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Nichts ist eine Menge


 
 
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Gherkin
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G

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Beiträge: 12
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G
Beitrag24.07.2020 11:01
Nichts ist eine Menge
von Gherkin
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Längst vergessene Schätze der Weltliteratur
Versuch einer vorsichtigen Annäherung


Heute: Pedro Junghans „Nichts ist eine Menge“ („Nada es una cantidad“, Cervantes, 1971, Paraguay)


Das Buch mit dem fast mathematisch anmutenden Titel „Nichts ist eine Menge“ von Pedro Junghans erschien 1971 im Cervantes Verlag der Freien Autoren Paraguays, ist 481 Seiten dick und birgt eine Menge an Feinsinn, Beobachtungsgabe und latenter Gesellschaftskritik. Ein wunderbares, ein unerhörtes Buch, ein Meisterwerk.

Ich las das Buch zum Ende der 80er Jahre, in 4 aufeinander folgenden Tagen/Nächten erstmalig. Die Hauptperson heißt Pedro. Das kann darauf schließen lassen, dass dieses Buch autobiografische Züge trägt, aber natürlich mag es auch die narzisstisch-egozentrische Welt des Autors vor Augen führen. Aber wer von allen Schriftstellern dieses Planeten ist denn nicht eitel und ein wenig selbstverliebt? Wer?

In die eigenen Satzstrukturen, in das mühsam Erarbeitete, in die sorgsam zu Papier gebrachte Gedankenflut?? Es gibt wohl keinen Schreibenden, dem Narzissmus fremd ist. Es dürfte sogar eine Form der Voraussetzung sein, überhaupt eine Idee zu einem Roman zu Papier zu bringen, Gestalt werden zu lassen, letztlich niederzuschreiben. Nach Prof. Borwin Bandelow kann es nicht schaden, um Erfolg als Autor haben zu können, wenn sich eine Borderline-Störung mit Narzissmus paart, um dann psychische Instabilität zu gebären. Leid und Tragik im Leben eines Schriftstellers sind also das Fundament für wirklich herausragende Arbeiten und wahrhaft geniale Ergüsse. In Pedro Junghans haben wir einen Vertreter exakt dieser Zunft. Einen Prototypen
.

„Nichts ist eine Menge“ heißt: Wer gar nichts hat, hat dennoch immer wenigstens etwas. Wer so gut wie am Boden ist, oder bereits schon liegt, wer die letzte Sprosse der sozialen Leiter hinab geklettert ist und mit dem linken Fuß bereits Bodenkontakt hat, der kann doch immerhin noch Würde, Zorn, Ehre, Verbitterung, Mut oder Trotz vorweisen. Das Werk soll uns aufzeigen, was der alte Bettler im abgerissenen Mantel fühlt, der mit einem einstmals entwendeten „Norma“-Einkaufswagen, in dem seine vier Beutel, all sein Hab und Gut, lagern, gemächlich über die Seitenstraßen schlurft, wobei eines der Räder leicht quietschende Geräusche von sich gibt. Der Normalbürger würde wohl behaupten, der Bettler sei völlig mittellos. Pedro Junghans schreibt gegen dieses vorurteilsbelastete Denken an und gibt zu beDENKEN: In den 4 Beuteln schlummern Kostbarkeiten und Raritäten, der Wagen ist reiner Luxus, im Kopf des Bettlers – tausend farbenfrohe Fantasien, melancholisch untermalt, wie bei dem „Mädchen mit den Streichhölzern“, das nichts anderes als Wärme und Schutz sucht. Die Würde im absoluten Scheitern, das ist Junghans´ Thema. Er lässt seinen Pedro durch Asunción schlendern, es könnte aber auch jede andere südamerikanische Stadt sein, Mitte Februar, es ist drückend schwül, und dabei Philosophieren, Betrachten und Sinnen.

