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Taifan oder Liebe im Zeichen des silbernen Schwertes (1)


 
 
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nicolailevin
Geschlecht:männlichEselsohr


Beiträge: 259
Wohnort: Süddeutschland


Beitrag14.02.2019 20:36

von nicolailevin
Antworten mit Zitat

Upsi, Copypaste hat einen Teil verschluckt. Hier hinterher

Zitat:
Auf einmal erkannte Schönberg in jenem Blick die ganze Durchtriebenheit dieses Volkes.


Des Mannes?

Zitat:
„Du bist nicht herzkrank, Bruder“, flüsterte er fast unhörbar, „du bist ein guter Schauspieler!“ Al-Dorhani kniff ein Auge zusammen.


Die Komödie versteh ich nicht. Was markiert der Kerl den sterbenden Schwan und lässt seine Holde allein bei den Wilden? Nur um eine Rast zu erwzwingen?

Zitat:
Sein Gesicht mit der dunklen Brille glich einer U-Bahn.


Ein bisschen zu ungewöhnlich, der Vergleich, nachdem du zuvor nur sehr standardige Standards nimmst (Stecknadel und so). Und ich kann ihn auch nicht nachvollziehen.

Zitat:
„Dies ist ein Karstgebirge“, erklärte der Doktor bereitwillig, „irgendwo muss es hier einen unterirdischen Bach oder Fluss geben.


Karst heißt nur, dass da mal Wasser war, nicht unbedingt, dass heute welches zu finden ist.

Zitat:
„A´Ischa, der Bote Gottes spricht“, sagte er vernehmlich, „niemals sah ich jemanden, der größere Schmerzen ertragen muss als der Gesandte Allahs.“
  Schönberg verstand. Er erhob sich wieder. Der Pashtune hoffte, als der 'Gesandte Allahs' betrachtet zu werden und dadurch vor weiteren Misshandlungen sicher zu sein.


Schönberg mag verstehen, ich komm da nicht mit. Was hat es mit diesem Gesandten auf sich. Genießt der diplomatische Immunität?

 
Zitat:
Schließlich verlor er sich zwischen den Dolinen.


Ich musste 'Dolinen' nachschlagen, und ich bilde mir was auf meinen Wortschatz ein (passiv zumindest).

Zitat:
Spalten, in denen Bulte schneidend scharfen Pampagrases wuchsen.


'Bulte' detto.

Zitat:
Weber war solche Gewalttouren in keiner Weise gewohnt; er blickte auf seine aufgerissenen Hände und verfluchte lauthals die Stunde seiner Geburt.


'in keiner Weise' liest sich sperrig. Und die Stunde der Geburt verflucht vielleicht Hadschi Halef Omar, aber doch kein Deutscher.

Zitat:
Sie standen am Rande einer riesigen Doline von der Größe mehrerer Fußballfelder. Ihre Wände stürzten atemberaubend steil in die Tiefe.


Ich finde es problematisch, Kreisflächen in Fußballfeldern zu bemessen. Und bei den Dolinen, die ich gegoogelt habe, geht es maximal 5 oder 10 Meter in die Tiefe, das reicht zumindest bei mir nicht, um mir mit 'in die Tiefe' den Atem zu rauben.

Zitat:
Über dem jenseitigen Ende des grandiosen Erdfalls bohrte, von der Abendsonne rot entflammt, ein Gebirgszug seine blutenden Grate in den Himmel. Und in noch weiterer Ferne leuchteten, wie über Wolken und in grellem Kontrast, die weißen Schneegipfel des Hindukusch.


Zu dick aufgetragen. Und bohren geht nur in Feststoffliches.

  

                                                                   6
  
 
Zitat:
Der Doktor und al-Dorhani trafen etwa zwei Stunden später als Weber und Marjam ein.


Weber und Marjam erreichen das Versteck in der Dämmerung, die anderen müssen also mindestens anderthalb Stunden in der absoluten Finsternis durchs unwegsame Gebüsch kreuchen?

 
Zitat:
Der Boden war geebnet und mit Brettern ausgelegt.


Holz müsste in dieser Weltgegend seltener und viel teurer sein als bei uns - es ist kein billiger allgegenwärtiger Baustoff. Außerdem müssten sie jedes Brett zwei Stunden auf dem Buckel oder mit dem Esel durchs Gestrüpp heranschleppen ...

Zitat:
Von der Decke hing eine nackte Glühbirne und verbreitete mattes Licht.


Das gleiche gilt für Diesel zum Stromgenerieren. Jeder Kanister mühsam hergeschleppt - ich wär sparsam damit.

 
Zitat:
„Ich habe in Leipzig Jura, Betriebswirtschaft und Philosophie studiert – nicht um mehr Wissen anzuhäufen, ... Nein, ich wollte herausfinden, wie ihr Westler fühlt und denkt.


Philosophie und BWL kauf ich, aber deutsches Paragrafenwirrwarr studieren, nur um zu wissen, wie der Westler denkt?

Zitat:
„Sogar das bekannte O.K. stammt von einem deutschen General!“


... sagte er und blickte in das entsetztlich ungebildete Gesicht seines Gegenüber.

Zitat:
  Außerdem kennst du dich im Koran aus. Sage mir: Welche ist die längste Sure?“


Dieses Geprotze mit der Koranfestigkeit europäischer Helden hat schon bei Karl May genervt.

Zitat:
Die beiden anderen sind sozusagen nur Beifang.


Auch wenn er Deutsch spricht: Diese sehr maritime Wendung klingt unglaubwürdig in einem Land fern aller Meere.

Zitat:
Du nimmst den hypokratischen Eid sehr ernst.


Nix Hypobank! Vom alten Hippokrates! Argl!

Zitat:
zwei Jahre am UKE in Münster


die Abkürzung kennt 50 km hinter Münster keiner mehr ...

Zitat:
Die #me too-Bewegung nämlich hatte auch ihn ereilt.


Der hockt seit Jahren offline und kennt die Social-Media-Hypes der jüngsten Zeit?

  
Zitat:
Alle diese verschiedenen Erinnerungsfetzen schossen ihm jetzt wie ein eiskaltes Feuerwerk durch den Kopf.


Dass das die Perspektive seiner Gedanken ist, haben wir schon bemerkt. Wir sind ungebildet, aber nicht doof.

Zitat:
„Dir wird es nicht entgangen sein, Doktor“, fuhr der Kommandant jedoch nach einer nachdenklichen Weile fort, „dass ich ein todkranker Mann bin.


Wir haben erlebt, dass er vorhin Schmerzen hatte. Damit ist man todkrank?
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wunderkerze
Eselsohr
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Beiträge: 381



W
Beitrag24.02.2019 13:18
Antwort
von wunderkerze
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Hallo
Nicolailevin,

erneut meinen herzlichen Dank für deine Bemühungen. Wie kann ich das wiedergutmachen? Vielleicht mit einer Flasche Wein? Ich meine es ernst!
Das Land ist nicht Afgh., das hat nur Modell gestanden. Muss in einem Abenteuerroman denn alles der Realität entsprechen? Nimm die Wirklichkeit und spinne eine neue Wahrheit daraus! Natürlich, innene Logik und Stil müssen stimmen. Die Verbesserungen arbeite ich in das Original ein, den Thread lasse ich so stehen. Vielleicht erkennt der eine oder andere Leser in meinen Fehlern ja seine eigenen wieder.
Dass dir die Entwicklung der Personen gefällt, freut mich.
Herzliche Grüße
Wunderkerze

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wunderkerze
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wunderkerze
Eselsohr
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Beiträge: 381



W
Beitrag24.02.2019 13:47
Fortsetzung
von wunderkerze
Antworten mit Zitat

*

   „Friedrich, alter Freund! Welch Glanz in meiner Hütte!“
   Die 'Hütte' war ein schöner, hochherrschaftlicher Altbau im Kolonialstil der Jahrhundertwende. Zwei halbnackte, in Stein gehauene und stark angewitterte weibliche Halbfiguren mit Taubenkot auf den runden Brüsten bemühten sich angestrengt, den etwas zu ausladenden Portikus nicht abstürzen zu lassen. Hier und da fehlte der Verputz und gab den Blick auf das rohe Ziegelwerk frei. Ein Wandteppich aus dunkelgrünem Efeu, der ein Teil der Fassade bedeckte, schwang sich weit ausgreifend bis an die Dachrinnen hoch.

   Es war am frühen Abend, in der plötzlichen Kühle, die kurz nach Sonnenuntergang einsetzte. In den Verkaufsbuden des Bazars leuchteten schon die bunten Lampions, die Luft in den Teestuben war erfüllt vom Kollern der Würfel, die Wasserpfeifen brodelten. Die saddled shoes in der 'Straße des Siebten Himmels' klapperten erwartungsvoll-vervös mit ihren Armreifen. Der Duft gegrillten Hammelfleischs lag in der Luft. Mädchen und junge Frauen mit bunten Kopftüchern und in weißen Seidenhosen flanierten mit wiegenden Hüften durch die Gassen der Altstadt.
  Der Botschafter, Herr Erwin Müller, begrüßte seinen Gast und Freund mit der ihm eigenen Jovialität, als habe er erst gestern mit ihm zehn Pfeifen geraucht. Müller war ein blonder, eleganter Mann mit dezenten Playboy-Manieren. Er war stets zur Heiterkeit aufgelegt und immer in Bewegung. Den Oberst kannte er noch aus der Schulzeit her; beide hatten in derselben Klasse das Abitur gemacht, sich dann aber aus den Augen verloren. Der Oberst hatte auf der Bundeswehrhochschule in Münster studiert, Müller war in den diplomatischen Dienst eingetreten.
  „Whisky, Bier oder wat Heeßes?“ fragte der Botschafter launig. Er lachte anlasslos. Obwohl er schon lange den Kinderschuhen entwachsen war, lagen ihm seine ostberliner Wurzeln immer noch auf der Zunge.
   Der Oberst wünschte einen heißen Tee 'ohne'. Er fröstelte. Die Abende konnten  jetzt schon ziemlich kühl werden.
   „Entschuldige, ich bin gleich wieder bei dir“, sagte Müller. „Mein Attache´ hat Urlaub. Hochzeitsvorbereitungen. Er heiratet am Wochenende.“
   „So? Hat er in Deutschland nicht Frau und Kinder?“
   Müller lachte unbeschwert. „Freilich! Nur hier interessiert das niemanden! Und ihn anscheinend auch nicht, hahaha!“ Mit dem breiten, warmen Lächeln eines Mannes, der das richtige Mittel gegen Haarausfall kennt, wies Müller auf einen schwarzen Ledersessel mit erheblichem Renovierungsbedarf. „Friedrich, teurer Freund, setz dich doch!“
   Vielleicht ist es ja das, dachte der Oberst, was ihn für sein 'auswärtiges Amt' auszeichnet: Diese durch nichts zu trübende gute Laune.
   
   Als der Botschafter mit den Getränken zurückkam, stand der Oberst vor einem gut gemeinten, aber dilettantisch ausgeführten Ölgemälde, das an der Wand hinter der Sitzgruppe hing. Es zeigte übertrieben realistisch und in starken Farben die Altstadt von Ghazani. Weizenkorn beugte sich vor. Im Hintergrund sah er etwas, das ihm bekannt vorkam.
   „Das Bild hab´ ich von meinem Vorgänger geerbt“, sagte Müller und stellte die Getränke ab. „Der reinste Kitsch! Ich hätte es schon längst abgehängt, aber das Hauspersonal ist strikt dagegen. Irgendwie hängen die Leute dran. Also ließ ich´s an der Wand.“
   „Sag mal, Erwin, diese Burg hier im Hintergrund, weißt du, wie die heißt?“
   „Sicherlich! Das ist die Festung Charog-Zoda. Wieso interessiert dich die?“
   „Letzte Woche sind fünf meiner Soldaten auf dieser Burg einem Sprengstoffattentat zum Opfer gefallen.“
   „Ach! Dort war das! Ich hab´ schon von dem Unglück gehört. Schreckliche Sache! Was wollten deine Leute denn dort oben?“
   „Sie hatten Befehl, die Festung nach SaI-Kämpfern abzusuchen. Wir hatten einen Tipp bekommen, dass sich dort oben eines ihrer Verstecke befände. Der Tipp war eine Finte. Dabei gerieten sie in einen Hinterhalt.“
   „Wie konnte das denn passieren?“
   „Als meine Leute auf dem Platz vor dem Hotel standen, näherte sich bettelnd ein kleines Mädchen. McGregory, der Truppführer, merkte zu spät, dass die Kleine eine Bombe unter ihrem Hemd trug.“
   „Wie furchtbar!“
 „Diese Terroristen entwickeln immer grauenhaftere Methoden, um Angst und Schrecken zu verbreiten.“
   „Die reinste Landplage“, bemerkte der Botschafter wenig geistreich.
   „Die linke Presse wird mich in der Luft zerreißen, mein Lieber!“, fuhr der Oberst bedrückt fort. „Aber wenn es nur das wäre! Mit jedem getöteten Soldaten wird es unseren Freunden im Bundestag schwerer, das Wort 'Krieg' zu vermeiden und weitere Mittel für Auslandseinsätze der Bundeswehr loszueisen.“
   „Da sagst du was!“
   „Manchmal denke ich, es war doch ein Fehler, das Mandat zu übernehmen. Wir werden diesen Krieg nicht gewinnen. Da können sie in Brüssel oder Berlin noch so vollmundig das Gegenteil behaupten und sich den Mund fusselig reden.“
    Weizenkorn schwieg bedrückt.
   „Nun lass nicht gleich den Kopf hängen! Noch ein Jährchen, und du bist General!“ Müller stutzte. „Sag mal, Friedrich, hat vor dem Attentat vielleicht ein Hahn gekräht?“
   Der Oberst blickte sein Gegenüber erstaunt an. „Ein Hahn? Wie kommst du denn darauf?“
   „Hat er nun oder hat er nicht?“
  „Angeblich ja, zumindest behauptet das einer der Überlebenden. Ich hielt es für ein posttraumatisches Hirngespinst. Aber wo du jetzt auch davon anfängst...“
   Müller schlug sich begeistert auf den Schenkel. „Dann stimmt es also doch, was die Leute hier sagen!“  
   „Was sagen sie denn?“
   „Sie behaupten, dass ein Hahn noch lebt!“
   „Welcher Hahn? Mensch Erwin, lass dir doch nicht jedes Wort einzeln aus der Nase ziehen!“
  „Bisher hielt ich die Geschichte mit den krähenden Hähnen für eine Legende. Doch anscheinend steckt mehr dahinter!“
   „Komische Sache, das mit dem Hahn.“
   „Überhaupt nicht! Hähne spielten nämlich bei der Belagerung der Burg vor sechzig Jahren eine wichtige Rolle!“
  Müller sah Weizenkorns verdutzt-fragendes Gesicht und lachte herzhaft. „Komm, alter Junge, trinken wir erst einmal etwas, und dann erzähle ich dir die Geschichte vom heldenhaften Kampf um die Festung Charog-Zoda.“
   Sie tranken sich zu, der Botschafter verschränkte die Beine, lehnte sich zurück und begann:

