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Klemens_Fitte
Geschlecht:männlichSpreu

Alter: 41
Beiträge: 2932
Wohnort: zuckerstudio waldbrunn


Beitrag24.11.2019 12:12

von Klemens_Fitte
Antworten mit Zitat

Sorry – finde jetzt erst die Zeit, mich an eine Antwort zu setzen.

Hallo d.frank,

d.frank hat Folgendes geschrieben:
geht nich weiter... Sad


ja, da gab es ein Problem mit der Fortsetzung, die stand zunächst als 1. Teil mit "Wie es weitergeht" im Forum. Jetzt stimmt alles wieder, dank Moderation + MosesBob – vielen Dank dafür! – und das, was ich bis jetzt an Material habe, sollte noch für zwei Fortsetzungen reichen.

Hallo timcbaoth,

stimmt, die Baustrahler … vielleicht finden sie ja in einer späteren Überarbeitung wieder den Weg in den Text. Was ich nur vermeiden möchte: dass man sie als tatsächliche Strahler versteht, denn, wie Nihil schrub, so fantastisch, wie sich die Welt gibt, ist sie gar nicht.

Die Szene mit dem Großvater war für mich – beim Schreiben bzw. in der Konzeption – eine Schlüsselszene, weil ich da zum ersten Mal verstanden habe, was für eine Geschichte ich eigentlich schreiben will. Das ist für den Leser jetzt vielleicht noch nicht ersichtlich, aber im weiteren Verlauf wird es klarer.

Was Dimitri angeht: der wird sicher auch noch einmal auftauchen. Im Moment versuche ich, diese kursiven Teile zu sammeln, um nicht nur für den Leser, sondern auch für mich ein deutlicheres Bild der "neuen Welt" zu schaffen. Die Anordnung dieser Teile im fertigen Text kann sich dann auch noch ändern.

timcbaoth hat Folgendes geschrieben:
Ich will gerne weiterlesen.


Freut mich smile

Hallo Katinka2.0,

auch dir vielen Dank für deinen ausführlichen Kommentar. Was du zur Anfangsszene schreibst, kann ich sehr gut nachvollziehen, aber da bleibt mir vielleicht nur, diesen Widerspruch so stehen zu lassen, wie er steht.

Zwei Anmerkungen:
1) Der Anklang ans (Hollywood)Kino und die "klassische" Trivial-/Unterhaltungsliteratur ist mir wichtig, denn letzten Endes möchte ich genau so einen Text schreiben. Das funktioniert, finde ich, am einfachsten über Bilder, die wir alle abgespeichert haben: Die Unordnung nach einer Schießerei, der Held, der seine Waffe lädt und holstert etc.
Ein tarantinoeskes Blutbad ginge mir allerdings zu weit, da erstens der Text eine solche Erwartung nicht einlösen wird und es zweitens die Frage der Gewalt zu nah an den Erzähler rückt; zeigt sich ja in deiner Rückmeldung.
Vielleicht ist es wirklich das "getrocknete Blut", das hier schon zu sehr "drüber" ist, auch wenn der Text – sehr bewusst – auf eine Beschreibung von Leichen, Blutlachen o.ä. verzichtet.
2) Der Protagonist ist ja nicht einfach Protagonist, sondern der Erzähler seiner eigenen Geschichte, und sowohl Ich-Perspektive als auch das (epische) Präteritum als Erzählzeit sind bewusst gewählt. Klar, man wird in diese Situation geworfen, in der sich der Ich-Erzähler grade befindet, aber das Erzählen selbst findet ja aus einem – wie auch immer gearteten – Später heraus statt, und bei dem, was erzählt oder nicht erzählt wird, handelt es sich um eine (bewusste oder unbewusste) Entscheidung. Wir können dem Erzähler glauben, dass er in dieser Situation völlig ruhig und gefasst über die neue Welt oder die Erinnerung an seinen Großvater sinniert – oder wir können uns fragen, warum er erzählt, was er erzählt, und warum die Schilderung der Situation selbst, seine Empfindungen oder Gedanken in diesem Moment sehr wenig Raum einnehmen.

Um es kurz zu sagen: an einem Protagonisten, der der Situation und seinen eigenen Empfindungen/Gedanken – und ihrer Schilderung – hilflos ausgesetzt ist, habe ich an dieser Stelle kein Interesse. Mein Ich-Erzähler ist ein Erzähler, und als solcher outet er sich ja gleich zu Beginn.

Zitat:
Zitat:
Obwohl ich ihre Geschichten kenne, erinnere ich kaum etwas aus der alten Welt;


Die nichtreflexive Verwendung von erinnern finde ich sehr gewöhnungsbedürftig.


Ich mag sie, denke aber, das ist eine Frage des Geschmacks.

Zitat:
Zitat:
Ich weiß nicht, welches Bedürfnis älter ist: Die Dinge zu betrachten, oder leugnen zu können, was man sieht.
In diesem Teil der neuen Welt gab es nichts mehr zu leugnen.
Nicht dass jemand diesen oder ähnliche Gedanken in Worte gefasst hätte – es war ja unsinnig, etwas begreifen zu wollen, das längst begriffen war, und so suchte man nicht nach Worten,

Eine Anhäufung von Negationen, die sich allein durch die Wortwiederholung nicht ganz so schön liest.


Auch mit Wortwiederholungen habe ich kein grundsätzliches Problem, ich werde deine Anmerkung aber für die nächste Überarbeitung im Hinterkopf behalten.

Zitat:
Zitat:
Ich weiß nicht, welches Bedürfnis älter ist: Die Dinge zu betrachten, oder leugnen zu können, was man sieht.

Du verwendest hier Präsens, weil er es in der Gegenwart immer noch nicht weiß?


Ja. Gibt auch im weiteren Verlauf immer wieder mal Stellen, in denen "Später habe ich" o.ä. verwendet wird, es ist also klar, dass das Präteritum – deutlicher als in manch anderen Texten – ein Erzählen aus dem Später ist.

Das man – ich meinte eigentlich, ich hätte es an einigen Stellen schon durch ein wir ersetzt, vielleicht ist das bei irgendeiner Überarbeitung wieder verlorengegangen/rückgängig gemacht worden. Muss ich mal schauen.

Hallo Nihil,

puh, was soll ich da sagen Laughing
Vielen Dank für diese Rückmeldung, mit der ich sehr viel anfangen kann, weil sie vieles trifft, das ich beim Schreiben als Grundidee vor Augen hatte. Insbesondere das hier:

Nihil hat Folgendes geschrieben:
mir scheint sich, ich beziehe mich vor allem auf den Beginn des ersten Teils, hier auch eine Angst anzudeuten, die über das Erkennen und Akzeptieren der zerstörten Welt hinausgeht, nämlich auch die Angst, sich selbst zu erkennen und in einem omnipräsenten Raublicht, als das zu erscheinen, was man – oder das Ich – wirklich ist. Im schlimmsten Fall nichts.


Und natürlich motiviert so ein Kommentar sehr zum Weiterschreiben – auch wenn es die Messlatte für weitere Teile ziemlich hoch legt. Ob der Text es da drüber schafft … ich hoffe, eine Balance zu finden zwischen einer (konzeptionellen? subtextuellen?) Tiefe und einer Geschichte, die sich entfalten kann, ohne dass ihr stets halbgare pseudophilosophische Überlegungen im Weg stehen.

Den Tschuss nehm ich gern mit Kuss.

Euch allen vielen Dank für eure Kommentare. Ich schaue, dass ich später noch eine Fortsetzung einstelle.


