DER LETZTE APFEL

[Retlaw]

Ein Apfel rief: kommt her geschwind
und pflückt mich endlich doch,
ich schaukle hier im kalten Wind,
wer weiß, wie lange noch.

Hier oben bin ich, Menschenskind,
du musst nicht lange suchen,
all meine Kameraden sind
schon längst auf einem Kuchen.

Warum ich rot geworden bin
und fleckig, schrumplig, klein?
In mir steckt eine Made drin,
da muss man sauer sein.

Das ist der Apfel immer noch,
denn wie wir heute wissen,
hat, obgleich er sehr gut roch,
noch keiner angebissen.

[Missing Tales]

Hi, bin kein großer Lyriker und hab nur noch wenig Erinnerung an die ganzen tollen Fachbegriffe aus dem Deutschunterricht, aber ich versuche mich mal auch an einer Lyrik-Kritik
Vorweg: ich bin mir nicht ganz sicher, wo hier jetzt welche Kritik angebracht ist (Einstand, Werkstatt, Feedback), nach den Rückmeldungen der anderen Gedichte gewinne ich den Eindruck dass überall tendenziell ähnliche Beiträge kommen, wobei die Detailarbeit in der Werkstatt am höchsten zu sein scheint. Daher werde ich mich hier eher auf das Gesamtpaket beschränken^^

Erster Eindruck:
ein locker flockig leicht zu lesendes Gedicht, beschwingt im Ton und humoristisch in der Wirkung. Es erinnert mich ein kleines bisschen an die Alltagsgediche von Heinz Erhart (Die Made, die Zitrone). Es hat mir gut gefallen und mich zum Schmunzeln gebracht.

Formal:
Der Rhythmus ist über das gesamte Gedicht gut eingehalten, die Reime hören sich stimmig an und in keiner Zeile wird man aus dem Rhythmus geworfen. Nur in der letzten Zeile musste ich aufgrund der Satzstellung einmal stolpern, im zweiten Lesen wurde der Rhythmus dann aber wieder klar.

Inhaltlich:
Die tragikomische Geschichte eines verschmähten Apfels finde ich eine sehr lustige Idee, die gut umgesetzt ist. Der Bogen von einem Gefühl der Dringlichkeit zu einer gewissen Verzweiflung und dann die Wende des Problems und eine augenzwinkernde Auflösung ist in wenigen Worten kurz und prägnant geschlagen. Obwohl ich am Ende ein gewisses Mitleid mit dem Apfel verspüre, hat das Gedicht mich in gehobener Stimmung zurückgelassen ^^ (und ja, das gehört schon nicht mehr zum Inhalt, aber gut, dass ich für meinen alten Deutschlehrer hier incognito unterwegs bin...)

Die Lieblingspassage:
"Hier oben bin ich, Menschenskind, du musst nicht lange suchen"
Diese Zeilen mag ich am liebsten, hier drückt sich (je nachdem wie man "Menschenskind" ausspricht) die ganze Verzweiflung des verschmähten Apfels aus. Es ist als ob er den Menschen für zu blöd zum Gucken hält^^ Ich musste darüber sehr schmunzeln.

Die Fragezeichenpassage:
"Warum ich rot geworden bin und fleckig schrumplig klein?"
Ich mag diese Zeilen gerne, weil sie gerade die überraschende Wende zeigen, und das "rot geworden" metaphorisch gut zu dem "sauer werden" passt. Aber inhaltlich stellt sich hier ne winzige Frage. Es werden doch alle Äpfel rot, egal ob mit oder ohne Made, oder? Daher würde sich die Frage in dieser Form eher nicht stellen. Vielleicht ist ein "doch" statt "und" oder Ähnliches hier besser? Wobei das "und" die beiden Zeilen melodiös irgendwie runder macht als ein "doch", das einen winzigen Bruch darstellen würde. Hm. Fragezeichenpassage^^

Fazit:
Ein schönes Gedicht  zum Einstand, das viel zu lange ohne eine Kritik hier geblieben ist Hab (im Grunde) nichts zu meckern.

LG Missing Tales

[Retlaw]

Danke -sagt der Neue.