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Diese Werke sind ihren Autoren besonders wichtig Der Normopath


 
 
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oliverheuler
Gänsefüßchen

Alter: 57
Beiträge: 20
Wohnort: Waren


Beitrag01.08.2019 22:34
Der Normopath
von oliverheuler
eBook pdf-Datei Antworten mit Zitat

Exposé — Der Normopath (von Ben Daniel und Oliver Heuler)

Audio-Version: http://heuler.de/audio/expose.mp3 (5 Min.)

Alexander Stahls Karriere als Radprofi wurde vor zehn Jahren wegen Dopings beendet. Er ertrank seine Sorgen in Alkohol, bekam sein Leben aber dank einer Selbsthilfegruppe in den Griff und arbeitete fortan als Vertreter einer Firma für orthopädische Einlagen.
Der Leser begegnet Stahl auf dem Münchner Flughafen, wo ihn Kleinigkeiten in Rage bringen. Auf dem Flug nach Berlin lernt Stahl den Unternehmensberater und Hobby-Rennradfahrer Nicholas DuMont kennen. Die beiden freunden sich an und fahren regelmäßig Rad. Ihre Gespräche drehen sich um Philosophie und Psychologie; wobei ihre Ansichten nicht gegensätzlicher sein könnten: Stahl sieht die Ursache sozialer Probleme in einem Mangel allgemeingültiger Werte und Normen. DuMont meint, wer sich reflexartig Normen unterwirft, obwohl das sein langfristiges Wohlbefinden untergräbt, der leide an der Volkskrankheit Normopathie. Stahl versucht, ein vorbildlicher Moralist zu sein: In seiner Freizeit hält er Vorträge an Schulen und warnt Kinder vor den Folgen des Dopings, des Lügens und Betrügens. Frau Nina und Sohn Jannik sind der privaten Moralpredigten allerdings seit Jahren überdrüssig. Stahls Leben wird das zweite Mal auf den Kopf gestellt, als er entdeckt, dass seine Frau eine Affäre hat und sein Sohn ihm im entstehenden Streit den Rücken kehrt. Stahl hat nur eine Erklärung: Niemand respektiert einen Radrennfahrer, der keine großen Rennen gewonnen hat.

DuMont findet Sponsoren für Stahl, der sich daraufhin beim härtesten Radrennen der Welt anmeldet: dem Race across America. Die Strecke ist doppelt so lang wie die Tour de France und wird in der halben Zeit in einer einzigen Etappe gefahren. Stahl ist überzeugt, dass eine vordere Platzierung seinen Selbstrespekt und seine Anerkennung in die Höhe katapultieren würde. Er fühlt sich bestärkt, als schon das mörderische Training seinem Leben Struktur und Sinn gibt. Teil seines Unterstützer-Teams ist die zwanzigjährige Tochter seines Freundes, Charlotte DuMont. Das bereitet Stahl Kopfzerbrechen, denn für Babysitting hat er keine Zeit, wenn er eine Woche jeden Tag 22 Stunden im Sattel sitzt. DuMont habe seine Tochter nicht erzogen, sondern sie nur beim Aufwachsen begleitet und unterstützt. Die Ergebnisse so einer »modernen« Kuschelpädagogik sieht Stahl täglich in Schulen. Er erwartet eine unerzogene Göre bar jeder Empathie, Disziplin und Ausdauer, trifft aber verblüfft auf eine junge Dame, die durch Lebensfreude, Begeisterung und ihre Gelassenheit eine Reife ausstrahlt, die er noch nie erlebt hat. Stahl beginnt zu grübeln, ob sein Freund Nicholas mit Charlotte einen Sechser im Gen-Lotto gezogen hat oder seine scheinbar weltfremde Philosophie doch nicht so absurd ist. Charlotte wird in der Rennwoche Stahls größte Inspiration und die gute Fee, die das gesamte Team durch dick und dünn navigiert. 

Bedingt durch einige Ausfälle fährt Stahl auf den dritten Platz und wähnt sich im Himmel. Die Tage vor dem Rückflug verbringt er mit Charlotte in New York. Die beiden flirten und Stahl zerreißt es zwischen seinen Gefühlen und seiner Moral. Zu Hause erkennt er, dass kaum jemand Notiz von seiner Leistung genommen hat. Seine Frau hat allerdings die Schlösser ausgetauscht und er wohnt jetzt im Hotel. Stahl ruft Charlotte an, erwischt nur ihre Mailbox und gesteht ihr in seiner Verzweiflung seine Liebe. Er bittet sie, mit ihm ein neues Leben anzufangen. Sie reagiert geschmeichelt und empathisch, aber letztlich mit einer Absage. Der seit zwölf Jahren trockene Alkoholiker Alexander Stahl geht daraufhin in eine Bar und bestellt sich einen Gin Tonic.

Charlotte ruft ihren Vater an und erzählt ihm von Stahls Notlage. Noch rechtzeitig in der Bar angekommen, hält er Stahl vom Trinken ab. Am Tiefpunkt seines Lebens öffnet sich Stahl für DuMonts Lebensphilosophie und erkennt mit dessen Hilfe, dass sein Familienleben nicht gescheitert ist, weil er des Dopings überführt wurde und erfolglos blieb, sondern weil er zum Moralapostel wurde. Jetzt ist Stahl bereit für ein Leben jenseits der Moral. Per Versuch, Irrtum und Erfolg macht er mit DuMonts Hilfe Fortschritte — natürlich nicht ohne Rückschläge. Am Ende versöhnt er sich mit Jannik; mit Nina gelingt zumindest eine friedliche Trennung.

Der Roman endet, wo er begann: am Flughafen. Stahl fliegt mit Jannik in den Urlaub. Er gerät in ähnliche Situationen wie in der ersten Szene, reagiert aber gelassen. Als Kind hatte er gelernt: »Halte dich an Normen, egal wie du dich dabei fühlst!« Wer würde da nicht irgendwann fordern, dass sich die anderen auch an Normen halten müssen? Stahl wurde für Abweichungen bestraft, also gehörten aus seiner Sicht auch andere für Abweichungen bestraft — und sei es nur durch Beschuldigungen, Beschämungen oder Liebesentzug. Steigt heute Unwohlsein in ihm auf, sieht er die Ursache nicht mehr darin, dass andere sich nicht so verhalten, wie sie sollten. Er nimmt die Welt, wie sie ist, und fragt sich: Was fehlt mir und was kann ich tun? Bei Konflikten mit anderen ersetzt er Forderungen durch Bitten, denn er hat gelernt, sein Unwohlsein eigenverantwortlich in Wohlsein zu verwandeln. Alexander Stahl nennt sich zwar noch Alkoholiker und Normopath, aber er ist trocken, gegen Rückfälle gewappnet und glücklich.