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»Es ist illusionär, Schreiben als etwas anderes zu sehen als den Versuch zur extremen Individualisierung.« (Karl Heinz Bohrer)
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Klemens_Fitte
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Beitrag24.11.2019 16:08

von Klemens_Fitte
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2 Die Schnellstraße


Die Schatten waren kurz geworden, wenig mehr als ein schmaler Pfad entlang eines Häuserblocks, als ich die Schnellstraße erreicht hatte. Hoch über meinem Kopf zog sie sich durch die Stadt, geradlinig, ungebeugt, als wäre sie schon immer hier gewesen, vor den Straßen und Gebäuden der Stadt, vor den Menschen, die sich früher auf und heute unter ihr bewegten, als Teil eines gewaltigen Rings aus Beton, der seit jeher die Erde umspannte.
Zu beiden Seiten durch die Häuserfluchten und von oben durch die breite Fläche der Fahrbahn geschützt, war die Schnellstraße die übliche Route all jener, die in den Westen zogen – oder für die, die von dort zurückkehrten, müde und gebrochen, ohne einen Blick oder ein Wort für die Entgegenkommenden. Manchmal fand sich am Fuß eines der Betonpfeiler das provisorische Lager eines fahrenden Händlers, aber selbst die boten keine Verheißungen oder blumigen Legenden über das Territorium im Westen feil. Wer sich dorthin aufmachte, hatte ohnehin seine ganz eigene Vorstellung davon, was ihn erwartete, und wenig Interesse an anderen. Nur wenn eine Karawane mit neuen und ungewöhnlichen Verhaltensregeln oder Gesprächsgebaren auf diese reisenden Händler traf, konnte man auf ihren Gesichtern die Spur eines Interesses ablesen, das über Geschäftstüchtigkeit oder die angeborene Vorsicht hinausging.
Zumindest war es vor Jahren so gewesen, bevor ich diese Gegend verlassen hatte. Jetzt folgte ich der Linie der Schnellstraße, ohne einer Menschenseele zu begegnen oder auf die Spuren anderer Reisender zu treffen. Ich war allein. In meinem Rücken ballte sich eine gespenstische Stille und wuchs mit jedem Schritt, den ich in sie hineinfallen ließ. Ich war seit Stunden unterwegs, ohne Rast, aber das war nicht der Grund, weshalb meine Schritte immer schwerer wurden.
Ab und an verließ ich den Weg, barg mich hinter einem Pfeiler und spähte einige Minuten in die Richtung, aus der ich gekommen war. Es war ein Leichtes, einem einsamen Wanderer zu folgen, insbesondere dann, wenn er die offensichtlichste Route nahm – aber mir blieb nur, dieses Risiko einzugehen.
Es musste bereits gegen Abend sein. Die Kolonnade der Betonpfeiler führte meinen Blick kilometerweit zurück auf den Punkt, an dem ich vor Stunden gestanden haben mochte, und obwohl ich keinerlei Bewegung ausmachen konnte, verließ mich meine innere Unruhe nicht. Im Grunde wünschte ich mir, dort zwischen den Schatten die Umrisse eines oder mehrerer Menschen zu sehen. Darin hätte eine Art Gewissheit gelegen, und im Moment schien mir nichts mehr gewiss. Etwas war anders, und das lag nicht nur daran, dass ich ein Anderer war.
Ein merkwürdiges Gefühl der Eile hatte von mir Besitz ergriffen, schon am Morgen, als ich über die Barrikaden ins Freie geklettert war, in eine Stille hinein, die im gleißenden Licht des Tages so fragil wie angespannt gewirkt hatte, als wäre jeder Laut und jede Regung aus der Stadt gezogen worden, um Platz für eine Detonation zu machen.
Ebenso widerwillig wie ungeduldig löste ich mich aus der Deckung und nahm meinen Weg wieder auf. Die Fassaden der Häuser links und rechts der Trasse änderten sich kaum und boten keine Orientierung, aber ich schätzte, dass ich bald die Peripherie erreichen würde.
Die Schatten waren längst tiefer geworden und Wind kam auf, ohne die Stille zu durchbrechen.
Womit ich nicht gerechnet hatte, war der Graben, der sich mit einem Mal quer über meinen Weg erstreckte und sich zu beiden Seiten in der Ferne verlor. Er war so gewaltig, mindestens zwanzig Meter im Durchmesser und in einer ununterbrochenen Linie in die Erde gezogen, dass ich ihn zunächst für die Folge eines Erdbebens hielt.
Dann sah ich, dass sich die Schnellstraße unversehrt über ihn hinweg spannte, und auch die Häuser diesseits und jenseits des Grabens waren so exakt an seine Ränder gebaut, als wäre er schon immer dagewesen. Seine Wände waren glatt und führten senkrecht in die Tiefe, und an manchen Stellen zeigten sich die unterirdischen Netzwerke und Rohrleitungen der Stadt wie am Glas einer Ameisenfarm. Ich blickte in die Tunnelöffnungen einer U-Bahnlinie wie in den Lauf einer Schrotflinte. Ihre Gleise endeten im Nichts.
Ich näherte mich dem Abgrund, so weit ich es wagte, und starrte atemlos in die Tiefe. An ein Weiterkommen war nicht zu denken. Tief unter mir verloren sich die Wände des Grabens in der Dunkelheit. Dann warf ich einen Blick zurück. Dort, wo die Pfeiler der Schnellstraße in einem Fluchtpunkt zusammenliefen, regte sich etwas.

Keiner weiß, was mit den Gebäuden und Straßen geschieht. Die meisten zucken darüber die Schultern, als ginge es sie nichts an, und im Grunde haben sie recht. Gebäude sind wichtig, wenn es gilt, einen Unterschlupf zu finden oder ein Lager einzurichten, und Straßen unterscheiden sich darin, ob man auf ihnen langsam oder schnell vorankommt.
Für diese Fragen ist die Geschichte eines Ortes, die Vergangenheit eines Häuserblocks oder eines Straßenzugs nicht relevant. Und weil man niemandem erzählt, woher man kommt oder wohin man geht, braucht man auch keinen Namen für sie.
Wenn man von Tag zu Tag lebt, wie man von einem Ort zum anderen zieht, gibt es Erinnerung nur als Erfahrung, und Erfahrung zeigt sich nur, sobald es gilt, im fraglichen Moment die richtige Entscheidung zu treffen. Erfahrung kümmert nicht, ob ein Gebäude vor einem Jahr oder einem Monat anders aussah, ob eine Straße in eine andere Richtung führte oder an einem anderen Punkt endete.
Eine Zeit lang dachte ich, es sei menschengemacht. Menschen, die den Anblick eines Gebäudes nicht mehr ertrugen, die Fassade eines Kinos, die Schaufenster eines Kaufhauses, in denen sich noch die alte Welt spiegelte – und dann zerstörten sie es, um nicht länger vor Augen zu haben, was sie verloren hatten.
Mittlerweile weiß ich, dass es andere Phänomene sind. Etwas, das mit der Finsternis kommt, die sich Abend für Abend über die Welt legt. Wenn sie nachts im Vergessen versinkt, kann sie am nächsten Tag nicht unverändert zurückkehren. Und dann bewegt man sich durch Gegenden, die nicht mehr dieselben sind, ohne dass man sagen könnte, worin die Veränderung besteht. Man vergisst. Vielleicht, denkt man, ist es der ganz gewöhnliche Zerfall, der die Fassaden von den Häusern abträgt, Straßen aufbrechen oder im Nichts verschwinden lässt. Aber vielleicht ist es mehr als das. Etwas, in dem nicht nur Mauern und Glas zurückbleiben, sondern auch Menschen. Man vergisst auch die Menschen.

« Was vorher geschah12345Wie es weitergeht »



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Klemens_Fitte
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Beitrag28.11.2019 11:46

von Klemens_Fitte
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So, das ist dann erst mal der Rest dessen, was ich an Material bis jetzt habe. Mal sehen, ob ich demnächst zum Weiterschreiben komme.

