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Deutsches Schriftstellerforum Foren-Übersicht -> Antiquariat -> Zehntausend 01/2020
Einsteins Gravitationswelle

 
 
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Jenni
Geschlecht:weiblichBücherwurm


Beiträge: 3310

Das goldene Aufbruchstück Die lange Johanne in Gold


Beitrag10.01.2020 20:00
Einsteins Gravitationswelle
von Jenni
eBook pdf-Datei Antworten mit Zitat

.

Die Frau saß zuerst in dem Abteil, er kommt später dazu. Warum sie kaum merklich die Augen verdreht, kann er unmöglich verstehen, denn noch vor dem ersten Wort tritt die erste Dissonanz zutage: Ist für sie ein gutes Buch eine höchstgeschätzte Gesellschaft, so ist für ihn das Wort ›allein‹ ein Synonym für Einsamkeit. Beide haben ihre Gründe, Mike, »Mike«, stellt er sich vor und seine Tasche auf den Sitz neben ihrem, und sie mustert erst abschätzig die Tasche, vielfach geflickt, aber einstmals teuer, und erst dann deren Besitzer, der ihr jetzt breitbeinig gegenüber sitzt, und noch später antwortet sie kurz angebunden »Paula«, der eingeforderte Händedruck schlaff, der Blick bereits wieder auf das Buch gerichtet: und Paula. Gründe, die wir nicht kennen.
»Was liest du da, Paula«, fragt Mike.
Ohne ihre Aufmerksamkeit von der selben Seite abzuwenden, auf der er sie schon einmal unterbrochen hat, hebt sie das Buch um wenige Zentimeter an, was ebenso leicht eine unwillkürliche Abwehrbewegung sein könnte, wie ein widerwilliges Entgegenkommen.
»John Stuart Mill, über die Freiheit. Wie du hier lernen kannst«, das sagt er sehr akzentuiert, bewundernd oder abfällig, da ist er sich vielleicht selbst nicht sicher. Während sie nichts dazu sagt, holt er aus seiner Tasche eine Flasche Bier und ein in Papier eingewickeltes Sandwich und nimmt, als eine Antwort weiter ausbleibt, unschlüssig sein Handy zur Hand.
»Wie du hier essen kannst.« Sie imitiert seinen Tonfall, bei ihr klingt es eindeutig abfällig, aber sie sieht ihn zum ersten Mal aufmerksam an.
»Thunfisch. Willst du ein Stück?« Ein Teil des Thunfischs in Öl hängt ihm zwischen den oberen Schneidezähnen.
»Ich mag keinen Fisch.«
»Du magst überhaupt keine Gesellschaft.«
»Das ist dir aufgefallen.«
»Aber du kennst mich doch gar nicht.«
Und weiter, soll ihre Geste heißen, nicht Interesse bekundend, sondern die Sinnhaftigkeit seiner Worte in Frage stellend.
»Vielleicht bin ich nett. Vielleicht ein interessanter Gesprächspartner.«
»Interessanter als Mill?«
»Das weißt du nicht. Es könnte sich lohnen, mich kennenzulernen.«
Das würde Mill nicht bestreiten, die Möglichkeit. Sie sieht aus dem Fenster, und ihre Pupillen folgen der Bewegung grüner Hügel, die wie Wellen vorüberziehen. Eigentlich zieht sie selbst vorüber, und die Hügel bleiben an der Stelle, schwer zu glauben aus dieser Perspektive.

»Wieso glaubst du denn, dass mich kennenzulernen lohnt?«
Er zuckt mit den Schultern. »Du bist belesen.« Es klingt wie eine Frage.
Sie lacht. »Und du liest nicht. Sonst wüsstest du, dass man dabei nicht leichtfertig gestört werden möchte. Schau, du ziehst es ja nicht mal in Betracht, dass ich das hier aus Interesse lese, du glaubst, ich würde lernen. Dir dient zur Unterhaltung ein Handy. Wahrscheinlich um dich ständig der Reaktionen bekannter und fremder Menschen auf deine Existenz zu versichern. Das ist dir wichtig, was andere von dir denken, deshalb trägst du diese teuren Turnschuhe, die du dir eigentlich nicht leisten kannst, sonst wären sie nicht so abgelaufen. Mike. Du nennst dich Mike. In Wirklichkeit heißt du Michael, aber Mike, so findest du, klingt jugendlicher, weniger langweilig. Du langweilst dich leicht, deshalb gehst du dir selbst gerne aus dem Weg. Dieser Zug ist halb leer, aber um nicht mit dir allein zu sein, setzt du dich ausgerechnet einer Person gegenüber, die offensichtlich ungestört bleiben möchte. Und jetzt willst du mich kennenlernen, das heißt wir erzählen uns die wesentlichen Oberflächlichkeiten unseres Lebens, schon so oft wiederholt, dass sie wie einstudiert klingen, und selbst die kleinen Korrekturen, die wir der Wirkung willen vorgenommen haben, kommen uns inzwischen wie ein Teil der Wahrheit vor. Wusstest du -« Sie beendet den Satz nicht, als seien ihr die Worte ausgegangen oder die Atemluft.
Jetzt sehen beide aus dem Fenster. Ob sie das Gleiche sehen?
»Du weißt nichts über mich«, sagt er nach einer Weile.
»Ich weiß«, sagt sie.
»Ich heiße nicht Michael, sondern Mikael. Meine Mutter war Schwedin. Also, Schwedin ist sie vermutlich immer noch, aber nicht mehr meine Mutter. Sie hat mich für drei Tage bei meiner Tante gelassen, als ich acht Jahre alt war, und kam nie wieder.«
Er tritt die Bierflasche um, die er auf dem Boden abgestellt hat, und die noch nicht leer war. Eine Pfütze ergießt sich zwischen den Sitzen. Hektisch sucht er in seiner Tasche nach etwas zum Aufwischen und findet nichts. Später wird der Boden kleben.
Sie hat ihn beobachtet, aber keine Anstalten gemacht zu helfen. Als er sich zurück in den Sitz fallen lässt, ihrem Blick ausweichend, sagt sie, als wäre nichts passiert: »Dann weiß ich das jetzt über dich.«
Er sieht überrascht aus, als habe er nicht damit gerechnet, dass sie das Gespräch noch einmal aufnehmen würde. »Das weißt du jetzt über mich. Erzählst du mir auch etwas aus deinem Leben?«
»Nein.«
»Und warum nicht.«
»Weil es sowieso nicht die Wahrheit wäre. Und überhaupt, du willst mich kennenlernen? Ich glaube nicht, dass es dafür hilfreich wäre, wenn ich dir aus meinem Leben erzählte.«
»Aber wie denn nicht. Was sind wir anderes als die Summe unserer Erfahrungen.«
Sie schüttelt entschieden den Kopf. »Nur insofern uns diese Erfahrungen zu der Person gemacht haben, die wir jetzt sind. Unsere  daraus resultierenden Ansichten und unser Handeln, das sind wir.«
»Deine Voreingenommenheit.«
»Und dein Ringen um Aufmerksamkeit.«