   „Vor etwa fünfundsechzig Jahren wollten die Sowjets eine Eisenbahnlinie quer durch das Gebiet der Rhabani bauen. Diese Linie sollte ihnen das Vordringen zu den warmen Fluten des Golfs von Oman und des Persischen Golfs erleichtern. Die Rhabani sind ein turkmenischer Nomadenstamm, die Männer mit abweisenden, undurchdringlichen Gesichtern, die Frauen schlank und hochgewachsen. Im Jahre Achtzehnhunderteinundachtzig waren sie von den Kosaken und Artilleristen des Zaren aus ihren angestammten Weidegebieten in Turkmenistan vertrieben worden. Der Kampf soll übrigens äußerst grausam gewesen sein. Die Überlebenden siedelten sich nach erbarmungslosen Verlusten im Gebiet um Mazar-Sharif am Nordrand des Kohn i Babd an. Um nicht wieder von feindlichen Überfällen überrascht zu werden, bauten sie die Burg Charog-Zoda mit Hilfe der Einwohner, die selbst die Nase von Eroberern aller Art voll hatten, zur Festung aus.
    Als die Rhabani erfuhren, dass die Russen schon wieder im Anmarsch waren, sahen sie rot. Noch zu stark war die Erinnerung an die furchtbare Schlacht bei Gamol-Tekhe, die einst tausenden ihrer Landsleute das Leben gekostet hatte. Sie beschlossen, die Eisenbahn mit allen Mitteln zu verhindern –  oder unterzugehen.
   Obwohl Kenner der Materie die sowjetische Führung warnten, machte die Sowjets den gleichen Fehler wie die Amerikaner hundert Jahre zuvor mit den Sioux am Little Big Horn: Sie unterschätzte auf eine geradezu fahrlässige Weise Kampfbereitschaft und  Widerstandsfähigkeit der Eingeborenen. Immer wieder kam es zu verheerenden Anschlägen auf Bahntrasse und Personal. Das Makabre dabei: Auch wenn es gelang, die Verfolgung der Attentäter aufzunehmen, war es unmöglich, sie zu fassen. Von einem Moment auf den anderen waren sie buchstäblich wie vom Erdboden verschluckt. Nun ja, das waren sie auch wirklich, denn der Untergrund des Geländes ist von uralten Bewässerungskanälen durchzogen wie ein Weizenfeld mit den Gängen von Feldmäusen. Das wussten die Russen natürlich nicht; sie hielten die Gegend für eine mondähnliche Felslandschaft ohne jeden strategischen Wert.  
  Eine Weile sah es so aus, als sollte das Projekt am Widerstand der Rhabani und ihrer Verbündeten scheitern. Doch in Moskau dachte man nicht ans Aufgeben. Das Projekt hatte schon zu viel Material und Geld verschlungen, die Bestechungsgelder an die örtlichen Clanchefs nicht gerechnet. Und Stalin war nicht der Mann, der sich von einem indigenen Zwergvolk einschüchtern ließ. Er brachte ein Expeditionscorps unter Führung des Generals Michail Scholoschow auf den Weg, mit dem Auftrag, unter allen Umständen für Ruhe und Ordnung zu sorgen.
   Inzwischen hatten sich auf der Festung an die tausend Krieger der Rhabani sowie etlicher verfeindeter Milizen, die der gemeinsame Feind an einen Tisch brachte, versammelt.  
  Scholoschow erkannte bald, dass die Festung von unten und mit seiner Infanterie nicht einzunehmen war, zu steil und glatt waren die Felswände. Die einzige Möglichkeit wäre gewesen, einen Aufstieg ins Gebirge zu suchen und von da aus, von hinten, anzugreifen, doch der General war klug genug, dies nicht zu tun. Keiner seiner Leute wäre wahrscheinlich lebend bei der Festung angekommen. Stattdessen begann er eine klassische Belagerung. Er meinte, eine so große Menschenmenge auf zwei Hektar fast vegetationslosem Terrain werde bald zur Kapitulation genötigt sein.
   Doch er irrte sich. Die Belagerung zog sich hin. Statt die weiße Fahne zu hissen, bauten die Belagerten die Festung weiter aus. Die Stimme des Muezzin überschlug sich vor Eifer. Da entdeckten Scholoschows Sappeure eines Tages in einer Felsnische einen halb verschütteten Gang, der tief in den Berg hineinführte. Bald standen sie vor einem Bassin: Sie hatten den Festungsbrunnen entdeckt. Der General zögerte nicht lange und ließ das Bassin zuschütten. Der Wassermangel, kalkulierte er, werde die Rebellen schon zur Aufgabe zwingen.
   Inzwischen fanden immer wieder Anschläge auf die Bahntrasse statt. Man fing zwei Attentäter, doch aus denen war trotz schärfstem Verhör nichts herauszubekommen. Der General ließ den Brunnen mit zwei Tonnen Dynamit auffüllen. Dann gab er sein Ultimatum bekannt.“
   Der Botschafter nahm einen Schluck und lachte herzhaft. „Friedrich, hast du schon einmal eine militärische Nachricht auf ein Bettlaken gemalt?“
   Weizenkorn grinste. „Soweit ich mich erinnern kann, noch nicht. Höchstens auf einen Bierdeckel. Und dann auch nur die Order für weitere Getränke.“  
   „Der Sowjetgeneral tat es. Einen Unterhändler konnte er aus nachvollziehbaren Gründen nicht schicken, und eine fernmündliche Verständigungsmöglichkeit bestand nicht. Also ließ er eine Anzahl Bettlaken zu einer großen Leinwand zusammennähen, sein Ultimatum aufmalen und vor der Festung ausbreiten.
   Der General wartete einen Tag, er wartete zwei Tage, er wartete eine Woche – keine Reaktion. Nach wie vor herrschte auf der Festung geschäftiges Treiben, doch die weiße Fahne blieb aus.
    Scholoschows Geduld war jetzt erschöpft. Via Bettlaken ließ er mitteilen, dass er die Burg am nächsten morgen bei Sonnenaufgang in die Luft sprengen werde.
   Am nächsten morgen um vier Uhr war die gesamte russische Mannschaft auf den Beinen. Das Schauspiel eines feuerspeienden Berges wollte sich niemand entgehen lassen. Doch da – man spitze die Ohren – was war das? Krähten da nicht Hähne? Es war deutlich zu hören, denn der Wind stand günstig, und die Stille drum herum war riesig.“
   Der Oberst blickte den Botschafter amüsiert an. „Emil, erzähl´ mir nichts vom Storch!“
   „Nein, nein, ich flunkere nicht!“, beteuerte Müller schnell. „Die Hähne existierten wirklich!“
   „Na, da bin ich aber gespannt, wie du dein Gespinst zuende bringst! Auf den Mund gefallen bist du ja weiß Gott nicht.“
   „Wo war ich stehen geblieben?“
   „Hmm... warte! Der Wind stand günstig, und die Stille drum herum war riesig.“
  „Ach ja.“
    Müller räusperte sich und fuhr ziemlich pathetisch fort: „Kaum war der Rand der Sonnenscheibe über den kahlen Graten des Kohn i Babd erschienen, da schoss eine Feuersäule in den Morgenhimmel, und Trümmer und Gesteinsbrocken in allen Formaten prasselten donnernd auf den Boden. Fasziniert starrten die Zuschauer auf das makabre Schauspiel, keiner ahnte Böses, der Feind galt schon als besiegt. Plötzlich sahen sich die Sowjets von einer scheinbar endlosen Phalanx nackter Männer umringt, die mit Messern und Säbeln bewaffnet brüllend auf sie los gingen. Die Überraschung war so groß, dass die Angreifer ein ziemliche Anzahl Soldaten buchstäblich in Stücke hauen konnten. Noch unter den Gewehrsalven hieben die Nackedeis verbissen auf die Soldaten ein. Nicht ohne Grund heißt es: Der Turkmene fürchtet nichts außer dem blanken Säbel. Schließlich siegten die Gewehre der Sowjets. Die wenigen überlebenden Rebellen erfroren in den Schluchten des Kohn i Babd, denn es herrschte strenger Frost. Wahrscheinlich haben sie´s noch nicht einmal gemerkt, denn sie hatten sich bis zum Haaransatz mit Opium zugeschüttet.“
   „Und warum waren sie trotz der Kälte... hm... unbekleidet?“
   „Sofort, mein Lieber. Was war geschehen? Als denen auf der Burg klar wurde, dass man schon seit Tagen auf einem Pulverfass saß, das jederzeit in die Luft fliegen konnte, breitete sich Katerstimmung aus. Immer mehr Kämpfer verloren den Mut, einige dachten sogar an Kapitulation. Hinzu kam noch die Sorge, dass die geheimen Versorgungswege über kurz oder lang entdeckt oder verraten wurden, und das wäre dann mit Sicherheit sowieso das Ende gewesen. Doch da hatten sie die Rechnung ohne den Wirt gemacht. Der Wirt hieß in diesem Falle Malik, der Stotterer.
  Dieser Malik war ein bulliger Typ, wie man sich einen baschkirischen Straßenräuber vorstellt: Mit einem Schnurrbart wie ein Straßenbesen und einem Gesichtsausdruck wie Dschingis Khan persönlich. Es hieß, er könne mit einem Säbelhieb einen Ochsen halbieren. Und er war ein gerissener Hund. Weil er sich bei Erregung beim Reden leicht verhaspelte, nannten sie ihn den Stotterer. Diesen Malik wählten die Rebellen nun nach langem Hin und Her zum Anführer auf Zeit – “
  „Die Hähne, Erwin, die Hähne!“
   „Gleich! Der Stotterer ließ sofort große Mengen Opium und fünfzig Kampfhähne kommen. Das Opium ließ er unter die Kämpfer verteilen, die Kampfhähne wurden aufeinander gehetzt. Du kennst diese grausame Art der landesüblichen Unterhaltung.“
   „Üble Sache! Schweinerei! Sollte verboten werden!“ Der Oberst blickte drein, als könne er keiner Fliege auch nur eine Borste krümmen.   
   „Nun ja, manche Leute sind da anderer Ansicht. Sie meinen, die Aggressivität seines Besitzers gehe beim Kampf auf den Hahn über, das Tier führe sozusagen eine Stellvertreterkrieg und sorge so für Ruhe in der Nachbarschaft, hahaha!“ Wieder lachte der Botschafter aus einem geheimen Grund, der seinem Zuhörer verborgen blieb. „Wie dem auch sei, damals erzeugten die blutigen Hahnenkämpfe offensichtlich die gegenteilige Wirkung. Sie versetzten die Kämpfer, die sich bereits im schweren Haschischrausch befanden, in eine geradezu archaisch anmutende Todessehnsucht. Sie zogen sich trotz der klirrenden Winterkälte aus und schmierten sich von oben bis unten mit Fett ein, damit man sie nicht greifen konnte. Dann warteten sie in den unterirdischen Gängen, bis der rechte Zeitpunkt zum Ausfall gekommen war.“
   Der Berichterstatter schwieg.
   „Guter Mann, dieser Stotterer“, grunzte der Oberst nach einer Weile, „hätte es an seiner Stelle wahrscheinlich genau so gemacht... Hm... Und du meinst wirklich, einer von diesen Hähnen lebt noch? Nach fünfundsechzig Jahren? Kann ich mir eigentlich nicht vorstellen.“
   „Na ja, wenn ich ehrlich bin, ich auch nicht. Aber so wird jedenfalls erzählt. Immer wieder hört ein vorbeiziehender Wanderhirte dort oben einen Hahn krähen. Wie gesagt, bisher hielt ich es für folkloristischen Spintuskram. Die Hähne krähen nämlich immer an einem Jahrestag dieser ominösen Schlacht. Weißt du, die Einsamkeit und die absolute Stille dort können einen schon zu halluzinatorischen Wahrnehmung verführen. Aber wo deine Leute jetzt auch... Sag mal, wann war das?“
   „Letzten Dienstag.“
  „Letzten Dienstag... hmm... warte... Das war der... Da haben wir´s! Das war der fünfundsechzigste Jahrestag der Schlacht um die Festung Charog-Zhoda! Und wieder krähte ein Hahn!“
   „Aber du glaubst es nicht wirklich.“
   „Nun ja... Wahrscheinlich war´s ein spätgeborener Hahn.“
 „Nein.“ Der Oberst schüttelte den Kopf. „Der Hahnenschrei kam aus einem batteriebetriebenen Kassettenrekorder! Ich wollte es erst nicht glauben, aber wir haben das Teil sichergestellt! Mit dieser Batterie wurde auch die Bombe gezündet! Wieder stand der Wind günstig, aber die Stille war nicht mehr riesig! Nimm´s mir nicht übel, Emil, einen Moment dachte ich, du hast wirklich an den Hahn geglaubt, so enttäuscht, wie du eben aussahst.“
   Der Botschafter schmunzelte. „Grins du nur! Du musst dir nicht tagtäglich solche Geschichten anhören! Irgendwann glaubst du selber dran! Na gut, le cock est mort, le cock vive! Er lebe! Nun zu dir, mein Bester...“



                                                   *
                                                              
                                                       
  Zwei Tage später in der deutschen Botschaft.
   „Friedrich, was kann ich diesmal für dich tun?“
„Sag mal, Erwin, hättest du hier in der Botschaft noch Platz für eine junge Frau? Es könnte nämlich sein, dass sie sich demnächst in Lebensgefahr befindet.“
   Müller grinste unverschämt. „Hast du vor, die Tochter eines Muftis zu verführen?“
   Weizenkorn winkte ab. „Mach keine faulen Witze! Natürlich nicht! Die Betreffende ist in einer heiklen Mission unterwegs und könnte bald die Rache gewisser Leute auf sich ziehen.“
   „Du musst schon deutlicher werden. Wenn ich jeden, der hier die Rache gewisser Leute zu fürchten hat, unterbringen wollte, müsste ich jedes Jahr anbauen.“                                                       
   Weizenkorn sah ein, dass er auch noch Ross und Reiter nennen musste.
   „Der Hinterhalt, in den meine Leute auf der Burg getappt sind, war von langer Hand vorbereitet. Die Attentäter kannten genau den Tag und die Stunde des Einsatzes und das Einsatzziel.“
   „Du meinst – ein Maulwurf?“
   „Ich fürchte ja. Anders kann ich mir den Vorfall nicht erklären!“
   „Oha! Das ist natürlich ausgesprochen unangenehm! Hm... Nur, was hat das mit der jungen Frau zu tun?“
   „Erklär´ ich dir gleich! Da ist noch etwas Anderes, das mir allmählich den Schlaf raubt.“ Weizenkorn blickte betrübt auf seine Schuhspitzen.
   „Du meinst jemand –“
   „Ja. Es muss jemand aus dem Führungsstab sein, der an den geheimen Dienstbesprechungen teilnimmt. Die Tagesbefehle werden mündlich erteilt und protokolliert. Das Protokoll in Schriftform wandert nach der Sitzung sofort in den Tresor im Bunker. Die Zahlenkombination zum Tresor kennt nur der Commander in Chief und ich. Nichts wird elektronisch gespeichert. Sogar das Mitbringen von Handys ist bei den Besprechungen verboten, denn die können ja heutzutage ohne viel Aufwand mittels einer speziellen Software in ein GMS-Abhörgerät umfunktioniert werden. Nein, nein, da dringt nichts nach draußen. Der Verräter sitzt innen. Gerade das macht mich ja so fertig. Mit einem Verräter an Bord kann man keine Schlacht gewinnen. Und den Krieg schon gar nicht.“
    „Wanzen in der Lampe, unterm Tisch, in der Blumenvase?“
  Der Oberst lachte sardonisch. „Erwin, du siehst anscheinend zu viele  Spionagefilme aus der Mottenkiste. Geh´ mal ins Internet und schau dir an, was es da heute für Möglichkeiten gibt. Die alte gute Wanze hinter der Tapete ist heute passe´. Aber recht hast du trotzdem. Ich werde den Raum noch einmal gründlich absuchen. Man weiß ja nie.“
  „Hast du schon mal an einen Lauschangriff von außen gedacht? Du weißt, die Terroristen verfügen manchmal über die modernste Technik! Mit den neuartigen Geräten hörst du eine Maus in zehn Kilometern Entfernung husten.“
   „Vergiss es! Die Besprechungen finden im so genannten Bunker statt. Die Wände sind siebzig oder achtzig Zentimeter dick, die Fenster bestehen aus abhörsicherem Spezialglas. Da kannst du weder mit Richtmikrofonen noch mit Wandstethoskopen etwas hören. Zusätzlich haben wir den Raum durch ein Drahtgitter im Verputz in einen Faraday´schen Käfig verwandelt, so dass auch eine GPS-Ortung – warum auch immer – unmöglich ist.“
   „Also doch ein Maulwurf. Üble Sache! Hmm... Was sagt Macron dazu?“
   „Der ist genau so erschüttert wie ich.“
   „Traust du ihm?“
   „Das ist es ja eben, was mir allmählich den Schlaf raubt!“ Der Oberst raufte sich  die Haare und murmelte: „Im Grunde kommen nur Macron, Kaldewey und Stephan infrage. Macron gibt nach der gemeinsamen Lagebeurteilung die Befehle, ich nicke sie ab, stelle gegebenenfalls Fragen oder trage Bedenken vor, Kaldewey oder Stephan protokollieren. Da kann nach menschlichem Ermessen nichts nach Außen dringen. Wenn nicht einer von den Dreien...“ Er blickte den Botschafter hilfesuchend an. „Erwin, sag mir, dass ich träume!“
   „Du hast dich vergessen, mein Lieber!“
   Weizenkorn blickte erstaunt auf. „Wie meinst du das?“
   Müller lachte schallend. „Dein Gesicht hättest du gerade sehen sollen! Köstlich! Ich meine, wie ich´s sage. Bist du sicher, dass du in einer schwachen Minute nicht einer deiner Gespielinnen irgendeine Andeutung gemacht hast? Muss ja nichts Konkretes gewesen sein... Eine launige Bemerkung... Was weiß ich?“
   Weizenkorn sprang auf und ging einige Schritte aufgeregt im Raum herum. „Nichts weißt du!“, rief er aufgebracht, „nicht einen Fliegenschiss weißt du! Ich würde mir eher die Zunge abbeißen, als auch nur einen vertraulichen Buchstaben zu verraten!“
   „Aber ganz sicher bist du dir nicht! Sonst würdest du dich hier nicht aufführen wie eine Lore Affen!“
   Der Oberst setzte sich wieder. „Entschuldige! Sieh´s doch mal so: Wenn es zuträfe, was du da gerade angedeutet hast, hätte ich fünf meiner Leute auf dem Gewissen! Keine angenehme Vorstellung, mein Lieber! Ich meine, bei dem Gedanken kann man schon mal ausrasten.“
   „Das wird´s wohl sein! Na ja, aber die Frage nach dem Maulwurf bleibt.“
   „Eben! Jetzt könnte ich erst einmal einen Whisky gebrauchen.“
   „Bitte, bedien´ dich!“
  Der Botschafter lehnte sich zurück und blickte den Oberst amüsiert an. „Und diesen Maulwurf soll nun deine junge Dame fangen.“   
   „Du sagst es! So könnte man es ausdrücken.“ Der Oberst kippte seinen Whisky herunter. „Ahhh, das tut gut!“
   „Wie heißt die Kleine denn?“
 „Sie nennt sich Taifan. Nachname unbekannt. Interessiert mich auch nicht. Wäre wahrscheinlich sowieso falsch. Eine junge Prostituierte, eine von diesen so genannten 'Jungfrauen des siebten Himmels'.“
   „Verstehe. Bist du sicher, dass sie der Aufgabe gewachsen ist? Du weißt, was du ihr da zumutest! Traust du ihr da nicht etwas zu viel zu?“
   „Ein Versuch wär´s wert.“
   „Und wenn sie dabei drauf geht?“
   „Tja.“
   „Ist das nicht ein bisschen zu zynisch?“
   „Schon möglich.“
   „Warum kommst du gerade auf die?“
   „Weil ich meine, sie hat das Zeug dazu, die richtigen Fragen zu stellen, ohne Verdacht zu erregen. Wenn du sie so reden hörst, denkst du, sie kann nicht drei und drei zusammenzählen. Dabei ist sie durchtrieben wie ein gespießter Hammel. Und sie weiß genau, was sie will.“
   „Was will sie denn?“
  „Na was wohl? Sie will sich nach Deutschland absetzen, und ich soll ihr dabei helfen.“
   „Dacht´ ich´s doch! Und sie möchte gerne, dass du dich scheiden lässt und sie heiratest.“
   „So sieht´s aus!“
   „Also das Übliche. Und, möchtest du?“
   „Ich bin doch nicht blöd! Abgesehen davon, dass meine Frau nie einwilligen würde, nach einer Scheidung wäre ich kurz über lang pleite. Nicht wegen solch einem Flittchen!“
   „Du hast also Taifans Ansinnen rundheraus abgelehnt.“
  „Hm...“ Der Oberst druckste ziemlich. „Na ja... Nicht wirklich... Ich ließ die Möglichkeit einer Heirat bestehen... Rein theoretisch, versteht sich.“
   „Nee! Versteht sich nicht! Willst du nun oder willst du nicht?“
   „Hmm... Nun ja... Wie soll ich sagen... Gib dem Vogel Futter, dann singt er für dich.“
   „Friedrich, du bist doch ein verdammt durchtriebener Hund!“
  „Erwin, nun spiel jetzt nicht den Moralapostel! Irgendwie muss ich sie doch ködern! Außerdem befinden wir uns im Krieg, auch wenn es niemand hören will, und im Krieg –“
   „Hast du mit ihr... äh... Verkehr?“
   „Sicherlich! Sie kann einem schon den Kopf verdrehen! Deshalb bin ich ja so überzeugt, dass sie liefern wird. Wenn nicht die, dann keine. Sex und Intelligenz sind eine verteufelt gefährliche Mischung!“
   „Dein Wort in Gottes Gehörgang! So, und ich soll sie nun, wenn sie geliefert hat und am nächsten Tag noch lebt, hier aufnehmen und schützen.“ Müller dachte nach. „Für ein paar Wochen würde das schon gehen, und dir zuliebe vielleicht auch zwei, drei Monate. Aber dann? Wie stellst du dir das vor? Ich muss dem Innenminister Bericht erstatten, und der wird Fragen stellen.“
   „Sag ihm, sie sei politisch verfolgt!“    
 „Mann Gottes, auf welchem Planeten lebst du eigentlich? Sie wollen sofort Beweise haben! Hab´ ich Beweise, du Schlaumeier, he? Wurde sie gefoltert? Wurden Familienangehörige umgebracht? Lebt sie unter ständigen Morddrohungen? Auch wenn ich welche hätte, nützen würde es wenig. Sie würden sie in eine 'sichere Provinz' abschieben, und da käme sie vom Regen in die Traufe... Hat sie denn überhaupt Papiere?“
  „Nun ja, ich dachte, du könntest ihr welche besorgen und ihre Ausreise organisieren! Du bist doch ein Mann mit Verbindungen!“   
   „Hahaha! Da täuschst du dich aber gewaltig, mein Lieber!“ Müller nahm einen kräftigen Schluck. „Was du so denkst! Ich bin eine Marionette am langen Arm des Auswärtigen Amtes, wenn du das mit Verbindungen meinst! Und seit Seehofer Innenminister ist und Herr Maaßen seine rechte Hand, ist die Tür nach Deutschland so gut wie zu! Die Flüchtlinge kommen reihenweise zurück und werden in angeblich sicheren Landesteilen angesiedelt. Nein, nein, Friedrich, das schlag dir mal aus dem Kopf! Wenn ich dir einen Rat geben darf: Steig mit der Kleinen ins Bett und mach da mit ihr, was du willst, aber darüber hinaus lass sie in Ruhe.“
  Der Botschafter benötigte mehrere Anläufe, um sich aus dem ausgesessen Sitzmöbel zu erheben. „Tut mir Leid, Friedrich, in dieser Angelegenheit kann ich nichts für dich tun.“ Er bot dem Oberst, der ebenfalls aufgestanden war, die Hand.
 „Ich fürchte, dass ich sie nicht mehr zurückpfeifen kann“, sagte Weizenkorn kleinlaut. „Anscheinend ist sie bereits aktiv geworden. Heute morgen steckte mir jemand einen Brief unter der Tür durch!“
   „Ach! Hat sie den Verräter schon entlarvt? Das ging aber schnell!“ Müller lachte unbeschwert.
 „Der Brief enthält nur einen Satz in ungelenker Handschrift und fehlerhaftem Englisch: 'Noch ein paar Handgriffe, und der Vogel singt'.“
   „Stammt der Zettel von ihr?“
   „Woher soll ich das wissen? Wir verkehren mündlich, nicht schriftlich!“
   „Ha-ha-ha! Guter Witz! Wenn es etwas Neues gibt, ruf ruhig an!“
    Die Audienz war beendet.