__

So schnell es mir möglich war, stieg ich das dunkle Treppenhaus nach oben. Das Gebäude war nah, sehr nah an die Schnellstraße gebaut, und ich sah meine einzige Chance darin, auf die Trasse zu gelangen und so den Graben zu überqueren.
Ich konnte nicht sagen, ob ich verfolgt wurde, und falls ja, wie viel Distanz noch zwischen mir und meinen Verfolgern lag. Dass ich das Gebäude betreten hatte, wäre ihnen nicht entgangen.
Eine Hand am Treppengeländer, die andere vor mir in die Dunkelheit gestreckt, nahm ich Stufe für Stufe. Den Absätzen nach zu urteilen, musste ich mittlerweile das sechste Stockwerk erreicht haben. Genug, vielleicht.
In diesem Moment ließ die Dunkelheit nach. Ich stieg weiter, und als ich den nächsten Treppenabsatz erreichte, sah ich, dass Tageslicht aus einer offenstehenden Wohnungstür drang. Ich zögerte keine Sekunde.
Die Tür führte direkt in ein helles, spärlich möbliertes Apartment mit hohen Decken, das wirkte, als wäre in ihm die alte Welt konserviert worden. Zu jeder anderen Zeit hätte ich innegehalten, hätte ehrfürchtig die Einrichtung betrachtet, schlicht, funktional, ein Raum, der vielleicht kein sorgenfreies, aber ein alltägliches Leben versprach. Jetzt interessierte mich nur, dass die Fenster hoch und nicht verbarrikadiert waren.
Das Apartment lag auf der richtigen Seite des Gebäudes. Etwa auf gleicher Höhe verlief die Trasse der Schnellstraße. Ich öffnete ein Fenster und beugte mich hinaus.
Vom Fenstersims war es ein Sprung von zwei Metern.
Geduckt lief ich zurück zur Tür, trat ins Treppenhaus und hielt gebannt inne. Kein Zweifel, da waren Schritte, und tief unter mir sah ich die zuckenden Lichtkegel von Taschenlampen.
Ich schlüpfte zurück ins Apartment, schloss die Tür hinter mir und hängte die Kette ein. Vielleicht würden sie dieses Stockwerk passieren. Vielleicht würden sie ihre Suche vorher schon abbrechen. Vielleicht.
Wenn sie ahnten, was ich vorhatte, blieben nicht viele Wohnungen, die sie durchsuchen mussten. Und eine Tür, das wusste ich, war schnell aufgebrochen.
Zwei Meter können eine unüberwindliche Distanz sein.
Fieberhaft blickte ich mich um. Und dann sah ich das Regalbrett. Neben dem Fernsehschrank lehnte es an der Wand, als hätten sie nur vergessen, es anzubringen, und es reichte fast bis zur Decke.
Ich wusste nicht, ob es mein Gewicht tragen würde, aber mir blieb keine andere Wahl. Hastig trug ich es zum Fenster, es war schwer, stabil, legte es auf den Fenstersims und schob es nach draußen, bis es auf der Absperrung der Schnellstraße auflag. Dann kletterte ich auf den Fenstersims und warf den Rucksack auf die andere Seite, und damit war die Entscheidung getroffen.
Eine Hand am Fensterrahmen, schob ich mich halb nach draußen und prüfte mit dem Fuß den Halt der Planke. Es gab nichts zu prüfen. Es würde entweder halten – oder nicht.
Ich atmete durch, machte einen Schritt auf das Brett und sprang.
Ich hörte, wie es tief unter mir auf die Straße schlug. Aber ich hatte es geschafft. Ich fühlte den festen Asphalt der Fahrbahn unter mir.
Hastig griff ich nach meinem Rucksack, robbte hinter die Absperrung und wartete, dass sich mein Herzschlag beruhigte. Von meinen Verfolgern war nichts zu hören, und im ersten Moment lag eine derartige Erleichterung darin, dass ich beinahe lauthals gelacht hätte. Ich legte den Kopf in den Nacken und blickte nach oben. Mein Blick stieß an eine Fläche aus formlosem Blau. Und dann wurde mir klar, dass meine Verfolger nicht mehr mein größtes Problem waren. Ich befand mich auf der Schnellstraße, mit nichts als dem freien Himmel über mir, mehrere Meter über dem Boden und ohne Möglichkeit, wieder nach unten zu kommen. Und bald würde die Nacht hereinbrechen.
Gebannt lag ich da und starrte gegen den Himmel, unfähig, mich zu bewegen. Wie ein Insekt, das von der Nadel der Sonne auf den Boden geheftet wurde.
Dann sprang ich auf.
Verlassene Autos standen kreuz und quer auf der Fahrbahn, und ich suchte mir geduckt einen Weg zwischen ihnen. Zunächst, sagte ich mir, musste ich den Graben überqueren, und vielleicht gab es auf der anderen Seite eine Möglichkeit, die Schnellstraße wieder zu verlassen.
Ich blickte nicht zurück, nur ab und zu beugte ich mich über die Absperrung und sah nach unten, um mich zu orientieren. Von hier oben schien der Graben endlos in die Erde zu reichen.
Ich befand mich direkt über ihm, als es auf einen Schlag finster wurde.
Wenn man gelernt hat, sich tagsüber im Schatten aufzuhalten, das Licht zu meiden, wo es möglich ist, glaubt man irgendwann, die Dunkelheit wäre ein Freund. Man sucht sie, man redet mit ihr, bis es unsinnig scheint, sich vor ihr zu fürchten, weil man ihr längst jede Angst anvertraut hat. In der Dunkelheit fühlt man sich geborgen. Wer nicht sichtbar ist, dem kann nichts passieren. Ich begriff in diesem Moment, dass darin ein Irrtum lag; dass es etwas anderes war, ob man sich vor der Sonne versteckte oder von Finsternis umgeben war. Finsternis ist mehr als das Monster, das man nicht sieht. Es ist der Moment, in dem sich die Grenze zwischen Innen und Außen auflöst, wenn sich der Abgrund, der hinter dem nächsten Schritt lauern könnte, mit dem eigenen Abgrund vermischt.
Ich war reglos, wie versteinert, und zugleich glaubte ich endlos in die Finsternis hinauszuwachsen. Und zusammen mit mir wurde meine Angst grenzenlos.
Dann kam das Dröhnen.
Später sagte ich mir, ich hätte es mir nur eingebildet; dass es das Produkt einer übersteigerten und hysterischen Wahrnehmung gewesen sei. Aber in diesem Moment wusste ich, dass es wirklich war. Ich hatte es schon gehört, manche Nacht, leise, kaum wahrnehmbar, wie das dumpfe Grollen eines Sturms am Horizont. Jetzt war ich in seiner Mitte. Es schien aus der Tiefe emporzusteigen und gegen die Trasse zu schlagen, diesem winzigen und zerbrechlichen Halm über einem unermesslichen Graben, umgeben von einem unirdischen Lärm, der so gewaltig und gestaltlos war wie die Finsternis selbst.
Ich weiß nicht, wie viel Zeit verging. Augenblicke vielleicht, Minuten oder Stunden. Genug Zeit vielleicht, um das Gewebe der Welt von innen nach außen zu drehen, es zu dehnen, zu verformen, wie im Vortex einer unbegreiflichen Veränderung. Es gab keine materielle Welt mehr, nur noch dieses tosende Meer, dessen Oberfläche vereinzelt von Geräuschen durchbrochen wurde, die an das Bersten von Holz oder das Kreischen von Metall erinnerten. Und es gab mich, der all dem ausgeliefert war.
Irgendwann stießen meine Finger wie zufällig gegen die kühle Oberfläche einer Autokarosserie, und ich kam jäh zu Bewusstsein. Ich fand den Türgriff, öffnete und schob mich ins Innere des Wagens. Als ich die Tür schloss, war es augenblicklich still um mich, und ich wagte wieder zu atmen.
»Damit haben wir wohl beide nicht gerechnet«, hörte ich eine vertraute Stimme neben mir.

Obwohl es meine deutlichste Erinnerung an die alte Welt ist, erzähle ich die Geschichte von meinem Großvater nur selten – und wenn doch, breche ich sie immer an der gleichen Stelle ab: wie wir auf dem Sessel sitzen und uns einen Western ansehen, und dann überlasse ich es meinen Zuhörern, den Rest mit ihren eigenen Erinnerungen an Kindheit und Sommernächte zu füllen, oder mit ihren Sehnsüchten, wenn sie keine Erinnerungen haben.
In Wirklichkeit endet die Erinnerung nicht mit mir und meinem Großvater. Sie endet mit dem Western. Genauer, mit der Aufnahme eines weiten Tals, das sich am Fuß einer schneebedeckten Gebirgskette erstreckt, menschenleer, durchzogen von Bächen und Pfaden, die allmählich mit den Gesichtszügen eines Mannes überblendet werden, und als die Kamera herauszoomt, sehe ich, dass es ein Indianerhäuptling ist und dass er mir direkt in die Augen blickt.
Ich kann nicht sagen, ob mein Großvater es bemerkt. Vielleicht existiert er in diesem Moment nicht mehr, und auch das Wohnzimmer nicht, das Haus, die Veranda, und auch keine Grenze zwischen mir und dem Fernsehbild. Es gibt mich und den Fremden und eine sonderbare Mischung aus Anspannung und Vertrautheit. Und dann, nachdem er mich lange und prüfend angesehen hat, höre ich seine Stimme, und sie sagt mir, er habe nach mir gesucht.