Minuten oder Stunden vergehen ohne ein Wort, der Zug hält zwei mal an, in kleinen Orten, wo kaum jemand ein- oder aussteigt. Paula liest nicht in ihrem Buch, jedenfalls blättert sie in der ganzen Zeit kein einziges Mal die Seite um. Mike schaut nicht auf sein Handy, obwohl es einmal vibriert. Beide sehen meistens aus dem Fenster, wo die Landschaft immer flacher wird. Oft sehen sie sich gegenseitig an, aber nie gleichzeitig.
»Manchmal habe ich Erinnerungen«, sagt sie schließlich nachdenklich, »die unmöglich meine eigenen sein können.«
»Wie ein Déjà-vu?«
»Aber viel detaillierter, nicht nur das irritierende Gefühl, etwas Unbekanntes schon einmal gesehen zu haben, ein wissenschaftlich recht einfach erklärbares Phänomen, nein, ich meine eine richtige Erinnerung an eine Situation, von der ich weiß, dass ich sie nicht erlebt habe. Kennst du das?«
»Nein«, sagt er. Und später: »Erinnerungen sind also unzuverlässig. Und Ansichten … was hälst du davon, was meine Mutter getan hat?«
»Was hat sie denn getan?«
Er runzelt die Stirn. Hat sie vergessen oder nicht verstanden. »Sie hat mich verlassen, als ich acht Jahre alt war.« Es klingt anklagend, verletzt, und gleichzeitig die eigenen Gefühle anzweifelnd, als könnte ausgerechnet die Fremde im Zug ihm nachträglich eine Erklärung liefern, oder Trost.
»Ja, verstanden. Aber was hat sie getan? Ausgewandert, ein neues Leben begonnen ohne dich, oder ist sie gestorben. Hat sie sich gar das Leben genommen?«
Sein Gesicht ist wie versteinert. »Wäre sie tot, dann hätten wir davon erfahren.«
»Nicht unbedingt. Menschen sterben und werden nicht identifiziert. Oder sie fallen unbemerkt ins Meer und werden nie wieder an Land gespült. Und nicht zuletzt sagen einem Tanten nicht immer die Wahrheit.«
»Tanten sagen nicht immer die Wahrheit«, wiederholt er gedehnt, als probiere er aus, ob die Worte nach Weisheit schmecken. »Ist das jetzt so eine Ansicht, die dich als Person definiert?«
Sie lacht, aber nicht fröhlich. »Vielleicht eher: niemand sagt jemals die Wahrheit. Ich habe gelesen, man könne inzwischen mittels künstlicher Intelligenz Gehirnaktivität direkt in Sprache übersetzen. Seitdem frage ich mich: Wird das nun endlich die Wahrheit ans Licht bringen? Oder doch wieder nur die gleichen alten Lügen. Kommt wohl darauf an, wie gut wir selbst daran glauben. Wie gut wir uns kennen.«
»Ich habe mir immer vorgestellt, sie sei zurück in ihre Heimat gegangen, meine Mutter, nach Schweden.«
Ihre Augen öffnen sich weit, wie in einer plötzlichen Erkenntnis. »Fährt dieser Zug nach Schweden?«
»Nein. Dieser Zug fährt nach Hamburg. Von dort fährt ein Zug nach Kopenhagen, immer um 8.53 Uhr, 12.53 Uhr und 16.53 Uhr, und von dort ein anderer stündlich nach Stockholm. Wieso weißt du nicht, in welchem Zug du sitzt?«
»Ganz schön kompliziert. Warum fliegst du nicht? Umweltschützer?«
Er schüttelt den Kopf. »Das ginge mir zu schnell. Beim Fliegen hat man außerdem nicht die Möglichkeit, es sich noch einmal zu überlegen. Bis jetzt bin ich jedes Mal unterwegs umgekehrt.«
»Ich noch nie. Ich bin noch nie an einen Ort zurückgekehrt, den ich verlassen habe.«
Er lächelt. »Jetzt hast du mir doch etwas über deine Vergangenheit erzählt.«
»Nein, nicht über meine Vergangenheit, über mein Handeln.«
»Und bist du also immer unterwegs?«
»Zum ersten Mal.«
»Echt, du hast dein ganzes bisheriges Leben an einem Ort verbracht?«, fragt er ungläubig. »Und wo - sagst du mir eh nicht. Und wohin bist du unterwegs?«
»Kann ich dir nicht sagen«, sagt sie und fügt dann schnell hinzu, als wolle sie ihre Worte entschuldigen: »Weil ich es nicht weiß, aber ich habe nicht das Gefühl, bald angekommen zu sein.«
»Vielleicht haben wir das gemeinsam«, sagt er, »nie anzukommen.«
»Das wäre die Hölle«, sagt sie.
Er nickt. »Wie Sartres geschlossene Gesellschaft. Nur dass wir ja aussteigen können. Jeder von uns kann jederzeit die Tür öffnen und dieses Abteil verlassen.«
Sie sieht lange zur Tür, als nähme sie deren Existenz zum ersten Mal wahr. Dann wendet sie sich wieder ihrem Buch zu und blättert die Seite um.

.

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Kiara
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Beitrag21.01.2020 15:54

von Kiara
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Hallo!

Der erste Eindruck des Textes meinerseits, rein subjektiv natürlich, bitte nicht überbewerten.

Interessanter Text, gut geschrieben, Gedanken mit viel Interpretationsspielraum. Hätte mir manchmal mehr von den Charakteren zu erfahren gewünscht. Vielleicht sollte es so bleiben, es passt auch recht gut in diesen Rahmen, doch irgendwas fehlt mir. Naja, ist wohl Geschmackssache.
Genau wie der plötzliche Redefluss von Paula, der wirkt übertrieben. Und der Eingangssatz, der liest sich umständlich.
Dennoch, auch wenn ich scheinbar so viel kritisiere: Der Text ist gut, gefällt, mein Jammern ist hohes Niveau.

Ich glaube, ich habe den Titel nicht verstanden. Vielleicht fällt es mir daher auch schwer, diese Geschichte einwandfrei der hier geforderten ernsten Literatur zuzuordnen. Ernste, sprich anspruchsvolle Literatur. Es ist Interpretationsspielraum vorhanden, doch der ist in der Zurückhaltung der beiden Fahrgäste geschuldet.

Nach eingehender Prüfung vergebe ich meinen letzten Punkt an dich. Es sind viele Texte am Ende, die nicht zu meinen Favoriten gehören, aber punktwürdig sind. Einige fallen dabei durchs Raster. Deiner nicht. Immerhin 1.

Lieblingsausschnitt: "Er nickt. »Wie Sartres geschlossene Gesellschaft. Nur dass wir ja aussteigen können. Jeder von uns kann jederzeit die Tür öffnen und dieses Abteil verlassen.« "

Liebe Grüße


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Zum Schweigen fehlen mir die Worte.

