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Diese Werke sind ihren Autoren besonders wichtig Die Heimkehr des Sohnes


 
 
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Mr.Goose
Geschlecht:männlichSchneckenpost
M

Alter: 26
Beiträge: 13
Wohnort: Thüringen


M
Beitrag27.02.2020 18:26
Die Heimkehr des Sohnes
von Mr.Goose
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Hallo, ein kleiner text, den ich im letzten Monat als Reisebeschäftigung geschrieben habe. Ich würde den gern als Ausgangspunkt wählen, für ein bisschen Zusätzliches, gerade auf den letzten Teil bezogen.

Die Heimkehr des Sohnes

  Kaum einer kennt die kälteste Stunde der Nacht. Im Volksmund heißt es zumeist: „Ach, wenn die Sonne ganz verschwunden ist und bevor sie wieder aufgeht, Mitternacht also, da frierst du am meisten.“ Versschreiber und Dichter hingegen beziehen sich zumeist eher auf die kurze Zeit unmittelbar vor dem Sonnenaufgang, wenn alles schimmert, wie mit einer dünnen Schicht Glas überzogen.
  Sie alle meinten das Falsche. Zumindest ließ sich dieser Eindruck gewinnen, als mit dem Abzug der Sonne in einem kleinen, kargen Dorf der Wind sich breitmachte und die ersten Flocken des Jahres mit einer Wucht hineintrieb, die an den Angriff eines wilden Tieres erinnerte. Die Temperatur sank schlagartig und unzählige, winzig kleine funkelnde Sterne bohrten sich wie Pfeile in die Haut jener Unglücklicher, die keine Fluchtmöglichkeit sahen.
  Bald schon, als der Blizzard noch weiter an Stärke zunahm, der Wind durch die die Holzgiebel pfiff und die Pferde sich in die hintersten Winkel der Stallungen zurückzogen, da erloschen allmählich alle Lichter, eins nach dem anderen. Die Feuer im Inneren gingen meist schneller wieder aus, als sie angeheizt wurden und das beste Mittel gegen Frost in den Gliedern schienen immer noch ein trockenes Nachtlager und eine Menge Decken zu sein. Die Dunkelheit gehörte alsbald erneut den Träumern und Träumenden. Einzig aus einem Haus, nicht weit abseits vom in die Jahre gekommenen Marktplatz und mit angrenzender Scheune und Viehverschlag, drang beharrlich ein goldener Schimmer, versprach etwas Leben in diesem kalten Umfeld.
  Die Hütte wäre am Tage eine außerordentlich gepflegte gewesen, in frischer Farbe anmutend die Einwohner als kreative und respektierliche Mitglieder der Dorfgemeinschaft ausweisend. Inmitten der wachsenden Eislandschaft allerdings reihte sich das Haus zwischen den umstehenden ein, ohne ein besonderes Willkommen zu versprechen. Wäre da nicht das Licht im Fenster gewesen…
  In der von Öllampen erzeugten, diffusen Helligkeit der Stube saß eine Frau mittleren Alters. Ihr Haar war straff zurückgebunden, ihre Stirn in Sorgenfalten gelegt. In den Händen hielt sie ein Stück Papier, etwas ausgeblichen, wettergegerbt vielleicht. Der geschulte Beobachter hätte erkannt, dass dieses Papier schon eine nicht zu verachtenswerte Reise hinter sich gebracht hatte, durch viele Hände gegangen war, von vielen Augen angestarrt. Auch die Frau blickte intensiv den Zeilen entgegen, die sie schon unzählige Male an diesem Abend gelesen hatte, als wollte sie ihnen noch zusätzliche Informationen entlocken. Doch das Papier blieb stumm, keine Geheimschrift gab sich plötzlich zu erkennen, nichts schien verschlüsselt und vom unbedarften Auge verborgen.
  Die Frau zuckte zusammen, als mit einem Knall die Tür aufschlug und der Windstoß für plötzliche Dunkelheit im Raum sorgte. Im Rahmen stand ein Mann, breit gebaut, mit der im Dorf gweöhnlichen Bauernstatur. Seine Silhouette hob sich schwarz vom schwarzen Hintergrund des nächtlichen Sturmes ab. Er schloss die Tür behutsam, während die Frau sich beeilte, die Kerzen wieder anzuzünden.
  Der Mann, mit Namen Landor, zog sich keuchend seine Kopfbedeckung vom Haupt. „Die Pferde werden unruhig bei solch abrupten Wetterveränderungen. Ich benötigte eine große Menge an Zuneigung, um sie dazu anzuhalten, in den Stallungen zu bleiben und sich nicht geradewegs in die Scheune zu flüchten. Aber sage mir, mein Weibe Inomés, warum bist du zu später Stunde noch nicht in Decken und Überdecken gehüllt, auf dass deine Füße auch noch den morgigen Tag erleben?“
  Inomés, ungewöhnlich bleich, zitterte ein wenig, als sie ihrem Gatten den Brief zeigte, der am Nachmittag von einem sehr faulen und unzuverlässigen Boten vor der Haustür abgelegt worden war. Landor nahm ihn an sich und beim Lesen bildete sich eine tiefe Falte zwischen seinen buschigen Augenbrauchen.