                                          *

   Weizenkorn nahm den Schlüssel aus dem Tresor und begab sich unverzüglich in den Bunker, um den Konferenzraum noch einmal gründlich abzusuchen. Zwar glaubte er nicht an Wanzen, aber manchmal steckt der Teufel tatsächlich in der Blumenvase. Vielleicht hatten die Techniker ja auch etwas übersehen. Nobody is schließlich perfekt. Doch der wirkliche Grund für seinen Aktionismus war der: Er wollte einfach nicht glauben, dass der Verräter ein Mitglied des Stabes war.
  Der Oberst schloss die dicke Stahltür auf und trat ein. Der Bunker war kein wirklicher Bunker mit fensterlosen, meterdicken Stahlbetonwänden und einem winzigen Eingang, sondern ein nicht allzu großer Kellerraum im massiven Basement des Kasernengebäudes, den man, wie gesagt, abhörsicher gemacht hatte. Jedoch, wie der Oberst fast hoffte, nicht gründlich genug.
 Durch die drei schmalen Fenster kurz unter der Decke drang mattes Tageslicht. Bis auf ein Waschbecken, den Tisch mit den Tischlampen, die Stühle und ein paar notwendige Kleinigkeiten war der Raum fast kahl. Die Wände waren glatt verputzt, der Boden bestand aus nacktem Beton. Eine Deckenleuchte gab es nicht.
   Der Oberst musterte eingehend Boden, Wände, Decke. Er kam zu dem Schluss: Unmöglich. Er hielt es für unmöglich, an diesen glatten Flächen ein Abhörgerät, sei es noch so winzig, zu verbergen. Er untersuchte die Tischlampen, das Waschbecken. Er blickte unter den Tisch. Der Gründlichkeit halber drehte er die Metallstühle um.
   Wie zu erwarten war: Nichts. Wie sollte auch. Der Raum wurde vor jeder Sitzung sorgfältig abgesucht, denn einmal in der Woche betätigte sich hier eine externe Reinigungsfirma. Sie wurde von einem Wachmann des internen Sicherheitsdienstes 'bei der Arbeit' beobachtet. Trotzdem, sag niemals nie!
   Weizenkorn setzte sich deprimiert auf einen dieser unbequemen Stühle und dachte nach. Also doch. Nur wer? Macron selbst? Nun ja, er kannte den General nicht gut genug, um für ihn die Hand ins Feuer zu legen. Andrerseits: Warum sollte er seine eigene Truppe verraten? Für Geld? Unwahrscheinlich. Weil er im Dienste einer feindlichen Macht stand? Das konnte ja nur eine islamfreundliche Macht sein. Noch unwahrscheinlicher. Nicht Macron, der bekennende Katholik! Außerdem war er zu sehr den Freuden des Lebens zugetan, um sich unnötig auf gefährliches Glatteis zu begeben.  Eine undichte Stelle in seinem Büro? Schon möglich.
   Weizenkorn nahm sich vor, dieser Möglichkeit weiter nachzugehen.
   Dann da waren  noch Kaldewey und Stephan.
   Hmm... Kaldewey, grübelte der Oberst weiter, irgendwie undurchsichtig, der Typ. Unsympathischer Kerl. Führt sich auf, als sei er schon mit dem Marschallstab im Hintern geboren worden. Aber Verrat? Schwer vorstellbar. Ein aufrechter Soldat noch beim Pinkeln. Dann schon eher Stephan, dieser karrieregeile Arschkriecher. Scharwenzelt ständig um mich herum, um nur ja keinen Auftrag zu verpassen...
   Der Oberst blickte zufällig auf die weiße Reihensteckdose unter dem Tisch. Die Steckerleiste sah er zum ersten Mal. Er war sich nicht sicher, ob er sie zum ersten Mal sah, weil sie neu war, oder weil er sie bisher einfach nicht beachtet hatte. Welcher viel beschäftigte Mann achtet schon auf eine weiße Gruppensteckdose?
  Doch irgendwie ließ ihn das Ding nicht los. Es sah einfach zu unschuldig aus. Weizenkorn ließ sich auf die Knie nieder, kroch unter den Tisch und knipste den  Sicherheitsschalter an. Der Schalter leuchtete rot auf. Jetzt kam ihm die Steckerleiste nicht mehr unschuldig vor, eher, als wolle sie ihm mitteilen: Rühr´ mich nicht an, ich stehe unter Strom. Er überlegte. Wenn es heutzutage möglich ist, sogar einen harmlosen Wasserkocher in eine Abhöranlage umzufunktionieren, warum nicht gar eine mobile Steckdose? Vorausgesetzt natürlich, die Geräte sind ans öffentliche Stromnetz angeschlossen.
   Er knipste den Schalter wieder aus, zog die Stecker heraus und betrachtete das Ding von allen Seiten. Auf den ersten Blick war nichts Auffälliges zu erkennen. Allerdings kam ihm die Schmalseite gegenüber der Schalterseite auffällig lang vor. Nun war der Oberst kein Experte in Steckerleisten. Ehrlich gesagt, es war das erste Mal, dass er sich mit so einem trivial-alltäglichen Gegenstand überhaupt beschäftigte. Also nahm er an, es müsse so sein. Mit der Steckerleiste in der Hand kroch er wieder unter dem Tisch hervor und trat unter eines der Oberlichter, um besser sehen zu können. Auch die Unterseite sah völlig harmlos aus. Die Bodenplatte war mit vier winzigen Schrauben fugenlos befestigt. Unter einem Label mit exotischen Schriftzeichen stand made in China.

   „Herr Sedlmeyer“, sagte der Oberst zehn Minuten später, „können Sie bitte mal diese Steckdosenleiste aufschrauben?“
  Hauptfeldwebel Sedlmeyer, in seinem früheren Leben gelernter Elektroniker, kramte eine Weile herum. Dann fand er endlich ein passendes Imbusschlüsselchen. Er entfernte die Bodenplatte und stieß einen Überraschungsruf aus. „Oha! Ja, wos is denn dös?“ Er zog einen kleinen Chip heraus. „Do schau her! Aan SIM-Korten! Und hier!“
  In dem Ende, das dem Oberst ungewöhnlich lang vorgekommen war, steckte eine Wanze.
  Hauptfeldwebel Kim-Joseph Stadelmeier war ein oberbayrisches Urviech wie aus dem Bilderbuch. In einer schwabinger Eckkneipe hätte er sich gut und gerne als letzten Neandertaler für Eintrittsgeld präsentieren können. Über einer wüst-ausladenden Mundpartie mit einem handfegergroßem rabenschwarzem Schnurrbart stach eine pockennarbige Nase in die verqualsterte Luft der Werkstatt. Sein struppiges Borsthaar war geeignet, jeden Igel vor Neid erblassen zu lassen, vorausgesetzt, Igel zeigten überhaupt eine Tendenz zum Neid. Wer ihm in die Augen sah, konnte allerdings feststellen: Neandertaler müssen gutmütige Leute gewesen sein.   
   „Wie funktioniert so etwas?“, fragte der Oberst voller Genugtuung.
   „Schauen S´, Herr Oberst: Dös Teil hier is a Zwei-Bit-Parallölumsetzter mit Code-Umsetzung, auch A/D-Schalter g´nannt. Die eingebauten Komparratorren ermitteln den so genannten Summencode, die Und-Gatter setzen ihn in oan 1- aus -n -Code um, woraus die Oder-Gatter den gewünschten Binärrcode errzeugen. Host mi?“
   „Sehr aufschlussreich, Sedlmeyer, sehr aufschlussreich! Doch das meine ich nicht. Mich interessiert vielmehr, wie man damit in ein völlig abgeschirmtes Umfeld eindringen kann.“
  „Wie aan Hockerangriff auf ainen Computer. Dös Abhörmodul kann von außen aktiviert werrden, vorrausgesetzt, die Steckerleiste ist mit dem Stromnetz verbunden.“
   „Auch wenn die Steckerleiste ausgeschaltet ist?“
   „Ja mei, auch dann. Sehen S´: Diese Leitung hier ist ein Überbrrückungskoabel, das den Niedervolt-Transforrmator an Schalter und Steckerbuchsen vorbei mit dem Stromnetz verbündet.“
   „Ziemlich raffiniert, finde ich.“
   „Ganz und gar nicht! Das hier ist aan umgebautes Baibyfohn aus Kina. Die SIM-Korten diente ursprrünglich dazu, einen externen Telefonkontakt herzustellen, sowie im Zielraum Geräusche laut werden.“
   „Und wo bekommt man so ein Teil her?“
   „Ja mei! Können Se hier bei jedem verlausten Strraßenhändler kaufen.“

  Der Oberst verließ die Werkstatt mit gemischten Gefühlen. Einerseits war er natürlich froh, dass sich sein Verdacht in Luft aufgelöst hatte. Insgeheim schämte er sich sogar etwas, so niederträchtig von seinen Kollegen gedacht zu haben. Deshalb nahm sich vor, als kleine Wiedergutmachung demnächst besonders freundlich zu ihnen zu sein.
   Andererseits – das Maulwurf-Problem war nach wie vor ungelöst. Es war nur in weitere Ferne gerückt. Wer hatte die unseelige Steckerstange dort angebracht? Es konnte eigentlich nur jemand von der Reinigungsfirma gewesen sein. Oder der Verräter hatte sich, als Monteur verkleidet, während einer Reinigungsaktion dort eingeschlichen. Oder der geheimnisvolle Jemand besaß einen Nachschlüssel für das Sicherheitsschloss. Oder Jemand hatte die Steckerleiste in gutem Glauben angebracht, weil die alte defekt gewesen war. Schließlich war dem Teil von außen nichts anzusehen.
    Oder... oder... oder...
  Weizenkorn schloss für einen Moment die Augen. Da kam ein Haufen ärgerliche Arbeit auf ihn zu. Den Behörden vor Ort traute er nicht von Wand bis Tapete. Also würde er sich wieder einmal selbst auf die Socken machen müssen.
   Inzwischen war er in seinem Büro angekommen. Bevor er zum Telefonhörer griff, um den General zu verständigen, kippte er zur Beruhigung der Nerven erst einmal einen strammen Whisky. Und schon sah die Welt anders aus. Nicht nur weniger bedrohlich, sondern geradezu sympathisch. „Ich werde gar nichts unternehmen“, murmelte er beglückt und goss sich erneut ein, „warum auch? Der Fehler ist erkannt, die Gefahr somit gebannt.“ Er nahm sich vor, in Zukunft noch wachsamer zu sein als bisher.
   Er öffnete die Tür einen Spalt, steckte den Kopf durch und rief einem der Vorzimmer-Uffze zu: „Herr Schlüter, wären Sie einmal so freundlich, den Herrn Stephan in mein Büro zu bitten?“
Die Tür schloss sich wieder.
   Herr Schlüter blickte seinen Kollegen, Unteroffizier Heimeran, amüsiert an. „Was ist denn mit dem los?“, sächselte er.

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nicolailevin
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Beitrag26.02.2019 19:36

von nicolailevin
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Liebe Wunderkerze

dafür ist so ein Forum doch da - wenn du dereinst den Literaturpreis der Stadt Grevenbroich-Wevelinghoven bekommen hast, darfst du mich in der Dankesrede gern freundlich erwähnen ...

Der Ort der Handlung ist also _nicht_ Afghanistan, sondern ein verfremdetes Phantasieland, das A. nahekommt. Wunderbar! Das macht doch vieles einfacher, da du auf diese Art einige Störpunkte sehr elegant beseitigen kannst.

Gleich zum Starten würde ich freilich dem Leser die Verfremdung deutlich machen; etwa indem du von Anfang an Elemente aus Iran, Pakistan oder Indien dazunimmst. Lass doch die Geschichte in einer belebten westlich orientierten Hafenstadt beginnen (z.B. Karachi nachempfunden) - da kannst du Nachtleben und Schwüle bringen (ohne dass das so deplatziert wirkt wie im ländlichen Afghanistan) und deine Figuren wunderbar einführen: Wie wäre es etwa, wenn gleich zu Anfang Weber mit dem Auto voll frisch gebunkerter Medizingüter den total verkaterten Schönberg aus einer Hafenspelunke / einem Hafenbordell abholt? Dann könnten sie erstmal durch eine fruchtbare liebliche Landschaft voller Obsthaine, Seen und Flüsse fahren (à la Kaschmir) und anschließend über irgendeinen Pass in die karge Hochebene gelangen, die dann wie Afghanistan aussieht.