Halblaute Selbstgespräche, mitunter auch Dialoge, die bisweilen ermüdend wirken können in dieser Häufung, begleiten seinen langen Marsch. Er ist völlig verarmt, hat keinerlei Weggefährten, kennt anscheinend nur diesen mysteriösen Uhrmacher Carlos Benjamin, der immer und immer wieder, oft zur Unzeit, an allen Ecken und Ende in Asunción auftaucht. Am Ende des Buches fragt sich der Leser: Kann der Uhrmacher wirklich fliegen? Hat der geheimnisvolle alte Mann wirklich die Gabe, die Zeit vorübergehend anzuhalten? Oder ist dies nur Traum-, Sinnbild einer gepeinigten Seele, die aufschreit? „Haltet ein! Verharret! So verharret doch endlich!“ So steht es auf Seite 120.

Diese manchmal komische, dann wieder bedrückende, schließlich auch tragische Reise ist nicht nur hervorragend beobachtet, sie ist auch eine stilistische Meisterleistung des Autors. Wer einmal total in sein Genre, sein Sujet, eingetaucht ist, es vollinhaltlich begriffen und verstanden hat, der kann ja quasi „aus dem Vollen schöpfen“. Junghans hat am eigenen Leib erfahren, wie es ist, ohne Geld und ohne Zukunft in einer Stadt zu leben, die vor Hyänen wimmelt, die keine Gnade kennt, in der die so berühmte Schere zwischen Arm und Reich so weit auseinander klafft wie einst Babylons Schenkel.

Begegnungen allüberall, doch entsteht keine Freundschaft, nichts ist von Dauer. Man begrüßt sich, man kennt sich, flüchtige Berührungen, unverbindlich flüchtige Bekanntschaften, durchaus ernst in manch derber Heiterkeit, vorgespielt von grandiosen Schauspielern in erbärmlicher Kulisse.

Der Schriftsteller P. Junghans ist Sohn eines deutschen Vaters, der 1946 auf verschlungenen Pfaden in Peru landet (Nazivergangenheit? Flucht? Fernweh?), dort auf Emilia Rosetta Gonzales de Marco trifft, einer bildschönen Mexikanerin, wie erhaltene Bilder zu belegen wissen, feurig und glutäugig, sie heiratet und mit ihr nach Paraguay zieht, um dort von einer versteckten Hanfplantage zu leben, angeblich von den Behörden gegen Bakschisch-Zahlungen geduldet. Diese Emilia gebiert an einem Tag im Mai, Pedro Junghans verschweigt uns den Tag beharrlich, ihren einzigen Sohn. Wir schreiben das Jahr 1949. Friedrich Junghans stirbt unter bis heute ungeklärten Umständen bei einem Brand, dem nicht nur das feudale Haus „Carpa de Buena Esperanza Junghans“ („Zelt der Guten Hoffnung“) zum Opfer fiel, sondern auch die komplette, großflächige Hanfplantage. Da der Hanfanbau wohl die einzige Einnahmequelle für die Familie Junghans gewesen ist, fanden sich Emilia und Sohn Pedro auf der Straße wieder. An Rücklagen hatte man nicht gedacht, mit dem Haus war auch alles Bargeld und die Schuldscheine/Aktien/Anteilsurkunden verbrannt. Emilia gab sich der Prostitution hin, nach dem stets unbestätigten Gerücht war der eigene Sohn auch ihr Zuhälter. Schließlich starb diese Emilia, da ist ihr Sohn erst 20 Jahre alt. Auch hier: Die Umstände des (offensichtlich gewaltsamen) Todes sind nie völlig aufgeklärt worden.

Strangulationsunterblutungen konnten festgestellt werden, jedoch ist nach dem Totenschein eine von den örtlichen Behörden tolerierte „natürliche Todesursache“ dokumentiert. Emilia Rosetta Gonzales de Marco Junghans wurde lediglich 41 Jahre alt. Sie wurde anonym bestattet.