Liebste Mutter, liebster Vater,

Ich hoffe ihr befindet euch bei bester Gesundheit und die Ernte für diesen Winter war so erfolgreich, wie im letzten Jahre. Mein Herz springt jetzt schon vor Freude, wenn ich daran denke, endlich wieder mein Gesicht in die berühmte Apfel-Ingwer-Suppe tunken zu können. Sorgt euch nicht um mich, ich bin zwar in der Fremde, jedoch in allerbester Gesell-schaft und momentan beim Fahrenden Volke, das mich wie eine zweite Familie will-kommen geheißen hat. Jedoch muss ich euch zu meinem Leidwesen und eurer Freude wohl mitteilen, dass ich dem vagabundierenden Lebensstil eines Reisenden inzwischen überdrüssig geworden bin. Ihr sagtet mir einmal, dass alle Reise irgendwann wieder an den Ort des Ursprungs führt. Nun denke ich, ich verstehe ungefähr, was ihr meintet. Die zehn Jahre auf Wanderschaft haben mich einiges erkennen lassen. So möchte ich nun heimkehren, alsbald, wenn möglich. Ich habe inzwischen meinen Frieden mit dem Großteil des Lagers hierzulande geschlossen. Sie sind zwar nicht glücklich über mein Fortgehen, sehen allerdings mein Bedürfnis und wollen dem nicht im Wege stehen. Nun habe ich hier aber noch einige Angelegenheiten zu regeln, die meiner persönlich bedürfen. Ich schicke deshalb einen Boten (behandelt ihn anständig, er ist ein Freund von mir) voraus, der euch über mein Kommen unterrichten wird. Erwartet meinen Besuch also spätestens zum Sonnenuntergang des zweiten Wintertages.
  
Mit aller Liebe die mir eigen ist, Irec.


  Landor Blick blieb noch eine Weile auf dem Papier haften. Wie von einem Bann erfasst überflog er ihn einmal, noch einmal und noch ein drittes Mal. Schließlich stieß er keuchend aus: „Unser Sohn… er kehrt heim. Was für eine erheiternde Nachricht! Aber wann sagtest du, lag der Brief vor der Tür, heute Nachmittag? Und wann ist der Tag seiner Rückkehr? Sonnenuntergang am zweiten Tag des Winters… Aber das ist ja heute!“
  Mit einem Ruck drehte er sich herum und starrte durch das Fenster hinaus in die wirbelnden Schwaden, plötzlich überempfänglich für die Leidensgeräusche der Hütte als Grenzposten gegen die Sturmböen. Inomés, aus ihrer Starrheit erwacht durch die abrupte Bewegung ihres Mannes, trat auf ihn zu und packte eindringlich seine Schulter. „Irec wollte vor Sonnenunter- gang heute ankommen. Das ist schon mehrere Stunden her. Du musst nach ihm suchen, er wurde mit Sicherheit vom Schneesturm überrascht und ist verunglückt. Du warst da draußen, du weißt wie schlimm es zugeht. Stell dir nur vor, er hat sich im Wald verlaufen. Oder sein Pferd ist weggerannt und jetzt kommt er nicht mehr weiter. Er erfriert bestimmt!“
  Langsam schob Landor die Hand seiner Frau von der Schulter und hielt sie fest. In seinen Augen sah sie keine Furcht, meinte aber dahinter zu erkennen, wie Zahnräder in einander griffen und Kolben auf und ab ratterten. „Ich sattele sofort auf“, war seine Antwort. „Ich nehme Ustit. Er ist der einzige, der in diesem Sturm seine Nützlichkeit findet. Ich benötige zwei Lampen, Seil, Hacke und Schaufel. Mehr noch die Hälfte der Decken. Wünsche mir Glück und auf dass ich nicht allein wiederkäme. Es ist die höchste aller Eilen geboten.“ Damit küsste er sie noch einmal zum Abschied und machte auf dem Absatz kehrt, um dem Blizzard entgegenzutreten.
  