Auch der Oberst wär in der Hafenmetropole zu Beginn gut aufgehoben aus meiner Sicht: Der beginnt mit einem wichtigen Meeting mit irgendwelchen Armeeheinis und lässt sich von dort in seine Garnison hubschraubern.

Wenn das Land letzlich ein fiktives ist, heißt das für mich um so mehr, dass du die Hintergrundfakten dramatisch ausdünnen solltest! Niemand braucht seitenweise Landeskunde von Lampukistan ...

Und dabei würde ich die Gelegenheit beim Schopfe packen und beschließen, dass Englisch aus Kolonialzeiten die allgemeine Verkehrs- und Handelssprache ist. Jeder kann Englisch, und im Zweifel reden alle Englisch, die nicht Deutsch sprechen und du bist deine babylonische Pashtu-Dari-Urdu-Farsi-sonstwas-Verwirrung los ...
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wunderkerze
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W
Beitrag28.02.2019 12:23
Die Flucht
von wunderkerze
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Die Flucht

1
   Der Doktor blickte auf seine Armbanduhr. Halb drei. Trotzdem verspürte er keine Müdigkeit. Wenn es sein musste, würde er noch zehn Stunden weiter operieren. Stress im Beruf war er gewohnt.
  Weber hingegen waren schon mehrmals die Augen zugefallen, und der kleine Sanitäter lag seit einiger Zeit friedlich schlummernd im Lazarett: Als ihm das erste abgesägte Bein in die Arme fiel, war er ohnmächtig geworden. Der Sanitäter mit der Hasenscharte ruhte sich aus, er sollte um sechs Uhr zusammen mit dem Kleinen die Wache übernehmen.
 Zwischendurch war ein paarmal der Dicke erschienen, angeblich, um Wünsche entgegenzunehmen. Er machte sogar den schwachen Versuch, humorvoll zu wirken. Sein Gesicht allerdings sah nicht nach Gefälligkeit aus, eher nach Rache und Mord. Als er zum dritten Mal erschien, warf ihn Schönberg mit der bissigen Bemerkung, er brauche keinen Kurschatten, hinaus.
   Endlich waren alle Patienten so gut es ging versorgt. Der Doktor trug dem Kleinen, der wieder zur Besinnung gekommen und ansprechbar war auf, ihn um zehn Uhr zu wecken. Er warf einen letzten Blick durch die Krankenstation, dann begaben sich er und Weber zur Ruhe.
   Nach zwei Stunden wachte Schönberg schon wieder auf.
  Irgend etwas kitzelte ihn in der Nase.
   Er schnupperte. Brandgeruch!
   Er benötigte eine ganze Weile, um festzustellen, dass es nicht der gewohnte Geruch brennenden Holzes war, der ihn geweckt hatte. Da in mehreren Höhlen Tag und Nacht Holzfeuer brannten, war dieser Geruch allgegenwärtig und kein Grund zum Aufwachen. Doch dieser Geruch jetzt war ein anderer.
   Plötzlich kam er ihm bekannt vor.
   Es war der scharfe Geruch schwelender Kuhfladen, wie er zuweilen in abgelegenen Dörfern von den Herdfeuern aufstieg, jetzt allerdings stark abgeschwächt.
   Auf einmal war der Doktor hellwach.
  Das nächste Dorf weit und breit lag etwa zehn Kilometer von diesem Bergrücken entfernt. Es war das Dorf, in dem ihn die junge Frau bei der Durchfahrt angelacht hatte. War nicht sogar über dem Haus ein dünner Rauchfaden aufgestiegen? Genau erinnern konnte er sich nicht. Wahrscheinlich war jetzt der Wunsch Vater des Gedankens. Wie dem auch sei: Das Höhlensystem Ausläufer bis in die Nähe eines dieser Dörfer haben!
  Der Doktor sprang von der Matratze und knipste das Licht an. Sorgfältig suchte die Wände seiner Wohnhöhle ab. Doch da war weder eine Öffnung, noch ein Spalt, noch ein Riss, durch den der Geruch hätte hereinwehen können. Auch die Decke wölbte sich makellos im fahlen Schein der Glühbirne.
   Schönberg öffnete das Gatter und hielt die Nase in den Gang. Der Luftzug kam eindeutig nicht von der bekannten Eingangsseite, sondern vom anderen, unbekannten Ende des Höhlensystems.
   Er betrat den Gang und ging langsam in die entsprechende Richtung. Dabei kam er am Lazarett vorbei. Bis hierher hätte er sich gut herausreden können, wenn er zufällig einem der Aufpasser in die Arme gelaufen wäre. Doch jetzt betrat er verbotenes Gelände. Würde ihn hier jemand erwischen, käme er sofort in gefährliche Erklärungsnot.
   Er lauschte angestrengt.
  Alles war ruhig. Vorsichtig ging er weiter. Schließlich kam er nur noch tastend voran, denn die letzte Glühbirne hing vor der Tür zum Lazarett, und der Gang zog sich endlos dahin. Allmählich wurde er schmaler und nahm schließlich die Gestalt eines sich nach oben verbreiternden Keils an. Bald war es so dunkel, dass Schönberg die Wand nicht bemerkte und mit der Nase dagegen stieß. Der Gang war anscheinend zuende.
   Er rieb sich die Nase und fluchte. Aus der Traum!
   Doch da war wieder dieser Luftzug mit dem Geruch. Also musste hier irgendwo eine Öffnung sein.
   Sorgfältig tastete er die vermeintliche Wand ab. Siehe da, eine Öffnung, ein Spalt.
  Er rief hinein und hörte am hallenden Echo, dass hinter dem Spalt ein großer Hohlraum liegen musste, eine weitere, unbekannte Höhle, wenn nicht sogar ein ganzes Höhlensystem. Auf den Zehenspitzen stehend stellte er fest, dass der Spalt nach oben breiter wurde. Er griff in den Spalt hinein und tastete seine Ränder ab. Es erwies sich, dass die Wand ziemlich dünn war, und dass man sie mit einem Hammer oder einem anderen schweren Gegenstand leicht einschlagen und erweitern konnte. Der Luftzug mit dem Brandgeruch war jetzt ganz deutlich zu spüren.
   Der Doktor grinste zufrieden.
   Da lag möglicherweise ein Fluchtweg vor ihm! Es kam jetzt darauf an, kühlen Kopf zu bewahren und keine unüberlegten Schritte zu tun. Niemand von seinen Bewachern durfte auch nur den leisesten Verdacht schöpfen. Er war sich aber auch im Klaren darüber, dass der schwerste Teil der Arbeit noch vor ihm lag: Das weiterführende Höhlensystem musste unbemerkt erkundet werden.
   Schönberg kehrte ermuntert um. Vor der Wohnhöhle seines 'Weberknechts' machte er halt, um ihm die frohe Botschaft mitzuteilen. Doch der schnarchte gottserbärmlich. Er ließ ihn schnarchen, legte sich wieder auf seine Matratze, schloss die Augen und dachte nach. Das wäre eine Möglichkeit, murmelte er, so weit ich sehe die einzig mögliche Möglichkeit...
   Schließlich fielen ihm die Augen zu.
   ...
   Der Kleine erschien, um ihn zu wecken.

                                                                  2
   Am frühen Morgen waren neue Verwundete hereingetragen worden. Anscheinend war die Terrormiliz in schwere Gefechte verwickelt. Der Doktor und seine Helfer arbeiteten wie die Berserker. Rawshad Khan erschien einmal, blickte sich kurz um und suchte angesichts des Grauens schnell das Weite. Die anstrengende Tätigkeit verhinderte, dass der Gedanke an Flucht konkrete Gestalt annehmen konnte. Doch er hatte sich bereits in Schönbergs Gehirn eingenistet und besetzte immer größere Denkfelder.
  
   Am späten Nachmittag saßen Schönberg und sein Knecht erschöpft zu Tisch.  Weber kaute lustlos an dem obligatorischen Pilaw herum, das ihnen der schwitzende Küchenkrieger serviert hatte – viel matschiger Reis mit lappigen Tomaten, halb verkohlten Zwiebeln und zähem Hammelfleisch.
   „Von al dente halten die hier nicht viel“, nörgelte er.
   „Es besteht doch eine Möglichkeit, zumindest theoretisch“, murmelte der Doktor gedankenverloren.
   „Für al dente?“, fragte Weber überrascht.
   „Quatsch!“
   „Ja was meinst du denn?“, insistierte Weber kauend und ziemlich ruppig.
  „Mann, nicht so laut!“ Der Doktor blickte sich spähend um. „Hier schleichen ständig Aufpasser herum. Vielleicht versteht ja einer von diesen Typen deutsch. Du weißt, der Dicke hasst mich und sucht nach einem Grund, mich abzuknallen.“
   Sie saßen in der Küchenhöhle, einem hohen, langgestreckten Gewölbe, in dem ein starkes Feuer brannte. Rauch und Küchenschwaden zogen durch einen natürlichen Kamin in der Höhlendecke ab. Anscheinend war das Feuerholz diesmal nicht ganz trocken, denn es qualmte entsetzlich. An einem dicken Querbalken hing an Ketten eine riesige Pfanne, aus der es brutzelte und dampfte. In einem schwarzen Eisentopf von der Größe eines Kleinwagens brodelte es. Zwei Küchenbullen sprangen wie die Feuerteufel herum und versuchten, diese infernalische Küchenhölle in Gang zu halten. Feste Essenszeiten gab es nicht. Gegessen wurde zu allen Tages- und Nachtzeiten. Es war ein ständiges Kommen und Gehen. Gegenwärtig roch es nach angekohltem Hammelfleisch, zu stark gerösteten Zwiebeln und verbranntem Fett.
  Die Tische waren jetzt kaum belegt.
  Der Doktor rümpfte angewidert die Nase. Sehnsüchtig dachte er an die Wohlgerüche der Persischen Küche, wie sie in Ghazani so verlockend durch die Gassen wehten. Dies hier kam ihm wie der Gestank einer Teufelsküche vor.
    „Ich habe letzte Nacht wahrscheinlich einen Fluchtweg entdeckt“, fuhr Schönberg flüsternd fort.
   Weber ließ das Besteck fallen. „Bist du sicher?“
   „Noch nicht, aber möglicherweise bald! Um sicher zu sein, muss ich das Terrain noch weiter erkunden. Das wird nicht einfach sein.“
   „Hast du schon eine Ahnung, wie du das anstellen willst? Wir werden doch rund um die Uhr überwacht! Wie willst du unbemerkt an den Wächtern am Höhleneingang vorbei kommen? Die Idee einer Flucht hatte ich auch schon, aber sie ist mir aus diesem Grunde zu hypothetisch.“
   „Nicht so schnell, mein Freund! Hör´ erst mal zu, eh´ du die Flinte ins Korn wirfst! Während du heute Nacht wie ein besoffenes Walross schnarchtest, habe ich einen Ausflug in den Höhlenbereich hinter dem Lazarett unternommen. Einen Fluchtweg gibt einem der Herr nämlich nicht im Schlafe! Entschuldige, war nicht so gemeint. Du wirst es nicht glauben, aber da hinten geht´s noch weiter!“
   „Ach! Und wohin?“
   „Tja, wenn ich das wüsste! Aber ich habe eine starke Vermutung. Ist dir eigentlich schon dieser seltsame Geruch aufgefallen, der seit gestern Nacht in der Luft liegt?“
   „Du meinst diesen ständigen Brandgeruch? Sicherlich, der kommt wohl von dem Herdfeuer da.“
   „Nein, nein, der Geruch, den ich meine, riecht anders.“
   „So? Wonach riecht er denn?“
   „Nach schwelendem Kuhdung.“
  „Nach schwelendem Kuhdung?“ Weber sah den Doktor verblüfft an. „Na wenn schon! Ich sehe im Moment nicht, was das mit einer möglichen Flucht zu tun haben könnte! Du kommst auf Ideen!“
   Der Doktor würgte ein Stück Hammelfleisch hervor, das ihm in die falsche Kehle geraten war. Er räusperte sich gründlich, dann fuhr er geheimnistuerisch fort: „Unter uns gesagt, ich war immer ein guter, aber kein begeisterter Schüler. Besonders solche Sprüche wie: Non scholae, des vitae discimus, nicht für die Schule, sondern für das Leben lernen wir, waren mir von Herzen verhasst. So ein Blödsinn, dachte ich, was kann mir denn der verknöcherte Erdkundepauker Specht, der uns stundenlang zutextete, fürs Leben schon groß beibringen! Der wirkte auf mich nicht, als wüsste er  immer, wo die Toilette ist. Sein Geschwafel ging den meisten im Kurs sowieso am Arsch vorbei, sie interessierten sich mehr Carmens Oberweite oder die Aussicht auf einen One-Night-Stand mit Holger. Seit heute morgen...“
   Aus einer der Nebenhöhlen erklang lautes Gezeter. Eine der zum Küchendienst gepressten Frauen hatte wohl etwas falsch gemacht. Zwei bärtige Krieger redeten wild gestikulierend auf sie ein. Andere Frauen mischten sich ein, das Spektakel schwoll immer mehr an. Ein scharfer Befehl aus dem Hintergrund schaffte wieder Ruhe.
   „Hartmut, komm zur Sache!“   
   „Seit heute morgen jedoch weiß ich: Der Spruch stimmt, und zwar buchstäblich. Ich erinnerte mich nämlich wieder, dass Specht einmal von einem uralten Bewässerungssystem sprach, das hier in dieser Gegend verbreitet war. Es geschah wohl in einer der seltenen Erdkundestunden, in der ich aus irgend einem Grunde mal aufpasste.“ Schönberg grinste schelmisch. „Von einem Quellhorizont am Gebirgsrand ausgehend, dozierte Specht, gruben die Leute auf leicht abschüssigem Terrain mühsam viele Kilometer lange unterirdische Kanäle, so genannte Qanate, aus denen dann das Wasser auf die Felder gepumpt wurde. Alle paar Kilometer wurde der Aushub nach oben geschaufelt. Wir fiel es wie Schuppen von den Augen: Das sind die Erdhaufen, die man ab und zu draußen im Gelände noch sieht.“
   „Verstehe! Wasser ist hier reichlich vorhanden, und auch das Gefälle des Vorlandes passt.“ Weber stieß verhalten auf. Dieses lieblos zubereitete Essen bereitete ihm Schwierigkeiten. „Aber warum riechen wir den Geruch erst jetzt? Wir sind doch schon eine halbe Ewigkeit hier! Hat dir der olle Specht das auch erklärt?“
   „Nein, aber ich denke, es liegt am Luftdruck. Er steigt gerade und drückt den Qualm in die Kanäle hinein.“
  Weber betrachtete stirnrunzelnd den dünnen Wasserstrahl, der aus einem Spalt in der Wand hervorsprudelte und einen geräumigen Kupferkessel – das 'Waschbecken' – füllte. „Du meinst, die Banditen benutzen diese alten – wie sagtest du – Qanate, um unerkannt von A nach B zu gelangen?“
   „Und von B nach A, ja. Dann erklärt sich auch, wieso sie plötzlich aus dem Nichts auftauchen und im nächsten Moment wie vom Erdboden verschluckt sind.“
   „Ich hab´ mich auch schon gewundert, warum sie ihre Verwundeten nie vom Höhleneingang her hereinbringen.“
   „Eben!“
   „Hmm... Interessante Überlegung.“ Weber kratzte sich das Kinn und beugte sich vor. „Wie willst du jetzt vorgehen?“, fragte er flüsternd.
   „Mit Bedacht und ohne Eile! Die Flucht muss gut vorbereitet sein, denn wir haben nur einen –“
 Schönberg unterbrach sich und starrte entgeistert auf das andere Ende der langgestreckten Höhle. „Was bin ich doch für ein Idiot!“, zischte er und schlug sich mit der flachen Hand mehrmals kräftig gegen die Stirn. „Ich hätte es wissen müssen!“
   „Was hättest du –“
   „Kein Wort mehr! Nimm deinen Teller und komm!“
   Der Doktor nahm Besteck und Teller und verließ den Tisch. Weber ergriff seine Sachen und folgte ihm völlig verdutzt. An einem Tisch etwa fünfzehn Schritte weiter gegen die Höhlenmitte nahmen sie wieder Platz.
   „Sag mal, was soll das? Noch nicht einmal in Ruhe essen lässt du einen!“, zischte Weber verärgert.
   „Jetzt weiß ich, was es mit dieser Speisehöhle auf sich hat,“, murmelte Schönberg kryptisch, bevor Weber weitermeckern konnte. „Sie birgt ein Geheimnis!“
   „Du kannst mich mal! Lass mich gefälligst in Ruhe! Sonst kannst du in Zukunft alleine essen.“
   „Schau dir diese Höhle mal etwas genauer an! Fällt dir da nichts auf?“
   Weber blickte sich widerwillig um. „Beim Sheitan, nein! Eine Höhle ist eine Höhle und bleibt eine Höhle, auch wenn man noch so genau hinsieht.“
  „Mir ist es schon beim ersten Mal, als wir die Höhle betraten, aufgefallen“, sagte Schönberg, ohne auf Webers Ruhebedürfnis einzugehen. „Aber damals war mir die Bedeutung dieser Beobachtung nicht klar.“
   „Und jetzt ist sie dir klar.“
   „Allerdings, und nicht nur das!“
   „Na gut, du Nervensäge! Schieß schon los!“  
   „Diese Höhle hat die Form einer Ellipse. Als ich eben über den ollen Specht sprach und über meine Schulzeit, dachte mein Unterbewusstsein selbstständig weiter und erinnerte mich jetzt an etwas aus dem Mathematikunterricht, das ich vergessen hatte, weil es in meinem bisherigen Leben ohne Bedeutung war. Nämlich an die Tatsache, dass eine Ellipse zwei Mittelpunkte hat.“
   „Hartmut, du nervst!“
 „In einem Gewölbe mit ellipsenförmigen Grundriss herrscht eine besondere, verräterische Akustik. Die physikalischen Hintergründe kann ich dir jetzt aus der la main nicht erklären, aber es hängt mit den zwei Mittelpunkten zusammen. Es ist so: Wenn sich jemand in dem einem Mittelpunkt befindet, kann er genau hören, was im anderen Mittelpunkt geflüstert wird, egal, wie groß der Abstand ist.“
  Weber schnalzte mit der Zunge. „Tatsächlich? Tss...tss... Darauf muss erst mal einer kommen!“
   „Ich wurde auch nicht hellhörig, als der Dicke darauf bestand, dass wir unbedingt an dem Tisch da vorne essen sollten. Jetzt ist mir klar, was der Schleimscheißer damit   bezweckte!“
   „Er wollte uns belauschen!“
   „Doch nicht er, du Dummchen! Seine Sklaven!“
   „Ah ja! Vielleicht sogar der lustige Jupp aus Köln und der – “
   „Mit Sicherheit der eine oder andere Kämpfer! Es gibt noch Deutsche hier, nicht nur deine beiden Komiker. Ein dieser dieser Burschen, das hat er mir vorgestern von der Bahre herunter selber gesagt, stammt aus dem arnsberger Wald.“
   „Wo liegt denn das?“
   „Ist doch jetzt völlig unwichtig.“
    „Verstehe! Hoffentlich hat bisher niemand mitgehört.“
   „Hoffentlich! Wahrscheinlich haben wir wieder mal Glück gehabt! So weit ich sehen konnte, saß in der letzten Zeit da kaum jemand. Möglicherweise ist ihnen das Höhlengeheimnis sogar unbekannt, und die Platzzuweisung war Zufall. Wir werden ja sehen. Wenn sie uns wieder den Tisch da vorne zuweisen, wissen wir Bescheid. Wichtig ist, dass sie nicht ahnen, was wir jetzt wissen.“
   „Wenn ich daran denke, was wir hier schon alles beredet haben, wird mir schlecht.“    
   Beide wandten sich wieder ihren Tellern zu. Schließlich sagte Schönberg: „Übrigens, um deiner Allgemeinbildung etwas aufzuhelfen“ – er grinste auf seine schelmische Art – „im Mittelalter wurden nach diesem Schema gerne unterirdische Kirchen- und Klostergewölbe gebaut. Man lud den Betreffenden zum Essen ein, plauderte harmlos, stellte ein paar Fangfragen, der denkt, hier hört ja keiner mit, hier kannst du schon mal ein scharfes Wort riskieren – und schon ging´s ab in die Eiserne Jungfrau!“  
   „Was ist das denn nun wieder?“
   „Die Eiserne Jungfrau? Der arme Sünder wurde bis zum Hals in eine mit Wasser gefüllte Eisentonne gesteckt, dann wurde darunter ein Feuer entfacht, und nach einiger Zeit – “
   „Hör bloß auf damit! Erzähl mir lieber von deinen Fluchtplänen!“
   Der Doktor dachte eine Weile nach. „Zunächst werde ich, sowie es sich machen lässt, das Höhlensystem hinter dem Lazarett erst einmal gründlich erforschen. Wenn meine Vermutung stimmt, muss es dahinten irgendwo eine Verbindung zur Außenwelt geben, wahrscheinlich in Form eines oder mehrerer Qanate. Dann muss ich feststellen, ob sich darin Kämpfer aufhalten. Ich brauch´ dir nicht erzählen, was passiert, wenn wir den falschen Kanal erwischen und ihnen in die Arme laufen. All das dauert, und es darf auf keinen Fall auffallen. Ich hoffe, die Kämpfe sind bald vorbei und ich habe mehr Zeit. Dann werden wir weitersehen... Was grinst du so?“
   „Und das Dämchen kommt natürlich mit.“
   „Natürlich kommt das 'Dämchen' mit, alter Freund!“, brauste der Doktor auf. Er hatte sich aber sofort wieder in der Gewalt. „Aber sicher doch! Oder hast du wirklich geglaubt, ich lasse sie hier in den Fängen dieser Vergewaltiger zurück?“
   „Reg´ dich nicht auf! War nicht so gemeint! Nur... Wie willst du überhaupt an sie herankommen? Wahrscheinlich haben sie die Dame irgendwo in diesen verwinkelten Katakomben halbwegs komfortabel weggesperrt, und weißt du wo?
   „Hör bitte auf zu unken! Irgendetwas wird mir schon einfallen. Wenn´s darauf ankommt, ist mir immer noch rechtzeitig was eingefallen.“
   „Ich unke nicht, ich bin nur skeptisch! Frauen sind bei solchen waghalsigen Unternehmungen doch eher ein Klotz am Bein.“
   „Rede keinen Unsinn. Das Risiko liegt ganz woanders. Ich rechne –“ Schönberg unterbrach sich. „Du da, komm mal her!“, rief er laut.
   Schon seit einiger Zeit hatte er einen Kämpfer beobachtet, der sich an den Nachbartischen zu schaffen machte. Er konnte nicht glauben, dass es dem Kerl wirklich um die Reinigung der roh gezimmerten Tische ging. Tatsächlich, der Mann hatte gelauscht, denn er machte ein verlegenes Gesicht. Es war Ahmud, der Aufpasser, den ein Leberhaken Schönbergs matt gesetzt hatte.
   „Was suchst du hier?“, herrschte ihn der Doktor an. „Mach, dass du wegkommst! Und bestell deinem Chef einen schönen Gruß von mir! Wenn er Fragen hat, soll er persönlich vorbeikommen!“ Der Kerl verschwand wie der geölte Blitz. Der Leberhaken war ihm wohl noch in unangenehmer Erinnerung.
    Das Risiko ist nicht Marjam, dachte Schönberg deprimiert, das Risiko ist der dicke Revolverheld.
   Leider täuschte er sich da.
   