Pedro Junghans schlug sich mittellos und wohl auch eine Zeitlang als Stricher, wacker zwar, doch psychisch sehr labil, einigermaßen durch. Eine alte Wahrsagerin namens, wie kann es anders sein, „Esmeralda“, soll ihm dann gegen Aushändigung seines Amuletts, das ihm seine Mutter als einzigen wirklich erwähnenswerten Besitz hinterließ, es zeigte einen Skarabäus, geraten haben, JETZT und sofort einen Roman zu schreiben. Dieser würde bekannt werden und den jungen Schriftsteller quasi über Nacht berühmt machen. Auch würde der Stoff dann, jedoch viele Jahre später, verfilmt. Nun, bis heute warten wir auf die Verfilmung, aber wir wissen sicher, dass Pedro Junghans sich noch in dieser Nacht daran begab, die ersten Absätze zu schreiben. „Nichts ist eine Menge“ stand als Titel bereits fest. Junghans beteuerte stets: „Den Titel gab es vor dem Buch“. 1970 begann Pedro Junghans zu schreiben, er war knapp 21 Jahre alt. Seine Schriftstellerkarriere sollte lediglich 14 Jahre umfassen, insgesamt schrieb Pedro Junghans 4 Bücher, doch keines erreichte auch nur im Ansatz die Klasse, die Berühmtheit und die Anerkennung seines Werkes „Nichts ist eine Menge“. Orson Welles interessiert sich 1971 für dieses Buch, will es unbedingt verfilmen. Sein Film „The Deep“ (1967–1970) war fast fertig, als Welles das Geld ausging und die Dreharbeiten verschoben werden mussten. Kurz darauf starb der Hauptdarsteller Laurence Harvey, so dass die fehlenden Szenen nicht mehr nachgedreht werden konnten. Nach dieser tragischen Entwicklung, 3 Jahre vergeblicher Arbeit, die viel Geld und Nerven gekostet hatte, stieß Orson Welles auf „Nichts ist eine Menge“ dieses jungen, unbekannten Autors. Er wollte die Rechte erwerben, doch Junghans sagte: „No, Señor“. Und Orson Welles schmollte….

Eine enge Mitarbeiterin, die damals zum Mitarbeiter-Stab rund um die Produktion des Films „The Deep“ gehörte, hat den Wortlaut des Ablehnungsschreibens per Fax übermittelt. Es bestand nur aus oben angeführtem „No, Señor!“ und dem Zusatz „Caballero, tiene que entender esto de una vez por todas“ (frei übersetzt etwa: „Das sollten Sie jetzt aber ein für alle Mal verstanden haben“). Welles empfand dies als eine persönliche Kränkung und fragte nie wieder nach. Andere Regisseure wie Pedro Almodóvar Caballero (* 24. September 1949 in Calzada de Calatrava, Ciudad Real) oder Carlos Saura (* 4. Januar 1932 in Huesca/Aragón) fragten ebenfalls an, erfuhren aber eine Absage.

Für einen solch jungen Schriftsteller ist es mehr als bemerkenswert, wie prägend seine Figuren, wie tief philosophisch seine Gedankengänge, wie exakt die Charaktere gezeichnet sind, und wie genau sie beobachtet wurden. Ich kann es mir anders absolut nicht vorstellen: Jede prägende Begegnung in Junghans´ Leben findet hier ihren Niederschlag. Vor allem jener mysteriöse Uhrmacher Carlos Benjamin ist sehr liebevoll gezeichnet, möglicherweise eine Metapher für den schwer zu kompensierenden Verlust des geliebten, früh verstorbenen Vaters. Wie kann ein 20jähriger so präzise, so unbestechlich klar, sicher hie und da verspielt, aber niemals ins Schwafeln abtrudelnder Autor solch herrliche Sätze erschaffen?

„Siehst du heimlich, kurz nur, von der Seite in des alten Mannes Antlitz, so wunderbar das Profil zu schauen, so mächtig wirkt der knorrige Eindruck jener imposanten Persönlichkeit, siehst du wissend, Wahrheit erblickend, in dieses Gesicht voller Runzeln, Narben und tausend Krater, weißt du um die Erhabenheit der Natur, um die Weisheit des Alters, erkennst im verglühenden, glanzlosen Auge gar die Herrlichkeit des Zeitenstromes, der unaufhörlich voran strebt, alles vergessend und dennoch alles bewahrend. Pedro beschlich ein mulmiges Gefühl. Ihm deuchte, er habe nicht das Recht, dies Antlitz solchermaßen zu ergründen. Die Schuld lag in seiner unbekümmerten Jugend. Schauen darf sie zwar, doch bereits wissen? Tiefe Blicke sind den Liebenden der Nacht erlaubt, um gegenseitig in der Augen Teiche zu ertrinken, jämmerlich zu ersaufen. Der Weisheit Größe, in jeder Pore erkennbar, scheint für eines jungen Mannes Auge zu gewaltig, er hat sich mit einem brennenden Dornbusch zu begnügen!“