  Die Landschaft rund um das kleine, karge Dorf zeigt sich als recht typisch für diese Region. Bestellte Acker, Hügel und Felder, immer wieder unterbrochen von dem einen oder anderen im Sonnenschein sehr idyllisch anmutenden Baumgrüppchen oder Weilern. Nur im Osten, wo die Kaufmannsstraße entlangführt und die meisten Besucher ihren Weg in das Dorf finden, dort liegt ein langgestreckter Wald, dunkel in der Nacht und wahrlich einer der undankbarsten Orte, um sich in einem Schneesturm wiederzufinden. Dies allerdings war Landor und seinem tapferen Reittier Ustit bestimmt, die natürlich den befahrensten Weg mit der höchsten Wahrscheinlichkeit, den Vermissten heimzuführen, einschlugen.
  Höher und höher wuchs die nasskalte Schicht und hinderte das Pferd zunehmend am Weitergehen. Längst verloren war der Glanz der weißlich – durchsichtigen Kristalle, die das Dunkel der Nacht in einem Tanz durchdrangen, den Landor in jungen Jahren immer bewundert hatte. Diese Art von rigorosem Bombardement erinnerte ihn vielmehr an eine schamanische Kunst aus Gauklerzeiten, welche die Einwohner damals als Akkupunktur bezeichnet hatten. Jedoch hatte diese Linderung des Schmerzes versprochen, ganz im Gegensatz zu den tausend kalten Nadelstichen, die vollständig seine Augenpartie bedeckten, nur um von dort aus, eisige Wellen durch seinen ganzen Körper zu senden.
  Schon bald war Landor völlig durchnässt, die Kälte hatte seine verstärkte Wollkleidung bezwungen und auch nicht vor seinen Knochen Halt gemacht. Die beiden Lampen, die an jeder Seite des Gauls herunterbaumelten, vermochten kaum die Sicht über den Pferdehals hinweg zu gewährleisten. Immer wieder rief der Vater den Namen seines Sohnes in die Leere des Waldes hinein, konnte aber kaum das Heulen des Windes und das Knarzen des Geästs übertönen. Überhaupt war der wäldliche Trubel vollkommen verschwunden, begraben unter Schichten und Schichten aus Eis und geschluckt vom Dunkel der Nacht.
  Als ihm langsam die Glieder taub wurden und vor Konkurrenz mit dem Wind seine Stimme stumpf, musste Landor sich eingestehen, dass sein Vorhaben keinen Sinn mehr hatte. Die einzige Hoffnung bestand nunmehr darin, dass Irec sich im Datum geirrt hatte und erst Tage später zu seiner Reise aufbrechen sollte. Möglich wäre es, er zeigte sich mitunter ein bisschen zerstreut. An diesem Gedanken festhaltend und die Grabesstimmung um sich herum ignorierend, schöpfte Landor neuen Mut. Er würde wieder heimkehren, seine Frau beruhigen und auf die Rückkehr des Sohnes warten, Verspätung hin oder her. Er klopfte dem tapferen Gaul, der so lang mit ihm sein Ziel verfolgt hatte auf die Seite. „Na los, mein holder, die Stube wartet auf uns beide, zumindest auf mich, aber dir wird eine Belohnung für deine Ausdauer zuteil.“ Damit gab er sanft den Befehl umzudrehen. Das Tier verstand und folgte mit neugefundenem Eifer.
  Der Weg zurück erstreckte sich jedoch mühsamer als gedacht. Zwar hatte Landor in weiser Voraussicht am ersten Baum des Waldes ein Seil befestigt und das andere Ende am Sattel befestigt, auf dass es ihm den Heimweg weisen sollte. Allerdings endete dieses Seil nach einem kurzen Ritt an einem Baum mit besonders spitzen Ästen. Der Rest verlor sich im Weiß und wahr wohl für immer verloren. Doch Landor verlor die Hoffnung nicht. Mit wütender Miene und warmen Gedanken trieb er seinen Gaul verbissen an, murmelte Flüche in seinen inzwischen vor Eis starrenden Mundschutz hinein und folgte beharrlich der Richtung, in der er den Faden zuletzt verloren hatte. Der Schnee allerdings wurde immer höher, reichte Ustit nun schon fast bis zu den Flanken und erschwerte das Vorankommen mehr und mehr. Auch die Temperatur schien immer weiter ins bodenlose zu fallen. Und der Wind heulte durch die Baumwipfel, ohne Aussicht auf Veränderung…
  Eine ungewisse Zeit verging, die Nacht blieb schwarz, der Sturm unbarmherzig, der Wald undurchdringlich. Längst wusste der Mann auf seinem Pferd nicht mehr, wo er sich befand, hatte keinerlei Orientierungspunkte mehr, er, der sich in diesem Gebiet auskannte wie kein zweiter. Mit gebücktem Körper, dicht an den Hals des Tieres gepresst, gab er das Vorankommen ganz aus der Hand. Gedanken an seinen Hof, an Sommertage und an Inomés machten sich in seinem Kopf breit, füllten wohlig den Platz, der durch Kälte und Erschöpfung freigeräumt worden war, füllten ihn ganz.
  Ein plötzliches Krachen schreckte ihn auf, über, vor, neben ihm zu beiden Seiten. Von einem Moment auf den nächsten segelte er vom Rücken des Gauls durch die Luft und landete kopfüber im Schnee. Sich seiner Sinne nicht mehr gebar, schlug der Mann wild um sich, hielt jedoch plötzlich inne, als unmittelbar neben ihm etwas Gewaltiges auf die Erde niederschmetterte und seine Eingeweide erschüttern ließ. Eine Welle aus Eis überrollte ihn und der Boden schien nachzubeben, so immens war der Einschlag. Er wagte keinen Muskel zu rühren und verharrte in seiner Haltung für eine kurze Zeit. Doch der Wind pfiff schon wieder weiter wie zuvor, die Bäume ächzten wieder unter der Last, die ihnen auferlegt worden war. Nach einer kurzen Zeit versuchte er also aufzustehen, jedoch versagten ihm die Muskeln jeden Dienst. Seine Gelenke schienen wie eingefroren, jede Anstrengung schmerzte so unsäglich und war so kalt. Langsam des Atmens unfähig und begraben unter einem Berg aus Schnee blieb er liegen und nun fanden seine Gedanken die Vergangenheit, die Familie und die Wärme eines tüchtigen Kaminfeuers…
  