                                                             3

   Der 'dicke Revolverheld' stand breitbeinig im Apothekenraum. Es war ihm deutlich anzusehen, dass er sich nur mit Mühe beherrschte. Sein Gesicht schimmerte grünlich und sah aus, als sei ihm eine Kröte im Hals stecken geblieben. Als der Doktor und sein Gehilfe den Raum betraten, stellte er sich ihnen entgegen und fragte in dem gehässigen Tonfall, den er sich für Schönberg neuerdings angewöhnt hatte: „Nun, Doktor, wann stirbt der nächste Patient?“
   Schönberg ging auf die Provokation nicht ein. Ja, zwei Kämpfer waren ihm unterm Messer weggestorben. Aber beide waren nicht mehr zu retten gewesen. Dem einen hatte ein Artilleriegeschoss den Brustkorb zerfetzt, der andere war auf eine Mine getreten.
   „Ich wäre dir dankbar, Sahib“, sagte der Doktor um einen neutralen Tonfall bemüht, „wenn du uns jetzt in Ruhe unsere Arbeit machen ließest.“
   Der Dicke war anscheinend auf Krawall gebürstet und blies die Backen auf. „Oho!“ rief er,  „willst du damit sagen, dass ich hier schon wieder störe?“
   „Offen gestanden ja.“
   Whali Khan atmete schwer. „Du wagst es schon wieder“ kreischte er außer sich vor Wut, „mir die Tür zu weisen?“ Er nestelte an seinem Revolver herum. Doch die Kanone blieb stecken.
   Der Doktor zuckte mit den Schultern und wandte sich der Schüssel mit der Seifenlauge zu. Er wusste: Solange sich die Todesfälle in Grenzen hielten, besaß er Rückhalt beim Kommandanten, und solange würde sich das Großmaul da hüten, einen unbedachten Schritt zu tun. Mittlerweile hatte er auch einen Weg gefunden, mit seinem Gewissenskonflikt fertig zu werden: Er war als Arzt erfahren genug, um die Kämpfer, wenn es möglich war, zwar nicht sterben, aber auch nicht wirklich gesund werden zu lassen.
   Der Sanitäter reichte ihm ein sauberes Handtuch, und der Doktor trocknete sich gründlich die Hände.
   „Was willst du?“, fragte er nebenbei.
   Seine Selbstsicherheit blieb nicht ohne Wirkung. Whali Khan sah ein, dass er mit Drohungen jetzt nichts ausrichten konnte. Obwohl ihn die Erinnerung an den Fußtritt des Doktors und den Rausschmiss vorletzte Nacht immer noch zur Weißglut brachte, entschloss er sich, seine Rachegelüste auf später zu verschieben. Deshalb sagte er mühsam beherrscht: „Ich bin gekommen, um mich nach dem jungen Kämpfer zu erkundigen, der heute morgen eingeliefert wurde.“
   „Und wer ist der Glückliche, der dein Interesse erregt?“
   „Der Junge ohne Bart.“
  „Ya Allah!“, rief Schönberg erstaunt, „wieso gerade der?“ Weder der Kommandant noch sein Stellvertreter hatten bisher sonderliches Interesse am Gesundheitszustand der Kämpfer gezeigt.
   „Es ist Aghwar, der jüngste Sohn meines Bruders Sadar Sadeq Khan.“
   Natürlich, dachte Schönberg, der älteste erbt, der jüngste wird als Märtyrer verheizt.
   „Es geht ihm nicht gut“, sagte er.
   „Könnte ich ihn sehen?“
   „Na gut, dann komm!“ Sie machten vor einer Liege Halt, auf der ein ganz junger, bartloser Kämpfer, fast ein Kind noch, leise vor sich hin jammerte. Immer wieder stammelte er: „Maadar, maadar, maadar“, Mutter, Mutter, Mutter... Der Dicke beugte sich über das Gesicht seines Neffen mit den traurigen Augen und dem knabenhaften, blutvollen Mund. Er murmelte: „Aghwar... Aghwar...“ und schüttelte den Kopf.
 Sollte dieses Scheusal tatsächlich so etwas wie Mitleid empfinden?, dachte Schönberg fast erleichtert.
   Whali Khan richtete sich wieder auf. „Du sagst, es geht ihm nicht gut. Heißt das, er wird sterben?“
   „Das kann ich jetzt noch nicht sagen. Er hat ein schweres Wirbelsäulentrauma. Mit dieser Verletzung müsste er eigentlich in die Spezialklinik in Shangoran. Hier kann ich nicht viel für ihn tun. Und sollte er durchkommen... Ob er dann jemals wieder aktiv am Leben teilnehmen kann, steht in den Sternen.“
   Der Dicke dachte eine Weile nach. Dann räusperte er sich umständlich. „Verstehe  ich das richtig, Doktor, Aghwar wird nie wieder richtig gesund werden?“
   „Seine Prognose ist nicht gut.“
    „Was heißt das?“
   „Es steht zu befürchten, dass er sein zukünftiges Leben möglicherweise als Krüppel fristet.“
   „Das würde uns alle in tiefe Verzweiflung stürzen. Hingegen würde sich unsere Familie glücklich schätzen, einen Märtyrer unter ihren Söhnen zu haben.“
   Der Doktor stutzte. „Märtyrer? Was meinst du? Ich verstehe nicht.“
  „Bei Allah, was gibt es da viel zu verstehen!“ Die wässrigen Augen des Dicken blickten an Schönberg vorbei. „Es gibt immer zwei Wege, einen, der in den Himmel und einen, der in die Hölle führt“, dozierte er. „Es wäre gut, du würdest bei Aghwar den Weg in den Himmel wählen!“
 Schon bei den letzten Worten Whali Khans war in Schönberg die kalte Wut hochgestiegen. Also doch!, dachte er, dieser Mann ist ein kalt-berechnender, grausamer Sadist. Das eben war kein Mitleid, sondern perfide Berechnung. „ Heißt das, ich soll diesen Jungen sterben lassen?“, brüllte er außer sich und machte Anstalten, sich auf den Dicken zu stützen. Weber, den das unverschämte Ansinnen ebenfalls erbitterte, stand hinter den beiden und beobachtete Whali Khans Schießhand. Bei der geringsten Bewegung der Hand in Richtung Revolver hätte er ihm eine der großen Knochensägen über den Schädel gehauen.
   Whali Khan merkte, dass er den Bogen überspannt hatte und hob begütigend die fette Hand. Doch seltsam: Der Doktor hielt plötzlich in seiner Standpauke inne. „Vielleicht hast du nicht ganz unrecht“, sagte er eigenartig besonnen. Er wandte sich dem jammernden Aghwar zu. „Der Weg zu den Jungfrauen ist immer eine Möglichkeit.“
   Weber traute seinen Ohren nicht. Ist Schönberg plötzlich verrückt geworden? Was schwafelt der jetzt für ein dummes Zeug! Sogar der Dicke stutzte. „Du meinst, es ginge?“, fragte er ungläubig-erstaunt.
   „Ich meine, wenn es dein Gott so will, sollten wir deinem Neffen den Weg dorthin erleichtern“, sagte Schönberg. „Gegenwärtig leidet er starke Schmerzen, und die könnten wir ihm dadurch ersparen.“ Das war gelogen, denn der Knabe stand unter hohen Morphiumdosen und befand sich bereits in einer Art Wachkoma. „Außerdem verlangt er nach seiner Mutter. Da ist er nicht der einzige. Hier sind immer wieder junge Kämpfer, die nach ihren Müttern jammern. Es würde mir die Arbeit sehr erleichtern, wenn ich eine weibliche Hilfskraft hätte, die den armen Kerlen ab und zu die Hand halten könnte.“
    Whali Khan prallte buchstäblich zurück. „Eine Frau?“, keuchte er heiser, „hier im Lazarett?“
   „Warum nicht? Dein Neffe zum Beispiel könnte in seinem jetzigen Zustand beim Anblick einer jungen Frau meinen, der Übertritt ins Paradies sei schon geschehen und ihm sein Schmerzen erleichtern. Außerdem gibt es in der Krankenpflege Dinge, die eine Frau besser beherrscht als ein Mann.“
   Hartmut, worauf willst du hinaus?, dachte Weber verwirrt. Er ahnte nicht im geringsten, was der Doktor etwas im Schilde führte.
 „Dann gib ihm mehr Opium!“, schnauzte Whali Khan. Sein öliges Gehabe war auf einmal verschwunden.
   „Wenn du und deinesgleichen diesen Knaben nicht in diese Terrormiliz gepresst hättet!“ rief der Doktor aufgebracht, „säße er jetzt unter einer Schirmakazie und schaute seiner Mutter und seinen Schwestern bei der Feldarbeit zu! Dann brauchte er keine Überdosis Opium!“ Er beruhigte sich wieder. „Außerdem: Bei derartigen Verletzungen des Nervensystems wirken auch hohe Dosen Opium nicht. Und andere Betäubungsmittel stehen mir nicht zur Verfügung, wie du weißt.“
   Whali rang die Hände. „Muss es denn unbedingt eine Frau sein?“, stöhnte er. „Gäbe es da nicht eine andere Möglichkeit?“
   „Welche denn?“
   „Du nimmst einen schönen Mann?“
   Der Doktor lachte hämisch. „Und wo soll ich den hernehmen? Doch nicht etwa aus deiner wilden Truppe hier?“
   „Ich könnte jemanden besorgen.“
   „Du meinst, entführen! Auf keinen Fall! Ende der Diskussion!“
    Der Dicke sah allmählich ein, dass er auf Granit biss. Er suchte angestrengt nach Argumenten. „Ich wüsste keine Frau, die für solch einen Dienst infrage käme.“
   „Aber ich wüsste eine! Marjam al-Dorhani, die Frau des Pashtunen, den ihr umgebracht habt, weil er angeblich ein Verräter war! Seine Frau könnte in deinen Augen auf diese Weise wieder etwas gutmachen.“
   Auf der Neandertalerstirn Whalis zeigten sich die ersten Schweißperlen. Er druckste unschlüssig. „Das kann ich nicht entscheiden, und der Kommandant kommt erst in zwei Tagen zurück.“
  „Du weichst aus, Sahib“, antwortete Schönberg kalt. „Warum? Als stellvertretender Kommandant hast du sehr wohl Entscheidungskompetenz.“
   Whali Khan schwieg. Er überlegte angestrengt, ob die Ehre des Märtyrertods einen  Sinneswandel wert war.
 „Na gut, wie du willst!“, sagte Schönberg. „Dann warte ich eben so lange, bis der Kommandant wieder zurück ist. Bis dahin jammert dein Neffe dann vergeblich. Und den Märtyrer kannst du vergessen.“
   Der Dicke transpirierte unangenehm. Ein paarmal spitze er den Mund, als wollte er etwas sagen, aber außer einigen belanglosen Füllseln wie nun ja, äh, hmm kam nichts Zielführendes.
  Schönberg hatte genug. Er dachte; So ein sturer Hund! Was kümmern den die Schmerzen eines Neffen! Na warte! Dich krieg ich noch!
  „Du kennst dich in den Schriften der Propheten anscheinend nicht gut aus, Whali Khan“, sagte er, „sonst wüsstest du, dass da geschrieben steht: Ein Sohn Allahs, der einem Märtyrer auf seinem Weg ins Himmelreich den geringsten Wunsch verweigert, ist der schrecklichsten aller Behausungen, das heißt der Hölle, verfallen.“
   Der glorreiche Sachwalter der Gerechtigkeit Allahs trat nervös von einem Bein aufs andere. Langsam dämmerte ihm, dass er die Kröte, die ihm der Doktor da vorsetzte, wohl schlucken musste. Eine Frau als Kämpferin – das passte gerade noch in sein verqueres Weltbild, aber eine Frau als Arzthelferin, die verwundete Kämpfer entkleidet und – und... Allein die Vorstellung verschlug ihm den Atem. Doch die Angst vor der Hölle wog schwerer als die hirnverbrannten Bedenken, die ihm die jahrelange Gehirnwäsche der Imame eingehämmert hatte. Er zog ein nicht mehr ganz sauberes Taschentuch hervor und wischte sich die Stirn.
  „Nun gut. Die Person darf hier tagsüber versuchsweise einfache Hilfsdienste verrichten“, sagte er gepresst. „Aber ich bestehe darauf, Doktor, dass du sie nicht zu Männerarbeiten heranziehst!“
  Schönberg verspürte keine Lust, sich auf eine Diskussion über Männer- und Frauenarbeit im Allgemeinen und im Krankenhausdienst im Besonderen einzulassen. Sein Ziel war erreicht, und darauf  kam es ihm an.
   „Versprochen! Und ich bestehe darauf, dass du Frau al-Dorhani eine Höhle im Lazarettbereich zuweist! Denn wenn sie etwas nützen soll, muss sie Tag und Nacht erreichbar sein. Also was ist? Warum zögerst du noch?“
   „Dein Ton gefällt mir nicht!“, schnauzte Whali Khan. Anscheinend hatte er sich wieder gefangen. „Du hast wohl vergessen, in welcher Situation ihr euch befindet!“
   Blitzte da nicht in seinen Augen ein Funken Achtung auf? Weber jedenfalls schien es so. Doch es war wohl ein Irrtum, denn der Dicke knödelte: „Denk´ daran, Doktor, wenn hier zu viele Kämpfer sterben, dann – “
  Er ließ den Satz unvollendet. Stattdessen strich er sich mit dem ausgestreckten Zeigefinger über die Kehle und grinste widerlich.