- Düstere Lande: Das Mahnmal (2018)
- Düstere Lande: Schatten des Zorns (2020)
- Düstere Lande: Die dritte Klinge (2023)
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nebenfluss
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Beitrag21.01.2020 16:30

von nebenfluss
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Zwei Personen in einem ansonsten leeren Zugabteil. Mike, soeben zugestiegen, stört Paula in der Lektüre eines Buches von John Suart Mill. Von diesem Buch ausgehend, ergibt sich ein philosophisches Gespräch über das Wesen der Freiheit und den Einfluss individueller Biografien.
Über weite Strecke beherrscht eine Assymetrie den Text: Sie, intellektuell bis grenzwertig herablassend, soll wohl die Vertreterin der Kintsugi-Philosophie darstellen und behält bis zum Ende die Autorität bzw. Deutungshoheit über das Verhandelte. Am Schluss deutet sich immerhin eine Annäherung an, das "Du", mit dem sich die beiden von Anfang an wie selbstverständlich ansprechen, wirkt langsam natürlicher.
Einige feine Gedanken durchziehen den Text, auch Mikes Person fand ich ziemlich interessant. Es zeigt sich, dass er Paulas "Lernen" im Grunde bewundert. Er ist nicht nur aufgeschlossen für das Gespräch, sondern hält es ganz bewusst in Gang  Auffällig, dass er Satres geschlossene Gesellschaft kennt, obwohl er ihrer Annahme, er würde keine Bücher lesen, nicht widersprochen hat. Aber vielleicht geht er ins Theater?
Wie allerdings die Einsteinsche Gravitationswelle mit dem Thema des Textes korrelieren soll, habe ich nicht begriffen.
Thema und Vorgaben habe ich erkannt und finde sie originell umgesetzt.


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Ribanna
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Beitrag21.01.2020 17:37

von Ribanna
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Handwerklich ein guter Text, an dem ich nichts auszusetzen habe.

Leider kann ich auch nichts damit anfangen. Er erreicht mich nicht, ich weiß nicht, wieso.


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V.K.B.
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Beitrag21.01.2020 19:29

von V.K.B.
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Hallo Inko,
vorweg ein paar spontane Lesegedanken:

Zitat:
Eigentlich zieht sie selbst vorüber, und die Hügel bleiben an der Stelle, schwer zu glauben aus dieser Perspektive.
Referenz auf ein voriges Wettbewerbsthema?

Zitat:
Erzählst du mir auch etwas aus deinem Leben?«
»Nein.«
brillanter Dialog, ich liebe es!

Zitat:
»Weil es sowieso nicht die Wahrheit wäre. Und überhaupt, du willst mich kennenlernen? Ich glaube nicht, dass es dafür hilfreich wäre, wenn ich dir aus meinem Leben erzählte.«
Was für eine geile Idee, zwei Fremde im Zug betreiben mal nicht Smalltalk miteinander, sondern sagen sich tatsächlich die ungeschönte Wahrheit, was sie über den anderen denken.

Okay, gleich vorweg, ich liebe deine Geschichte. Sie ist so herrlich absurd, macht Spaß zu lesen und trotzdem kann ich sie nicht als U-Lit brandmarken, denn dafür ist sie doch zu sperrig. Die Gedanken und die Tiefe der Ideen täuschen(?) hervorragend über erzähltechnische Makel hinweg, dass ich dir abnehme, das ist alles Absicht und eben die Goldlinien, an denen die Fragmente geklebt sind. Die titelgebende Gravitationswelle spüre ich im Dialograum, die Gesprächspartner die sich umkreisenden Objekte? Die Geschichte ist vielschichtig, lässt über Dialog an sich nachdenken, über Umgang miteinander, Ehrlichkeit vs Smalltalk, Intellektuelles (ihre allgemeinen Gedanken) und das Mondäne (sein "meine Mutter hat …"). Jetzt das Thema Vergangenheit: Puh, das wird's schwer, zuerst denke ich, ich muss es mit der Lupe suchen. Die Vergangenheit von Mike, zu der er Antworten zu suchen scheint und sie gleichzeitig gar nicht haben will (er kennt die Zugverbindungen nach Schweden auswendig und sagt, er sei bisher immer umgekehrt) interessiert Paula in etwa so, als fiele in einem fremden Land ein Sack Reis um.  Und mehr nicht, aber das passt doch.

Von den fünf Geschichten, die ich bisher gelesen habe, ist diese schon mal mein Die Geschichte ist durchaus ein Favorit (und eine von nur zwei einer ganzen Menge, die ich nicht gleich wegen mangelnder E-igkeit disqualifiziert habe). Von daher kann ich noch nicht versprechen, ob es am Ende zu Punkten reicht, aber ich gehe mal stark davon aus wäre durchaus möglich. Sie landet aber nur im gelben Bereich (dort aber klar im oberen), weil es andere Geschichten gibt, die die bekannten Pfade mehr verlassen haben.

Sehr gerne gelesen,
Veith

Abschließend, nach ewigem einigem hin und her Überlegen, wüsteste Flüche über den Wettbewerb ausstoßen, Tischkanten zerbeißen und das gesamte Dictionnaire Infernal rauf und runterbeschwören, landet deine Geschichte im gelben Bereich und erfüllt damit die Anforderungen an den Wettbewerb, wie ich sie momentan verstehe, teilweise. Sie landet auf Platz 7 meiner Top Ten und erhält damit 4 Punkte.


_________________
Hang the cosmic muse!

Oh changelings, thou art so very wrong. T’is not banality that brings us downe. It's fantasy that kills …
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holg
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Beitrag22.01.2020 16:22

von holg
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Den Einstieg finde ich nicht wirklich gelungen. Bin mir nicht sicher, ob die Zeitenfolge so korrekt ist (saß - kommt).
Auch diese_r distanziert-analysierende Erzähler_in, der/die zwar eine unterschiedliche Definition guter Unterhaltung und des Alleinseins diagnostiziert, aber die offene Übergriffigkeit des männlichen Protagonisten, der Paula seine toxisch-fragile Männlichkeit breithodig breitbeinig aufdrängt, unkommentiert lässt, wirkt etwas befremdlich auf mich.

Zuende gelesen habe ich vor allem, um zu sehen, wie sich das auflöst. Gut, der Hinweis auf Paulas Lektüre deutet auf einen Diskurs zum Thema Freiheit hin, die der einen vom anderen genommen wird (Alleine sein), die der sich aber einfach nimmt (Gespräch erzwingen). Ich hoffe, ich missverstehe die gleichwertige Gegenüberstellung von „Ringen um Aufmerksamkeit“ und Wunsch nach Unbehelligtheit, die Mike in perfekter Selbstopferisierung als „Voreingenommenheit“ darstellen darf.

Risse, Brüche, Goldlack, die Idee des Scheiterns als Vervollständigung und Verbesserung des Seins finde ich viel weniger als Leerstellen in traumatareichen Biographien, die Spekulationen vorbehalten sind, oder, in Paulas Fall, vollständig im Dunklen bleiben.

Dann taucht noch Sartre auf, einer dieser intellektuellen Querverweise, der aber E-Lit nicht zu E-LIT macht, sondern gebildet wirken wollende Texte zu ebendenen. Wie da die titelgebende Gravitationswelle hinein passt, erschließt sich mir nicht wirklich. Wahrscheinlich ist einer der beiden Protas der auslösende beschleunigte Körper.

Insgesamt kann ich mich vor allem wegen Mike mit dem Text nicht anfreunden, obwohl ich dem Nachspüren über Wahrheit und Unbestimmtheit, die irgendwo leicht anklingt, in einer anderen Konstellation gerne gefolgt wäre.


