich, ob seine Augen feindlich wirken? Denn sie sind zusammengekniffen, bilden einen Schlitz wie bei einer Schlange.
„Na klasse", sagt er verächtlich. Die Unfreundlichkeit ist unverhohlen und er gibt sich auch keine Mühe, sie zu verbergen. Ich hatte mir das anders vorgestellt, hatte ihn mir als meine geheime Ansprechperson vorgestellt. Ich brauche ihn.
„Bin bereit, wenn Sie es sind“, sage ich und komme mir vor wie ein gehorsamer Soldat. Ich räuspere mich, um meine Stimme fester klingen zu lassen.
„Bin der beste meines Jahrgangs.“
„Abschlüsse interessieren mich einen Dreck, in dreißig Minuten muss ich zur Station. Und jetzt raus. Hole sie später.“
Er macht eine Handbewegung, die unmissverständlich ist. Zorn wallt in mir auf, was denkt sich der Alte? Er benimmt sich wie ein Diktator, der mit einem wertlosen Untergebenen redet. Äußerst störend, doch ich lasse ihm seinen Willen, verlasse sein Labor. Der Arzt hat nichts gesagt, aber ich sehe, dass er nicht angetan ist. Er sieht besorgt aus.
„Er ist immer so, liegt nicht an Ihnen“, sagt er, aber ich glaube ihm nicht. Die Besorgnis hat ihn verraten. Wahrscheinlich kann mich der Alte einfach nicht leiden.

Der Doktor führt mich in die Küche der Station, doch meine Gedanken sind bei dem alten Geophysiker. Er war früher der Kollege meines Vaters. Müsste er nicht eigentlich wissen, wer ich bin? Schon im Bewerbungsgespräch bin ich darauf angesprochen wurden, es ist kein Geheimnis. In meiner Naivität hatte ich mir vorgestellt, dass er und mein Vater gute Freunde gewesen waren. Ich scheine mich getäuscht zu haben.
„Wollen Sie noch einen Löffel?“, fragt mich der Doktor.
„Nein, entschuldigen Sie“, sage ich und ziehe meine Schüssel zurück. Sie ist bereits gefüllt, quillt fast über. Ich komme zurück in den jetzigen Augenblick und schaue mich um. Die Wände sind eng, ansonsten erinnert mich die Küche an ein Ferienapartment. Das erste Wort, was mir in den Kopf kommt, ist: effizient. Nur das Nötigste scheint vorhanden zu sein. Das Essen schmeckt fad.

30 Minuten später kommt der Alte hinein.
„Los“, sagt er bestimmt und geht voraus. Ich folge ihm in den Gang. Er bewegt sich schwerfällig, wie ein alter Mann, in dessen Knochen zu viel Kälte eingedrungen ist. Ich sehe, wie er seine Schutzausrüstung anzieht.
„Wo ist die Station? Draußen?“
„Stell dich nicht so an. Natürlich. Es geht zur Station.“
Ich kann es nicht zurückhalten: „Aber wir sind doch in der Station.“
„Und sie sollen Jahrgangsbester sein!“, schimpft er, „es geht natürlich in meine Station. Als Geophysiker sollte man das wissen.“ Damit geht er raus und mir ist noch immer nicht klar, was er  meint. Sie scheint wohl draußen zu sein, aber soweit ich weiß, gibt es außerhalb der Neumayerstation keine weitere Station. Er kann höchstens von der Bibliothek sprechen, die in einem grünen Container etwas abseits steht. Aber das kann nicht sein, es geht ihm um Daten, erinnere ich mich. Dann macht es Klick: Er meint das geophysikalische Observatorium. Natürlich. Es ist unterirdisch und liegt außerhalb. Das hätte ich wissen müssen. Schnell ziehe ich mir meine rote Schutzausrüstung gegen die Kälte an. Dann folge ich dem Alten in die Kälte.