Der Normopath — Erstes Kapitel

Recht geschieht’s ihm, dachte Alexander Stahl, als der Kleine mit der Nase auf dem Boden aufschlug. Er ging ihm auf die Nerven: Das Balg rannte seit Minuten Slalom durch die Warteschlange. Es hatte ein Plastik-Tier auf Rollen im Schlepptau, das blinkte und Geräusche abgab.
»Wenn Sie Ihr Kind unter Kontrolle hätten, wäre das nicht passiert«, fuhr Stahl die Mutter des Fünfjährigen an.
»Ist das alles, was Ihnen dazu einfällt?«, empörte sie sich.
»Eine Abfertigungshalle ist kein Spielplatz und Ihr Rotzlöffel terrorisiert seit einer Viertelstunde jeden in der Schlange.«
»Mich terrorisiert niemand«, mischte sich die Dame ein, die hinter Stahl gewartet hatte und dem Kleinen zur Hilfe eilte.
Das hat mir noch gefehlt, dachte Stahl. Er kam von der Jahrestagung seiner Firma in München und war müde. Seit zehn Jahren musste er endlose Vorträge mit Motivierungen und der Forderung nach mehr Umsatz über sich ergehen lassen. Ihm, als Außendienstler mit hohem Provisions-Anteil, erschien das so überflüssig wie lächerlich. Vor diesen Veranstaltungen beschäftigte ihn immer nur eine Frage: ›Welche Maßnahmen hat sich das Management dieses Jahr wieder ausgedacht, um meine Arbeit zu erschweren?‹
Auch das Verhältnis unter den Mitarbeitern war bedrückend: In der Zentrale schielten alle neidisch auf die Außendienstler. Sie gönnten ihnen weder den Firmenwagen, noch das Spesenkonto und sicher nicht das höhere Gehalt oder die größeren Freiheiten. Die Tage in München waren deshalb eher zermürbend als motivierend.
»Bleib bei mir, Luca, der Mann hat schlechte Laune«, sagte die Mutter, die Stahl auf den ersten Blick in die Schublade »alleinerziehende Feministin« gesteckt hatte.
»Genau, ich bin schuld, dass Ihr Kind keine Grenzen kennt.«
In diesem Moment wurden Schalter frei und das Gespräch endete abrupt, bevor es eskalieren konnte.
»Guten Abend. Alexander Stahl. Hier mein Ausweis. Der 19-Uhr-Flug nach Berlin. Kein Gepäck. Und wenn es noch Gangplätze gibt, nehme ich einen.«
»Gerne. Ich schaue gleich nach, Herr Stahl.« Die Dame am Schalter bearbeitete eine Weile ihre Tastatur. »Tut mir leid, der Flug nach Berlin ist restlos ausgebucht und so kurz vor dem Abflug gibt es leider weder Gang- noch Fensterplätze. Ich muss Sie in einer Mittelreihe unterbringen. Sitzen Sie lieber vorne oder weiter hinten, Herr Stahl?«
»Das ist mir egal. Suchen Sie sich was aus. Vielleicht nah an den Toiletten, damit ich nicht nur wie die Sardine in der Büchse hocke, sondern es auch passend riecht.«
Stahl erschrak selbst über seine Worte. »Entschuldigen Sie und streichen Sie den letzten Satz. Sie können ja nichts dafür, dass alle Plätze belegt sind. Mir hat beim Warten so ein unerzogener Zwerg den letzten Nerv geraubt.«
»Schon gut. Ich buche Sie auf Platz 10b, Herr Stahl. Der ist weit vorne. Sie gehen am besten direkt zum Gate G18. Hier sind Ihr Ausweis und Ihre Bordkarte. Ich wünsche Ihnen einen guten Flug, Herr Stahl.«
Das war jetzt das vierte Mal, dass sie meinen Namen genannt hat, dachte Stahl. Wahrscheinlich hat man ihr das auf einem Customer-Relationship-Seminar eingebläut. »Die empathische Beziehung zum Kunden ist entscheidend für den Markterfolg.« Ja, lediglich das papageiartige Wiederholen des Kundennamens hat nichts mit Empathie zu tun — es nervt nur.
Bei der Sicherheitskontrolle angekommen, machte Stahl sich keine Sorgen, Opfer falsch verstandener Höflichkeit zu werden. Mitarbeiter von Sicherheitsfirmen erinnerten ihn eher an »Das Experiment«, den Film über das Stanford-Prison-Experiment. Bei diesem Experiment bekommt eine Gruppe Menschen Herrschaft über eine andere Gruppe und das Ganze endet furchtbar. Glücklicherweise piepte der Scanner bei ihm nicht und eine Leibesvisitation blieb ihm erspart. Eigentlich hätte Stahl gleich zum Gate gehen sollen, aber er empfand kein Pflichtbewusstsein gegenüber einer Fluggesellschaft, die nur einen Mittelplatz für ihn übrig hatte. Stahl ging zu Dallmayr und bestellte einen Milch-Kaffee. Als er sein Sakko auszog, fiel ihm die neue Broschüre seiner Firma ins Auge, die in der Brusttasche steckte. Die Marketing-Abteilung hatte sie zusammen mit dem neuen »Mission Statement« erarbeitet. Es gehe nicht vorrangig um Umsatz und Rendite. Es gehe darum, einen Unterschied zu machen, um Ökologie und Nachhaltigkeit, um soziale Verantwortung und partnerschaftliche Unternehmenskultur.
»Die Firma, in der jeder Tag mit einem Lächeln beginnt«, hieß es dort. Den Mitarbeitern im Haupthaus konnte man so was auftischen, Stahl und seine Außendienst-Kollegen machten diese Floskeln nur noch zynischer. Die Broschüre erinnerte ihn an ein YouTube-Video, das er vor Monaten gesehen hatte. Es war eine Persiflage auf die Werbevideos großer Firmen, die den Besitzer eines Obst-Standes in München mit den üblichen Floskeln anpries: »Ein Familienunternehmen mit Tradition, das für Qualität, Leidenschaft und Nachhaltigkeit steht. Wir stellen uns den Herausforderungen einer modernen Welt, denken und handeln lösungsorientiert.« Alles garniert mit einem Schwall Mode-Vokabeln: ganzheitlich, ausgewogen, zeitgemäß, kreative Innovationen, effiziente Synergieeffekte, Kundennähe. Bla bla bla.
Der Obsthändler nimmt sich selbst auf die Schippe, dachte Stahl, ich befürchte nur, dass unser Vorstand sogar glaubt, was da steht. Wobei gegen Qualität, Zuverlässigkeit und Kundenorientierung nichts einzuwenden ist. Die bekommen wir nur nicht, indem wir Werbetexter engagieren und Broschüren drucken, sondern indem wir die Menschen ernst nehmen — und zwar nicht nur die Kunden, sondern zuerst die Mitarbeiter. Gerade als Stahl sich ärgern wollte, erinnerte ihn sein Handy ans Boarding. Er nahm den letzten Schluck Kaffee und ging zum Gate.
Auf dem Weg kaufte Stahl sich bei Jupiter die neue Tour, das Magazin für Rennradfahrer. Er hatte sein Rad auf Geschäftsreisen mit im Auto, um unterwegs im Training zu bleiben. Im Flieger würde sicher Zeit sein, sich über die neuesten Modelle und Trends zu informieren. Vor ihm an der Kasse stand noch ein Kunde, der ein Taschenbuch mit EC-Karte bezahlen wollte. Stahl warf einen kurzen Blick auf den Titel: »Jenseits von Gut und Böse — Vorspiel einer Philosophie der Zukunft« von Friedrich Nietzsche.
Zunächst schob der junge Mann seine Karte verkehrt herum in den Schlitz. Als die Karte endlich richtig im Lesegerät steckte, klingelte das Telefon des schätzungsweise Achtzehnjährigen. Er durchsuchte seinen übervollen Rucksack und Stahl begann demonstrativ laut zu seufzen und die Augen zu verdrehen.
»Wie wäre es, wenn Sie die PIN schon mal eingeben?«
Der Kartenzahler ließ sich von dieser Frage aber nicht irritieren und war offensichtlich nicht multitaskingfähig. Stattdessen wurde der ganze Laden Zeuge seiner Unterhaltung.
»Ooookaaaay, ha ha ha.«
 »Sheeeesh.«
»Der ist so verbuggt.«
»Ist ja sick as fuck.«
»Sie geben jetzt Ihre Geheimnummer ein oder Sie lassen mich vor.«
»Hey, chill dich mal, Alter.«
»Chill du dich mal«, sagte Stahl, zog dabei die Karte des Jugendlichen aus dem Gerät und warf sie ihm vor die Füße. Danach rückte er zur Kasse vor und legte der Kassiererin seine Zeitschrift vor die Nase. »Ich zahle bar und habe es passend.«