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Nihil
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Moderator
Alter: 34
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Beitrag29.11.2019 18:31

von Nihil
Antworten mit Zitat

Diesmal nur kurz: Bin weiterhin gespannt dabei. Die Verfolger, der Sturm aus Dröhngeräuschen, die unerwartete Stimme, sie bringen ein stimmungsvolles Mystery/Horror-Element mit ins Spiel. Konkret lässt sich das noch nicht durchblicken, aus welchem Grund der Erzähler verfolgt wird, wenn überhaupt,  und wohin die Reise gehen soll, vor allem die des Textes selbst.

Weißt du schon, wie lang das insgesamt werden soll oder lässt du dich (noch) beim Schreiben treiben? Ich frage nur aus dem Grund, weil – falls denn etwas Längeres daraus entstehen soll – mir die Schnitte zwischen den einzelnen Teilen zu groß wären. Da sind viele starke Bilder drin, die sich selbst aber gar nicht überleben wollen, wie es den Anschein hat, weil sie in sehr hohem Tempo abgefertigt werden.

Zitat:
Ich blickte in die Tunnelöffnungen einer U-Bahnlinie wie in den Lauf einer Schrotflinte.

Hieran habe ich mich gestört, weil die Metapher schon so abgegriffen ist. Dann wollte ich eigentlich schreiben, dass man das auch in einem 50er-Western hätte lesen können. Ein Kapitel später kam der Western zwar in der Erinnerung des Opas – aber. Als Vorausdeutung wäre mir das trotzdem zu schwach. Und die (oder irgendeine) Metapher braucht es an dieser Stelle eigentlich gar nicht.

„Wann gehts weiter?“
– Die quengelnde Stimme vom Rücksitz
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a.no-nym
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Beiträge: 699



A
Beitrag29.11.2019 19:28

von a.no-nym
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Hallo Klemens,
ich geistere schon eine Weile durch diesen Faden - und wie so oft, wenn ich einen Text von Dir finde, habe ich das Gefühl, unwürdig zu sein, auch nur einen Kommentar dazulassen Embarassed

Ich wage es diesmal trotzdem, auch wenn ich nichts Substanzielles beitragen kann: Das Lesen Deines Textes fühlte sich so an, wie ich mir das Erleben eines Tauchers vorstelle. Schon mit den ersten Zeilen hat diese Welt mich gefangengenommen, ich konnte eintauchen, mich versenken und hineinvertiefen. Bei jedem Lesen entdecke ich Neues und habe das Gefühl, dass meine Sinne sich scharfstellen und dass es überall etwas zu entdecken (und zu empfinden) gibt, egal, worauf ich meine Aufmerksamkeit gerade richte. Manchmal nehme ich mehr die Schönheit der Sprache wahr, dann wieder ist es die Hoffnungslosigkeit in dieser Welt, die ihre Krakenarme nach mir ausstreckt. Immer wieder tun sich in vermeintlich sicherem Terrain plötzlich Abgründe auf, deren dunkle Tiefen ich nur ahnend ausloten kann.

Gerade von der Sprache der ersten Version fühle ich mich zutiefst beschenkt - leider kann ich das nicht genauer erklären, sondern nur versichern, dass das nicht allzu oft passiert. (Bei den Überarbeitungen des ersten Teils blieb dieser Effekt weitgehend aus.)
Mit angehaltenem Atem habe ich die weiteren Teile gelesen und möchte Dir einfach nur danken, dass Du den Text hier eingestellt hast! Ich bin froh, dass Du dem Forum trotz seiner (und Deiner) Entwicklung die Treue hältst und hoffe sehr, Deinen Texten hier und/oder anderswo auch künftig zu begegnen.

Herzliche Grüße und lauter gute Wünsche
a.
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Klemens_Fitte
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Beitrag30.11.2019 13:02

von Klemens_Fitte
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Na, das war doch mal ein schöner Start ins Wochenende smile extra

Moin Nihil,

hat mich sehr gefreut, dein erneutes Hereinschauen, und auch, dass du noch dabei bist.

Nihil hat Folgendes geschrieben:
Die Verfolger, der Sturm aus Dröhngeräuschen, die unerwartete Stimme, sie bringen ein stimmungsvolles Mystery/Horror-Element mit ins Spiel. Konkret lässt sich das noch nicht durchblicken, aus welchem Grund der Erzähler verfolgt wird, wenn überhaupt, und wohin die Reise gehen soll, vor allem die des Textes selbst.


Ja. Ich habe zwar (mittlerweile) den groben Umriss einer Geschichte im Kopf, aber beim Schreiben selbst probiere ich sehr viel herum, füge Elemente ein, die mir stimmig, spannend oder interessant scheinen, und schaue, was davon verfängt.
Ich glaube, dem ist auch dieser Eindruck geschuldet:

Nihil hat Folgendes geschrieben:
Weißt du schon, wie lang das insgesamt werden soll oder lässt du dich (noch) beim Schreiben treiben? Ich frage nur aus dem Grund, weil – falls denn etwas Längeres daraus entstehen soll – mir die Schnitte zwischen den einzelnen Teilen zu groß wären. Da sind viele starke Bilder drin, die sich selbst aber gar nicht überleben wollen, wie es den Anschein hat, weil sie in sehr hohem Tempo abgefertigt werden.


Ein hohes Tempo ist mir hier schon wichtig, ebenso ein Erzähler, der uns ebenso viel verschweigt, wie er uns erzählt oder nur in Andeutungen präsentiert. Das birgt natürlich die Gefahr, dass einzelne Elemente/Aspekte hintenüber fallen, aber solange dem Leser gleich die nächste Karotte vor der Nase hängt, habe ich da kein grundsätzliches Problem mit.
Vielleicht, weil ich mich hier sehr am (seriellen) Comic und dessen Erzähltechniken orientiere, und das zur Frage nach der Länge:
Anfangs hatte ich ein "richtiges" Buch vor Augen, also irgendwas zwischen 300 und 400 Seiten, mittlerweile finde ich aber auch den Gedanken interessant, mich an Manga-Taschenbüchern zu orientieren, sprich, Einzelbände um die 200 Seiten, die in sich geschlossene Geschichten erzählen, aber auch ein festes Figurenkabinett und einen durchgängigen Storybogen haben.
Ob ich etwas davon umgesetzt bekomme … mal schauen smile

Andererseits, klar, muss ich aufpassen, dass ich nicht zu vieles "abfrühstücke" – mein Schreibprozess ist (in diesem Fall) aber eher so, dass ich zunächst ein Grundgerüst bastle und dann auffülle, heißt, wenn ich merke, dass sich hier oder dort noch Interessantes versteckt, kann ich darauf reagieren. Und durch die kursiven Teile habe ich ja die Möglichkeit, auch Aspekte zu beleuchten, die sozusagen außerhalb der eigentlichen Handlung stehen, aber entweder Welt oder Figuren lebendiger machen könnten.

Nihil hat Folgendes geschrieben:
Zitat:
Ich blickte in die Tunnelöffnungen einer U-Bahnlinie wie in den Lauf einer Schrotflinte.


Hieran habe ich mich gestört, weil die Metapher schon so abgegriffen ist. Dann wollte ich eigentlich schreiben, dass man das auch in einem 50er-Western hätte lesen können. Ein Kapitel später kam der Western zwar in der Erinnerung des Opas – aber. Als Vorausdeutung wäre mir das trotzdem zu schwach. Und die (oder irgendeine) Metapher braucht es an dieser Stelle eigentlich gar nicht.


Ja, verstehe ich. Andererseits könnte ich jetzt sagen, dass dieses Westernmotiv mir schon sehr, sehr wichtig ist. Das hängt jetzt natürlich nicht an diesem einen Bild, aber so grundsätzlich habe ich auch kein Problem, mit Abgegriffenem zu arbeiten. Bekannte Bildformeln machen ja (auch) comicales Erzählen aus.