„Neblig“, sagt er und geht voran.
Ich kann ihn nicht mehr sehen. Das Wetter hat sich zugezogen im Vergleich zum Morgen. Der Nebel hat sich verdichtet. Alles ist grau, ich denke an Asche, die den Himmel verdichtet. Meine eigene Hand kann ich kaum sehen.
„Wo sind Sie?“, brülle ich in die Asche hinaus.
„Greif die Leine“, höre ich die Antwort – näher als erwartet.
Welche Leine? Ich sehe nichts, das Grau hat mich eingehüllt. Dann fühle ich etwas an meiner Hüfte, es ist ein metallenes Band. Es erinnert mich an eine Rettungsleine. Eine Schritt nach dem anderen setze ich und halte mich an die von der Leine vorgegebenen Richtung. Ich habe keine andere Wahl. Meine Stiefel versinken im Schnee, aber diesmal ist keine Befriedigung dabei. Ich taste mich weiter voran. Nach einigen Minuten höre ich ein Knarzen, das mich an eine nicht geölte Tür erinnert.
„Hier rein“, höre ich den Alten sagen. Ich kann einen schimmernden Lichtschein ausmachen. Kurz darauf sehe ich direkt vor mir eine geöffnete Falltür. Eine Leiter führt in die Tiefe, es ist der Eingang zum geophysikalischen Observatorium. Ich steige hinab.
„Mach die Falltür zu! Es schneit doch rein!“ Ich gehorche erneut.

Unten angekommen sehe ich die vertrauten Geräte, die mich in meiner Studienzeit schon begleitet haben. Doch ich habe keine Zeit, in Nostalgie zu verfallen.
„Los, da rüber, ich brauche die Daten so schnell wie möglich.“ Ich gehe an den Computer, betrachte die erdmagnetischen Ausschlagungen.
„Warum bist du hier?“, höre ich da die Stimme des Alten hinter mir. Die Frage ist scharf gestellt, klingt heimtückisch. Es ist an der Zeit, endlich Position zu beziehen. Es ist an der Zeit, die Frage zu stellen, die mir schon seit dem ersten Zusammentreffen mit ihm, auf der Zunge brennt. Wahrscheinlich werde ich so eine Chance, nicht noch einmal bekommen.
„Mein Vater. Sie kannten ihn, war Geophysiker hier vor dreißig Jahren. Ich will wissen, was damals wirklich passiert ist.“
Er wartet mit seiner Antwort, er erinnert mich an ein Raubtier, das auf der Hut ist.
„Stand doch alles im Artikel. Da gibts nicht Neues.“ Er kennt mich, natürlich kennt er mich.
„Das kann nicht sein, Sie kannten ihn. Wie konnte es sein, dass ein Geophysiker ertrinkt? Warum war er überhaupt alleine unterwegs? Ich brauche Antworten, bitte. Bitte.“ Ich höre mich schwach an, aber ich kann es nicht verhindern. Das Zittern in meiner Stimme ist nicht zuträglich, um mich stärker wirken zu lassen.
„Er hatte da so eine Theorie, dass die erdmagnetische Strömung mit den Gletschern verknüpft ist. Absoluter Unsinn.“
Es trifft mich wie ein Schlag, der Alte lügt. Mein gesamter Körper tritt in einen Alarmzustand. Ich habe alle Fachzeitschriften und Artikel meines Vaters gelesen. Ich kenne seine fachliche Position – er ist ein Gegner der Glaziologen. Ist es immer gewesen. Der Alte lügt. Aber warum? Hatte er etwas mit dem Unglück meines Vaters zu tun? Es herrscht Stille zwischen uns. Ich muss meinen gesamten Mut zusammennehmen, sonst werde ich niemals Antworten bekommen.