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gold
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Beitrag23.01.2020 06:15

von gold
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Lieber Inco,

natürlich musste ich googeln:

Beschleunigte Masse im Raumbereich löst eine Gravitationswelle aus nach Einstein. Abstand wird gestaucht und gestreckt. Übertragen auf die Begegnung der beiden Personen, die sich hier im Zug gegenüber sitzen, passt der Titel sehr gut.


Auch gefällt  mir der Dialog. Aber ich tu mich verdammt schwer, herauszufinden, ob der Text die Vorgaben erfüllt. Kommt auf einen Versuch an:

Die Vergangenheit ist ein fremdes Land: Der junge Mann weiß nicht viel über seine Vergangenheit, also ist sie ihm fremd. Sein Schmerz besteht darin, dass ihn seine Mutter in seiner Kindheit verlassen hat. Wird er betont? Er wird dadurch betont, dass er darüber redet. Ob er repariert wird? Ist nicht klar. Kann sein, kann aber auch nicht sein. Es bleibt im Vagen.


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Literättin
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Beitrag23.01.2020 08:31

von Literättin
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Vorneweg: wenn ich einen Text kritisiere, beschreibe ich in erster Linie, was vom Text bei mir ankommt und was es auslöst. Sollten dabei auch einmal harte Worte fallen, so sind es dennoch beschreibende, nicht verurteilende, hämische oder verachtende. Ich kritisiere nicht in satter Selbstzufriedenheit. Immerhin sind mir selbst schon Texte aus der Feder geflossen, die daneben gingen. Und das sind zunächst einmal die meisten meiner Texte oder Texte-im-Entstehen.

                                                                                *




Diesen Text hier würde ich gerne viel lieber mögen, als es mir dann gelingt. Die trockene Sprache ist es, die mich mitnimmt, die so angenehm ungeschminkt daherkommt. Der Stil gefällt mir. Die Figuren jagen mich allerdings aus dem Zugabteil. Der Aufdringliche. Die Zicke. Und beide überschreiten so hemmungslos die Grenzen des anderen, so völlig distanzlos, dabei eigentlich nur um sich selbst kreisend, dass ich wenig Lust habe, deren Dialog, der ein sich gegenseitig aufnötigender bleibt, zu folgen. Am Ende weiß ich auch nicht wirklich, worauf die Figuren oder der Text hinaus wollen, ich erkenne vermutlich irgendeinen Dreh nicht, oder ich überlese irgendetwas. Was mir aber hängen bleibt ist, dass etwas gelungen ist: stilistisch. Schreibtechnisch. Handwerklich. Und dass es hier Richtung E geht. Aber was war jetzt eigentlich mit dem fremden Land der Vergangenheit und mit diesem japanischen Lackdings?


_________________
when I cannot sing my heart
I can only speak my mind
- John Lennon -

Christ wird nicht derjenige, der meint, dass "es Gott gibt", sondern derjenige, der begonnen hat zu glauben, dass Gott die Liebe ist.
- Tomás Halík -

Im günstigsten Fall führt literarisches Schreiben und lesen zu Erkenntnis.
- Marlene Streeruwitz - (Danke Rübenach für diesen Tipp.)
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schreiberlinga
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Beitrag23.01.2020 13:26

von schreiberlinga
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Ich habe die Wettbewerbstexte in der Regel nur einmal durchgelesen. Mein Kommentar darunter ist also eine ziemlich spontane Reaktion. Ich hoffe, dass du trotzdem - oder gerade deswegen - von meinem ersten Eindruck profitierst.

Ich verfolgte dieses Gespräch interessiert. Es käme vielleicht in Wirklichkeit nicht so vor, aber trotzdem fand ich es ansprechend. Ich hätte schon noch gerne gewusst, wie es mit den beiden weiterging ...
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traumLos
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Pokapro 2017


Beitrag24.01.2020 06:48

von traumLos
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Eine Zufallsbegegnung im Zug. Gegen ihren Willen kommt es zum Gespräch. Einige Augenblicke lang. Es ist seine Geschichte, nicht ihre. Sie jedenfalls hat keinen Verband für ihn und blättert schließlich die Seite des Buches um.

Die Stimmung sehr gut eingefangen, kurzweilig zu lesen. Wir wissen ja von MRR, nichts ist schlimmer als langweilig.

7 Punkte


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Meine Beiträge geben nur meine Meinung wieder. Jede Einbeziehung realer oder fiktiver Personen wäre nur ein Angebot. Zwinkersmiley
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hobbes
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Das goldene Aufbruchstück Das goldene Gleis
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Beitrag24.01.2020 10:51

von hobbes
Antworten mit Zitat

Hm. Was ist das jetzt für ein Text. Erst einmal fühlt sich alles falsch an. Die beiden. Wie sie miteinander reden, was sie miteinander reden, vor allem aber, dass sie sich duzen. Natürlich, ein Mike mit einem Bier, der duzt sich, aber dieser Mike ist ja in sich schon wieder so unglaubwürdig, dass ich über die Idee nachdenke, ob das nicht genau die Absicht ist. Unglaubwürdige Personen zu erschaffen, die unglaubwürdig miteinander reden.

Was sie reden ist durchaus interessant. Oder nein, interessant ist so ein blödes Wort. Man bleibt an dem hängen, was sie reden (was in diesem Fall positiv gemeint ist), klopft es darauf ab, ob es Sinn macht, was es überhaupt bedeutet, was man selbst davon hält.

Auch dieser erste Satz, da fängt es ja gleich schon an.
Zitat:
Die Frau saß zuerst in dem Abteil, er kommt später dazu.

Da stimmt doch was nicht? Also die Zeiten stimmen nicht. Zuerst tendiere ich zu "er kam später dazu", aber später wird weiter im Präsens erzählt, daher müsste es dann wohl "hat gesessen" heißen, was sich auch bekloppt anhört. Sie sitzt schon im Abteil. Hm.
Darüber denke ich also nach und gleichzeitig denke ich darüber nach, ob das tatsächlich Absicht ist und etwas bedeuten soll oder du das einfach so dahingeschrieben hast.

Am Ende des Textes angekommen, lese ich dann erst mal nach, was es mit Gravitationswellen auf sich hat. Erklären könnte ich es immer noch keinem, aber wenigstens habe ich jetzt eine ungefähre Idee.

Ganz klar ein Text, den ich noch mal lesen muss.

Zweites Lesen.
Verflixt, das mit den Gravitationswellen habe ich schon wieder vergessen.
Tja.
Zu einem anderen Text hatte ich so etwas geschrieben wie: das ist für den Verstand geschrieben. Den Eindruck habe ich hier auch so ein bisschen. Vor allem wegen der "Künstlichkeit" der beiden, irgendwie scheinen sie mir eher Teil eines wissenschaftlichen Experiments zu sein als "echte Geschichte."
Und ich lese dummerweise nicht mit dem Verstand oder na ja, der liest natürlich mit, aber viel lieber werde ich mit dem Gefühl angesprochen und das kommt mir hier zu kurz.
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Babella
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Beitrag24.01.2020 15:07

von Babella
Antworten mit Zitat

Eine Zugfahrt, zwei Menschen, die sich, aus Sicht der Frau, unwillig kennenlernen. Ein Erzähler, der irgendwie präsent ist und dann auch wieder nicht, viele sprachliche Unschönheiten, Bezug zum Thema unklar, und durch das Erwähnen großer Geister gewinnt der Text auch nicht. Schade.
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F.J.G.
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Beitrag24.01.2020 21:12

von F.J.G.
Antworten mit Zitat

Ui. Philosophisch. Sehr philosophisch.