Die wusste nicht, wie ihr geschieht, scannte aber reflexartig die Zeitschrift und nahm das Geld. Stahl verließ den Laden während der Jugendliche ihn beschimpfte. Das beantwortete Stahl ohne sich umzudrehen, indem er seine rechte Hand hinter dem Rücken zu einem Stinkefinger formte. Auf einmal erklang folgende Durchsage: »Wir bitten Herrn Alexander Stahl zum Schalter am Gate G18, Alexander Stahl bitte zum Schalter am Gate G18.« Ja, ja ich komm ja schon. Hauptsache ihr habt mir den Mittelplatz freigehalten, dachte Stahl und ging demonstrativ langsam zu seinem Flugsteig. Als er dort ankam, sah er, dass die Fluggäste noch alle da waren und das Boarding nicht mal begonnen hatte. Am Schalter erwartete ihn jetzt eine Überraschung:
»Die Economyclass im Flug LH 2036 nach Berlin ist überbucht, Herr Stahl, aber wir bringen Sie in der Businessclass unter und Sie können gleich einsteigen.«
Damit hatte er nicht gerechnet. »Dann will ich mal ein Auge zudrücken«, witzelte Stahl und bedankte sich.
Er lief als einer der ersten durch die Fluggastbrücke, begrüßte die Stewardessen, setzte sich auf Platz 3c, warf sein Magazin auf den Mittelsitz und schloss die Augen.
»Lassen Sie mich noch rein?«
Stahl blickte in das freundliche Gesicht eines schätzungsweise 50-Jährigen, der einen edlen und modern geschnittenen Anzug trug.
»Natürlich.« Er stand auf und wollte gerade sein Magazin vom Mittelsitz nehmen.
 »Das können Sie liegen lassen. Ich sitze am Fenster. Die neue Tour habe ich auch noch nicht gelesen«, sagte der Mann schmunzelnd und zog sein Jackett aus.
 »Sie fahren Rennrad?«, fragte Stahl erstaunt.
»Noch nicht lange. Blut geleckt habe ich — für die Tour de France melde ich mich aber erst nächstes Jahr an, ha ha.«
Das war die zweite gute Nachricht des Tages, dachte Stahl, Businessclass und einen sympathischen Radfahrer als Sitznachbar.
»Wo fahren Sie denn? Sind Sie aus Berlin?«, fragte Stahl weiter.
»Ja, ich wohne im Südwesten, also meist Krone raus, Wannsee, Potsdam und auf der Westseite der Havel zurück.«
»Schöne Tour. So um die 60 Kilometer?«
»Sie kennen sich aus«, staunte Stahls Sitznachbar.
»Das Berliner Umland war lange mein Fitness-Studio«, sagte Stahl.
»Dann fahren Sie schon länger und regelmäßig?«
»Zehntausend Kilometer im Jahr.«
»Wow, ich fahre erst ein paar Monate und zeichne meine Touren noch nicht lange auf.«
»Nicht wichtig«, sagte Stahl, »der Ehrgeiz kommt früh genug. Hauptsache Sie haben Spaß.«
Die beiden unterhielten sich über die neuesten Radmodelle, Internetseiten, Apps und merkten nicht wie die Zeit verging. Stahl blickte auf die Uhr und sah, dass sie schon fast eine halbe Stunde auf dem Rollfeld standen. In diesem Moment meldete sich der Flugkapitän aus dem Cockpit:
»Verehrte Fluggäste, meine Name ist Lutz Werner. Ich bin Ihr Kapitän auf dem Flug von München nach Berlin. Mein Co-Pilot Jürgen Ziegler und ich begrüßen Sie herzlich an Board unseres Airbus A320. Wie Sie sicher bemerkt haben, stehen wir bereits eine Weile in der Schlange und würden gerne starten, aber die Flugsicherung meldet gerade, dass der Flugsicherungsradar ausgefallen ist. Wir hoffen, dass der Schaden in der nächsten halben Stunde behoben wird, denn danach werden wir nicht mehr genügend Treibstoff haben, um noch zu starten und müssten zum Nachtanken zum Vorfeld zurück. Wir hoffen aufs Beste und ich melde mich, sobald wir Neues erfahren. Bis dahin entschuldige ich mich für die Verzögerung und wünsche Ihnen trotzdem einen angenehmen Aufenthalt an Board.«
Der Kapitän wiederholte alles auf Englisch und die Aufmerksamkeit in der Flugkabine wich einem allgemeinen Geraune mit empörtem Unterton.
»Dann scheinen wir uns länger unterhalten zu können«, sagte Stahls Sitznachbar und reichte ihm lächelnd die Hand: »Mein Name ist Nicholas DuMont.«
»Freut mich, Alexander Stahl.«
»Kennen Sie den Film Harry und Sally?«, fragte DuMont.
»Vor 20 Jahren gesehen. Der Film mit dem lustigen Orgasmus. Warum fragen Sie?«
»Die beiden fahren mit dem Auto von Chicago nach New York und Harry fragt Sally: Why don’t you tell me the story of your life?«
»Und jetzt wollen Sie die Geschichte meines Lebens hören?«, fragte Stahl irritiert.
»Wir könnten uns auch wie die anderen über die Verspätung aufregen oder über das schlechte Wetter jammern oder …«
»Ich bin Außendienstmitarbeiter«, unterbrach ihn Stahl, »bei einer Firma, die sensomotorische Einlagen herstellt. Ich besuche Orthopäden und Sanitätshäuser in Berlin und Brandenburg.«
DuMont lächelte und sagte: »Männer beginnen ihre Lebensgeschichte meist mit ihrem Beruf. Frauen fangen in der Regel damit an, dass sie verheiratet sind, so und so viele Kinder haben, ihre Eltern pflegen et cetera …«
»Wie würden Sie anfangen?«, fragte Stahl.
»Auch mit dem Beruf. Arbeiten Sie gerne in Ihrem Job?«, wollte DuMont wissen.
»Zumindest habe ich einen gewissen Erfolg. Ich bin angestellt, aber meist mein eigener Herr. Das ist mir wichtig. Ich würde verrückt werden, wenn ich jeden Tag in einem Büro säße und einen Chef auf der Pelle hätte, der mir dauernd sagen würde, welchen Bleistift ich benutzen soll und wann ich ihn anzuspitzen habe.«
»Ha ha, läuft das so in Ihrer Firma?«
»Leider. Und es wird immer schlimmer: Die Firma schickt sogar Babysitter — also irgendwelche Key-Account-Manager — mit zu Kundenbesuchen. Wenn ein Vertriebler nichts verkauft, würde ich das verstehen, aber ich hab’ die besten Zahlen und muss dieses entwürdigende Kasperle-Theater auch mitspielen.«
»Wie kommt das bei den Kunden an?«, wollte DuMont wissen.
»Die wundern sich und die Gespräche verlaufen unnatürlich und verkrampft. In den letzten Jahren hat sich der Irrsinn potenziert, weil dauernd irgendwelche Unternehmensberater ihr Unwesen bei uns treiben: Roland Ärger, Kosten Consulting, Pain & Company — die geben sich unsere Klinken in die Hände. Da kommen 25-jährige Schnösel von der Uni, die uns sagen, wie wir unseren Job zu machen haben. In den ersten Jahren habe ich deren Abschlussberichte gelesen — in der Regel heiße Luft auf hundert Seiten, aufgehübscht mit bunten Grafiken. Deren Wert beschränkt sich auf die Aussage, dass der Kreativling ein Excel-Wochenend-Seminar besucht hat. Unternehmensberater habe ich wirklich gefressen; die sind so nützlich wie Sand im Tretlager. Ich wollte eigentlich nicht jammern und mich aufgeregen. Tut mir leid. Aber jetzt bin ich gespannt, womit Sie Ihre Brötchen verdienen.«
»Ich. Bin. Unternehmensberater.« antwortete DuMont, wobei er versuchte, so ernst auszusehen, als hätte ihn Stahls Lamento gekränkt.
»Das ist mir jetzt unangenehm«, sagte Stahl, der etwas blass um die Nase wurde. Er überlegte krampfhaft, wie er sich aus diesem Fettnapf befreien konnte. DuMont ließ die Spannung einen Moment wirken und löste sie mit einem Lachen auf:
»Kein Problem. Ich bin so kritisch wie Sie, was meine Branche angeht.« Stahl atmete wieder. »Bevor ich Ihnen mehr von mir erzähle, würde ich gerne wissen, wo Sie die größten Probleme Ihrer Firma sehen?«
Jetzt fiel Stahl ein, wie er mit einem Salto aus dem Fettnäpfchen springen konnte:
»Ich habe vor Jahren das Buch eines Unternehmensberaters gelesen — Name fällt mir grad’ nicht ein —, der hat den Nagel auf den Kopf getroffen: Er schrieb, dass der Manager sich als Dienstleister für die Mitarbeiter verstehen sollte und nicht als Dompteur, der wilde Tiere durch Feuerringe springen lässt, indem er sie, je nach Bemühen, belohnt oder bestraft. Er schrieb weiter, dass der Manager die Motivation der Mitarbeiter senkt, wenn er sie motiviert. Eine Führungskraft hat ihm zufolge viel verstanden, wenn sie versucht, andere nicht mehr zu demotivieren. Haben so etwas schon mal gehört? Dazu müsse derjenige lernen, seinen Mitarbeitern zu vertrauen. Tut er das nicht, habe er eigentlich keine Mitarbeiter. Ich wäre schon froh, wenn das Management mich gelegentlich fragen würde, womit sie mich unterstützen könnten. Ich komme gerade von unserer Jahrestagung und was höre ich den ganzen Tag? Neue Kontrollmaßnahmen, Auflagen, Rationalisierungen und Umsatz-Forderungen. Mich macht das ganz verrückt. Aber was soll man machen?«