Die Figur des „Ezechiel“, einem immigrierten Juden aus Lettland, hat so viel Wärme, dass mir die eine oder andere Träne, von mir unbemerkt während der Lektüre, über die Wange rann. Erwähnenswert ist die Detailtreue der Schilderungen des damaligen Asunción. Ich selbst war dort, in Paraguay, habe die Wege, Gassen und Straßen aufgesucht, in denen der Roman spielt. Tiefe Wehmut überkam mich im Historischen Zentrum der Hauptstadt Paraguays. Ein Elendsgürtel umschließt die wunderschönen Bauten, in denen zu Pedros Zeiten gelacht, geliebt und schlicht gelebt wurde. Der Anblick all dieses Elends ist nur schwer zu ertragen. Ähnlich mag es all den Estebans, Ezechiels und Ellys ergangen sein, in den frühen 70er Jahren des vergangenen Jahrhunderts. Doch wer von uns kann „Elend im Elend“ erfassen? Wer hat wirklich auf der Straße gelebt, gehungert, Zorn verspürend, Ohnmacht stärker noch? Pedro Junghans! Er kennt, wovon er schreibt, er weiß, was er seine Hauptfigur P. denken lässt. „Wehmut, Wermut und Wut sind schwer ertragbare, recht skurrile Bettgenossen“, spricht Junghans weise durch den Uhrmacher Carlos Benjamin. Bildgewaltig, deutungsstark, ironisch und provokant, stimmungsvoll und niemals allzu lässig – ein gelungener Debüt-Roman eines bis dahin (1971) völlig unbekannten Autors. Ein wichtiges Buch. Lesens- und Bewahrens wert, Cervantes sei bedankt.

Facettenreich, wortgewaltig, mit keck-dreistem Humor ausgestattet, manchmal sogar süffisant und sardonisch, so lässt uns Junghans in die Nacht der liebenswerten Spinner, der eloquenten bierseligen Philosophen und freundlichen Chaoten eintauchen, er bringt uns all die Kaputten, die Verlierer und Geknechteten einer unwissentlich bereits klar besiegten Gesellschaftsstruktur näher. Diese Weitsicht – ich muss es immer wieder betonen: Ein 20jähriger schrieb diesen Roman! – all diese Wucht dieser immens starken Charaktere, erfreulich stressfrei trotz immanenter Probleme und Sorgen, nahezu unaufgeregt geschildert. Manchmal dringt etwas zu viel Pathos durch, mitunter kommen all diese Nachtgespenster ein wenig zu pomadig, zu behäbig daher, die Figur des „Esteban“ z. B. verquast, schon fast durchgeistigt (trennt sich selbst einen Finger ab, um wieder einmal Ekstase erleben zu dürfen; das nimmt man dieser Figur in dieser Art und Weise einfach nicht ab!), öfter kommt es vor, wie bereits erwähnt, dass die inneren Dialoge zu lange währen. Die Monologe dagegen sind reines Meisterwerk, erinnern phasenweise an Ken Keseys „One flew east, one flew west, one flew over the cuckoo´s nest“, wenn der „stumme“ Indianerhäuptling seinen innersten Gefühlen Ausdruck verleiht.