  Wenig Unbekanntes blieb bestehen nach der Gründung des kleinen Dorfes und den anschließenden Expeditionen und Unternehmungen, die zur Nutzbarmachung des Waldes und der Umgebung dienten. Mehr noch wurde aufgeklärt, als die Kaufmannsstraße befestigt wurde. Mit deren verstärkter Nutzung schließlich, schien es als bargen die Bäume keine Geheimnisse mehr, als hätte sich der zivilisierte Mensch all des verborgenen Wissens bemächtigt, dass zwischen Büschen und Sträuchern zu finden war. Etwas jedoch hielt sich hartnäckig, unbemerkt von jedermann und des Blickes verborgen.
  In einer kleinen Behausung, windschief und doch stabil, eingepfercht zwischen gewaltigen Fichtenstämmen und irgendwie auch Teil von ihnen, hauste ein alter Einsiedler. Er war schon so lange Einsiedler, er hatte alle Erinnerung daran verloren, je etwas anderes gewesen zu sein. Aus seinem Bart spross Moos und seine Haut hatte die Farbe von dunklem Holz angenommen, so lange hauste er schon in der Hütte zwischen den Fichtenstämmen. Nie war er auch nur einer Menschenseele begegnet, immer waren ihm die stummen Riesen um ihn herum genug Gesellschaft gewesen. Sie waren für ihn unvergänglich. Umso überraschter war der Einsiedler, als eines Nachts, während eines Schneesturms es plötzlich vor seiner Hütter krachte und polterte, als werfe jemand Steine vom Himmel. Doch der Überraschung war in dieser Nacht noch nicht genüge getan. Auf der Suche nach der Quelle des Geräuschs, das ihn so unsanft aus dem Schlaf gerissen hat, stellte er mit Ärger fest, dass eine der Fichten, die er tagein tagaus, seitdem sie kleine Samen waren, gepflegt hatte, dem Tosen des Sturms anheimgefallen war. In unvorstellbarem Ausmaß lag der Stamm nun da, wurde schon wieder mit Schnee überdeckt und würde wohl in einer kurzen Zeit dem Kreislauf des Waldes geopfert werden.
  Enttäuscht von der Schwäche seines Zöglings schüttelte der Einsiedler den Kopf und wollte sich schon gerade wieder in die Hütte zurückbegeben, als der Schein seiner Laterne etwas Ungewöhnliches streifte. Er hielt inne und inspizierte seinen Fund. Aus dem Berg voll Schnee, der neben dem Baumriesen niedergegangen war, ragte tatsächlich eine Hand heraus. Vorsichtig, skeptisch sogar zog der Einsiedler daran und grub alsbald einen ganzen Menschen aus, dick eingepackt und völlig unterkühlt. Aber atmend.