»Was man da tun kann, ist die Frage, die ich seit dreißig Jahren täglich befriedigender zu beantworten versuche. Meine Berufsbezeichnung ist Unternehmensberater, treffender wäre Menschenberater. Niemand kann nämlich Unternehmen beraten. Wände, Stühle und Tische lernen einfach nichts dazu.«
Stahl lachte. Er merkte, dass sein Lachen mindestens zur Hälfte von Höflichkeit gespeist war. Bei Gesprächen mit Kunden und Vorgesetzten war das wie ein Reflex bei ihm. Das kostete Kraft und zu Hause fehlte oft die Energie für Höflichkeit. DuMont fuhr fort:
»Meine These lautet, Firmen haben Erfolg, wenn die Ziele von drei Gruppen im Einklang sind: Investoren, Mitarbeiter und Kunden. Sind deren Ziele nicht im Einklang, gibt es Konflikte. Will ich diese Konflikte lösen, hilft es mir zu wissen, warum Menschen überhaupt handeln. Ein ›Unternehmensberater‹ braucht ein Menschenbild, das der Realität möglichst nah kommt. Seine Ergebnisse werden enttäuschend sein, wenn er Menschen wie Reiz-Reaktions-Maschinen behandelt und mit Zuckerbrot und Peitsche zu steuern versucht. Die Realität ist komplexer. Da bin ich bei dem Kollegen, der das Buch geschrieben hat. Mein USP ist mein Menschenbild. Ich versuche, den Code der menschlichen Seele zu entschlüsseln, wie ich das gerne nenne.« DuMont lacht.
»Und? Haben Sie den Code entschlüsselt?«
»Vollständig entschlüsseln werden wir ihn vielleicht nie. Ich bilde mir trotzdem ein, dass mein Schlüssel das Tor zum Glück öffnen kann. Erfolgreiche Unternehmen wiederum sind das Ergebnis von Menschen, die glücklich sind und in Harmonie mit anderen arbeiten.«
»Unternehmen, in denen jeder Tag mit einem Lächeln beginnt«, warf Stahl mit einem zynischen Unterton ein.
»Warum der Sarkasmus?«
»Der Satz ist aus der Broschüre meiner Firma.« Stahl reichte DuMont sein Exemplar und der begann, die Broschüre interessiert zu lesen. Als er fertig war, sagte er:
»Jetzt verstehe ich Ihren Argwohn. Sie hätten nichts gegen ein Unternehmen, in dem jeder Tag mit einem Lächeln beginnt? Sie reagieren nur allergisch auf Unternehmen, die das behaupten, obwohl es nicht so ist?«
»Exakt. Nehmen wir an, Ihr Schlüssel zum Glück würde funktionieren. Wie bekommen Sie eine Firma dazu, ihn anzuwenden?«
»Damit Menschen anders handeln, brauchen sie Leidensdruck und die Bereitschaft, sich zu öffnen. Sind die Entscheider zufrieden mit dem Status quo, kann ich nichts ausrichten. Ich will dann auch nichts ausrichten. Ich helfe auf Nachfrage, ich missioniere nicht.
 »Wie unterscheidet sich der Code, den Sie entschlüsselt haben von dem der bekannten Psychologen und dem was man als Hobby-Psychologe aus Wochenzeitschriften kennt? Muss ich doch nicht auf die Couch, um meine Ehe zu retten oder meine Midlife-Crisis zu überwinden?« Stahl versuchte zu lachen, als wäre die letzte Frage rein hypothetisch, aber er merkte dass er mehr über sich verraten hatte, als er wollte.
»Bekannte Psychologen, hm. Freud, Adler und Jung — die waren mit ihrer Tiefenpsychologie aus meiner Sicht schon auf einer heißen Spur. Dass wir heute, über hundert Jahre später, mehr wissen, ist kein Wunder. Wobei die heutigen Studien zu zeigen scheinen, dass frühkindliche Erfahrungen und die Eltern keinen großen Unterschied machen. Da wird den Genen und dem Einfluss der Gleichaltrigen höhere Bedeutung eingeräumt. Ich behaupte jedoch: Wenn Kinder überall mit nur minimalen Unterschieden erzogen werden, dann kürzt sich dieser Einfluss natürlich raus. Was aber, wenn ein ganz anderer Ansatz einen Unterschied machen könnte? Mit den heutigen Psychologen verbindet mich auch wenig: weder mit den Forschern an den Universitäten, noch mit den meisten Autoren populärer Selbsthilfe-Ratgeber oder den Tschakka-Motivationskünstlern, die mit ihren Anhängern über Kohlen laufen.«
»Ha ha, so einen Kohlenläufer hatten wir tatsächlich schon bei uns. Ich glaube, bei der Kritik sind wir uns einig. Aber dass Sie denken, dass unsere Kinder nur mit minimalen Unterschieden erzogen werden, das wundert mich. Das sehe ich anders.«
»Da sind Sie mit Ihrer Meinung nicht allein. Eher bin ich der Exot. Aber bevor wir über Erziehung reden, würde ich gerne eine Basis schaffen, was die Grundlagen angeht. Darf ich ein wenig ausholen?«
»Holen Sie aus.«
»Damit wir Menschen und unsere Gene überleben, hat uns die Natur mit Trieben, Bedürfnissen und Gefühlen ausgestattet. Nichts davon können wir uns aussuchen. Das ist Teil unseres Auslieferungszustandes. Informatiker würden sagen, das ist unser schreibgeschütztes ROM. Wir können allerdings den Verstand einsetzen, um cleverer mit unseren Trieben, Bedürfnissen und Gefühlen umzugehen. Es wird anschaulicher, wenn ich diese drei Begriffe mit Inhalt fülle und erkläre, welche Triebe, Bedürfnisse und Gefühle es aus meiner Sicht gibt. Zusätzlich unterscheide ich noch zwischen Emotionen und Gefühlen und somit wären es vier Begriffe:
Triebe — als Synonym nutze ich auch Triebkräfte oder Instinkte — sind angeboren und ererbt. Sie lenken unser Denken und Handeln ohne äußere Einflüsse. Ich unterscheide bei den Triebkräften fünf Gruppen: Sicherheit, Verbindung, Lernen, Gestalten und Sex. Bei der Sicherheit geht’s ums Überleben: Wir atmen, zum Beispiel. Wir essen und trinken. Wir suchen ein gewisses Maß an Wärme. Wir bewegen, schlafen und erholen uns. Die Triebe kommen von innen und um sie zu befriedigen, brauchen wir oft Dinge von außen. Hier spreche ich von Bedürfnissen, denn es gibt einen Bedarf. Menschen brauchen: Raum, Luft, Wasser, Nahrung, Rohstoffe, Energie, andere Lebewesen und Informationen. Die Natur hat es so eingerichtet, dass eine physiologische Reaktion eintritt, sobald uns etwas fehlt. Diese Reaktion kann chemisch und/oder elektrisch sein. Wir nennen sie Emotion — oder genauer: E-Motion, also etwas Elektrisches in Bewegung — und Gefühl, sobald uns die Emotion bewusst wird. Hier ein Beispiel für den Sicherheits- oder Überlebenstrieb: Wenn Blutzucker, Insulin und Leptin bestimmte Werte erreichen, wird das an den Hypothalamus gesendet. Das ist die Emotion. Kurz darauf spüren wir ein spezifisches Unwohlsein, welchem wir durch unsere Erfahrungen den Namen ›Hunger‹ zugewiesen haben und uns ist klar: Wir brauchen Nahrung. Das ist das Bedürfnis. Diese Reihenfolge Trieb – Emotion – Gefühl – Bedürfnis ist bei allen Trieben gleich. Hier einige Beispiele: Der Trieb nach Verbindung löst Emotionen, also physiologische Reaktionen aus, diese führen möglicherweise zum Gefühl der Einsamkeit und es entsteht ein Bedürfnis nach anderen Lebewesen. Auch unsere Triebkraft nach Lernen sorgt im Gehirn für Emotionen, wir spüren ein Gefühl der Neugier und es gibt ein Bedürfnis nach Informationen. Bei unserem Gestaltungstrieb spüren wir Unruhe und um Kreativität auszuleben, brauchen wir bisweilen einige Rohstoffe. Den Sexualtrieb brauche ich Ihnen nicht zu erklären: Hormone steigen auf, wir empfinden sexuelle Lust und haben ein Bedürfnis nach einem Sexualpartner.«