Nihil hat Folgendes geschrieben:
„Wann gehts weiter?“
– Die quengelnde Stimme vom Rücksitz


Jetzt könnte ich zwar antworten Vom Quengeln geht's auch net schneller, aber das stimmt ja gar nicht. Zu wissen, dass auf eine Fortsetzung gewartet wird, motiviert ja schon ungemein.

Vielen Dank dafür.

*

Hallo a.no-nym,

puh, da machst du mich aber ganz schön verlegen. Persönlich hatte ich nie das Gefühl, meine Texte könnten über irgendjemandem stehen, das wäre mir auch sehr unangenehm. Und es sollte doch gerade die Vielfalt der Lesarten, der Geschmäcker und Herangehensweisen an Texte sein, die das Forum ausmacht.
Jedenfalls bin ich froh, dass du es "gewagt" hast, denn auch wenn du vielleicht das Gefühl hast, nichts Substanzielles beigetragen zu haben, ist das ein Kommentar, über den ich mich sehr gefreut habe und den ich sicher noch oft lesen werde. Letzten Endes mag das hier die sog. "Werkstatt" sein, aber es geht doch immer noch ums Lesen und darum, was es mit uns macht.

Und da wird mir bewusst, dass ich so etwas auch viel öfter machen sollte: mich zu Wort melden, und sei es nur um zu sagen, wo ich etwas gelesen habe.

Auch dir vielen Dank.


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Gast







Beitrag01.12.2019 20:26

von Gast
Antworten mit Zitat

Hallo Klemens,

mittlerweile habe ich alle Teile gelesen, und die Geschichte hat mich nach wie vor am Wickel. Ich mag die Erzählweise in Verbindung mit den kursiven Einschüben, sie geben dem Leser immer etwas Interessantes über den Protagonisten preis, und ich mag Western Smile. Hattest du bei dieser Szene

Zitat:
Genauer, mit der Aufnahme eines weiten Tals, das sich am Fuß einer schneebedeckten Gebirgskette erstreckt, menschenleer, durchzogen von Bächen und Pfaden, die allmählich mit den Gesichtszügen eines Mannes überblendet werden, und als die Kamera herauszoomt, sehe ich, dass es ein Indianerhäuptling ist und dass er mir direkt in die Augen blickt.


einen bestimmten im Kopf?

Du hast einen interessanten Charakter erschaffen, und nach den kryptischen Andeutungen bezüglich seiner Veränderung und Rückkehr möchte ich gerne erfahren, was es nun eigentlich mit ihm auf sich hat. Und obwohl der Text, den du bisher eingestellt hast, in seiner Gesamtheit noch recht kurz ist, haben sich viele Fragen aufgetan. Was ist es, das sein eigenes radikales Handeln moralisch rechtfertigt? Gibt es in dieser Welt überhaupt so etwas wie Gerechtigkeit oder Moralvorstellungen? Muss es ja eigentlich, aus was sollte sein Antrieb sonst heraus entstehen? Ich bin gespannt, wie du weitermachst.

Noch eine kleine Anmerkung, die lediglich meinem persönlichen Geschmack geschuldet ist:

Du schreibst sehr bildgewaltig, was einerseits schön und hilfreich für das Kopfkino ist, andererseits führt es doch zu einer Reihe von Vergleichssätzen, in denen du deine Vorstellungen vorgibst. Mir ist das ein Tick zu viel. Ich mache mir auch gerne mal meine eigenen Bilder, selbst wenn sie mit denen des Autors nicht übereinstimmen sollten (s. Tarantino-Blutbad). Aber wie gesagt, das ist eine Geschmackssache, und jeder dieser Vergleiche kann so stehen bleiben, sind sie doch ein Ausdruck deiner Wortkunst.

Hier allerdings nun wirklich zu dicht gedrängt:

Zitat:
Seine Wände waren glatt und führten senkrecht in die Tiefe, und an manchen Stellen zeigten sich die unterirdischen Netzwerke und Rohrleitungen der Stadt wie am Glas einer Ameisenfarm. Ich blickte in die Tunnelöffnungen einer U-Bahnlinie wie in den Lauf einer Schrotflinte.


Bis zur Fortsetzung vertreibe ich mir die Zeit mit Sergio Leone bzw. Ennio Morricone Laughing.

LG Katinka
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Beitrag02.12.2019 19:18

von Klemens_Fitte
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Hallo Katinka,

auch dir vielen Dank für die erneute Rückmeldung. Ich fühle mich in dieser Form des eher szenisch-erzählerischen Schreibens ziemlich eingerostet, und es ist schön zu hören, dass der Text in seiner Grundanlage (bislang) funktioniert.

Zitat:
[…] und ich mag Western Smile. Hattest du bei dieser Szene

Zitat:
Genauer, mit der Aufnahme eines weiten Tals, das sich am Fuß einer schneebedeckten Gebirgskette erstreckt, menschenleer, durchzogen von Bächen und Pfaden, die allmählich mit den Gesichtszügen eines Mannes überblendet werden, und als die Kamera herauszoomt, sehe ich, dass es ein Indianerhäuptling ist und dass er mir direkt in die Augen blickt.


einen bestimmten im Kopf?


Bei dieser Szene tatsächlich nicht, die ist mehr das Vehikel für die folgende Handlung. Ich bin mir auch nicht sicher, wie deutlich die Anklänge an das Westernkino im späteren Verlauf werden; der Fundus, aus dem ich da schöpfen könnte, ist ja groß genug.
Und der Erzähler sagt zwar, ihre Titel und die Namen ihrer Helden seien inzwischen vergessen, aber das heißt ja nicht, dass er sich nicht erinnert.

Zitat:
Du hast einen interessanten Charakter erschaffen, und nach den kryptischen Andeutungen bezüglich seiner Veränderung und Rückkehr möchte ich gerne erfahren, was es nun eigentlich mit ihm auf sich hat. Und obwohl der Text, den du bisher eingestellt hast, in seiner Gesamtheit noch recht kurz ist, haben sich viele Fragen aufgetan. Was ist es, das sein eigenes radikales Handeln moralisch rechtfertigt? Gibt es in dieser Welt überhaupt so etwas wie Gerechtigkeit oder Moralvorstellungen? Muss es ja eigentlich, aus was sollte sein Antrieb sonst heraus entstehen? Ich bin gespannt, wie du weitermachst.


Ja, gespannt bin ich auch Laughing

Zitat:
Noch eine kleine Anmerkung, die lediglich meinem persönlichen Geschmack geschuldet ist:

Du schreibst sehr bildgewaltig, was einerseits schön und hilfreich für das Kopfkino ist, andererseits führt es doch zu einer Reihe von Vergleichssätzen, in denen du deine Vorstellungen vorgibst. Mir ist das ein Tick zu viel. Ich mache mir auch gerne mal meine eigenen Bilder, selbst wenn sie mit denen des Autors nicht übereinstimmen sollten (s. Tarantino-Blutbad). Aber wie gesagt, das ist eine Geschmackssache, und jeder dieser Vergleiche kann so stehen bleiben, sind sie doch ein Ausdruck deiner Wortkunst.


Interessant – wenn ich mir meine vorangegangenen Manuskripte angucke, schreibe ich da sehr wenig bildhaft, und auch jetzt beim Schreiben habe ich das Gefühl, mich ab und zu daran erinnern zu müssen, doch vielleicht mal eine Metapher o.ä. einzustreuen. Vielleicht habe ich da ein wenig überkorrigiert.

Zitat:
Hier allerdings nun wirklich zu dicht gedrängt:

Zitat:
Seine Wände waren glatt und führten senkrecht in die Tiefe, und an manchen Stellen zeigten sich die unterirdischen Netzwerke und Rohrleitungen der Stadt wie am Glas einer Ameisenfarm. Ich blickte in die Tunnelöffnungen einer U-Bahnlinie wie in den Lauf einer Schrotflinte.


Ja, absolut. Wo ich das jetzt so sehe, das geht echt nicht. Die Schrotflinte stand ja nach Nihils Kommentar eh schon auf der Kippe.