„Sie lügen“, sage ich und mein Herz sprengt mir fast meinen Brustkorb. Gleich explodiert die Bombe in mir.
Der Alte fixiert mich, aber er antwortet nicht.
„Er war immer gegen die Gletschertheorie. Ich weiß das.“ Wieder Stille, böse Stille.
„Ich wusste immer, dass der Moment kommen würde“, stößt er dann hervor. Seine Stimme hat sich verändert, klingt weniger herrisch. Dann zuckt es über seinen Augenbrauen merkwürdig. Plötzlich entgleisen seine gesamten Gesichtszüge und ein verrücktes Lachen bricht aus seinem Inneren hervor. Vor meinem inneren Auge spielen sich Horrorszenarien ab. Ich stelle mir vor, wie der Alte ein Messer hervorzieht und mich absticht. Oder wie er die Falltür über mir zuschlägt und mich hier unten verrotten lässt. Doch ich brauche Antworten.
„Was ist damals wirklich passiert?"
„Recht haste, ich hab gelogen. Damals gelogen bei den Untersuchungen, heute gelogen“, wieder unterbricht er sich selbst durch sein krankhaftes Lachen. Ich komme mir vor, wie in einem Horrorfilm.
„War meine Theorie mit den Gletschern. Hast schon recht. Dein alter Herr war dagegen. Hat eine Kontraposition eingenommen. Meine Theorie, hat Interesse geheuchelt. Aber heimlich meine Daten genommen. War unerhört. So was macht man nicht. Wollte meine Theorie zerstören. Hat heimlich publiziert. Mich der Lächerlichkeit preisgegeben.“
„Sie haben ihn… umgebracht?“, hauche ich voller Verzweiflung.
„War ein Unfall. Waren draußen. Er ist gestürzt. Hat sich den Fuß verstaucht, umgeknickt. Neben ihm Packeis, ich hab...“, und damit bricht er seine abgehackten Sätze ab. Die Bombe in meinem Inneren ist vereist, das Eis zieht sich jetzt durch meinen gesamten Körper, erreicht mein Gehirn. Es ist vorbei, alles vorbei.
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MarianB
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Beitrag07.12.2020 20:51

von MarianB
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Als er die Bewerbungsunterlagen das erste Mal sah, griff er mit seiner altersbefleckten Hand nach dem Wasserglas. Sie zitterte. Ob vor Erregung oder Altersschwäche vermochte er nicht zu sagen. Doch eines war ihm klar: Er musste den neuen Geophysiker beseitigen. Niemand hatte das Recht sein Vermächtnis, ja, sein Lebenswerk zunichte zu machen.
Er wusste genau, was der junge Geophysiker wollte, sobald er seinen Nachnamen gelesen hatte. Der Plan stand fest. Mit schwerfälligen Bewegungen zog er sich seine rote Schutzausrüstung an. Dann verließ er die Forschungsstation. Die Kälte der Antarktis konnte ihm an diesem Tag nichts anhaben, er fühlte sie nicht. Eine innere Hitze hatte ihn ergriffen, er fühlte sich wieder jung. Mit knirschenden Schritten bewegte er sich vorwärts, dabei orientierte er sich an einem metallenen Band. Dann erreichte er sein Ziel. Eine blaue Box befand sich auf dem Eis etwa auf Kniehöhe. Eine rote Lampe war darauf befestigt, die besonders bei starkem Nebel hilfreich wurde. Er öffnete den Deckel der Box, der ihn an eine Falltür erinnerte. Ein Schacht kam zum Vorschein, der etwa 13 Meter in die Tiefe hinabreichte. Die Dunkelheit empfing ihn. Langsam stieg er die rote Leiter hinab. Auf den Sprossen lag eine Eiskruste. Auf dem Boden des Schachts angekommen öffnete er eine Zwischentür und betrat das geophysikalische Observatorium. Ein vertrauter Geruch wehte ihm entgegen – eine Mischung aus Desinfektionsmittel und Laborluft. Er dachte zurück an den Tag, als seine ruhmreiche Karriere als Wissenschaftler angefangen hatte – mit den Forschungsergebnissen eines anderen. Auf das Observatorium hatte er sich schon einmal verlassen können. Warum sollte das nicht noch ein weiteres Mal funktionieren? Die Spritze in seinen alten Händen fühlte sich gut an.