Für mich zu philosophisch.


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firstoffertio
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Beitrag25.01.2020 00:07

von firstoffertio
Antworten mit Zitat

Dieser Text ist hübsch skurril, ernsthaft, und regt zum Nachdenken und Nachschauen an (Sartre, Mill). Einsteins Gravitationswelle im Titel ist mir etwas zu viel.

Die Begegnung im Zug interessant (geschildert).

Lieblingsstelle:

Zitat:
ihre Pupillen folgen der Bewegung grüner Hügel, die wie Wellen vorüberziehen. Eigentlich zieht sie selbst vorüber, und die Hügel bleiben an der Stelle, schwer zu glauben aus dieser Perspektive.


und:

Zitat:
Bis jetzt bin ich jedes Mal unterwegs umgekehrt.«
»Ich noch nie. Ich bin noch nie an einen Ort zurückgekehrt, den ich verlassen habe.«
Er lächelt. »Jetzt hast du mir doch etwas über deine Vergangenheit erzählt.«
»Nein, nicht über meine Vergangenheit, über mein Handeln.«
»Und bist du also immer unterwegs?«
»Zum ersten Mal.«


Vorgaben erfüllt.

Zitat:
Erinnerung an eine Situation, von der ich weiß, dass ich sie nicht erlebt habe. Kennst du das?


Nein. Oder doch? Hier kann man sich fragen, was Erinnerungen sind. Ob sie jemals zutreffen.

Und eine ganze Reihe weiterer philosophischer Fragen stecken im Text.
Wie was wir über andere wissen/wahr nehmen können.
Am Ende stellt sich heraus, dass er Sartre gelesen hat/kennt. Also der erste Eindruck von ihm wohl nicht ganz zutraf.
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Catalina
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Alter: 51
Beiträge: 427
Wohnort: Kehdingen


Beitrag25.01.2020 11:34

von Catalina
Antworten mit Zitat

Ein Mann und eine Frau in einem Zug. Sie möchte Ruhe, er Gesellschaft. Sie kommen ins Gespräch, reden darüber, was einen Menschen ausmacht, über Erfahrungen, Erinnerungen und Ansichten. Mike ist bei einem wiederholten Anlauf zum Versuch, seine Mutter zu finden. Paula hält sich sehr bedeckt und möchte oder kann nichts zu ihrem Herkunfts- und Zielort sagen.

"Die Vergangenheit ist ein fremdes Land" gilt für Mike, weil er nicht weiß, was aus seiner Mutter geworden ist. Für Paula auch, sie scheint sich nicht mehr in Gänze daran erinnern zu können, zumindest hat sie "falsche" Erinnerungen.

Mit dem Kintsugi tue ich ich schwer. Allerdings habe ich auch das Gefühl, Deinen Text nicht in Gänze erfasst zu haben. Er scheint so durchdacht, dass es mich sehr erstaunen würde, Du hättest Kintsugi nicht berücksichtigt. Dann wiederum kann ich nicht nach meinen Vermutungen bewerten. Harte Nuss.

Dein Stil ist unter meinen Top 3, er gefällt mir sehr. Auch Deine Geschichte habe ich sehr gerne gelesen.

Dein Text hat mich ganz besonders dazu animiert darüber nachzudenken, was Du Dir dabei gedacht hast. Darin unterscheidet er sich von vielen anderen Texten. Leider bin ich in der Kürze der Zeit nicht weiter gekommen... Paula liest Mill und der schreibt über die Frage der Willensfreiheit und auch darüber, wie viel Freiheit einem Einzelnen als Mitglied einer Gesellschaft zustehen sollte. Eine Gravitationswelle erzeugt eine Anomalie im Raumzeit-Gefüge und entsteht unter anderem,  wenn zwei Körper sich umkreisen. Ein bisschen habe ich beim Lesen auch das Gefühl, in einem verzerrten, surrealen Raum zu sein. Hast Du eine Parabel geschrieben?

Paula keine (greifbare) Vergangenheit zu haben. Hat sie eine Amnesie? Oder ist ihre Vergangenheit (für sie) einfach nicht von Bedeutung? Sie hat Pseudoerinnerungen, die auf eine traumatische Vergangenheit hindeuten könnte.

Vielleicht sind Paula und Michael auch eine Person und kurz davor, zu verschmelzen? Das würde die Gravitationswelle erklären...

Nun, auch wenn ich auf keinen grünen Zwei gekommen bin: Dein Text macht mir viel Spaß, lädt mich zum Interpretieren ein und verspricht mir noch eine ganze Weile Beschäftigung. Und ich bin sehr gespannt, was Du beim Schreiben im Kopf hattest. Um Punkte zu vergeben, habe ich ihn zu wenig verstanden und (deswegen?) Kintsugi vermisst.

E
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Boho
Geschlecht:weiblichLeseratte

Alter: 34
Beiträge: 115
Wohnort: Berlin


Beitrag26.01.2020 14:27

von Boho
Antworten mit Zitat

Liebe*r Verfasser*in,

ich habe tatsächlich Gänsehaut bekommen beim Lesen (ohne genau zu wissen, warum – vielleicht weil ich mich wiedererkannt habe oder auch einfach nur, weil ich mich komplett hineingezogen gefühlt habe in die Situation). Sehr schön, gefällt mir! Die Vorgaben sind für mich auch erfüllt.

Gibt auf jeden Fall Punkte!

LG Boho
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a.no-nym
Klammeraffe
A


Beiträge: 699



A
Beitrag26.01.2020 23:07

von a.no-nym
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Hallo, lieber Inko,
hier gestehe ich freimütig: Ich bin unfähig, diesen Text zu verstehen. Da ist eine Frau, die – nicht wissend, wohin die Reise geht (wer weiß das schon) – in einem Zug sitzt und lesen möchte. Dazu gesellt sich ein Mann, der als Kind von seiner Mutter verlassen wurde und Kontakt sucht. Zwischen den beiden entwickelt sich Dialog, der nach meinem Empfinden so weit von davon entfernt ist, auch nur ansatzweise realistisch zu sein, dass ich es nicht schaffe, mich darauf einzulassen. Hilflos bleibe ich in einer Bierpfütze kleben und versuche, mein nicht vorhandenes Verständnis von Gravitationswellen mit meinem nicht vorhandenen Verständnis des Textes zu multiplizieren. Leider gibt Minus mal Minus in diesem Fall kein Plus, ich bin und bleibe ratlos –  und warte umso gespannter darauf, dass andere Kommentare mir  Erleuchtung bringen werden.

Die Vorgaben sehe ich als erfüllt an.

Mit freundlichen Grüßen und den besten Wünschen
a.
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MoL
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Das bronzene Stundenglas


Beitrag28.01.2020 12:07

von MoL
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Lieber Inko,

das ist der zweite Zug-Text, den ich lese.