Zitat:
Bis zur Fortsetzung vertreibe ich mir die Zeit mit Sergio Leone bzw. Ennio Morricone Laughing.


Das halte ich für eine ausgezeichnete Idee Cool

LG Klemens


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d.frank
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Beitrag03.12.2019 00:06

von d.frank
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Zitat:
Ich fühle mich in dieser Form des eher szenisch-erzählerischen Schreibens ziemlich eingerostet, und es ist schön zu hören, dass der Text in seiner Grundanlage (bislang) funktioniert.


Ich wollte nicht unken, aber den Eindruck hatte ich auch auch. Embarassed
Richtig Leben kam in die Bude, als der Erzähler in resümierter Begleitung war. Den letzten Abschnitt hab ich zwar durchgängig runtergelesen, aber nah an der Ungeduld. Liegt vielleicht daran, dass er an sich nichts Neues erzählt, also weder in Handlung, noch in Sprache. Ich hab mich die ganze Zeit nicht getraut, meine bescheidene Meinung dazu kundzutun, aber wenn du es selbst jetzt schon in den Raum stellst...Denke auch, das Umschalten ist noch in der Mache und deswegen glänzt das noch nicht so....muss es in der ersten Fassung ja auch nicht. Ich jedenfalls finde das gut, dass du dein Talent auch den "Otto Normal Verbrauchern" zugänglich machen willst. smile


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Klemens_Fitte
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Beitrag03.12.2019 09:18

von Klemens_Fitte
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Hallo d.frank,

ja, vielleicht ist das der springende Punkt: den Erzähler in eine Interaktion zu zwingen. Das – so viel kann ich ja verraten – wird sich im nächsten Kapitel ziemlich radikal ändern. Auch wenn das Figurenaufgebot eines Western eher gering ist, wird es doch genug davon geben; und sobald ich mehr über sie weiß, sollte es mir auch möglich sein, sie neben der eigentlichen Handlung auch in Rückblenden o.ä. mit dem Erzähler in Kontakt treten zu lassen.
Und immerhin, ich habe es – einigermaßen – geschafft, eine Actionsequenz zu schreiben, das ist für mich schon eine echte Rückkehr zu den Wurzeln. Ob da jetzt was "Neues" erzählt wird oder nicht, war mir erst mal nicht so wichtig wie erzählerisch halbwegs unbeschadet durchzukommen.

Das mit dem Talent und dem "Otto Normal Verbraucher" habe ich mal überlesen, den elitären Schuh mag ich mir nicht anziehen.

LG Klemens


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Klemens_Fitte
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Beitrag08.02.2020 12:07

von Klemens_Fitte
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3 Sitting Bull


»Wie hast du mich gefunden?«, fragte ich und wusste, wie unsinnig es war, diese Frage zu stellen. Nicht nur, weil ich die Antwort bereits ahnte, sie schon unzählige Male gehört hatte – sondern vor allem, weil mein Gegenüber die Frage schon kannte, bevor ich sie ausgesprochen hatte. Er kannte sie von dem Moment an, als sie sich in meinem Kopf formte.
»Ich war es nicht, der dich gefunden hat.«
Ja, das sagtest du schon einmal. Vor vielen, vielen Jahren, als ich dir diese Frage zum ersten Mal stellte. Und später, wenn ich sie wiederholte.
»Du hast dich mit dieser Antwort nie zufriedengegeben. Aber das ändert sie nicht. Ich habe dich gesucht, und du hast mich gefunden.«
Früher, bevor ich Sitting Bull kennenlernte, hatte ich geglaubt, nichts gehöre uns so vollständig wie die Sprache, in der wir denken; dass wir in dem Moment, in dem wir die Gedanken eines anderen Menschen lesen könnten, vor einem fremdartigen und seltsamen Gebilde stehen würden, ohne Chance, es in unser eigenes Denken zu übersetzen.
Inzwischen weiß ich, dass es sich genau umgekehrt verhält; wir nirgends so offen sind, so leicht zu lesen, wie in dem, was sich bewusst oder unbewusst in uns denkt. All das, was uns selbst daran fremd bleibt, unverständlich, wird im Lesen eines Anderen klar und eindeutig. Und wer hat größere Macht über uns als der, der uns besser kennt als wir selbst?
»Es ging mir nie darum, Macht über dich zu haben.« Sitting Bull seufzte. »Du brauchtest jemanden, der dich auf deinem Weg begleitete.«
Auf meinem Weg. Auch das ist eine Art, Macht über einen Menschen auszuüben – ihn glauben machen, er besitze ein Schicksal, eine Bestimmung, einen Weg, den er zu gehen habe.
Ich musste es wissen. Es war nicht lange her, da hatte ich einem anderen Menschen Ähnliches eingeredet.
Wir schwiegen. Wie von selbst legten sich meine Hände ans Lenkrad. Ich richtete meine Sitzposition und sah durch die Frontscheibe ins Dunkel. Die Vorstellung, einfach losfahren zu können, war ebenso unsinnig wie verlockend. Ich setzte einen Fuß auf die Kupplung, den anderen aufs Gaspedal. Griff nach dem Schalthebel, der Handbremse. Nichts daran wirkte fremd oder ungewohnt, im Gegenteil, es war mir derart vertraut, als hätte ich mich nie woanders befunden als am Steuer eines Fahrzeugs.
Vielleicht, dachte ich mir, war es mir damals möglich gewesen zu glauben, es gäbe ein Ziel für mich, eine Aufgabe, auch wenn ich sie noch nicht kennen mochte, oder an eine Art Bestimmung, weil es diese Möglichkeit der Fortbewegung gegeben hatte. Darin liegt die Verheißung der Roadmovies: nicht nur in der Freiheit, sondern in der Illusion, sich dem Neuen ebenso schnell nähern zu können, wie man sich von allem entfernt, was an einem haftet oder einen an die eigenen Fehler und Versäumnisse binden könnte. Und stattdessen hat man eine Erzählung, die sich von Episode zu Episode fortsetzt, ohne sich mit Konsequenzen aufhalten zu müssen, und die einzige Konstante darin ist der Held, das Ich – ein freies, souveränes Ich, zumindest, solange es in Bewegung bleibt.
Zu Fuß dagegen wird jede Erzählung, jedes Schicksal mühselig, fade, wie ein Kaugummi, auf dem man zu lange herumkaut, und egal, was für ein Ziel oder was für eine Bestimmung man sich zuvor ausgemalt hat, man verliert den Glauben daran, oder eher: das Interesse. Wer mit dem Auto fährt, für den hat wenigstens die unvermeidliche Ernüchterung, sobald er sein Ziel erreicht, noch etwas Überraschendes. Wer zu Fuß unterwegs ist, hat bereits den größten Teil seines Weges mit ihr verbracht.
»Trotzdem hast du dich erneut auf eine Reise gemacht. Und im Gegensatz zu denen, die sich tagtäglich durch die Ruinen der Städte und unter den Bahnen der Schnellstraßen bewegen, hast du ein Ziel.«
»Was weißt du schon über die Menschen in dieser Welt? Du sitzt in einem liegen gebliebenen Auto, mehrere Meter über ihren Köpfen, und wenn ich dich hier zurücklasse, werden auch die letzten Menschen verschwinden, bevor du etwas über sie erfährst.«
Sitting Bull schwieg einen Moment. »Mag sein. Vielleicht kenne ich weder diese neue Welt noch die Menschen in ihr. Aber ich kenne dich.«
»Würdest du mich kennen«, erwiderte ich, »wüsstest du, dass ich kein Ziel habe. Ich habe ein Ende.«
»Das macht keinen Unterschied. Oder willst du mir weismachen, du bist nicht ihretwegen zurückgekehrt?«
Nastassja.

« Was vorher geschah12345



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a.no-nym
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Beitrag08.02.2020 15:42

von a.no-nym
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Hallo Klemens,

ich lasse mal ein freundliches "habe gelesen" hier und komme später wieder, um zu sehen, ob es an der Tagesform liegt, dass ich diesmal nicht recht hineingefunden habe. Da sind so viele tiefgründige Gedanken – allein in dem Abschnitt über das zu-Fuß-gehen. Gedanken, denen ich zu gern nachgespürt hätte, wofür der Text mir aber keinen Raum ließ, so dass am Ende eher die Überforderung dominierte (so von der Art "das hier ist wohl doch eine Nummer zu groß für mich" – was es im Zweifel auch ist Wink )

Herzliche Grüße
a.