***

Der junge Geophysiker Max schaute aus dem Fenster der BT-67, soweit sein Auge reichte befand sich Eis. Das reflektierende Sonnenlicht ließ ihn an einen Bergkristall denken.
„Ist mit den Fotos aus dem Internet nicht zu vergleichen. Sieht so unberührt aus. Fast harmonisch“, sagte er zu dem Piloten neben ihm.
„Na da täuschen Sie sich mal nicht. Ist trügerisch.“
Er wusste nur zu gut, wie trügerisch und gefährlich es in der Antarktis war – am Ende der Welt. Doch er antwortete nicht.
Der Pilot reagierte auf sein Schweigen: „Passen Sie auf sich auf.“
Aber Max war nicht hier, um auf sich aufzupassen. Er wollte echte Antworten, keine gedruckten Zeilen und Mutmaßungen eines alten Zeitungsartikels. Es vergingen ungefähr 15 Minuten, dann neigte sich das Flugzeug leicht nach vorne.
„Vorsicht, wir landen gleich.“
Unter ihnen erstreckte sich eine Landebahn, die aus Eis bestand. Max fragte sich, ob die Eisbahn wohl das Gewicht des Flugzeugs halten würde. Seine Schulterblätter zogen sich schmerzhaft zusammen. Er war noch nie gerne geflogen.
Dann gab es einen Ruck und die Maschine schien kurz auf und ab zu hüpfen. Das Hinterrad setzte auf und die Maschine rollt auf dem Eis aus. Keine Komplikationen. Der Pilot bremste das Flugzeug gekonnt ab.

„Die Antarktis“, sagte der Pilot knapp. Er schaute auf seine Uhr. „Müsste schon hier sein, ich frage mich…“
Er unterbrach sich, weil ein Schneemobil näherkam. Ein Mann stieg ab, der sich als Dr. Mehler vorstellte, der Leiter der Station. „Sie müssen der neue Geophysiker sein?“
„Genau, ich bin Maximilian Blanck.“
„Freut mich. Haben natürlich schon von ihrem Vater gehört. War damals eine echte Koryphäe. Aber dann, naja so ist das eben.“
Max nickte. „Wie weit ist es zur Neumayer Station III?“
„Steigen Sie auf“, antwortete der Stationsleiter, der zu verstehen schien.

An der Forschungsstation angekommen, fragte Dr. Mehler Max, ob er müde sei.
„War eine lange Reise“, antwortete er nickend.
„Dann zeige ich Ihnen das Zimmer. Morgen stelle ich Sie vor.“
„Danke.“
Nachdem der Stationsleiter das Zimmer wieder verlassen hatte, atmete der junge Geophysiker tief aus. Endlich war er angekommen. Er öffnete seinen Rucksack und holte einen vergilbten Zeitungsartikel hervor, eingehüllt in einer Klarsichtfolie. Unzählige Male hatte er ihn schon gelesen. Der Titel lautete: Professor der Geophysik verunglückt in der Antarktis unter tragischen Umständen. Aber darin standen nur Spekulationen und Mutmaßungen. Er wollte wissen, was wirklich mit seinem Vater passiert war. Unter dem Titel war ein Bild zu sehen. Antarktis, zwei Wissenschaftler in roter Schneeausrüstung. 1989. Auf dem Papier befanden sich wellige Rundungen. Er dachte zurück an die Zeit, als sie entstanden waren, sah sich wieder als weinenden Jungen. Er wischte sich schnell über die Augen. Sein Blick wanderte zum Bett und er stellte seinen Wecker. Er drückte den Artikel mit dem Bild gegen seine Brust, erschöpft schlief er ein.