Hier liegt der Reiz darin, zwei untereinander Fremde zusammen zu führen.
Mir gefällt die kühle Distanz, die von der Frau ausgeht. Fast schon jämmerlich dagegen das Bemühen des Mannes... Und ich werde nie verstehen, wieso man im Zug Bier trinken muss. Rolling Eyes

Mir gefällt das Schwerfällige, Abgesetzte dieses Dialoges. Es liest sich nicht flüssig und auch nicht "schön", dafür eben "echt": So agieren Menschen nun mal, da entfacht sich nicht wie aus dem Nichts ein geistreiches Wortgeplänkel, das zu irgendetwas führt, wie in so vielen Romanen.

Die Geschichte von der Mutter hätte es meiner Meinung nach gar nicht gebraucht. Wolltest Du Drama reinbringen?

Auf jeden Fall eine schöne Sache. Den Riss sehe ich deutlich; das Bemühen, ihn zu schließen, hast Du dem armen Prota überlassen.
Andererseits ist das ganze Gespräch ein Riss, jede einzelne Zeile, die die oberflächliche Behaglichkeit des Abteils zerstört. Es könnte ja alles so einfach sein, wenn er nur den Mund hielte. Macht er aber nicht.

Insgesamt ein sehr schöner und vor allem auch ungewöhnlicher Text. Gefällt mir sehr gut, lieber Inko. Falls ich bepunkte, könnte da was für den Text drin sein. Smile


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gemeinsam mit Leveret Pale:
"Menschen und andere seltsame Wesen"
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Hexenherz-Trilogie: "Eisiger Zorn", "Glühender Hass" & "Goldener Tod", Acabus Verlag 2017, 2019, 2020.
"Die Tote in der Tränenburg", Alea Libris 2019.
"Der Zorn des Schattenkönigs", Legionarion Verlag 2021.
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Michel
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Das bronzene Bühnenlicht Das goldene Niemandsland
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Beitrag28.01.2020 14:51

von Michel
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Das ist E! Ich muss mich schon anstrengen, um dem sich künstlich anfühlenden Gespräch zu folgen. Es passiert – außer einem Gespräch und Blicken nach draußen – nichts. Die Charaktere sind einerseits akzentuiert beschrieben, anhand einiger hervorstechender Eigenheiten, und andererseits eben doch nicht so einfach zu fassen. Die ganze Szene hat etwas gekonnt Künstliches, liest sich wie ein Gleichnis. Und wird im Gespräch auch so erklärt; das hat mich etwas gestört.
Man spürt den anfangs v.a. auktorial beschriebenen Drang, in Kontakt zu kommen, die wiederholten Versuche, diese glatte Oberfläche des Gegenüber aufzusprengen, die am Ende – da haben wir’s – ein paar winzige Risse bekommt, um gleich darauf wieder zuzuwachsen. Das fremde Land: Die schwedische Mutter. Gefühlt nicht mein Lieblingstext, aber er hat was und ist den Wettberwerbsvorgaben ganz sicher näher als mein eigener.
P.S. Soll der Titel nur interessant sein oder überlese ich etwas?


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Constantine
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Beiträge: 3311

Goldener Sturmschaden Weltrettung in Bronze


Beitrag28.01.2020 21:14
Re: Einsteins Gravitationswelle
von Constantine
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Bonjour

Die Begegnung zweier Fremder im Zug: Sie, die Lesende, er, der sie dabei störende, weil er quatschen möchte.
Du hast dich für die erste Variante entschieden: Gespräch von nur zwei Perosnen. Die beiden sind in einem Zugabteil (Einheit des Ortes) und verbringen den textalen Zeitraum dort (Einheit der Zeit). Soweit ok.

Guy Incognito hat Folgendes geschrieben:
.

Die Frau saß zuerst in dem Abteil, er kommt später dazu. Warum sie kaum merklich die Augen verdreht, kann er unmöglich verstehen, denn noch vor dem ersten Wort tritt die erste Dissonanz zutage: Ist für sie ein gutes Buch eine höchstgeschätzte Gesellschaft, so ist für ihn das Wort ›allein‹ ein Synonym für Einsamkeit. Beide haben ihre Gründe, Mike, »Mike«, stellt er sich vor und seine Tasche auf den Sitz neben ihrem, und sie mustert erst abschätzig die Tasche, vielfach geflickt, aber einstmals teuer, und erst dann deren Besitzer, der ihr jetzt breitbeinig gegenüber sitzt, und noch später antwortet sie kurz angebunden »Paula«, der eingeforderte Händedruck schlaff, der Blick bereits wieder auf das Buch gerichtet: und Paula. Gründe, die wir<-- Wer ist hier mit "Wir" gemeint? Ist das eine Anrede an den Leser?  nicht kennen.
»Was liest du da, Paula«, fragt Mike.
Ohne ihre Aufmerksamkeit von der selben Seite abzuwenden, auf der er sie schon einmal unterbrochen hat, hebt sie das Buch um wenige Zentimeter an, was ebenso leicht eine unwillkürliche Abwehrbewegung sein könnte, wie ein widerwilliges Entgegenkommen.
»John Stuart Mill, über die Freiheit. Wie du hier lernen kannst«, das sagt er sehr akzentuiert, bewundernd oder abfällig, da ist er sich vielleicht selbst nicht sicher. Während sie nichts dazu sagt, holt er aus seiner Tasche eine Flasche Bier und ein in Papier eingewickeltes Sandwich und nimmt, als eine Antwort weiter ausbleibt, unschlüssig sein Handy zur Hand.
»Wie du hier essen kannst.« Sie imitiert seinen Tonfall, bei ihr klingt es eindeutig abfällig, aber sie sieht ihn zum ersten Mal aufmerksam an.
»Thunfisch. Willst du ein Stück?« Ein Teil des Thunfischs in Öl hängt ihm zwischen den oberen Schneidezähnen.
»Ich mag keinen Fisch.«
»Du magst überhaupt keine Gesellschaft.«
»Das ist dir aufgefallen.«
»Aber du kennst mich doch gar nicht.«
Und weiter, soll ihre Geste heißen, nicht Interesse bekundend, sondern die Sinnhaftigkeit seiner Worte in Frage stellend.
»Vielleicht bin ich nett. Vielleicht ein interessanter Gesprächspartner.«
»Interessanter als Mill?«
»Das weißt du nicht. Es könnte sich lohnen, mich kennenzulernen.«
Das würde Mill nicht bestreiten, die Möglichkeit. Sie sieht aus dem Fenster, und ihre Pupillen folgen der Bewegung grüner Hügel, die wie Wellen vorüberziehen. Eigentlich zieht sie selbst vorüber, und die Hügel bleiben an der Stelle, schwer zu glauben aus dieser Perspektive.