Das Buch ist gelungen, rundum. Keine Seite zu lang, man möchte aber auch keine einzige Seite darin missen. Fabulierfreudig kommt uns Pedro J. daher, er ist ein glänzender Erzähler. Das Werk liest sich flüssig, die Dramaturgie scheint mir sehr gelungen. Aufbau, Struktur und Klimax sind folgerichtig und „mathematisch genau“, das Timing (!) hat mich fast erschlagen. So exakt sitzt das Aha-Erlebnis, wuchtig prügelt dir diese Weisheiten-Maschine einen Vorschlaghammer in die Weichteile, mächtig brettern vielfältige Eindrücke durchs aufnahmebereite Hirn, du befindest dich mitten in Asunción, es ist Nacht, die Nacht im Februar, und du triffst tausend Menschen. Habgierige, böse und gute, leidenschaftliche wie auch offensichtlich längst verstorbene Persönlichkeiten, selten vergilbt die Sprache des Autors, immer jedoch wach, sicheren Auges, klaren Wortes. Mit 39 € ist dies, mit erhabenem Skarabäus auf dem Kunstledereinband, wiederentdeckte und neu aufgelegte Buch nicht gerade billig. Aber man wird es auch niemals nur einmal lesen und dann nicht wieder zur Hand nehmen. Ich lese, je nach Stimmung, gerne die Passagen mit dem Uhrmacher, die sich wie eine eigene Geschichte durch das ganze Buch ziehen, wenn ich schwermütig, melancholisch und fernab heiteren Gemütes bin; möchte ich fröhlich sein und lachen, dann fesseln mich die Geschichten rund um die „deutsche Elly“ und den gestrandeten Seebären „Frost“, die sich unablässig streiten und versöhnen. Auch die Story über den Versuch, einen Tapir zu zerlegen und schließlich zu essen, ist ungewöhnlich erheiternd. Möchte man am „Festmahl“ teilnehmen? Nein, eher nicht. Aber doch wenigstens mit am Feuer sitzen.

Der Uhrmacher gerät dem jungen Autoren etwas zu geheimnisvoll. Die Allegorie für die Allmacht Gottes und die Weisheit unserer Mutter Natur, vom Leben und Sterben, von Wissen, Ohnmacht, Scheitern, Siegen und schließlich auch jene überzeugende Omnipotenz des Alters, das auf seine Weise über die Jugend triumphiert, und dennoch niemals gewinnen kann, hat Tiefe, birgt eine kongeniale Wertvorstellungsphilosophie, wird stringent erzählt und geriert zum Mittelpunkt des tragikomischen Werkes. Früh kann entschlüsselt werden, um was es Junghans bei diesem doch überaus sympathischen Protagonisten geht, daher hätte es ihm gut zu Wort gestanden, wäre die Figur weniger mystisch geraten, greifbarer, menschlicher, nicht gar so abgehoben – und das im wahrsten Sinne des Wortes, denn in Kapitel VI fliegt der Uhrmacher durch das Dachfenster davon.

Sicherlich aber sind gerade die Passagen mit und über Carlos Benjamin, den Uhrmacher, die sicherlich besten Stellen des Buches, das übrigens hervorragend vom Spanischen ins Deutsche übersetzt wurde. Ein Dr. Rudy Estebez zeichnet hierfür verantwortlich. Ich liebe all die tausend Geschichten innerhalb dieser einen, großen Geschichte, ich liebe dieses Buch sehr. Ich kann es jedem empfehlen, der Erzählkunst, einen schnörkellosen Schreibstil und großartig beobachtete Charaktere liebt. Man sollte jedoch eine große Sympathie für liebenswerte Verlierer im Herzen tragen. Mitunter verleihe ich dieses Buch und frage dann: Wie alt, glauben Sie, ist der Schriftsteller bei Verfassung des Romans gewesen? Sehr oft höre ich: Sicherlich im fortgeschrittenen Alter, wahrscheinlich ein Spätwerk.

Hört der Leser dann, dass ein zu jener Zeit gerade einmal Volljähriger dieses großartige Werk schuf, ein Jahrhundertwurf, ein Geniestreich, dann ist das Erstaunen groß. Und keiner kennt diesen Autor.