Am nächsten Morgen folgte Max dem Stationsleiter zu seinem Arbeitsplatz. Es ging eine enge Treppe hinauf. Dr. Mehler bog in einen Flur ein. Max fühlte sich an ein Krankenhaus erinnert - überall Türen, die Gänge eng und der Farbton grau. Der Doktor blieb stehen: „Hier ist es.“
Er klopfte an, ein Brummen war zu hören. Dann: „Herein“. Dr. Mehler nickte Max ermutigend zu. Dieser öffnete die Tür und sah einen alten Mann mit tiefen Falten im Gesicht über einen Schreibtisch gebeugt. Um ihn herum standen hohe Regale, die voller Ordner und Fachbücher waren. Der Raum war so voll, dass es beengend auf Max wirkte. Eine altmodische rote Schutzausrüstung hing an einem Haken in der Ecke des Zimmers.
Das ist er also, der alte Geophysiker, der im Zeitungsartikel neben meinem Vater steht, dachte Max. Er holte tief Luft, wartete auf eine Reaktion des alten Mannes.
„Willkommen, Sie müssen der Neue sein. Freut mich ausgesprochen“, sagte der Alte in einem freundlichen Tonfall.
„Genau, ich bin der neue Geophysiker.“
„Habe viel zu tun. Kann gut Unterstützung gebrauchen. Sie kennen sich sicherlich mit den erdmagnetischen Strömungen aus, nicht wahr?“
„Ja, habe dazu auch publiziert.“
„Sehr gut, kann Sie nämlich im Observatorium gebrauchen. Gibt viel Arbeit für uns.“
„Ich bin bereit. Hätte allerdings noch ein paar Fragen. Sie kannten sicher meinen Vater?“
Der Alte atmete geräuschvoll aus.
„Natürlich, der legendäre Dr. Blanck. Waren damals Kollegen. Hatte mir gedacht, dass Sie sich dafür interessieren. Das war damals schrecklich. Aber lassen Sie uns das Gespräch doch im Observatorium weiterführen. Denn die Arbeit wird nicht weniger.“
„Ja, klar“, sagte Max, ohne zu ahnen, was ihm bevorstand.

30 Minuten später standen sie draußen. Das Wetter hatte sich zugezogen im Vergleich zum Tag davor. Der Nebel hatte sich verdichtete. Alles war grau.
„Neblig heute“, sagte der Alte und ging voran. Max musste an weiße Asche denken, die den Himmel verdichtete. Seine eigene Hand konnte er kaum sehen. „Wo sind Sie?“, brülle er.
„Greifen Sie die Leine.“ Die Stimme des alten Geophysikers war näher als erwartet.
Max fühlte etwas an seiner Hüfte, es war ein metallenes Band. Es erinnerte ihn an eine Rettungsleine. Seine Stiefel versanken tief im Schnee. Nach einigen Minuten hörte Max ein Knarzen, das an eine nicht geölte Tür erinnerte.  
„Hier rein“, hörte er den Alten sagen. Ein schimmernder Lichtschein wurde sichtbar. Kurz darauf sah Max vor ihm eine geöffnete Box, die an eine Falltür erinnerte. Eine rote Leiter führte in die Tiefe. Vorsichtig stieg Max hinab. Unten angekommen ging er durch eine Zwischentür hinein in das geophysikalische Observatorium.

Der Alte deutete auf einen Container, der freistehend auf dem Boden aufgebaut war.
„Da müssen wir rein. Kein Magnet bleibt daran kleben. Faszinierend die Technik, nicht wahr?“
Max nickte und folgte dem Alten in den Container.
„Müssen die Richtung des Erdmagnetfelds bestimmen. Sie kennen das Gerät.“ Der Alte deutete auf ein gelbes Gerät, dass mit einem schwarzen Kabel an einen Computer angeschlossen war. Es erinnerte an ein Fernglas, das an Aussichtspunkten zu finden ist.
„Ja, ist eine Kunst für sich.“ Jetzt nickte der Alte zustimmend.
„Waren Sie hier mit meinem Vater?“
„Allerdings.“
In Max stieg eine tiefe Aufregung auf, sie kam aus seinem Bauch.
„Ich will wissen, was damals wirklich passiert ist.“
„Das meiste stand doch in dem alten Artikel.“
„Da standen nur Mutmaßungen drin, nichts Konkretes. Ich brauche Antworten. Warum war er überhaupt allein unterwegs?“ Das Zittern in der Stimme von Max war deutlich zu hören.
„Er hatte da so eine Theorie, dass die erdmagnetische Strömung mit den Gletschern verknüpft ist. Absoluter Unsinn. Hat heimlich Forschung betrieben.“
„Das kann nicht sein. In seinen Publikationen war er immer gegen die Gletschertheorie“, stieß Max durch seine Zähne hervor. Der Alte lügt, dachte er. Sein gesamter Körper trat in einen Alarmzustand. Hatte der alte Geophysiker etwas mit dem Unglück zu tun? Es herrschte Stille. Der Alte fixierte Max, aber er antwortete nicht sofort. Dann entspannte sich sein Körper und er sagte freundlich:
„Meine Erinnerungen täuschen mich manchmal. Lassen Sie uns anfangen zu arbeiten. Schaue später in meine alten Aufzeichnungen. In Ordnung? Und jetzt die Erdmagnetströmungen.“
In Max sträubte es sich, Angst legte sich wie eine Last auf seine Schulterblätter. Was passierte hier? Ich habe keine Wahl, je eher die Arbeit erledigt ist, desto schneller komme ich an die Aufzeichnungen, dachte er. Aber ich muss aufpassen.
„In Ordnung“, antwortete Max. Als er das sagte, zuckte die Augenbrauen des Alten merkwürdig auf. Die Alarmbereitschaft verstärkte sich weiter im Körper von Max, doch er versuchte sich nichts anmerken zu lassen. Er schritt zu dem gelben Gerät und versuchte sich auf die Messung zu konzentrieren.