Randbemerkung: "Nastassja" funktioniert (für mich) nur in kyrillischen Buchstaben. Hier lese ich "Nas" (wie bei Nashorn), dann "tass", was wie eine Tasse ohne Henkel daherkommt – und dann noch ein "ja", was mir gedanklich zu einen "hm" gerinnt, dabei ist es doch im Russischen so ein schöner Name ... edit: Ist vielleicht auch nur Gewöhnungssache.
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Klemens_Fitte
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Beitrag08.02.2020 17:11

von Klemens_Fitte
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Moin a.no-nym,

vielen Dank fürs freundliche "habe gelesen" – freut mich.

a.no-nym hat Folgendes geschrieben:
komme später wieder, um zu sehen, ob es an der Tagesform liegt, dass ich diesmal nicht recht hineingefunden habe.


Vielleicht spiegelt das auch meine eigenen Schwierigkeiten, wieder hineinzufinden. Wobei ich mit diesem Anschluss recht zufrieden bin, es ist aber genau das: ein Anschluss, der funktioniert – glaube ich – wenn man die vorangegangenen beiden Teile noch recht präsent hat. Und die sind ja nun auch schon zwei Monate her.

a.no-nym hat Folgendes geschrieben:
Da sind so viele tiefgründige Gedanken – allein in dem Abschnitt über das zu-Fuß-gehen. Gedanken, denen ich zu gern nachgespürt hätte, wofür der Text mir aber keinen Raum ließ, so dass am Ende eher die Überforderung dominierte


Ich hatte ja irgendwo oben im Faden schon mal beschrieben, dass mein Schreibprozess zu weiten Teilen in einem Auffüllen besteht; es kann durchaus sein, dass folgende Versionen mehr "Raum" bieten. Wobei mir auch bewusst ist, dass ich das Tempo nicht noch weiter drosseln sollte – und so tiefgründig (oder wahr) finde ich die Gedanken des Erzählers eigentlich nicht, als dass man sie übermäßig auswalzen sollte …
Hm. Ich denke mal drüber nach.

Dankeschön für die Rückmeldung und vielleicht bis später
Klemens

a.no-nym hat Folgendes geschrieben:
Randbemerkung: "Nastassja" funktioniert (für mich) nur in kyrillischen Buchstaben. Hier lese ich "Nas" (wie bei Nashorn), dann "tass", was wie eine Tasse ohne Henkel daherkommt – und dann noch ein "ja", was mir gedanklich zu einen "hm" gerinnt, dabei ist es doch im Russischen so ein schöner Name ... edit: Ist vielleicht auch nur Gewöhnungssache.


Gewöhnungssache – gut möglich. Ich trage den Namen inkl. Schreibweise auch schon über mehrere Manuskripte mit mir rum, da liegt auch schon ein Großteil Gewöhnung drin.


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Gast







Beitrag09.02.2020 22:45

von Gast
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Hallo Klemens Smile,

schön, ein weiterer Textausschnitt! Den musste ich natürlich gleich lesen, und ich wurde nicht enttäuscht.

Mit Sitting Bull, einem historisch bedeutsamen Häuptling und Medizinmann, hast Du eine höchst interessante neue Figur eingeführt. Es gibt zahllose Geschichten und Verfilmungen über diesen schillernden und charismatischen Charakter, der ganz besonders auf Kinder eine gewisse Faszination ausübt, wie auch auf das kindliche Ich Deines Protagonisten; ein kleiner Gänsehautfaktor bei mir, zum einen, weil ich mich für die Geschichte der amerikanischen Ureinwohner interessiere und ein paar Bücher darüber gelesen habe, zum anderen, fasziniert mich seine Funktion/Rolle in Deiner Geschichte. Es ist klar, dass sie gewichtig ist und deutlich Einfluss auf das Geschehen nimmt. Die Art, wie Du das geschafft hast, seine Einführung, erzeugt Spannung, und mir ist im Moment noch nicht klar, wie Du seine Existenz erklärst. Was hat es nun mit ihm auf sich? Ist er ein imaginärer Gesprächspartner, der sich bereits im Kindesalter manifestiert hat? Oder handelt es sich um wiederkehrende paranormale Begegnungen, ausgehend von der Tatsache, dass Sitting Bull Medizinmann seines Stammes war und die Fähigkeit besessen haben soll, mit der Geisterwelt und demnach möglicherweise auch aus hier heraus zu kommunizieren? Na ja, wahrscheinlich Ersteres (aber die zweite Variante gefiele mir besser, I want to believe!).
Dein Protagonist spricht davon, Sitting Bull habe Macht über ihn, da er ja seine Gedanken lesen könne. Für mich stellt sich die Frage, wie weit diese Macht geht. Dass er ihn beeinflusst, wird deutlich, aber manipuliert er ihn auch? Steuert er indirekt seine Handlungen? Spannend, spannend!

Bei folgenden Textabschnitten bin ich hängengeblieben:
Zitat:
Früher, bevor ich Sitting Bull kennenlernte, hatte ich geglaubt, nichts gehöre uns so vollständig wie die Sprache, in der wir denken; dass wir in dem Moment, in dem wir die Gedanken eines anderen Menschen lesen könnten, vor einem fremdartigen und seltsamen Gebilde stehen würden, ohne Chance, es in unser eigenes Denken zu übersetzen.

Was bedeutet in diesem Zusammenhang Sprache für Dich? Gedanken bestehen ja nicht nur aus gedachter Sprache, sie bilden sich auch aus Imagination und Gefühlen heraus. Dieser Abschnitt liest sich für mein Empfinden ein wenig mühsam. Es sind die Gedanken, die uns gehören und die frei sind, und die Vorstellung in das Bewusstsein eines anderen Menschen einzutauchen ist so interessant wie unerträglich.
Und darüber hat er tatsächlich bereits als Kind sinniert? In einem Hausmantel mit Seidenschal, sitzend im Ohrensessel seines Großvaters und dessen Pfeife im Mund? Okay, kann vorkommen.

Da er selbst nicht die Gedanken Sitting Bulls kennt, also keine Erfahrung mit Gedankenlesen hat, zumindest gibt es bisher keinen Hinweis darauf, kann er lediglich Vermutungen anstellen, wie es sich damit verhält.
Zitat:
Und wer hat größere Macht über uns als der, der uns besser kennt als wir selbst?

Er nimmt an, ein offenes Buch für den Häuptling zu sein, widerspricht sich aber gleichzeitig weiter unten, indem er ihm sagt, er kenne ihn nicht.
Zitat:
»Würdest du mich kennen«, erwiderte ich, »wüsstest du, dass ich kein Ziel habe. Ich habe ein Ende.«

Zitat:
wir nirgends so offen sind, so leicht zu lesen, wie in dem, was sich bewusst oder unbewusst in uns denkt.

Für mein Sprachgefühl muss das Reflexivpronomen hier raus.
Zitat:
Zu Fuß dagegen wird jede Erzählung, jedes Schicksal mühselig, fade, wie ein Kaugummi, auf dem man zu lange herumkaut, und egal, was für ein Ziel oder was für eine Bestimmung man sich zuvor ausgemalt hat, man verliert den Glauben daran, oder eher: das Interesse. Wer mit dem Auto fährt, für den hat wenigstens die unvermeidliche Ernüchterung, sobald er sein Ziel erreicht, noch etwas Überraschendes. Wer zu Fuß unterwegs ist, hat bereits den größten Teil seines Weges mit ihr verbracht.

Über die hoffnungslose Situation hast Du bereits einiges geschrieben, beispielsweise gleich am Anfang der Geschichte, wie die Leute sich jeden Tag mit ihren Habseligkeiten auf den Weg machen, und auch seine eigenen Eindrücke hast Du sehr bildhaft dargestellt, sodass man beim Lesen eine ziemlich genaue Vorstellung von der Trostlosigkeit des Settings gewinnt. Ich für mein Empfinden kann sagen, die Botschaft ist angekommen, und hier jetzt ein weiteres Mal über die Ernüchterung zu schreiben, die den Fußgänger unweigerlich auf dem Weg ereilt, sehe ich als redundant an. Den Teil würde ich streichen.
Zitat:
Nastassja.