Stahl hatte konzentriert zugehört und unterbrach DuMont:
»Jetzt haben Sie meinen Neugiertrieb getriggert. Aber ich muss gestehen: Beim Thema ›Triebe‹ denke ich gleich an ›triebgesteuert‹. Das kann es doch nicht sein. Wir sind doch keine Tiere oder Ungeheuer!«
»Sie müssen nichts ›gestehen‹«, antwortete DuMont lachend. »Ich kann mich der Wahrheit nur nähern, wenn ich versuche, meine Theorie zu widerlegen. Da helfen Einwände. Wir Menschen sind nicht rein triebgesteuert. Wir haben ein unvorstellbar komplexes Gehirn und können unsere Triebe reflektieren, so wie wir das gerade tun. Wir können Triebe gegeneinander abwägen und wir können die Zukunft mit einbeziehen. Die Wenigsten suchen immer die sofortige Befriedigung. Wer seine Zähne putzt, tut das nicht nur, weil er einen unangenehmen Geschmack im Mund hat — da täte es auch ein Schluck Cola —, sondern wir sorgen uns ums kraftvolle Zubeißen im Alter und fürchten den Bohrer. Also widerstehen wir der Versuchung der Cola-Mundspülung und tun, was eigentlich keine große Freude bereitet: Wir schieben minutenlang eine Bürste im Mund hin und her.«
»Sie haben eben gesagt, dass Triebe, Gefühle und was war das Dritte?«
»Bedürfnisse.«
»Sie haben eben gesagt, dass Triebe, Gefühle und Bedürfnisse auf unserer Festplatte vorinstalliert sind. Sie haben es ROM genannt.«
»Genau.«
»Wieso muss ich mir darüber Gedanken machen? Oder wieso soll ich das alles verstehen, wenn eh alles schreibgeschützt ist?«
»Sie ›müssen‹ oder ›sollen‹ nichts. Es gibt Milliarden Menschen, die über diese Fragen nie nachgedacht haben, zumindest nicht lange oder intensiv. Meine These ist: Wenn man darüber nachdenkt und Antworten findet, die der Realität nahe kommen, steigt die Lebensfreude. So entsteht zwar keine spirituelle Er-leuchtung, aber vielleicht eine instinktive, emotionale oder intellektuelle Be-leuchtung. Zu Ihrer Frage: Ja, das alles ist vorinstalliert und schreibgeschützt. Aber wir haben nicht nur ein ROM, sondern auch ein RAM, also einen Speicher, den wir beliebig beschreiben können. Im RAM kann sich allerdings Schad-Software einnisten: schädliche Programme wie Viren und Trojaner. Ihre Festplatte zwischen den Ohren verrichtet ihre Arbeit auf einmal nicht mehr nur noch in Ihrem Auftrag — und Sie merken nicht mal etwas davon. Meine Berufsbezeichnung könnte somit nicht nur ›Menschenberater‹ lauten, sondern auch ›Virenschutzexperte.‹«
»Also ich habe keine Trojaner auf meiner Festplatte«, warf Stahl mit einem leicht empörten Lachen ein. Gleichwohl merkte er, dass er sich da nicht so sicher war, wie er vorgab. Stahl schien der feste Boden unter seinen Füßen sumpfiger zu werden. Er fühlte sich fast wie beim Zahnarzt während der Eingangsuntersuchung: Der Mann mit der Lupe vor der Brille guckt sich alle Zähne an, klopft hier, schabt da, atmet tiefer, schüttelt den Kopf und diktiert der Helferin kryptische Diagnosen: zwei acht k, drei sechs c distal, vier fünf c zervikal. Der Patient versucht sich aus all dem einen Reim zu machen: »Karies, Wurzelbehandlungen oder — Gott bewahre — Extraktionen?«
Ach was, beruhigte sich Stahl, ich lasse mir nicht von einem Wildfremden im Kopf rumfuhrwerken. Ich bin psychisch kerngesund.
»Keine Sorge, ich bin kein Virenschutz-Missionar«, erwiderte Dumont, »ich würde nie jemanden ungefragt auf Schad-Software aufmerksam machen, selbst wenn ich Hinweise hätte.«
»Rein hypothetisch gefragt: Welche Hinweise könnte es denn geben?«, wollte Stahl jetzt doch wissen.
»Ein Hinweis auf Schad-Programme ist der häufige Gebrauch der Wörter ›müssen‹ und ›sollen‹. Ich würde das aber gerne zurückstellen und wenn Sie noch Interesse haben, erklären, wie sich ein Gehirn ohne schädliche Programme entwickelt. Wenn wir danach über Schad-Programme reden wollen, könnten wir die typischen Viren und Trojaner von Führungskräften in Unternehmen anschauen oder meinetwegen die von Unternehmensberatern.« DuMont lachte.
»Die Entwicklung eines gesunden Gehirns interessiert mich. Derzeit erscheinen viele populäre Bücher von Gehirn-Forschern. Einige habe ich gelesen und ich bin gespannt, wie sich deren Gedanken mit Ihren decken.«
»Da deckt sich Vieles, aber nicht alles. Meine Folgerungen werden Sie in keinem dieser Bücher finden. Ich bin radikaler. Aber fangen wir vorne an. Und mit ›vorne‹ meine ich weit vorne.«
DuMont machte eine Pause und Stahl war unsicher, ob er damit die Spannung steigern wollte oder lediglich nachdachte.
»Vor etwa fünf Millionen Jahren«, begann Dumont, »entwickelte sich der aufrechte Gang bei unseren Vorfahren und mit ihm wurde das Becken schmaler. Dieses schmale Becken zwingt uns zu physiologischen Frühgeburten, weil der Kopf sonst nicht durch das Becken der Gebärenden passen würde. Wir kommen daher mit einem Gehirn und einem Körper auf die Welt, die für ein eigenständiges Leben nicht ausgebildet sind. Anscheinend hat sich das während der Evolution als Vorteil erwiesen. Das schnelle Einstellen auf sich verändernde Umweltbedingungen funktioniert offensichtlich besser, wenn man nicht mit einem fixen Betriebssystem ausgestattet ist, sondern mit wenig ROM und viel RAM, um bei dem Bild von eben zu bleiben. Menschen sind also keine Nestflüchter, sondern Nesthocker oder genauer: Traglinge. Wir können zu Anfang weder laufen, noch sprechen und nicht mal länger alleine bleiben. Wir sind auf Gedeih und Verderb unseren Eltern ausgeliefert und ohne Hilfe nicht lebensfähig. Das Baby hat Hunger, es schreit, wird von der Mutter gestillt und die Welt ist wieder in Ordnung. Anschließend wird es in sein Bettchen gelegt, das Baby fühlt sich einsam, es schreit, die Mutter holt es in ihr Bett und das Kind ist selig. Das ältere Kind sieht etwas in der Hand des Vaters, Neugier meldet sich, das Kind bekundet Unmut, der Vater gibt dem Kind den Gegenstand und das Kind untersucht ihn mit Hingabe und Freude. Bei alldem saugt das kleine, offene Gehirn ständig Informationen auf wie ein Schwamm und anders als beim Schwamm, wird das Aufgesaugte gespeichert und miteinander kombiniert. So kann der kleine Besitzer des Gehirns aus seiner Hilflosigkeit und Ohnmacht herauswachsen. Mit zunehmenden Fähigkeiten wird das Kind weniger abhängig von den Eltern: Es will und kann jetzt selbst den Löffel halten. Es will und kann jetzt selbst von A nach B kommen. Erst durch Krabbeln, später durch Laufen und eh man sich versieht, hat das Kerlchen einen Führerschein, fährt von B nach C und schaut bei A bestenfalls an Weihnachten vorbei.«
Jetzt musste Stahl an seinen Sohn Jannik denken, der erst gestern zur Welt kam und in zwei Jahren seinen Führerschein machen würde. Den Gedanken »wie die Zeit vergeht« gestattete sich Stahl aber nicht. Gegen solche Floskeln war er allergisch.
»Dass das Kerlchen Autofahren kann,« erklärte DuMont weiter, »ist für mich übrigens kein Beweis, dass es erwachsen ist.«
»Oh, das finde ich interessant. Wann ist man denn Ihrer Meinung nach erwachsen?«
»Erwachsen zu sein, heißt für mich: Unwohlsein erkennen und selbstständig auflösen zu können. Der Erwachsene hat gelernt, sich selbst am Schopf aus dem Sumpf zu ziehen und weder andere dafür verantwortlich zu machen, dass er dort hineingeraten ist, noch Forderungen an Gott oder die Welt zu stellen, wieder herausgezogen zu werden. Erwachsene im Sinne dieser Definition sind die ideale Lern-Umgebung für Kinder. Kinder deren Eltern das nicht können, haben es schwerer, erwachsen zu werden.«