  Landor schreckte auf, als ein Scheit im Kamin mit lautem Krachen auf den Boden fiel. Das Tosen des Sturms war verschwunden, nur ein leises Knistern vernahm er noch und Stille. Sein ganzer Körper kribbelte vor Wärme, es war ihm höchst unangenehm. So blieb er liegen, wartete bis ihm seine Glieder wieder erlaubten, sich zu bewegen. Dann öffnete er auch die Augen. Er schien umgeben von Holzwänden, die einzige Lichtquelle war das Feuer zu seiner rechten. Davor saß eine Gestalt von gar allzu komischer Körperform.
  „N’endlich. Bist wach. Lang gschlafn“, die zur Gestalt gehörende Stimme ähnelte mehr einer Aneinanderreihung von Lauten und erinnerte Landor an das Brechen von Holz. „Sturm’s Ende. Bist warm. Kannst gehn!“
  Die Gestalt hatte das Gesicht immer noch abgewandt, Landor blickte nur auf ihren merkwürdig deformierten Rücken. Er fühlte, wie langsam seine Stimme zurückkehrte. „Landor mein Name, vielen Dank für meine Rettung. Sie haben mich doch gerettet, oder nicht? Kann ich mich denn bei Ihnen revanchieren, ich könnte ihnen etwas Milch oder Eier von meinem Hof abgeben?“
  „Nein“, fuhr die Gestalt wütend dazwischen und in Landor sah vor seinem inneren Auge noch einmal einen mächtigen Baum auf die Erde niederschmettern. „Du gehn! Nix hier tun! Weg! Weg!“
  Mit den letzten beiden Worten drehte sich der Einsiedler zu Landor um, schien plötzlich zu wachsen und den ganzen kargen Raum auszufüllen. Mit vor Wut funkelnden Augen und einem Atem, der nach Kiefernnadeln und Fisch roch, spie er ihm entgegen: „Du weg! Mein Haus, meine Baum! Du warm! Gehen!“
  Landor, von der abartigen Kreatur mehr als eingeschüchtert war, wich zurück, bis er eine Tür im Rücken spürte, durch die er sogleich hinaussprang. Draußen empfing ihn die Sonne und eine klirrende Winterstille. Der Einsiedler hatte nicht gelogen, der Sturm war vorüber. Jedoch wusste Landor weder, wie lange er geschlafen hatte, noch welchen Weg er nach Hause einschlagen musste. Also wählte er eine Richtung und lief geradewegs drauf los, in Gedanken noch immer bei seinem schaurigen Retter.
 