Merkwürdig bleibt, dass über Pedro Junghans, viel zu früh im Jahre 1990 an Nierenversagen in Bad Neuenahr verstorben, so gut wie nichts bekannt ist. Eine tragische Figur, ein Paradiesvogel, ähnlich eines B. Traven, immer auf der Suche, immer unterwegs. Er bereiste ganz Südamerika, wohnte in Berlin, Amsterdam, Lissabon und Neapel. Zuletzt besuchte er den Heimatort seines Vaters, bereits schwer krank, Ahrweiler. Die deutsche Sprache hat er nie ganz erlernt, dafür sprach Junghans sehr gut Italienisch, Portugiesisch und Holländisch, neben seiner Muttersprache Spanisch. Er soll, genau weiß das niemand, Codein abhängig gewesen sein, dies berichten übereinstimmend zwei Frauen, die ihm wohl nahe gestanden haben dürften. Eine davon, Elly, eine Niederländerin, findet sich dann als „deutsche Elly“ wieder. Eine Verquickung der deutschen Wurzeln mit der holländischen Liebe, eine Verbeugung vor Europa, aus dessen Schoß uns dieses junge Talent einst geschenkt wurde. Für den Roman gab es den nationalen „Pegasus“-Preis, verbunden mit 6000000 PYG (Paraguay Guarani), zur damaligen Zeit ein kleines Vermögen, heute etwa 1070 €. Pedro Junghans soll dafür jenes „Zelt der Guten Hoffnung“, das Elternhaus, wieder auferstehen lassen haben. Es ist nicht belegt, ob es dieses Gebäude heute noch gibt. An bezeichneter Adresse fand sich – nichts. Doch Nichts ist eine Menge…

ZUSATZ: “DER TAPIR”

Auszüge aus Hans Ulrich Gumbrecht: Theologie des Tapirs, erschienen in der Neuen Zürcher Zeitung am 9. April 2005, S.68, mit freundlicher Genehmigung von Professor Hans Ulrich Gumbrecht, Stanford, USA und nzz.ch.

"(…) Der Tapir steht da, (…) um Opfer in Vollkommenheit zu sein. «Schmerzens-Tier» könnte man ihn deshalb in gewollter Anspielung auf die Theologie des Neuen Testaments nennen. Der Tapir steht da, um den Schmeißfliegen seine Ohrmuscheln zur Ablage ihrer Eier zu bieten, um das Abgefeimte des Fäkaliengeruchs wirksam zu unterstreichen, indem er sich nicht an ihm stört. (…) In einer Zeit wachsender Skepsis gegenüber dem darwinistischen Paradigma sollte man (…) den Tapir zumindest ansatzweise als Paradigma für das Prinzip eines «survival of the unfittest» diskutieren.

Obwohl er ein Nachttier ist, scheinen die Augen des Tapirs zurückentwickelt bis zu einem Grad, der an den Grottenolm erinnert. Während sich seine Existenz deshalb darin erfüllen sollte, den scharfzahnigen Raubkatzen, so gut er kann, zu entkommen, fällt es dem massigen Tapir der Wirklichkeit ungemein schwer, sich in die Blätter- und Baumbestände des Regenwaldes zu pressen. (…) Der Rüssel des Tapirs ist zu schwach, um ihn - wie einen Elefantenrüssel - für Bauarbeiten zu qualifizieren, und zu kurz, um sich - wie der Rüssel des Ameisenbärs - bei der Nahrungsaufnahme im flachen Wasser zu bewähren. Weil der Tapir bis heute in Zentralasien und im subäquatorialen Südamerika zu Hause ist, dürfen wir schließen, dass er, so wie er heute vor uns steht, ein unwahrscheinlicher Überlebender aus der Fauna von Gondwanaland ist. Nichts ist leichter (…) als die Jagd auf den Tapir.

Es genügt zu wissen, dass Tapire keine Mühen und keinen Weg scheuen, wenn sie Salzgeruch in ihrer Witterung aufnehmen. Also muss der Pygmäe nur Salzpaste auf eine Baumrinde applizieren und kann dann gelassen auf das unausbleibliche Erscheinen des Tapirs warten, um ihn bald schon mit der starken Taschenlampe in einen Zustand des Stupors zu versetzen. Gekocht wie gegrillt sei Tapir-Fleisch, liest man, eine wahre Delikatesse. (…)"


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Ständiges Mitglied des Prekariats, gewichtiger Bedenkenträger
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