---

Mir würde schon die Angabe helfen, wo ihr ausgestiegen seid und warum.

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Rodge
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Beitrag02.08.2019 07:44

von Rodge
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Das ist alles gut geschrieben, aber dennoch bin ich nach dem Dialog beim Einchecken ausgestiegen:

- Dein Prota ist mir unsympathisch. Kleine Kinder rennen nun mal rum, teils aus Langeweile, teils weil das genetisch so vorgegeben ist, Bewegung führt zu Beherrschung, wenn dann ein Kind hinfällt und sich weh tut, spüre ich eher Mitleid als Genugtuung.

- Der Dialog mit der Dame am Eincheckschalter ist sinnlos. Was macht es aus, wie die Unterhaltung läuft? Ausserdem verhält sich die Dame so wie sich alle verhalten (müssen). Professionelle Freundlichkeit. Wenn das deinen Prota nervt, macht es im Grunde klar, dass er das nicht verstanden hat. Ein weiterer Grund, nicht weiterzulesen.

Wenn du jetzt argumentieren solltest, dass der Prota ja im Verlauf sympathischer wird, nutzt das nichts, weil ich ja schon ausgestiegen bin. Das ist ein bisschen das Problem mit Wandlungsromanen...

Dennoch hat es Potential...

Grüße
Rodge
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BlueNote
Geschlecht:männlichStimme der Vernunft


Beiträge: 7304
Wohnort: NBY



Beitrag02.08.2019 08:32

von BlueNote
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Hallo Oliver!

Ich finde dein Exposé sehr ansprechend, deine Geschichte interessant, dein erstes Kapitel geistreich und sprachlich gekonnt und insgesamt auf hohem Niveau. Ja, es ist richtig, der Protagonist wirkt in den ersten Zeilen recht unsympathisch und ich befürchtete bereits ein Buch mit 300 Seiten Holzhammer vor mir zu haben. Dann aber erwies er sich als Fragender, Lernender, aufmerksamer Zuhörer und das Schwarz/Weiß seiner Welt wird glücklicherweise (durch Dumont) sehr bald infrage gestellt. Der Eindruck zu Beginn, der Protagonist ist zwar ein "Normopath", aber im Grunde doch ganz sympathisch, wäre nicht schlecht. (Ich habe mich übrigens gewundert, warum er sich der Normung seines Unternehmens widersetzt. Aber vielleicht ist ja doch kein Bilderbuchnormopath, sondern auch ein Individualist?)

Dass dein Antagonist sehr zum Dozieren neigt und bereits bei der ersten Begegnung zum Ausbreiten seines gesamten Fachwissens ausholt, fand ich etwas merkwürdig. Aufgefallen ist mir diese Stelle: Hier ein Beispiel ..., Das klingt, als ob es sich bei dem Monolog um eine schriftliche Abhandlung handelte. Der Gag mit der Vorstellung als Unternehmensberater kam gut. Solche psychologisch geschulten Unternehmensberater würde man sich wünschen. Ich höre ihm jedenfalls gerne zu.

Wie du deinen Roman selbst einordnest, wäre interessant zu erfahren. Hier im Forum wirst du wahrscheinlich als erstes gefragt werden, welchem "Genre" du ihn zuordnen würdest, um ihn dann sanft in die Richtung als typischer Vertreter dieses Genres schieben zu können. Dazu gehört z.B.: Ein Protagonist darf nicht unsympathisch sein. Oder: Lange Monologe langweilen und müssen durch (kleine) Handlungen unterbrochen sein (oder streiche sie am besten gleich). Alles muss handlungsgetrieben sein. Eine "Entwicklung" irritiert viele Unterhaltungsliteraturschreiber, weil sie eher in statischen Schablonen denken.
Ich glaube, hier bist du selber schon viel weiter. Ich habe ein bisschen Angst um dein Manuskript, wenn ich mir die Beeinflussung ausmale, die dir hier in diesem Forum für einfache Unterhaltungsliteratur widerfahren könnte. Achte darauf, dass du dich nicht dazu verleiten lässt, aus deinem sehr intelligenten Buch einen tumben Schablonenroman zu machen. Dein Buch hat viel Potenzial, könnte sich als intellektuelles Feuerwerk erweisen, das sich aber auch als Fehlzündung umprogrammieren ließe, wenn man es als seichten Unterhaltungsroman umschreiben würde, damit niemand von den Lesern "aussteigt". (Eine Drohung, die immer wieder ganz gerne bei Zuwiderhandlung in den Raum gestellt wird).

Als angenehm habe ich dein Fachwissen, deine Kompetenz empfunden, aber auch deine Fragestellung gegenüber dem ganz normalen Leben. Vielleicht kannst du die Brechstangenszene zu Beginn mit dem Kind ein wenig abmildern, damit der Leser eine kleine Chance erhält, sich mit deinem Protagonisten anzufreunden und es ihm leichter gemacht wird, seine Position nachzuempfinden, auch wenn er irgendwann im Roman scheitern wird.
Denn merke: Es gibt nicht nur Schwarz und Weiß, sondern auch unzählige Grautönen im Leben. Oder eben Farben.

Einen intellektuell bunten Roman wünsche ich dir, geschrieben zu haben. Im Moment jedenfalls sieht es gut aus.

BN
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Innerdatasun
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Alter: 59
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Beitrag02.08.2019 09:48

von Innerdatasun
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Zitat:
- Dein Prota ist mir unsympathisch. Kleine Kinder rennen nun mal rum, teils aus Langeweile, teils weil das genetisch so vorgegeben ist, Bewegung führt zu Beherrschung, wenn dann ein Kind hinfällt und sich weh tut, spüre ich eher Mitleid als Genugtuung.

- Der Dialog mit der Dame am Eincheckschalter ist sinnlos. Was macht es aus, wie die Unterhaltung läuft? Ausserdem verhält sich die Dame so wie sich alle verhalten (müssen). Professionelle Freundlichkeit. Wenn das deinen Prota nervt, macht es im Grunde klar, dass er das nicht verstanden hat. Ein weiterer Grund, nicht weiterzulesen.

Wenn du jetzt argumentieren solltest, dass der Prota ja im Verlauf sympathischer wird, nutzt das nichts, weil ich ja schon ausgestiegen bin. Das ist ein bisschen das Problem mit Wandlungsromanen...


Warum in alles in der Welt muß der Prota sympathisch erscheinen? Na klar ist es das Problem, aber auch das Potential von Wandlungsromanen das die Hauptfigur sich entwickelt. Am besten natürlich vom Unsympath zum Sympath, vom Unwissenden zum Wissenden(Geheilten)
Sollten nicht so gesehen, alle Romane Wandlungsromane sein ?

Zitat:
Ein weiterer Grund, nicht weiterzulesen.

Das macht doch gerade auch eine Figur interessant, wenn es die gesellschaftlichen  Konventionen aus irgendeinem Grund nicht verinnerlicht hat/ bzw. konnte.

Ich erinnere in dem Zusammenhang nochmal an Thomas Harris "das Schweigen der Lämmer" Wer ist denn dort der interessantere Protagonist? Doch Derjenige, dessen Biografie uns verschlüsselter und rätselhafter vorkommt, als wie jener, der ein Leben wie jeder andere versucht zu bewältigen (Karriere und Erfolg)
Denn darum geht es doch schlußendlich. Um das was in uns Fragen aufwirft und nicht jene Dinge, die uns Antworten geben, und die unsere Meinung nur bestätigen.


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Innerdatasun
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Beitrag02.08.2019 10:04

von Innerdatasun
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Zitat:
Eine "Entwicklung" irritiert viele Unterhaltungsliteraturschreiber, weil sie eher in statischen Schablonen denken.


Ich denke selbst innerhalb dieser statischen Schablonen ist es wichtig, Fragen vor Antworten aufkommen zu lassen (siehe meinen Kommentar oben)

Vielleicht ist es gerade die Herausforderung bzw die Kunst, den statischen Leser eher durch eine etwas anheimelige Situation in die Geschichte hineinzuziehen, ohne Betrug an der Figur zu begehen.


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Pickman
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Beitrag17.08.2019 17:41

von Pickman
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Lieber oliverheuler,

das ist mal ein beispielhafter Einstand: erst ein Exposé, das hilft, die Prosa einzuordnen, danach eine Kostprobe.

Beide Texte lesen sich gut. Nur über "ertrank" bin ich gestolpert. Ich meine, es müsste "ertränkte" heißen.

Dein Prota ist gut charakterisiert. Dass er unsympathisch ist, tut der Qualität des Textes keinen Abbruch.

Mein einziger größerer Kritikpunkt ist dieser: die Geschichte ist nicht so spannend, dass sie mich auf Dauer an das Buch binden würde.