Ahhhh, kommen wir jetzt endlich zur Feindfrau?

Der Aufbau ist gut, und ich merke, wie ich langsam ungeduldig werde.
Wieder gerne gelesen, bin auf weitere Rückmeldungen gespannt Smile.

LG Katinka
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Klemens_Fitte
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Beitrag10.02.2020 12:40

von Klemens_Fitte
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Hallo Katinka smile

Ich sag schreib einfach mal: Ui. Das ist eine wirklich schöne Rückmeldung, die mich nicht nur zum Weiterschreiben motiviert, sondern mir auch vieles am Text und seiner Wirkung auf potentielle Leser deutlich macht.

Ja, was hat es mit Sitting Bull auf sich? Ich könnte ihn als Figur jetzt entmystifizieren, indem ich erkläre, wie er in feindfrau 1 funktionierte, aber im Grunde geht es mir genau um dieses Spannungsmoment: ist er lediglich eine Stimme im Kopf des Erzählers? Ist er ein (übernatürliches?) Wesen, eine Reinkarnation oder ist es die Kommunikation mit einem Geist?
In feindfrau 1 hatte Sitting Bull auch eine physische Präsenz, aber ich bin mir noch nicht sicher, ob ich das im zweiten Teil undeutlicher lasse.

Das andere, die Ambivalenz, Mentor oder Manipulator zu sein – es ist ja für den Protagonisten eines Romans keine unwichtige Frage, ob er eine Rolle hat, ein Schicksal oder wie auch immer man es fassen möchte, und daran anschließend: wie viel ist dran? Ist es letztlich nur etwas, das er sich selbst erzählt? Oder von außen aufgeladen bekommt?

Ich denke, da berührst du mit deinen Fragen schon den Kern dessen, um was es mir hier geht.

Zitat:
Bei folgenden Textabschnitten bin ich hängengeblieben:
Zitat:
Früher, bevor ich Sitting Bull kennenlernte, hatte ich geglaubt, nichts gehöre uns so vollständig wie die Sprache, in der wir denken; dass wir in dem Moment, in dem wir die Gedanken eines anderen Menschen lesen könnten, vor einem fremdartigen und seltsamen Gebilde stehen würden, ohne Chance, es in unser eigenes Denken zu übersetzen.

Was bedeutet in diesem Zusammenhang Sprache für Dich?


Sprache meint hier, glaube ich, die Gesamtheit dessen, was im Denkvorgang ausgedrückt wird (also nicht nur das gesprochene/geschriebene/gedachte Wort, es gibt ja auch Bildsprache, Körpersprache etc.) – alles in allem, glaube ich, ein ziemlich komplexer und chaotischer Prozess, der sich nicht auf Gedanken=Sätze reduzieren ließe. Ich glaube, da sind wir uns einig.
Auf Textebene gibt es aber die paradoxe Situation, dass jemand (Sitting Bull) auf Gedanken des Erzählers reagiert/antwortet, als wären es Dialogzeilen.

Zitat:
Und darüber hat er tatsächlich bereits als Kind sinniert? In einem Hausmantel mit Seidenschal, sitzend im Ohrensessel seines Großvaters und dessen Pfeife im Mund? Okay, kann vorkommen.


Nee, du hast recht, da ist dieser Satz
Zitat:
Früher, bevor ich Sitting Bull kennenlernte, hatte ich geglaubt

wirklich missverständlich, und ich merke (mal wieder), wie schwierig es ist, eine Fortsetzung zu schreiben, dem Leser aber den ersten Teil nicht zumuten zu wollen.
Es ist so: in feindfrau 1 wird Sitting Bull zum Begleiter/Mentor des Erzählers, als dieser … hm, vielleicht so Anfang/Mitte zwanzig ist. Das markiert für mich – der ich den Text kenne – den Zeitpunkt des Kennenlernens. Davor mag es das Zusammentreffen gegeben haben, von dem der Erzähler hier berichtet – oder es ist halt (wieder nur) eine seiner Geschichten.

Klar, all das weiß man als Leser nicht. Da muss ich eine andere Lösung finden.

Zitat:
Da er selbst nicht die Gedanken Sitting Bulls kennt, also keine Erfahrung mit Gedankenlesen hat, zumindest gibt es bisher keinen Hinweis darauf, kann er lediglich Vermutungen anstellen, wie es sich damit verhält.


Richtig. Er kennt lediglich die Situation, sich mit Sitting Bull unterhalten zu können, ohne die eigenen Gedanken aussprechen zu müssen. Und irgendwie muss er dafür ja eine Erklärung finden.

Zitat:
Zitat:
Und wer hat größere Macht über uns als der, der uns besser kennt als wir selbst?

Er nimmt an, ein offenes Buch für den Häuptling zu sein, widerspricht sich aber gleichzeitig weiter unten, indem er ihm sagt, er kenne ihn nicht.
Zitat:
»Würdest du mich kennen«, erwiderte ich, »wüsstest du, dass ich kein Ziel habe. Ich habe ein Ende.«


Stimmt, das ist wohl zu verkürzt. Mir geht es hier um den Verdacht des Erzählers, dass Sitting Bull ihn manipuliert, indem er ihm einredet, jemand zu sein, der er nicht ist (also jemand mit einem Ziel). Oder so.

Zitat:
Zitat:
wir nirgends so offen sind, so leicht zu lesen, wie in dem, was sich bewusst oder unbewusst in uns denkt.

Für mein Sprachgefühl muss das Reflexivpronomen hier raus.


Ich mag diese Wendung eigentlich, weil sie eine gewisse Passivität des Denkenden ausdrückt, sprich, er denkt nicht aktiv, sondern etwas denkt sich in ihm, ob er will oder nicht.

Zitat:
Zitat:
Zu Fuß dagegen wird jede Erzählung, jedes Schicksal mühselig, fade, wie ein Kaugummi, auf dem man zu lange herumkaut, und egal, was für ein Ziel oder was für eine Bestimmung man sich zuvor ausgemalt hat, man verliert den Glauben daran, oder eher: das Interesse. Wer mit dem Auto fährt, für den hat wenigstens die unvermeidliche Ernüchterung, sobald er sein Ziel erreicht, noch etwas Überraschendes. Wer zu Fuß unterwegs ist, hat bereits den größten Teil seines Weges mit ihr verbracht.

Über die hoffnungslose Situation hast Du bereits einiges geschrieben, beispielsweise gleich am Anfang der Geschichte, wie die Leute sich jeden Tag mit ihren Habseligkeiten auf den Weg machen, und auch seine eigenen Eindrücke hast Du sehr bildhaft dargestellt, sodass man beim Lesen eine ziemlich genaue Vorstellung von der Trostlosigkeit des Settings gewinnt. Ich für mein Empfinden kann sagen, die Botschaft ist angekommen, und hier jetzt ein weiteres Mal über die Ernüchterung zu schreiben, die den Fußgänger unweigerlich auf dem Weg ereilt, sehe ich als redundant an. Den Teil würde ich streichen.


Ich glaube, auch das ist wieder das oben beschriebene Fortsetzungsproblem, feindfrau 1 war genau das, ein Roadtrip, der Erzähler ständig (mit dem Auto) unterwegs, zugleich auf der Suche nach und auf der Flucht vor etwas – und jetzt ist er ausgebremst, muss mühsam zu Fuß gehen. Da solte der Fokus liegen, auf der Person des Erzählers und seiner veränderten Situation, und nicht so sehr auf dem Ist-Zustand der neuen Welt.
Auch da muss ich wohl nacharbeiten, damit es für den Leser, der nur diesen Text kennt, funktioniert.

Zitat:
Zitat:
Nastassja.

Ahhhh, kommen wir jetzt endlich zur Feindfrau?


Tja, ähm … jein rotwerd

Zitat:
Der Aufbau ist gut, und ich merke, wie ich langsam ungeduldig werde.
Wieder gerne gelesen, bin auf weitere Rückmeldungen gespannt Smile.


Vielen Dank dir jedenfalls für diese Rückmeldung, die hilft mir ungemein.

LG Klemens


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