Plötzlich sah er aus den Augenwinkeln, wie der Alte eine Spritze aus seiner Jackentasche zog und ausholte, um ihn zu attackieren. Während der Arm des Alten abwärts stieß, sprang Max schnell einen Meter zurück. Die Spritze verfehlte ihn. Doch der Alte geriet leicht ins Straucheln. Max nutze diesen Moment, um ihm einen Stoß mit seinem Bein zu versetzen. Der alte Geophysiker fiel auf den Boden. Dabei verdrehte sich sein Handgelenk und die Spritze bohrte sich in seine freie Hand, mit der er sich hatte abstützen wollen. Ein Keuchen entfuhr dem Alten.
„Was ist damals wirklich passiert?", fragte Max erregt. Der Alte blickte auf die Spritze, Blut tropfte auf den Boden. Aschfahl schaute er Max an.
„Recht haste, ich hab gelogen. Damals gelogen bei den Untersuchungen, heute gelogen“, hauchte der sterbende Geophysiker. „War meine Theorie mit den Gletschern. Hast schon recht. Dein alter Herr war dagegen. Hat eine Kontraposition eingenommen. Und tatsächlich den Beweis dafür gefunden. Ich hab mir seine Forschungsergebnisse… besorgt."
„Sie haben ihn… umgebracht?“, fragte Max voller Verzweiflung.
„Mit der Spritze. Sah aus wie ein Herzinfarkt. Er ist gestürzt, während des Forschens gestorben. Sah nach einem natürlichen Tod aus, so etwas passiert“, und damit brachen seine abgehackten Sätze ab. In seine Augen trat ein starrer Ausdruck. Die Spritze lag noch immer in seiner altersbefleckten Hand.
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Gast







Beitrag14.12.2020 16:10

von Gast
Antworten mit Zitat

Hallo @MarianB


Heißt es nicht altersfleckig statt altersbefleckt?

... sagte der Alte und ging voran. Max musste an weiße Asche denken, die den Himmel verdichtete

Passt da kein anderes Wort besser? Im Satz davor hast du auch schon verdichtete genommen.

Schultern passen besser als Schulterblätter, wenn es um Angst geht, die auf ihnen lastet.

Hoffe das hilft dir.

Ansonsten sehr gut und spannend. Habe ich wirklich gerne gelesen.
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MarianB
Geschlecht:männlichGänsefüßchen
M

Alter: 26
Beiträge: 23



M
Beitrag18.12.2020 20:11

von MarianB
pdf-Datei Antworten mit Zitat

Hallo @Ricks,

vielen Dank für deine Zeit und deinen Kommentar. Ich habe mich sehr gefreut. Beide Hinweise helfen mir weiter, aber kann ich das noch nachträglich in den Text einfügen? Ich werde es jedenfalls für meine Überarbeitung berücksichtigen.

Habe mich auch über dein Lob gefreut, danke!

Wünsche dir eine schöne Weihnachtszeit.


Beste Grüße
Marian
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