   „Den hast du aber ganz schön über den Löffel balbiert, chapeau, mein Lieber!“, meinte Weber, als Whali Khan gegangen war. Er war gerade dabei, dem Doktor das abgekochte Operationsbesteck vorzulegen. „Als du vorhin anfingst, von den Jungfrauen zu faseln, dachte ich einen Moment, du seist verrückt geworden. Aber jetzt ist mir alles klar.“
   „Manchmal geht es eben nicht anders. Manchmal muss man die Leute mit ihrer eigenen Dummheit schlagen!“
   „Sag mal... Ich kenne mich im arabischen Schrifttum zwar nicht so gut aus wie du, aber der Spruch vorhin, mit dem du den Dicken gefangen hast, klang mir doch ziemlich selbstgebastelt.“
   Der Doktor grinste. „Da liegst du nicht ganz falsch, mein Lieber! Der Prophet heißt Hartmut Schönberg.“
   Holm Weber lachte schallend. „Bei Allah, Sahib, du bist nicht von schlechten Eltern! Und der Kerl hat´s geglaubt! Köstlich!“
   „Nun ja, die anderen Zitate, die ich so gelegentlich einfließen ließ, stimmen. Und einmal Schriftgelehrter, heißt bei denen wohl immer Schriftgelehrter! Glaubensdinge zu hinterfragen ist hier nicht üblich!“
      
                                                                 4

   Schönberg gestaltete die Wolldecke so, dass bei einem flüchtigen Blick durch die Ritzen der klapprigen Brettertür der Eindruck entstehen musste, er schliefe mit zusammengezogenen Beinen und der Decke über dem Kopf. Dann drehte er die Glühbirne aus. Lauschend überzeugte er sich, dass niemand im Gang war und verließ auf leisen Sohlen die Höhle. Bald war er an der Brettertür angelangt, hinter der Marjam seit zwei Tagen wohnte.
   Durch die Spalten der Brettertür war die junge Frau deutlich zu erkennen. Sie saß auf einem Stuhl, die Ellenbogen auf dem Tisch abgestützt und den Kopf in den Händen. Ihre Augen waren geschlossen.
   Schönberg klopfte leise an. Auf das Klopfen hin blickte sie auf. „Ja? Wer ist da?“
   „Ich bin´s, Schönberg“, sagte der Doktor und trat ein.
  In einer anderen, friedlichen Welt hätte man die Wohnhöhle als wild-romantisch bezeichnen und als bizarre Unterkunft für einen Erlebnisurlaub der besonderen Art anpreisen können. Stuhl, Tisch und Bett machten einen fast soliden Eindruck, die saubere Matratze war mit einem ebenfalls sauberen Wollflies bedeckt. Auf einem Schemel stand ein Krug mit Wasser, daneben lagen ein Stück Seife der Marke 'Gul Mohammed', 'Liebe zu Mohammed', sowie der Rest eines Spiegels. Sogar ein Handtuch hing an einem Nagel, der in eine Felsspalte hinein geklopft worden war. Die gelbe Glühbirne tauchte alles in ein geheimnisvolles Schummerlicht.
   Doch diesen Raum erfüllte verzweifelte Einsamkeit.
  „Sahib!“ rief die junge Frau überrascht. Sie stand auf und ging auf den Doktor zu. „Weißt du Neues von meinem Mann?“ Jetzt trat sie vor Schönberg hin und blickte ihn flehend an.
   „Leider nein“, log er. Es ließ sich nicht vermeiden, die Beziehung mit einer Unwahrheit zu beginnen. „Soweit ich weiß, verhören sie ihn wieder.“ Er setzte sich auf die Liege und seufzte.
   Marjam rang die Hände. „Sie werden ihn foltern!“
   „Das glaube ich nicht. Der Koran verbietet unnötige Quälereien. Setz dich doch! Bei aller Grausamkeit, zu der sie im Kampf fähig sind, Foltern ist nicht ihre Art. Sie handeln nach der Devise: Auge um Auge, Zahn um Zahn. Wenn der Kommandant den Daumen hebt, bleibt al-Dorhani am Leben, senkt er ihn, werden sie ihm den Kopf abschlagen.“ Das war hart, aber als Vorbereitung auf die Wirklichkeit unumgänglich. „Wo wir nun schon einmal bei dem Thema sind: Was ist eigentlich an den Vorwürfen dran? Wen oder was soll denn dein Mann verraten haben? Hier ist doch jeder Andersdenkende ein Verräter!“
   „Vor zwei Jahren zerstörte eine Granate der Rebellen versehentlich sein Haus und tötete seine erste Frau und zwei seiner Söhne. Da er selbst – leider! – dem Blutrachegedanken verfallen ist, hat er den Amerikanern gelegentlich Hinweise gegeben, die zur Liquidation von Kämpfern geführt haben. Aber immer anonym und über Mittelsmänner. Wie sie ihm auf die Schliche gekommen sind, wird mir immer ein Rätsel bleiben. Seine Familie, musst du wissen, ist sehr einflussreich und besitzt viele Informationsquellen. Ich riet ihm davon ab, aber erhörte nicht auf mich. Die Blutrache steht steht bei ihm über der eigenen Sicherheit.“
   „Jaja, ich weiß. Leider. Und nicht nur bei ihm.“
   Da war er wieder, der elektrisierende Schlag. Schönberg erfasste ein leichter Schwindel. Nach Monaten der Enthaltsamkeit wirkten Marjams Nähe und ihre Stimme auf Schönberg wie eine stark erotisierende Droge. Verzweifelt sehnte er sich nach ihrem Körper, nach ihrem geschmeidigen, geheimnisvollen Fleisch. Er spürte sie nackt an sich geschmiegt, in rhythmischer, gleichmäßiger Bewegung, die allmählich an Intensität zunahm. Die Vision war so stark, dass er keuchte.
   „Sahib, was hast du?“, fragte Marjam besorgt.
   „Ach, es ist nichts...“
   Nur mit Mühe gelang es ihm, den Tagtraum zu verscheuchen. „Ich bin eigentlich wegen einer anderen Sache hier.“
    Schönberg stand wieder auf. Mit dem Schein der Taschenlampe suchte er sorgfältig Wände und Decke der Höhle ab. Fand er ein Loch oder einen Spalt, leuchtete er so weit es ging hinein.
   „Wonach suchst du, Sahib?“
  „Ich will wissen, ob die Höhle verwanzt ist. So weit ich sehen konnte, ist sie sauber. Denn was wir beide jetzt zu besprechen haben, muss streng geheim bleiben.“ Er setzte sich wieder. „Sagt dir der Begriff Qanate etwas?“
   „Aber natürlich! Es sind die Stollen eines alten Bewässerungssystems, das in dieser Gegend verbreitet ist. Heute verfällt es mehr und mehr. Noch mein Großvater hat es benutzt. Seit einigen Jahrzehnten  ist es durch Tiefbrunnen –“
   „Ich weiß.“ Der Doktor senkte die Stimme. „Höre mir jetzt bitte einmal gut zu! Ich vermute, dass einige noch intakte Qanate mit diesem Höhlensystem in Verbindung stehen. Wir könnten möglicherweise einen davon als Fluchtweg benutzen. Ich werde in der nächsten Zeit das hintere Höhlensystem auskundschaften.“
   „O Sahib, das wäre –“
   „Pst! Nicht so laut!“ Schönberg stand auf und blickte den Gang entlang. Niemand war zu sehen. „Dazu benötige ich verschiedene Gegenstände. Sagtest du nicht, hier gäbe es eine Schneiderwerkstatt?“
   „Ja, die kleine Fatima erzählte mir, dass sie in der Schneiderei arbeite.“
  „Gut! Ich benötige mehrere hundert Meter Schnur oder Bindfaden. Vielleicht reicht ja auch Nähgarn. Ist diese Fatima verlässlich?“
   „Das ist schwer zu sagen. Sie sagte mir, sie würde sie alles tun, um aus dieser Hölle herauszukommen.“
   „Kann ich verstehen! Hm... Hältst du es für möglich, über sie an das Material heranzukommen?“
   „Schwer zu sagen... Ich kann sie ja mal fragen.“
   „Tu das! Aber möglichst bald!“
   „Was sag´ ich ihr denn, wenn sie Fragen stellt?“
   „Hmm... Das ist allerdings ein Problem!“
   „Weißt du was? Ich sag ihr... Ich sag ihr einfach, es könnte ihrer Freiheit dienen.“
  „Bloß nicht! Dann wissen hier bald alle, dass wir eine Flucht planen. Nein, nein, da müssen wir uns schon was Unverfängliches einfallen lassen! Hmmm... Ich hab´s! Du sagst ihr einfach, du willst unsere Kleidung stopfen!“
   „Mit hundert Meter Nähgarn? Na ja, ich kann´s ja mal versuchen. Vielleicht fragt sie ja nichts.“
   „Gut! Aber sei vorsichtig! Und mit keiner Seele sonst ein Wort darüber! Es gilt absolute Verschwiegenheit! Sie dürfen auf keinen Fall Verdacht schöpfen!“
  Der Doktor stand auf. Dabei fiel sein Blick auf den Teller, der unberührt auf dem Tisch stand. „Mein Gott, Marjam, du isst ja nichts!“ rief er enttäuscht, „das geht nicht!“ Er hatte beim Kommandanten durchgesetzt, dass sie besseres Essen bekam – nicht nur Maisbrot und ab und zu ein kleines Stück Fleisch, sondern ordentliche Kost, wie sie den Kämpfern vorgesetzt wurde, mit Obst und Gemüse. Schließlich lag der 'Garten Allahs', der für seine landwirtschaftlichen Produkte berühmt war, ja fast nebenan. „Du musst essen! Sollte es losgehen, musst du bei Kräften sein!“
   „Seit al-Dorhani fort ist, schmeckt es mir nicht mehr.“
   „O du Blume aus Allahs Garten! Denk´ jetzt nicht an die Vergangenheit, denk´ an die Zukunft! Denk´ an deine Jugend! Dein Leben ist noch lange nicht vorbei!“ Er wollte noch mehr sagen, aber er bemerkte rechtzeitig, wie trivial seine Worte klangen. Abrupt wandte er sich zum Gehen. „Vielleicht werden wir bald frei sein!“
   „Schönberg, Sahib, godahafiz! Gott erhalte dich!“
   „Dich ebenso, mein Täubchen! In zwei Stunden sehen wir uns im Lazarett!“


Wird fortges.

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nicolailevin
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Beiträge: 259
Wohnort: Süddeutschland


Beitrag04.03.2019 21:14

von nicolailevin
Antworten mit Zitat

So, hier geht's weiter im Texte. Entweder ich war müd oder ich werde altersmilde, aber in der vorangegangenen Lieferung sind mir keine größeren Klopper aufgefallen ...

Zitat:
Ein Wandteppich aus dunkelgrünem Efeu,


Efeu wächst lt. Wikipedia nicht mehr östlich der Türkei.

 
Zitat:
Die saddled shoes


Saddled Shoes? Kenn ich nicht.

Zitat:
Herr Erwin Müller


Warum hier "Herr"? Wenn du schon formell werden willst, dann soweit ich weiß, "seine Exzellenz" (ich bin zu faul, den Protokoll-Leitfaden der Bundesregierung runterzuladen).

Zitat:
als habe er erst gestern mit ihm zehn Pfeifen geraucht.


Unglaubwürdig. Pfeifenraucher rauchen selten Kette, und eine gut gestopfte und in Ruhe gerauchte Pfeife braucht so knapp ein Stündchen. Da wären sie gestern zu nichts anderem mehr gekommen.

Zitat:
mit dezenten Playboy-Manieren.


Schief: Was sind Playboy-Manieren? Was unterscheidet die Manieren eines Playboys von denen eines "normalen" Gentleman? Und vor allem: Woran merkt ein anderer Mann das?

Zitat:
Der Oberst hatte auf der Bundeswehrhochschule in Münster studiert,


Gibt es neben Hamburg und München weitere BW-Unis?

Zitat:
lagen ihm seine ostberliner Wurzeln immer noch auf der Zunge.


Ich denke, der war mit dem Oberst in der Schule? Das kann ja dann kaum in Ostberlin gewesen sein.

Zitat:
„Freilich! Nur hier interessiert das niemanden! Und ihn anscheinend auch nicht, hahaha!“


Seltsame Vorstellung. Ich meine: Spaß haben mit irgendwelchen Mädels - meinetwegen. Alles mögliche versprechen, um eine ins Bett zu bekommen - auch noch. Aber direkt heiraten? In der Fremde?

Zitat:
Mit dem breiten, warmen Lächeln eines Mannes, der das richtige Mittel gegen Haarausfall kennt,


Mach solche fragwürdigen Witze nicht selbst, sondern leg sie maximal deinen Figuren in den Mund!

Zitat:
auf einen schwarzen Ledersessel mit erheblichem Renovierungsbedarf.


Was kann an einem Sessel erheblich und sichtbar renovierungsbedürftig sein, wenn er noch steht und nicht umkippt? Doch nur, dass er nach einem frischen Bezug schreit ...
   
Zitat:
„Als meine Leute auf dem Platz vor dem Hotel standen, näherte sich bettelnd ein kleines Mädchen. McGregory, der Truppführer, merkte zu spät, dass die Kleine eine Bombe unter ihrem Hemd trug.“


Ich denke, die sind auf der Burg gestorben? Ist das Hotel etwa in der Burg untergebracht?

Zitat:
„Vor etwa fünfundsechzig Jahren ..."


Der Redestil des Botschafters sollte sich hörbarer von deinem Erzählstil abheben. Weniger elaboriert, weniger attributlastig ...

Zitat:
Und Stalin war nicht der Mann,


Stalin starb März 1953. Könnte eng werden mit den 65 Jahren ...

Zitat:
Da entdeckten Scholoschows Sappeure eines Tages


Sappeure erwarte ich bei den Türken vor Wien. So gegen 1950 würde ich als Sowjetgeneral die Burg einfach von meiner Luftwaffe in Trümmer bomben lassen ...

Zitat:
Als denen auf der Burg klar wurde, dass man schon seit Tagen auf einem Pulverfass saß, das jederzeit in die Luft fliegen konnte, breitete sich Katerstimmung aus. Immer mehr Kämpfer verloren den Mut, einige dachten sogar an Kapitulation.


Da begeht der gute Botschafter einen Perspektivfehler, wenn die Geschichte von der sowjetischen Seite tradiert wurde.

Zitat:
„Gleich! Der Stotterer ließ sofort große Mengen Opium und fünfzig Kampfhähne kommen.


Dass sie auf ihrer belagerten Burg Opium bunkern, kauf ich noch. Aber Kampfhähne? Einfach so?

Zitat:
Haschischrausch befanden,


Ich denke, Opium? Entscheidet euch, Krieger!