Liebe Grüße

Pickman


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BlueNote
Geschlecht:männlichStimme der Vernunft


Beiträge: 7304
Wohnort: NBY



Beitrag17.08.2019 20:52

von BlueNote
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Na ja, ich muss schon sagen ... Einen ellenlangen Text (mit Beitragszahl 1) hier einstellen und sich dann 2 Wochen nicht mehr im Forum anmelden.
Interesse an den Kommentaren sieht anders aus!
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timcbaoth
Leseratte


Beiträge: 114



Beitrag18.08.2019 00:59

von timcbaoth
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Lieber Oliverheuler

Wie man als Moralist auf die Welt reagiert... interesantes Thema. Der Titel Normopath ist auch sehr gelungen. Beim Expose habe ich allerdings den Eindruck, dass der Moralist sehr negativ gesehen wird. Hat seine Einstellung keinerlei positive Seiten? Trotzdem finde ich die Prämisse sehr spannend.

Jedoch muss ich sagen, dass der Text mich bald verliert. Mir scheint es einfach ein Dialog zwischen zwei personifizierten Positionen zu sein. Im Gegensatz dazu hätte ich lieber eine Geschichte, die anhand von manifesten Geschehnissen den Konflikt des Moralisten herausarbeitet. Der Dialog scheint mir eher wie eine klassische Abhandlung (z.B. Platons) zu sein. Klar, kann das auch spannend sein, aber meines Erachtens ist das keine "Literatur" sonder ein rein philosophischer Text.

LG
Tim


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Liebe Grüsse
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Gast







Beitrag18.08.2019 13:41

von Gast
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Lieber oliverheuler,

sprachlich habe ich nichts zu meckern. Auch dass der Prota zunächst unsympathisch rüberkommt, stört mich nicht. Es gibt eine Reihe von guten  Geschichten, die die Wandlung vom Miesepeter zum Menschenfreund erzählen.

Inhaltlich erscheint mir das als Eingangskapitel für einen Roman überfrachtet. Zu viel theoretisches Hintergrundwissen, aus ganz unterschiedlichen Bereichen – Betriebswirtschaft, Anthropologie, Psychologie -  das da bereits einfließt in die erste Begegnung zwischen zwei Männern, die später Freunde werden. Da ist für mich nicht recht glaubwürdig. Deutlich weniger wäre hier m.E. mehr gewesen.

LG
DLurie
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Selanna
Geschlecht:weiblichReißwolf


Beiträge: 1146
Wohnort: Süddeutschland


Beitrag21.08.2019 00:47

von Selanna
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Hallo oliver,

Dein erster Beitrag im Forum ist Dein eigener, sehr langer Text, das ist schade. Darum von mir auch umso kürzer:
Du schreibst nicht schlecht, man kann Deinen Stil flüssig lesen und die Orthographie und Zeichensetzung ist gut.
Was mir nicht so sehr gefiel, ist die gedrängte Information, die Du in die ersten Zeilen pfropfst, obwohl sie gar nicht dringend nötig sind und auch keinen wirklichen Textzusammenhang haben. Ich erfahre von der Jahrestagung seiner Firma, in der er schon 10 Jahre arbeitet, als Außendienstler, mit hohen Verdienstmöglichkeiten, der mit der Firmenleitung und den Kollegen unzufrieden ist. Denkt der Mann wirklich an all das, während Luca sein Theater aufführt?
Ich bin kurz nach der ganzen Info-Flut ausgestiegen, vor allem, weil Du Deinen Protagonisten gleich so richtig unsympathisch und pedantisch einführst. Ich habe nichts gegen unsympathische Figuren, sie können besonders interessant sein, aber Deiner tritt gedanklich und tatsächlich verbal ja wirklich gegen alles und jeden aus. – Das ist mir zu viel geballtes Unsympathentum, ein riesiges Zaunpfahlwinken für den unbedarften Leser, damit er auch ja gleich begreift, wie er den Mann einzuordnen hat. Ich persönlich würde die Figur etwas dezenter einführen, es reicht doch auch die ein oder andere Andeutung, die sich dann im Laufe der ersten fünf, sechs Seiten stark verdichten. Natürlich imho.

Liebe Grüße
Johanna


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oliverheuler
Gänsefüßchen

Alter: 57
Beiträge: 20
Wohnort: Waren


Beitrag14.09.2019 19:28

von oliverheuler
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Hallo zusammen!

Es tut mir leid, dass ich hier nichts mehr von mir hören lassen habe. Ich hatte vergessen, irgendwo einen Haken zu setzen, sodass ich eine E-Mail bei Antworten bekomme. Ich hätte natürlich auch manuell nachschauen können, aber ich war im Schreibflow. Ich habe jetzt sechzig Normseiten geschrieben, sie über dreißigmal überarbeitet und schlicht vergessen, dass ich hier etwas gepostet hatte.

Aber so hatte ich jetzt den Genuss, gleich eine ganze Ladung geballter Rückmeldung goutieren zu können. Effektiver könnte ich es mir nicht wünschen. Die kritisierten Punkte treffen aus meiner Sicht fast alle ins Schwarze. Eine Vorahnung oder Angst hatte ich bei jedem der einzelnen Punkte.
Bluenote, du hast mir Mut gemacht. Die Art wie du schreibst, lässt mich vermuten, dass du weißt, wovon du redest. Sehr motivierend für mich. Danke.

Dass der Protagonist am Anfang unsympathisch ist, damit kann ich leben. Wer deshalb aussteigt, den verliere ich eben. Eine Alternative ist für mich nicht denkbar.

Tim, du triffst den Nagel auf den Kopf: Bis jetzt ist es ein Dialog zwischen zwei personifizierten Positionen: dem Moralisten und dem Amoralisten/Deterministen.
Ich stelle mir die Frage, ob ich das durchziehe und dann ist es eher ein philosophischer Text und keine Literatur. Ich weiß die Antwort noch nicht. Ich will auf keinen Fall ein Sachbuch schreiben. Die Idee zum Roman kam mir nach dem Lesen des Cafés am Ende der Welt. Da gab es aus meiner Sicht so wenig Einsicht und wenig Handlung, dass ich dachte: Das kann ich auch. Smile Und Leser hat es ja einige gefunden.

DLurie, du argumentierst in die gleiche Richtung (Eingangskapitel überfrachtet, Theorie aus diversen Wissensgebieten, als erste Begegnung nicht glaubwürdig, weniger wäre mehr). Das könnte ich eventuell lösen. Vielleicht habe ich inhaltlich auch zu viel Pulver verschossen und dann bleibt zu wenig Diskussionsmaterial für den Rest des Romanes. Wenn sich das so herausstellt, kann ich es beim Umschreiben gleichmäßiger verteilen.

Johanna, deine Meinung lässt mich auch zweifeln, ob mein Anfang nicht zu zaunpfahlwinkig (neues Wort) ist. Danach werde ich auf jeden Fall weitere Testleser befragen. Ich dachte beim Schreiben, dass die meisten Menschen ziemlich normopathisch drauf sind und deshalb Überzeichnung angebracht wäre. Aber vielleicht habe ich auch nur von mir auf andere geschlossen?

Auf jeden Fall herzlichen Dank an alle. Eure Rückmeldung hat mir sehr geholfen. Wer weiterlesen will, weil ihn das Thema interessiert, kann das hier tun:
http://www.heuler.de/pdf/normopath.pdf
Feedback ist weiterhin herzlich willkommen.
Wer weiter hören will, kann das hier tun:
http://heuler.de/audio/normopath1.mp3
http://heuler.de/audio/normopath2.mp3
http://heuler.de/audio/normopath3.mp3
http://heuler.de/audio/normopath4.mp3
http://heuler.de/audio/normopath5.mp3
http://heuler.de/audio/normopath6.mp3
http://heuler.de/audio/normopath7.mp3
http://heuler.de/audio/normopath8.mp3
http://heuler.de/audio/normopath9.mp3

Hier noch ein Tipp von mir an euch als Schreiber: Man hört immer wieder, es sei sinnvoll, die eigenen Texte laut zu lesen. Das unterschreibe ich. Aber das Problem besteht darin, dass man dabei gleichzeitig liest und sich zuhört. Ich kann empfehlen, den eigenen Text zu lesen und das aufzunehmen. Dann kann man ihn sich nachher anhören, und zwar ohne dabei noch zu lesen. Wenn man außerdem die Lesefehler beim Schnitt beseitigt, hat man einen ungetrübten Genuss. Mir hilft es auch, meine Hördateien eine Weile nicht zu hören und dann in einem Rutsch. Da merke ich immer deutlich, wenn es irgendwo knirscht.