 Der Weg durch den glitzernden Wald mit getrockneter und gefütterter Kleidung erwies sich als wesentlich angenehmer im Vergleich zu den Beschwerden, die ihm vorher bereitet worden waren. Alsbald kam Landor an eine Lichtung, auf der er zu seiner Überraschung Ustit fand, der mit seiner Schnauze versuchte, den gefrorenen Boden aufzuscharren, um an Knollen und Gras zu kommen. Sogleich sprang Landor an seine Seite und das Tier erkannte ihn und begrüßte ihn freudig. Auf wundersame Art und Weise hatte der Hengst auch seinen Sattel nicht verloren und sobald Landor sich aufgeschwungen hatte, trabte das Tier gemächlich los, als hätte es nur auf ihn gewartet.
  Nach einiger Zeit erreichten sie den Rand des Waldes, erblickten vor sich die schneebedeckten Felder und Wiesen, aus deren Mitte das Dorf wie ein kleiner Schönheitsfleck auf der makellosen Haut einer Jungfer herausstach. Die Glocken klangen laut und freudig in Landors Kopf und feierten erregt sein rätselhaftes Überleben. Jedoch verdunkelte sich der helle Klang von jeher, als er seinen Hof erblickte und ihm die Ungewissheit um seinen Sohn, den er doch zu suchen ausgeschickt worden war, wie ein Hammer in die Magengrube schlug. Ohne Zweifel hatte er eine ganze Zeit lang in der Hütte des Einsiedlers geschlafen und könnte jetzt seiner Frau nicht mehr ohne seinen Sohn unter die Augen treten. Die Suche vorsätzlich aufgegeben hatte er ja sogar!
  Beherrscht von Scham und Reue über das Misslungene Unterfangen, wollte er sich schon abwenden, wollte Buße tun oder wenigstens den Schmerz mit Alkohol lindern, bevor er seiner wohl zu Recht trauernden Gattin unter die Augen trat. Allerdings befand er sich schon in Sichtweite des Hauses und im Moment seines Zögerns, sprang die Tür auf und zu seiner vollendeten Überraschung traten Frau und Sohn daraus hervor und rannten ihm entgegen. Landor, sprachlos vor Verdutztheit, ließ sich von seinem Pferd herab in die innigen Umarmungen und Liebkosungen der beiden ziehen, die schon nicht mehr auf seine Rückkehr zu hoffen gewagt hatten. Er hatte schließlich zwei Tage und zwei Nächte in der Hütte des Einsiedlers geschlafen, der Sturm war schon lange vorübergezogen. Irec hatte frühzeitig von dem drohenden Unwetter Nachricht erhalten und war so zwar mehr als einen Tag verspätet, allerdings gesund und munter und gar nicht erfroren im Hause seiner Eltern eingetroffen. Müde von all seinen Wanderungen sollte er das nächste Kapitel seines Lebens sesshaft im Hause seiner Eltern verbringen, wo sie ein ganz und gar erfülltes Familienleben führten.
  Der Wald wurde, nachdem die Rückkehr Landors ausblieb, von den Männern des Dorfes durchkämmt, einen ganzen Tag und eine ganze Nacht lang, niemand ward jedoch auch nur in die Nähe der Hütte des Einsiedlers gekommen. Jene war zuvor und blieb ab dann für immer und ewig das letzte Geheimnis des Waldes. Und auch wenn Landor wieder und wieder in durch die Bäume schritt und sich verirrte und wieder zurückfand, niemals mehr sollte er oder jemand anders je wieder das Häuslein zwischen den Fichtentanne entdecken.



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Whatevermancer
Schneckenpost
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Beiträge: 11



W
Beitrag28.02.2020 13:20

von Whatevermancer
Antworten mit Zitat

Hey!

interessante Geschichte smile
Der Einsiedler wirkt schön einsiedlig und man fragt sich, wie er am Ende so verschwindet!

Allerdings finde ich deinen Anfang etwas zu lang und mit zu viel Fokus auf den Sturm, der dann danach wenn er wichtig wird, noch einmal beschrieben wird.

Für meinen Geschmack könntest du später anfangen, also schon in dem Moment, wo Landor sein Haus betritt, den Sturm endlich hinter sich lässt.
Den Brief könntest du da auch weglassen und stattdessen die Ehefrau gleich davon erzählen lassen, dass ihr Sohn da sein sollte.
Die Szene wäre dann anders, aber eben gleich am Anfang und man würde sich schon zu Beginn um den Sohn sorgen smile

ansonsten hat es mir aber gefallen und die Beschreibungen waren schön bildhaft. Ich überlege nur, ob es nicht einen Titel gäbe, der nicht auch das Ende verrät wink

Das sind zumindest meine Gedanken dazu, vielleicht helfen sie dir ja weiter smile
LG
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