Zitat:
Na gut, le cock est mort, le cock vive!


Coq. Sonst Englisch. Und eindeutig zweideutig, aber lassen wir das ...

Die Hahnengeschichte find ich generell doof, für mich klingt es unglaubwürdig, dass die Kämpfer sich nackig machen, und es passt für mich auch nicht, dass die Männer sich von den kämpfenden Gockeln anstacheln lassen, und dann auf einmal ohne Bindung der Bogen zum Hahnenschrei gezogen wird. Kampfhähne krähen doch nicht, wenn sie sich auf ihre Gegner stürzen ... Ich würde eine Geschichte mit Bezug zum Geschrei erwarten.
                                                                                                       
 
Zitat:

   „Der Hinterhalt, in den meine Leute auf der Burg getappt sind, war von langer Hand vorbereitet. Die Attentäter kannten genau den Tag und die Stunde des Einsatzes und das Einsatzziel.“


Ich denke, die Soldaten sind auf einen Tipp hin dorthin gegangen? Sowas wird doch nicht über Wochen im Voraus geplant, oder?

Zitat:
„Vergiss es! Die Besprechungen finden im so genannten Bunker statt. Die Wände sind siebzig oder achtzig Zentimeter dick, die Fenster bestehen aus abhörsicherem Spezialglas.


Der Befehlsstand einer westlichen Armeeeinheit irgendwo im Mittleren Osten ist doch nie so gut abgeschirmt! Sowas leistet man sich meinetwegen im Bundeskanzleramt oder beim Hauptquartier des BND, aber sonst ...

Zitat:
„Und diesen Maulwurf soll nun deine junge Dame fangen.“


Der hier folgende Dialog wirkt für mich ziemlich unecht. Der Botschafter bleibt irgendwie blass und unbestimmt, reiner Stichwortgeber; dafür dass er den Oberst seit der Schule kennt, wirken die beiden sehr distanziert. Wenn die aber so weit voneinander weg sind, verstehe ich nicht, warum ihn der Oberst so ins Vertrauen zieht ...

Zitat:
Nobody is schließlich perfekt.


Noch so ein Kalauer, der im inneren Monolog eigentlich nix verloren haben sollte.

Zitat:
„Herr Sedlmeyer“, sagte der Oberst zehn Minuten später, „können Sie bitte mal diese Steckdosenleiste aufschrauben?“
  Hauptfeldwebel Sedlmeyer,


Redet man beim Bund nicht die Leute immer mit Dienstgrad an? "Hauptfeld Sedlmeyer"?

Sedlmeyer ist in sich unlogisch. Sedl- klingt nach süddeutsch/bayrisch (wie der Sedlmayr Walter selig), Meyer mit ey ist aber die distinkt norddeutsche Variante aus all den Meier, Maier, Mair, Mayr, Mayer, Meyer.

Folgt korrektes Bairisch:

Zitat:
„Do schau her! Aan SIM-Korten! Und hier!“


"A SIM-Kortn"

Zitat:
Hauptfeldwebel Kim-Joseph Stadelmeier


Kim-Joseph ist zu schräg, um wahr zu sein. Und eben hieß er doch noch Sedlmeyer? Stadelmeier ist übrigens ok als bayrischer Name.

Zitat:
die Und-Gatter setzen ihn in oan 1- aus -n -Code um, woraus die Oder-Gatter den gewünschten Binärrcode errzeugen. Host mi?“


"die Und-Gatter setzn eam in an Oans-aus-n-Code um, aus dem die Oder-Gatter nachert den gewünschten Binärcode machan. Hams mi?"

Zitat:
„Wie aan Hockerangriff auf ainen Computer. Dös Abhörmodul kann von außen aktiviert werrden, vorrausgesetzt, die Steckerleiste ist mit dem Stromnetz verbunden.“


"Wia an Hackerangriff auf an Computer. Dös Abhörmodul kann ma vo außen aktiviern, vorausgsetzt, dass de Steckerleistn mim Stromnetz vabundn is."

Zitat:
„Ja mei, auch dann. Sehen S´: Diese Leitung hier ist ein Überbrrückungskoabel, das den Niedervolt-Transforrmator an Schalter und Steckerbuchsen vorbei mit dem Stromnetz verbündet.“


"Jo freili, auch dann. Schaungs: De Leitung do is a Überbrückungskabel, des wo den Niedervolt-Transformator am Schalter und da Steckerbuchsen vorbei mim Stromnetz verbind't."

Zitat:
„Ganz und gar nicht! Das hier ist aan umgebautes Baibyfohn aus Kina. Die SIM-Korten diente ursprrünglich dazu, einen externen Telefonkontakt herzustellen, sowie im Zielraum Geräusche laut werden.“


"Überhaupts net! Des do is a umbautes Behbifohn aus Kina. De SIM-Kortn hat ma ursprünglich bloß dafür gnommen, um eppan anzurufen, wenns im Zielraum laut worn is."

Zitat:
„Ja mei! Können Se hier bei jedem verlausten Strraßenhändler kaufen.“


"Jo mei. Kennans hier bei an jedn verlausten Straßentandler kaufen."
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nicolailevin
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Beitrag07.03.2019 18:34

von nicolailevin
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Und noch ein Schwung:

Zitat:
Als ihm das erste abgesägte Bein in die Arme fiel, war er ohnmächtig geworden.


Erst das Fallen im Präteritum, das darauf folgende Ohmächtigwerden im Plusquamperfekt? Da stimmt was nicht.

Zitat:
Er machte sogar den schwachen Versuch, humorvoll zu wirken. Sein Gesicht allerdings sah nicht nach Gefälligkeit aus, eher nach Rache und Mord.


Wie kann man zugleich Spässle machen und so aussehen, als wolle man jemanden umbringen?

Zitat:
er brauche keinen Kurschatten


Ich bezweifle, dass es für sowas Urdeutsches wie den Kurschatten ein englisches Pendant gibt. LEO jedenfalls kennt keins.

Zitat:
Da in mehreren Höhlen Tag und Nacht Holzfeuer brannten, war dieser Geruch allgegenwärtig und kein Grund zum Aufwachen.


Das würde ich als Kommandant sofort verbieten! Kein Kamin, keine Abluft, massive Gefahr von Kohlenmonoxidvergiftungen ...

Zitat:
Das Höhlensystem Ausläufer bis in die Nähe eines dieser Dörfer haben!


Dieser Satz kein Verb.

Zitat:
Der Doktor sprang von der Matratze und knipste das Licht an.


Elektrisches Licht überall? Mit Generator und Dieselkanisterzurhöhleschleppen?

Zitat:
Der Doktor und seine Helfer arbeiteten wie die Berserker.


Schief. Berserker impliziert für mich Zerstörung, die beiden sind doch als Heiler unterwegs.

Zitat:
Besonders solche Sprüche wie: Non scholae, des vitae discimus, nicht für die Schule, sondern für das Leben lernen wir, waren mir von Herzen verhasst.


Ach nö! Entweder wir können alle Latein und setzen es voraus oder wir lassen es: sita us vi late inis it abernit! Und außerdem heißt es sed (aber/sondern) nicht des.

Zitat:
So ein Blödsinn, dachte ich, was kann mir denn der verknöcherte Erdkundepauker Specht, der uns stundenlang zutextete, fürs Leben schon groß beibringen! Der wirkte auf mich nicht, als wüsste er  immer, wo die Toilette ist. Sein Geschwafel ging den meisten im Kurs sowieso am Arsch vorbei, sie interessierten sich mehr Carmens Oberweite oder die Aussicht auf einen One-Night-Stand mit Holger. Seit heute morgen...“


Er ist Gefangener, hat möglicherweise einen Weg ins Freie entdeckt, eigentlich müsste er gespannt sein und es gar nicht erwarten können, diese lebensrettende Kerninformation seinem einzigen Vertrauten in dieser Hölle weiterzugeben - und dann schwadroniert er bräsig von irgendwelchen Schulerinnerungen? Sehr unglaubwürdig für mich.

Zitat:
Aus einer der Nebenhöhlen erklang lautes Gezeter. Eine der zum Küchendienst gepressten Frauen hatte wohl etwas falsch gemacht. Zwei bärtige Krieger redeten wild gestikulierend auf sie ein. Andere Frauen mischten sich ein, das Spektakel schwoll immer mehr an.


Wie sehen die denn in die Nebenhöhle, was da los ist?

 
Zitat:
„Seit heute morgen jedoch weiß ich: Der Spruch stimmt, und zwar buchstäblich. Ich erinnerte mich nämlich wieder, dass Specht einmal von einem uralten Bewässerungssystem sprach, das hier in dieser Gegend verbreitet war. Es geschah wohl in einer der seltenen Erdkundestunden, in der ich aus irgend einem Grunde mal aufpasste.“ Schönberg grinste schelmisch. „Von einem Quellhorizont am Gebirgsrand ausgehend, dozierte Specht, gruben die Leute auf leicht abschüssigem Terrain mühsam viele Kilometer lange unterirdische Kanäle, so genannte Qanate, aus denen dann das Wasser auf die Felder gepumpt wurde. Alle paar Kilometer wurde der Aushub nach oben geschaufelt. Wir fiel es wie Schuppen von den Augen: Das sind die Erdhaufen, die man ab und zu draußen im Gelände noch sieht.“


Dieser abrupte Wechsel des Redestils vom Causeur zum Lehrbuch wirkt holprig, und dieses ewige Dozieren gefällt mir ohnehin nicht.

Zitat:
„Verstehe! Wasser ist hier reichlich vorhanden, und auch das Gefälle des Vorlandes passt.“


Zu viel Fachjargon. Was ist Vorland?

 
Zitat:
„Du meinst, die Banditen benutzen diese alten – wie sagtest du – Qanate, um unerkannt von A nach B zu gelangen?“
   „Und von B nach A, ja. Dann erklärt sich auch, wieso sie plötzlich aus dem Nichts auftauchen und im nächsten Moment wie vom Erdboden verschluckt sind.“
   „Ich hab´ mich auch schon gewundert, warum sie ihre Verwundeten nie vom Höhleneingang her hereinbringen.“


Hier hab ich zum Sprachstil noch ein logisches Problem: Welchen Nutzungszweck hat der "offizielle" Höhleneingang, wenn er ebenfalls getarnt und vor Feinden geheim gehalten wird? Warum bringen sie Weber und Schönberg auf diesem Weg zur Höhle? Wenn sie regulär Material und Verwundete auf anderen Wegen ins Höhlensystem bringen, sollten folglich alle Zugänge gleichwertig in puncto Geheimhaltung und Verteidigungsfähigkeit / Bewachungsnotwendigkeit sein ... Da würde ich jeweils den bequemsten und kürzesten Zugang nutzen.

  
Zitat:
„Was bin ich doch für ein Idiot!“, zischte er und schlug sich mit der flachen Hand mehrmals kräftig gegen die Stirn. „Ich hätte es wissen müssen!“ ... „In einem Gewölbe mit ellipsenförmigen Grundriss herrscht eine besondere, verräterische Akustik. Die physikalischen Hintergründe kann ich dir jetzt aus der la main nicht erklären, aber es hängt mit den zwei Mittelpunkten zusammen.


Einmal würde ich die Allgemeingültigkeit dieses Phänomens anzweifeln (ohne irgendeine tiefere Ahnung von Akustik zu haben), und ich finde es seltsam, dass ein Arzt sich bei so einem fachfremden Spezialthema aus Schulzeiten so auskennt! (Mal abgesehen davon, dass auch die Einrichtung und Nutzung dieser Abhöreinrichtung nicht gerade naheliegt, aber das gestehe ich einer literarischen Räuberpistole zu) Ich würde die beiden per Zufall drauf kommen lassen. Einer flüstert am einen Ort was, was der andere nicht hören soll, aber mitbekommt, obwohl er weit weg sitzt - und so kommen sie dem Mechanismus auf die Schliche ...

Zitat:
„Die Eiserne Jungfrau? Der arme Sünder wurde bis zum Hals in eine mit Wasser gefüllte Eisentonne gesteckt, dann wurde darunter ein Feuer entfacht, und nach einiger Zeit – “


War das nicht dieser Apparat mit den Spitzen zum Zusperren? Egal - ich kann nur empfehlen: Erspar den Lesern das Bildungsgehubere des Doktors! Es wirkt nicht amüsant genug ...

      
                                                                 4

Zitat:
In einer anderen, friedlichen Welt hätte man die Wohnhöhle als wild-romantisch bezeichnen und als bizarre Unterkunft für einen Erlebnisurlaub der besonderen Art anpreisen können.


Was ist an so einer kargen Ausstattung, das einen an Romantik denken lassen könnte?

Zitat:
Doch diesen Raum erfüllte verzweifelte Einsamkeit.


Weiß wer? Perspektive!

Zitat:
„Vor zwei Jahren zerstörte eine Granate der Rebellen versehentlich sein Haus und tötete seine erste Frau und zwei seiner Söhne. Da er selbst – leider! – dem Blutrachegedanken verfallen ist, hat er den Amerikanern gelegentlich Hinweise gegeben, die zur Liquidation von Kämpfern geführt haben. Aber immer anonym und über Mittelsmänner. Wie sie ihm auf die Schliche gekommen sind, wird mir immer ein Rätsel bleiben. Seine Familie, musst du wissen, ist sehr einflussreich und besitzt viele Informationsquellen. Ich riet ihm davon ab, aber erhörte nicht auf mich. Die Blutrache steht steht bei ihm über der eigenen Sicherheit.“


Das ist mir von der Frau viel zu westlich-analytisch-distanziert gedacht. Weniger Zusammenhänge! Er hat Frau und Söhne verloren und - warum auch immer - den Amis Hinweise gegeben. Punkt.

Zitat:
Da war er wieder, der elektrisierende Schlag. Schönberg erfasste ein leichter Schwindel. Nach Monaten der Enthaltsamkeit wirkten Marjams Nähe und ihre Stimme auf Schönberg wie eine stark erotisierende Droge. Verzweifelt sehnte er sich nach ihrem Körper, nach ihrem geschmeidigen, geheimnisvollen Fleisch. Er spürte sie nackt an sich geschmiegt, in rhythmischer, gleichmäßiger Bewegung, die allmählich an Intensität zunahm. Die Vision war so stark, dass er keuchte.


Neee! Weniger sachlich beschreiben, mehr Gefühl! Die Erotik viiiiel subtiler. Das geht so gar nicht! Sorry.

 
Zitat:
Er hatte beim Kommandanten durchgesetzt, dass sie besseres Essen bekam – nicht nur Maisbrot und ab und zu ein kleines Stück Fleisch, sondern ordentliche Kost, wie sie den Kämpfern vorgesetzt wurde, mit Obst und Gemüse.


Das passt hier nicht in die sehr detaillierte Erzählstruktur. Du berichtest jeden Pups haarklein, und dann kommt so nebenher eingeblendet, was der Schönberg wann auch immer noch veranlasst haben könnte. Der Verdacht eines nicht sehr elegant nachträglich eingeflanschten Einfalls drängt sich dem missmutigen Leser auf ...  Razz
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wunderkerze
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Beitrag07.03.2019 19:03

von wunderkerze
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hallo Nicolailevin,
zunächst meinen herzl. Dank für deine unermüdlichen Bemühungen. Ich werde sie wie immer im Original einarbeiten.
Allerdings...

Die natürliche Grenze des Efeus ist zwar die Osttürkei, aber als invasive Art ist es heute in vielen Teilen der Welt verbreitet. Möglicherweise haben es die Erbauer der "Hütte" aus Europa mitgebracht.

Den Ausdruck saddled shoes fand ich bei Scholl-Latour.

Die Anrede eines Botschafters ist "Herr", Exellenz nur in offiziellen Anschreiben seitens eines anderen Staates.
 
Dass sich Offiziere mit Herr anreden, habe ich selbst gehört. Außerdem kommt S. ja nicht als Vorgesetzter, sondern als Ratsuchender.

"Wat Heeßes..." Ich habe in Berlin sprechen gelernt - lang ists her -  und berlinere zum Spaß auch heute noch ab und zu.

Stalin... ein unverzeihlicher Lapsus, ebenso das mit dem Haschisch.

Nicolailevin schreibt, Zitat:
Die Hahnengeschichte find ich generell doof, für mich klingt es unglaubwürdig, dass die Kämpfer sich nackig machen...

Die Geschichte steht bei S.-Latour, auch das mit den nackigen Kämpfern. Das Drum und Dran stammt von mir.
In der nächsten "Lieferung" wird erläutert, dass das gesamte Gebiet von Höhlen und Stollen durchzogen ist, sodass die Festung unerkannt versorgt werden kann. Im übrigen habe ich die Fabel ins 19. Jh. vorverlegt.

Nicoleilevin schreibt, der Botschafter bleibe blass.
Stimmt. Und nicht nur das. Er bleibt für einen Freund auch ziemlich teilnamslos. Wird geändert.

Deinen Vorschlag, das ganze in einer Hafenkneipe beginnen zu lassen, finde ich bedenkenswert. Ich überlege, ob ich nicht wegen des Lokalkolorits eine Nacht auf der Reeperbahn verbringen sollte...

Ganz herzliche Grüße
wunderkerze

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nicolailevin
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Beitrag07.03.2019 19:37

von nicolailevin
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Nabend

Efeu - ich mag gar nicht streiten, ob das möglich ist. Mir ist es als unpassend aufgestoßen, und dann hab ich nachgeschaut. Zerschießt für mein Gefühl zumindest den stimmigen Lokalkolorit.