»Wieso glaubst du denn, dass mich kennenzulernen lohnt?«
Er zuckt mit den Schultern. »Du bist belesen.« Es klingt wie eine Frage.
Sie lacht. »Und du liest nicht. Sonst wüsstest du, dass man dabei nicht leichtfertig gestört werden möchte. Schau, du ziehst es ja nicht mal in Betracht, dass ich das hier aus Interesse lese, du glaubst, ich würde lernen. Dir dient zur Unterhaltung ein Handy. Wahrscheinlich um dich ständig der Reaktionen bekannter und fremder Menschen auf deine Existenz zu versichern. Das ist dir wichtig, was andere von dir denken, deshalb trägst du diese teuren Turnschuhe, die du dir eigentlich nicht leisten kannst, sonst wären sie nicht so abgelaufen. Mike. Du nennst dich Mike. In Wirklichkeit heißt du Michael, aber Mike, so findest du, klingt jugendlicher, weniger langweilig. Du langweilst dich leicht, deshalb gehst du dir selbst gerne aus dem Weg. Dieser Zug ist halb leer, aber um nicht mit dir allein zu sein, setzt du dich ausgerechnet einer Person gegenüber, die offensichtlich ungestört bleiben möchte. Und jetzt willst du mich kennenlernen, das heißt wir erzählen uns die wesentlichen Oberflächlichkeiten unseres Lebens, schon so oft wiederholt, dass sie wie einstudiert klingen, und selbst die kleinen Korrekturen, die wir der Wirkung willen vorgenommen haben, kommen uns inzwischen wie ein Teil der Wahrheit vor. Wusstest du -« Sie beendet den Satz nicht, als seien ihr die Worte ausgegangen oder die Atemluft.
Jetzt sehen beide aus dem Fenster. Ob sie das Gleiche sehen?
»Du weißt nichts über mich«, sagt er nach einer Weile.
»Ich weiß«, sagt sie.
»Ich heiße nicht Michael, sondern Mikael. Meine Mutter war Schwedin. Also, Schwedin ist sie vermutlich immer noch, aber nicht mehr meine Mutter. Sie hat mich für drei Tage bei meiner Tante gelassen, als ich acht Jahre alt war, und kam nie wieder.«
Er tritt die Bierflasche um, die er auf dem Boden abgestellt hat, und die noch nicht leer war <-- Ist klar, sonst würde sich im Folgesatz keine Pfütze ergießen. Eine Pfütze ergießt sich zwischen den Sitzen. Hektisch sucht er in seiner Tasche nach etwas zum Aufwischen und findet nichts. Später wird der Boden kleben.
Sie hat ihn beobachtet, aber keine Anstalten gemacht zu helfen. Als er sich zurück in den Sitz fallen lässt, ihrem Blick ausweichend, sagt sie, als wäre nichts passiert: »Dann weiß ich das jetzt über dich.«
Er sieht überrascht aus, als habe er nicht damit gerechnet, dass sie das Gespräch noch einmal aufnehmen würde. »Das weißt du jetzt über mich. Erzählst du mir auch etwas aus deinem Leben?«
»Nein.«
»Und warum nicht.«
»Weil es sowieso nicht die Wahrheit wäre. Und überhaupt, du willst mich kennenlernen? Ich glaube nicht, dass es dafür hilfreich wäre, wenn ich dir aus meinem Leben erzählte.«
»Aber wie denn nicht. Was sind wir anderes als die Summe unserer Erfahrungen.«
Sie schüttelt entschieden den Kopf. »Nur insofern uns diese Erfahrungen zu der Person gemacht haben, die wir jetzt sind. Unsere  daraus resultierenden Ansichten und unser Handeln, das sind wir.«
»Deine Voreingenommenheit.«
»Und dein Ringen um Aufmerksamkeit.«

Minuten oder Stunden vergehen ohne ein Wort, der Zug hält zwei mal an, in kleinen Orten, wo kaum jemand ein- oder aussteigt. Paula liest nicht in ihrem Buch, jedenfalls blättert sie in der ganzen Zeit kein einziges Mal die Seite um. Mike schaut nicht auf sein Handy, obwohl es einmal vibriert. Beide sehen meistens aus dem Fenster, wo die Landschaft immer flacher wird. Oft sehen sie sich gegenseitig an, aber nie gleichzeitig.
»Manchmal habe ich Erinnerungen«, sagt sie schließlich nachdenklich, »die unmöglich meine eigenen sein können.«
»Wie ein Déjà-vu?«
»Aber viel detaillierter, nicht nur das irritierende Gefühl, etwas Unbekanntes schon einmal gesehen zu haben, ein wissenschaftlich recht einfach erklärbares Phänomen, nein, ich meine eine richtige Erinnerung an eine Situation, von der ich weiß, dass ich sie nicht erlebt habe. Kennst du das?«
»Nein«, sagt er. Und später: »Erinnerungen sind also unzuverlässig. Und Ansichten … was hälst du davon, was meine Mutter getan hat?«
»Was hat sie denn getan?«
Er runzelt die Stirn. Hat sie vergessen oder nicht verstanden. »Sie hat mich verlassen, als ich acht Jahre alt war.« Es klingt anklagend, verletzt, und gleichzeitig die eigenen Gefühle anzweifelnd, als könnte ausgerechnet die Fremde im Zug ihm nachträglich eine Erklärung liefern, oder Trost.
»Ja, verstanden. Aber was hat sie getan? Ausgewandert, ein neues Leben begonnen ohne dich, oder ist sie gestorben. Hat sie sich gar das Leben genommen?«
Sein Gesicht ist wie versteinert. »Wäre sie tot, dann hätten wir davon erfahren.«
»Nicht unbedingt. Menschen sterben und werden nicht identifiziert. Oder sie fallen unbemerkt ins Meer und werden nie wieder an Land gespült. Und nicht zuletzt sagen einem Tanten nicht immer die Wahrheit.«
»Tanten sagen nicht immer die Wahrheit«, wiederholt er gedehnt, als probiere er aus, ob die Worte nach Weisheit schmecken. »Ist das jetzt so eine Ansicht, die dich als Person definiert?«
Sie lacht, aber nicht fröhlich. »Vielleicht eher: niemand sagt jemals die Wahrheit. Ich habe gelesen, man könne inzwischen mittels künstlicher Intelligenz Gehirnaktivität direkt in Sprache übersetzen. Seitdem frage ich mich: Wird das nun endlich die Wahrheit ans Licht bringen? Oder doch wieder nur die gleichen alten Lügen. Kommt wohl darauf an, wie gut wir selbst daran glauben. Wie gut wir uns kennen.«

»Ich habe mir immer vorgestellt, sie sei zurück in ihre Heimat gegangen, meine Mutter, nach Schweden.«
Ihre Augen öffnen sich weit, wie in einer plötzlichen Erkenntnis. »Fährt dieser Zug nach Schweden?«
»Nein. Dieser Zug fährt nach Hamburg. Von dort fährt ein Zug nach Kopenhagen, immer um 8.53 Uhr, 12.53 Uhr und 16.53 Uhr, und von dort ein anderer stündlich nach Stockholm. Wieso weißt du nicht, in welchem Zug du sitzt?«
»Ganz schön kompliziert.
<-- Was ist kompliziert? Dass alle vier Stunden ein Zug nach Kopenhagen fährt? Oder, dass man mehrfach umsteigen muss, möchte man über Hamburg, Kopenhagen nach Stockholm? Oder der Grund, warum sie nicht weiß, wohin dieser Zug fährt? Paula macht einerseits einen recht analytisch-intellektuellen und weltsichtigen Eindruck, andererseits kommt sie mit einer Geheimniskrämerei, die nicht passt. Warum fliegst du nicht? Umweltschützer?«
Er schüttelt den Kopf. »Das ginge mir zu schnell. Beim Fliegen hat man außerdem nicht die Möglichkeit, es sich noch einmal zu überlegen. Bis jetzt bin ich jedes Mal unterwegs umgekehrt.«
»Ich noch nie. Ich bin noch nie an einen Ort zurückgekehrt, den ich verlassen habe.«
Er lächelt. »Jetzt hast du mir doch etwas über deine Vergangenheit erzählt.«
»Nein, nicht über meine Vergangenheit, über mein Handeln.«
»Und bist du also immer unterwegs?«
»Zum ersten Mal.«
»Echt, du hast dein ganzes bisheriges Leben an einem Ort verbracht?«, fragt er ungläubig. »Und wo - sagst du mir eh nicht. Und wohin bist du unterwegs?«
»Kann ich dir nicht sagen«, sagt sie und fügt dann schnell hinzu, als wolle sie ihre Worte entschuldigen: »Weil ich es nicht weiß, aber ich habe nicht das Gefühl, bald angekommen zu sein.«
»Vielleicht haben wir das gemeinsam«, sagt er, »nie anzukommen.«
»Das wäre die Hölle«, sagt sie.
Er nickt. »Wie Sartres geschlossene Gesellschaft. Nur dass wir ja aussteigen können. Jeder von uns kann jederzeit die Tür öffnen und dieses Abteil verlassen.«
Sie sieht lange zur Tür, als nähme sie deren Existenz zum ersten Mal wahr. Dann wendet sie sich wieder ihrem Buch zu und blättert die Seite um.