Liebe Grüße
Oliver
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oliverheuler
Gänsefüßchen

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Beiträge: 20
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Beitrag17.09.2019 17:53

von oliverheuler
pdf-Datei Antworten mit Zitat

Ich habe jetzt die Lösung: Ich habe gerade das Probelektorat von Hans Peter Roentgen zurückbekommen und er meinte, mein Buch sei ein erzählendes Sachbuch. Dieser Artikel erklärt es:
https://www.daniela-pucher.at/2016/04/das-erzaehlende-sachbuch/

Dann schreibe ich doch nicht meinen ersten Roman, sondern mein erstes erzählendes Sachbuch. Ist mir ja egal, wie es heißt, Hauptsache der Leser hat Spaß und unter dieser Überschrift wecke ich dann keine falschen Erwartungen.

Bin ich dann in diesem Forum noch an der richtigen Adresse?
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Kiara
Geschlecht:männlichReißwolf

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Beitrag17.09.2019 18:58

von Kiara
Antworten mit Zitat

oliverheuler hat Folgendes geschrieben:
Bin ich dann in diesem Forum noch an der richtigen Adresse?

Auch ein erzählendes Sachbuch braucht einen Schriftsteller smile
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oliverheuler
Gänsefüßchen

Alter: 57
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Beitrag17.09.2019 19:44

von oliverheuler
pdf-Datei Antworten mit Zitat

Kiara hat Folgendes geschrieben:
Auch ein erzählendes Sachbuch braucht einen Schriftsteller smile

Ich dachte immer, Schriftsteller schreiben Romane und Sachbücher werden von Autoren geschrieben.
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Kiara
Geschlecht:männlichReißwolf

Alter: 44
Beiträge: 1404
Wohnort: bayerisch-Schwaben


Beitrag19.09.2019 11:07

von Kiara
Antworten mit Zitat

Schlauwiki sagt:
Schriftsteller sind Urheber und Verfasser literarischer Texte und zählen damit zu den Autoren.

(mir ist bewusst, dass im allgemeinen Sprachgebrauch ganz unterschiedliche Begriffsverknüpfungen existieren)
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Willebroer
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Beitrag19.09.2019 12:31

von Willebroer
Antworten mit Zitat

oliverheuler hat Folgendes geschrieben:
Kiara hat Folgendes geschrieben:
Auch ein erzählendes Sachbuch braucht einen Schriftsteller smile

Ich dachte immer, Schriftsteller schreiben Romane und Sachbücher werden von Autoren geschrieben.


Auch ein Leserbriefschreiber wird von Zeitungsredaktionen als "Autor" bezeichnet.

Und selbstverständlich werden dort auch die Verfasser von wissenschaftlichen Texten oder Sachartikeln als "Autor(in)" bezeichnet.

Im übrigen gibt es dort auch den "Bildautor" - oft als Synonym für Fotograf (auch wenn er kein Berufsfotograf ist).
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Pickman
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Beitrag19.10.2019 13:44

von Pickman
Antworten mit Zitat

oliverheuler hat Folgendes geschrieben:
Ich habe jetzt die Lösung: Ich habe gerade das Probelektorat von Hans Peter Roentgen zurückbekommen und er meinte, mein Buch sei ein erzählendes Sachbuch. Dieser Artikel erklärt es:
https://www.daniela-pucher.at/2016/04/das-erzaehlende-sachbuch/

Dann schreibe ich doch nicht meinen ersten Roman, sondern mein erstes erzählendes Sachbuch. Ist mir ja egal, wie es heißt, Hauptsache der Leser hat Spaß und unter dieser Überschrift wecke ich dann keine falschen Erwartungen.

Bin ich dann in diesem Forum noch an der richtigen Adresse?


Hi oliverheuler,

klar bist Du hier an der richtigen Adresse.

Ich frage mich allerdings, ob Roentgen richtig liegt. Würdest Du "Sofies Welt" oder die "Philosophie im Boudoir" als erzählendes Sachbuch einordnen? Aus meiner Sicht ist das Philosophical Fiction.

Cheers

Pickman


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oliverheuler
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Beitrag24.10.2019 13:08

von oliverheuler
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Der Normopath ist jetzt auf Eis. Vierzig Prozent sind geschrieben, aber ich schreibe doch erst »Theos Traum«.

Hier das Exposé:

Audio-Version: http://heuler.de/audio/theos-traum.mp3

Die Eltern des zwölfjährigen Theo leben in einfachen Verhältnissen und streiten oft. Theo hört manchmal das Wort »Scheidung«, was ihm große Angst einflöst, zumal er die Ursache in seinen Schulnoten und Lebenskosten vermutet. Eines Tages bringt ihn eine Hausaufgabe im Religionsunterricht auf andere Gedanken: Der Lehrer will, dass sich die Kinder einen Satz in der Bibel aussuchen und interpretieren. Theo liest, dass Gott den Menschen sagte, sie sollen nicht vom Baum der Erkenntnis des Guten und Bösen essen. Er grübelt den ganzen Tag, wie das gemeint sein könnte, kommt aber nicht weiter. In der Nacht hat er einen Traum, in dem Gott ihm diese Botschaft erklärt. Am nächsten Morgen verfolgt er einen Streit in der U-Bahn und erkennt sofort die Ursache des Konflikts. In der Schule das Gleiche: Mit den Erkenntnissen aus seinem Traum sieht Theo die Welt mit anderen Augen. Er klärt seine Eltern auf, doch die nehmen ihn nicht ernst. Wie sollte ein Kind — vor allem ihr Kind — zu profunden philosophischen Einsichten kommen?

Aber Theo hat eine Idee: Statt den Nachmittag mit seinen Freunden zu verbringen, setzt er sich mit einem Schild in eine U-Bahn-Station. Auf dem Schild steht: »Empathie 50 Cent«. Manche Erwachsene finden das niedlich und nehmen sein Angebot an; weniger in Erwartung echter Hilfe, sondern um dem Kind eine Freude zu bereiten. Zu ihrer Überraschung haben die Analysen Hand und Fuß. An den Folgetagen bringen Theos »Klienten« des ersten Tages Freunde und Angehörige mit. Es entsteht eine Schlange, die Neugier auslöst und weitere Interessenten anlockt. Am vierten Tag entdeckt eine Fernsehjournalistin die Szene und produziert einen Kurzbeitrag über Theo. Innerhalb von Stunden verbreitet sich der Film viral im Internet.

Theos Eltern erfahren erst von der Nebentätigkeit ihres Sohnes, als Freunde sie darauf ansprechen. Sie wittern die Chance, seine Bekanntheit finanziell auszuschlachten. Dieses Ziel scheint die Familie zu vereinen und Theo wähnt sich vor einer Scheidung in Sicherheit. Die Einnahmen der Beratungen übersteigen seinen Lebensunterhalt nun bei weitem und aufgrund seiner Popularität sinkt sogar sein Notenschnitt. Inzwischen ist Theo Gast in den bekanntesten Talkshows und sogar international eine Sensation. Doch er wird erneut Zeuge eines heftigen Streits seiner Eltern und merkt: Die Scheidung ist nicht vom Tisch, sondern droht akuter als zuvor.

Theo ist verzweifelt, weil all seine Mediationsversuche scheitern. Wieso kann er anderen Leuten helfen, aber nicht seinen Eltern? Erst bei der Beratung eines Gleichaltrigen mit demselben Problem stößt er auf die Lösung: Seine Eltern passen nicht zusammen und könnten getrennt glücklicher werden als verheiratet. Er erkennt, dass sein Glück nicht an der Ehe seiner Eltern hängt. Es geht ihm vielmehr um seine Verbindung zu beiden.

Mit Theos Geld können sie sich jetzt zwei Wohnungen im gleichen Haus leisten und Theo verbringt abwechselnd Zeit mit jeweils einem Elternteil. Er frühstückt oft mit seinem Vater und isst zu Mittag mit seiner Mutter. Seit die beiden ihren eigenen Rückzugsbereich haben, sind sogar entspannte Mahlzeiten und Gespräche zu dritt möglich, die Theo besonders genießt. Wenn er Schulfreunde zu Gast hat, werden die sogar neidisch, denn sowohl sein Vater als auch seine Mutter scheinen Erziehungsversuche aufgegeben zu haben. Einen Fernsehstar bevormunden selbst seine Eltern nicht mehr.
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Pickman
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Beitrag25.10.2019 18:34

von Pickman
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oliverheuler hat Folgendes geschrieben:
Der Normopath ist jetzt auf Eis. Vierzig Prozent sind geschrieben, aber ich schreibe doch erst »Theos Traum«.

Hier das Exposé:


Vielleicht möchtest Du Deinem zweiten Exposé lieber einen eigenen Thread spendieren.


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