.



Ich tue mich mit deinem Text, oder besser: mit deinem Erzähler, schwer, weil er mir auktorial vorkommt, mit seinem (Be-)Werten und seiner Mehr-wissen-als-du-Leser-Haltung  und doch tut er dann so "seltsam", in dem er Entweder-oder-Bewertungen macht oder Fragen stellt, die er mMn selbst beantworten kann, also sehr viele rhetorische Fragen und Beschreibungen drin, und ich ihn nicht ernst nehmen kann.
Beim ersten Lesen ist mir das nicht so negativ aufgefallen, aber nach mehrmaligem Lesen, ist dein Text für mich eine Art Satire aufs Erzählen von Geschichten: Ich lache mehr über den Erzähler, der mir so bedeutungsschwanger, undurchsichtig und tiefsinnig das Szenario mit den beiden Protagonisten vermitteln möchte, dass mir die beiden Protagonisten als Karrikaturen vorkommen und mir ihr "Gehabe" als ein Spiel vorkommt.
Daran krankt leider dein Text, denn das, was mir die beiden Protagonisten vermitteln wollen, das erreicht mich leider nicht.

Der Dialog:
Zu Beginn ist es Mike, der reden möchte, und Paula schmettert seine Annäherungsversuche der Kommunikation ab.
Doch dann, nach Minuten oder Stunden (Komm schon, Erzähler, was ist los?) des Schweigens, haut Paula so was raus:
Zitat:
»Manchmal habe ich Erinnerungen«, sagt sie schließlich nachdenklich, »die unmöglich meine eigenen sein können.«

und das konstruierte Dialog-Drama von zwei Fremden im Zug nimmt seinen Lauf. Dabei habe ich das Interesse oder genauer, die Ernsthaftigkeit für die beiden Protagonisten bereits verloren und denke mir weiterhin: Der Erzähler nimmt die beiden Protagonisten nicht ernst, warum sollte ich es tun? Es wird mir dafür leider kein Grund geboten.
Der "zweite" Dialog der beiden über ihre "Brüche" kommt mir zu unmotiviert, vor allem Paula kommt für mch in der Geschichte sehr unglaubwürdig rüber, und der Erzähler ist mir dabei leider keine Hilfe.
Im rsten Absatz meint der Erzähler noch
Zitat:
Gründe, die wir nicht kennen

und ich frage ich, wen er mit "Wir" meint. Für eine Ansprache an den Leser, kommt mir diese Komplizenschaft unpassend und fragwürdig vor. Passt nicht. Wo, im restlichen Text, wird dieses "Wir" wieder aufgenommen oder weitergesponnen? Wofür ist es sinnvoll?

Für mich ist dieser Text leider sehr unausgegoren (vom Erzähler/von der Erzählweise her, vom unmotivierten Inhalt und der Charakterisierung der Protagonisten her) und unfreiwillig komisch in all dieser Kombination
z.B.
Zitat:
Sie lacht, aber nicht fröhlich. »Vielleicht eher: niemand sagt jemals die Wahrheit. Ich habe gelesen, man könne inzwischen mittels künstlicher Intelligenz Gehirnaktivität direkt in Sprache übersetzen. Seitdem frage ich mich: Wird das nun endlich die Wahrheit ans Licht bringen? Oder doch wieder nur die gleichen alten Lügen. Kommt wohl darauf an, wie gut wir selbst daran glauben. Wie gut wir uns kennen.«

, obwohl ja eigentlich ernste Themen von zwei Protagonisten behandelt werden wollen.
Was übrig bleibt ist Wasserdampf, der verpufft, und das ist schade.

Merci beaucoup
Constantine
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Jenni
Geschlecht:weiblichBücherwurm


Beiträge: 3310

Das goldene Aufbruchstück Die lange Johanne in Gold


Beitrag30.01.2020 00:44

von Jenni
pdf-Datei Antworten mit Zitat

Du Text, den ich so eigentlich gar nicht schreiben wollte, der du in den letzten zwei von zehn Tagen wie aus dem Nichts zu mir kamst, und ziemlich skeptisch schrieb ich dich auf, und dann standest du da, und ich war selbst überrascht: ich mochte dich, gerade deine Unaufgeregtheit. Du  bist so Yin und Yang, selbst wie eine Welle. Du bist kein Text, der sich hier irgendwie in den Vordergrund stellen könnte oder wollte, aber dir reicht es aus, zu koexistieren, so sehr bist du im Gleichgewicht. Oder vielmehr: in der Gegenwart.
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Lalanie
Geschlecht:weiblichWortedrechsler


Beiträge: 55
Wohnort: Bayern


Beitrag01.02.2020 23:49

von Lalanie
Antworten mit Zitat

Da ich ein Neuling in diesem Forum bin, folge ich dem Ratschlag eines Mitglieds und schreibe nur einen Kommentar ohne Bewertung – ich hoffe, das wird mir nicht übelgenommen.
Deinen Text fand ich unheimlich interessant und außerordentlich gelungen. Es ist ein Stückchen Philosophie, Weltanschauung und Daseinsbetrachtung. Die beiden Figuren sind dem Leser überraschend sympathisch, obwohl nicht viel über sie preisgegeben wird, und gleichzeitig tun sie einem irgendwie leid. Sie unterhalten sich gehoben, ohne dass es affektiert wirkt. Wie der Titel zum Ganzen passt, erschließt sich leider meinem Intellekt nicht. Es geht im Gespräch zwischen Mike und Paula nicht um Oberflächlichkeiten und dennoch gehen sie nicht wirklich in die Tiefe. Die Vergangenheit als fremdes Land habe ich bei beiden Figuren klar erkannt, das Kintsugiprinzip ist in meinen Augen auch umgesetzt, da wenigstens in Paulas Fall die Kittung ihrer Vergangenheit eine wichtige Rolle in ihrem Leben spielt, eine Aufgabe, die sie aber nicht als negativ begreift. Wirklich großartig geschrieben! Vielen Dank dafür!
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