Gleiches gilt für die Hahnenstory: Das mag echt sein, aber nicht alles, was echt ist, passt auch in deine Geschichte.

Beim Botschafter bleibt für mich die Frage, warum du uns den mit welchemtitelauchimmer so förmlich präsentierst, wo du das sonst nicht machst ...

Beim Berlinern wundert mich nicht das Berlinern an sich, sondern deine Erklärung, dass er das aus seiner Kindheit mitgebracht hat, wenn er doch mit dem andern zur Schule gegangen ist. Auch hier: das mag man hindrehen, dass es faktisch passt, aber es ist für mein Gefühl ein unstimmiges Element in der Person, eine unnötige Volte. Du hast für meine Begriffe genug zu tun, den stimmigen Teil seines Charakters zu fassen und rüberzubringen.

Wegen des Umgangs von Offizieren untereinander sollen Berufenere ran - aber Hauptfeldwebel ist jedenfalls ein Unteroffiziersrang.

VG
Nico
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wunderkerze
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Beitrag14.03.2019 14:33
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von wunderkerze
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Kurz nach Mitternacht verließ Schönberg die Krankenstation. Overall und Sandalen hatte er unbemerkt gegen Jeans, Hemd und festes Schuhwerk ausgetauscht. Die Taschenlampe in der rechten, den Beutel mit den beiden Zwirndocken in der linken Hand schritt er zügig den Gang zum hinteren Höhlensystem entlang. Zu seiner Expeditionsausrüstung gehörten außerdem noch einige Knochennägel, ein kleiner Reflexhammer, einige schmale hohe Kerzen sowie zwei Gasfeuerzeuge.
   Der Doktor befand sich in einem eigenartigen Wachzustand. Schon seit einigen Nächten schlief er noch weniger als sonst. Die unseelige Auseinandersetzung mit Whali Khan hatte ihn stark verunsichert, und er machte sich keinerlei Illusionen mehr. Also hatte er sich als Mann der Tat kurzerhand entschlossen, sein Schicksal in die eigenen Hände zu nehmen und unverzüglich mit der Erforschung eines Fluchtweges zu beginnen. Mithilfe eines Eisenhebels, den Weber unbemerkt von einem Krankenbett abmontiert hatte, war es ihm schon vor Tagen gelungen, den Spalt so zu erweitern, dass er hindurch kriechen konnte.
  Mein Leben hängt an einem seidenen Faden, dachte er betrübt, während er geräuschlos den Gang entlang schlich. Möglicherweise ist der Mann doch nicht so dumm und mittlerweile dahinter gekommen, dass ich ihn mit dem erfundenen Koranvers ganz schön hereingelegt habe. Bei der nächst besten Gelegenheit wird der dicke Revolverheld seine Kanone ziehen und mich über den Haufen schießen. Dann geht´s eben nicht anders. Dann werden eben die Sanitäter Skalpell und Säge schwingen, und Weber ist lange genug dabei, um ein Bein absägen zu können. Die Bauchschüsse verrecken dann eben.
   Schönberg stand jetzt in der Höhle hinter dem Spalt und knipste die Lampe an. Die Finsternis fraß den schwachen Lichtstrahl auf. Doch allmählich erkannte er Einzelheiten. Was er sah, verschlug ihm den Atem. Er blickte in das monströse Gebiss eines urzeitlichen Ungeheuers. Weiß glänzende Bodenzapfen wuchsen wie spitze Zähne aus kissenförmigen Kiefern nadeldünnen Deckenzapfen entgegen. Dahinter gähnte schwarz und unheimlich ein tiefer Abgrund. Die hochragende Halle war so endlos,  der Lampenstrahl verlor sich im Leeren. Ihre Wände glitzerten feucht,  irgendwo tropfte es. Die ungeheure Stille verstärkte das Tropfgeräusch ins Überdimensionale. Er leuchtete den Boden ab. Er war von Geröll bedeckt und ziemlich abschüssig.
  Eine fiebrige Nervosität erfasste ihn. Es war nicht nur die Hoffnung auf eine Fluchtmöglichkeit, die ihn so erregte, sondern fast noch mehr die Gewissheit, der erste Mensch zu sein, der diese geheimnisvolle Unterwelt betrat. Was er jetzt sehen würde, hatte noch nie ein Mensch vor ihm erblickt. Er nahm eine Kerze hervor, sorgte mit Steinen dafür, dass sie nicht umfallen konnte, und zündete sie an. Die Flamme brannte ruhig und erstaunlich hell.
   Wie im Rausch bewegte er sich auf das andere Höhlenende zu, dabei zählte er die Schritte. Quer über den Höhlenboden hinweg lag ein breiter Spalt, der sich in den Wänden und in der Kuppel der Höhle fortsetzte. Es sah aus, als sei der Berg an dieser Stelle auseinander gebrochen und als hätten sich die beiden Hälften gegeneinander verschoben. Der Spalt erweiterte sich nach rechts zu einem klammartigen Schacht. Er leuchtete hinein. Der Schacht war gerade so breit, dass ein nicht allzu korpulenter  Mann hindurch passte. Er leuchtete hinein. Nach unten hin verlor sich der Lampenschein im Nichts.
  Schönberg blickte sich um. Etwa zwei Meter über ihm gewahrte er eine größere Öffnung. Er legte den Beutel nieder und die Lampe so, dass ihr Licht auf die Öffnung fiel, und sprang mehrmals hoch. Aber immer wieder glitten seine Finger ab.
   Anscheinend war die Klamm die einzige Möglichkeit, hier weiterzukommen.
   An Umkehren nicht zu denken. Die Suche nach einem anderen Weg hätte viel zu viel Zeit gekostet. Deshalb entschloss er sich, die Klamm zu versuchen. Da die enge Schlucht sich nach unten hin fortsetzte, war weder an Gehen noch Kriechen zu denken. Glücklicherweise fiel der Spalt nicht senkrecht, sondern schräg ab, sodass er sich halb stehend, halb liegend in die Klamm hineinzwängen konnte. Die Taschenlampe steckte er sich in den Mund.
  Den Rücken hart an den Felsen gepresst versuchte er zunächst, Halt zu finden und nicht abzurutschen. Dann löste er das rechte Knie von der gegenüberliegenden Felswand, verschob es weiter nach rechts und zog das andere nach. Ähnlich verfuhr er mit den Ellenbogen. So arbeitete er sich Zentimeter um Zentimeter vor. Es ging besser als erwartet. Allmählich wurde die Klamm breiter, und er gewahrte in etwa einem Meter Tiefe einen Felsleiste, die einem Fuß Platz bot. Mit einem Bein gehend stieß er sich mit dem anderen ab und erreichte bald eine Art Plattform, auf der er verschnaufen und sich den Schweiß von der Stirn wischen konnte.
  Als er wieder etwas zu Atem gekommen war leuchtete in den Raum hinein. Kristalldrusen blitzten auf und erloschen wieder. Der stark abschüssige Boden war wüst mit Felsbrocken übersät. Anscheinend war vor langer Zeit die Decke eingestürzt. Die Klamm hatte sich mittlerweile zu einer breiten Schlucht gemausert, die sich in schräger Tiefe verlor. Weit weg, mehr Ahnung als Wirklichkeit, glitzerte ein erstarrter Wasserfall: Ein breiter Quarzgang. Seine Metalleinschlüsse ließen ihn im Schein der Lampe in allen Regenbogenfarben satt aufleuchten.
   Von dieser großen Höhle gingen mehrere kleinere Seitenhöhlen und Gänge ab, deren finstere Rachen das Licht der Lampe verschluckten.
    Schönberg lauschte. War das nicht das Geplätscher von Wasser?
    „Der Höhlenfluss!“, rief er aufgeregt in die Dunkelheit hinein und erschrak über sein eigenes Echo.
    Wieder nahm er einen Nagel hervor und klopfte ihn mit dem Reflexhammer in eine Spalte neben der Klamm. Durch Rütteln überzeugte sich, dass der Stahlstift auch fest saß, und band einen Zwirnsfaden daran fest. Dann stellte er wieder eine brennende Kerze auf. Er wickelte einige Meter Zwirn ab, nahm Lampe und Beutel an sich und sprang auf den nächsten Felsbrocken, und von da aus auf den Höhlenboden. Der Boden zwischen den Felsbrocken war mit Kies und Geröll bedeckt, ein Zeichen, dass hier einst Wasser geflossen war. Erneut hielt er inne, um zu lauschen. Das Geplätscher schien aus einer der Öffnungen im Hintergrund der Höhle zu kommen.
   Die sich abspulende Zwirndocke in der Hand, drang er in den Gang ein. Von oben tropfte es heftig; die Tropfen zerplatzten mit hellem Ton in Wasserlaachen auf dem Boden. Bald war er völlig durchnässt. Leider stellte sich nach etwa fünfzig Schritten auch noch heraus, dass der Gang durch einen Bergsturz verschüttet war. Er kehrte um, wobei er den Faden sorgfältig wieder aufwickelte. Weit weg ein winziger heller Stern: Die Kerze.
   Die Höhlenakustik hatte ihn genarrt. Was er für das Geplätscher eines Flusses gehalten hatte, war nichts anderes als das Geräusch zerplatzender Wassertropfen gewesen.
  
 Schönberg benötigte mehrere Anläufe, bis er den richtigen Weg fand. Einmal blieb er verwundert stehen, weil unter seinem Fuß etwas zerbrochen war. Er bückte sich. In einer flachen Bodenvertiefung lagen Knochen. Er war genug Fachmann um unschwer zu erkennen: Da lagen nicht nur Tierknochen, da lagen auch Reste eines menschlichen Skeletts. An einigen Stellen war der Boden geschwärzt. Er hatte eine prähistorische Wohnstätte entdeckt. Also musste hier irgendwo ein Höhleneingang sein. Er blickte sich um. Wo war der einsame Jäger aus- und eingegangen?
   Bald kam er in einen Abschnitt, in dem der Berg heillos zertrümmert war. Er zwängte sich durch enge Spalten, sprang über Abgründe, überwand steile Grate. Immer wieder musste er umkehren, denn viele Gänge entpuppten sich bald als Irrwege. Mehrmals rutschte er auf schlüpfrigem Untergrund aus. Einmal wäre die Lampe fast in einen tiefen Schlund gefallen. Nur dank seiner Reaktionsschnelligkeit konnte er es verhindern, indem er den Fuß blitzschnell vorschob. Akribisch achtete er darauf, dass der Zwirnsfaden, der ihn und seine Leute mit dem Leben verband, nicht abriss. Er schlug Nägel ein, band Fäden fest, stellte Kerzen auf. All das fraß viel Zeit. Die Aussicht auf die Freiheit und ungezügelte Entdeckerfreude trieben ihn an und ließen ihn die Gefahr für kurze Zeit vergessen, in der Weber und Marjam schwebten.
   Auf einmal ein Abgrund: Fast wäre er hineingestürzt. Er leuchtete nach unten. Unter ihm, in drei oder vier Meter Tiefe, glitzerte es: Das schwarze Band des Flusses.
   Der Flusses strömte lautlos, unergründlich, unheimlich, wie zu Glas erstarrt. Weiter rechts verschwand er so lautlos, wie er gekommen war in einem schwarzen Schlund: Das Schwundloch. Schönberg leuchtete es sorgfältig aus. Allem Anschein nach besaß es genug lichte Höhe, um sich darin bewegen zu können. Er versuchte, Strömung und Tiefe des Flusses abzuschätzen, aber es war unmöglich, das Licht war zu schwach, ein Grund war nirgends zu erkennen.
    Er sah sich um und suchte die Wände der Höhle nach weiteren Öffnungen ab. Doch alles war glatt und senkrecht wie in einem Kochtopf. Er begriff: Die Flucht konnte nur über diesen Fluss gelingen, denn hier oben  ging es nicht weiter. Er schlug einen letzten Nagel ein, band den Faden fest und trat den Rückweg an. Der Schein der kleinen Lampe war mittlerweile so schwach, dass er kaum zwei Meter weit reichte. Aber er hatte ja vorgesorgt. Faden und Kerzen wiesen ihm den Weg zurück. Die Zeit drängte. Jeden Moment konnte seine Abwesenheit bemerkt werden.

                                                               *

   Während der Doktor Höhlenforschung betrieb, saß Oberst Weizenkorn an seinem Schreibtisch und dachte nach. Vom Flur her näherte sich das Geräusch von Schritten. Jetzt verhielten sie, genau vor seiner Tür. Weizenkorn sah, wie etwas Weißes unter der Tür hindurchgeschoben wurde.  
   Mit zwei Sätzen war er bei der Tür, riss sie auf und blickte hinaus. Der lange Flur war menschenleer. Ärgerlich schüttelte er den Kopf und hob das schmuddelige Couvert auf, das gerade jemand unter der Tür hindurch geschoben hatte. Er ging zu seinem Schreibtisch und setzte sich. Als er den Zettel herausnahm, stellte er mit Bestürzung fest, dass seine Finger zitterten.
  Die Nachricht bestand im wesentlichen nur aus einem Satz in holprigem Englisch.
  'Colonnel, sir' – las er in fehlerhaftem Englisch, 'come this evening at sunset to the store in back of busstation. It may be important'.
    Kein Absender, keine Unterschrift.
   Weizenkorn faltete den Zettel wieder zusammen und trank bedächtig einen Schluck von dem bitteren grünen Tee. Die henkellose heiße Tasse wanderte von der einen Hand in die andere.
   Es wird ein Hinterhalt sein, sagte er sich, jetzt haben sie mich ins Visier genommen. Wieder eines dieser üblichen Katz- und Mausspiele. Sein Körper straffte sich. „Ich lasse die Bude hochgehen!“, murmelte er.
  Er stellte die Tasse ab, griff zum Telefon und ließ sich mit Macron verbinden. Doch noch bevor die Verbindung stand, legte er den Hörer wieder auf. Und wenn es sich um Taifan handelt? Seit acht Tagen hatte er nichts mehr von ihr gehört. Auch die anderen Mädchen wussten nicht, wo sie sich aufhielt – zumindest behaupten sie das. Neuerdings weichen sie mir sogar aus. Da ist etwas gewaltig schief gelaufen, dachte er.
   Er wählte erneut. Es knackte ein paarmal in der Leitung – natürlich wurde sein Telefon abgehört, schließlich war er der zweite Mann nach dem Kommandierenden – dann meldete sich eine mehlig belegte Stimme.
  „Grüß´ dich, Horst!“, sagte der Oberst, „kannst du mir für heute Nachmittag ab sechzehn Uhr zwei deiner Leute borgen? –  Nein, nein, nichts Ernstes, eine reine Vorsichtsmaßnahme! – Wie? Nicht nötig, schick´ sie rechtzeitig vorbei, dann erklär´ ich es ihnen.“
   Der Oberst grinste. Sollte tatsächlich jemand mitgehört haben, so war derjenige jetzt nicht wesentlich schlauer als zuvor.
  Er legte den Hörer auf und blickte zur Uhr. Halb drei. Etwas steifbeinig erhob er sich und ging hinunter ins Arsenal.
  Der wachhabende Unteroffizier, ein Franzose, fläzte in lässiger Haltung in seinem Stuhl, die Füße auf dem Tisch, und blätterte in einem Herrenmagazin. Als der Oberst eintrat, versammelte er seinen schlaksigen Körper um eine senkrechte Achse und nahm ohne Hast Haltung an.
   „Missjö Albert“, sagte der Oberst auf Französisch, „eine schussfeste Weste, s´il vous plait. Und dann lassen Sie diese Pistole gründlich überprüfen.“ Er legte die Waffe auf den Tisch. „Die Waffe muss hundertprozentig funktionieren. Munition habe ich noch. In zwei Stunden hole ich beides wieder ab.“

   Am Busbahnhof standen die gelb und rot gestrichenen Überlandbusse wie bunte Schlachtschiffe und warteten. War der letzte Platz besetzt,  stiegen auch der verschlafen wirkende Fahrer und der noch verschlafener wirkende Beifahrer ein. Dann setze sich der Bus qualmend und ächzend in Bewegung. Zeit spielte in diesem Land noch die gleiche Rolle wie vor tausend Jahren, nämlich keine.
  Zwischen den Bussen standen Tische und Stühle im Schatten bunter Sonnenschirme, an denen die wartenden Fahrgäste mit Brettspielen die überreichliche Zeit totschlugen. Das Gewirr vieler Stimmen und blauer Dunst lagen in der warmen Luft. Hier und da waren kleine tragbare Feldküchen aufgebaut. Unter den Rosten glühten die Kohlen, oben drauf, in großen Pfannen, brutzelte der Pilaw oder rösteten Spieße mit Hammelfleisch. Der Geruch dieser Küchen vermischte sich mit dem Gestank der Dieselabgase zu einem für die Nase des Obersten schwer erträglichen Amalgam orientalischer Lebensart.
  Gerade schickte sich der glühend rote Feuerball der Sonne an, hinter dem Kohn i Babd zu versinken.
   
   Weizenkorn fand das Lagerhaus ohne Schwierigkeiten. Bei seinem Näherkommen stießen sich zwei stämmige Gestalten in landesüblicher Kleidung von der Mauer ab, gegen die sie sich bisher in lässiger Haltung gelehnt hatten, und entfernten sich. Sie waren anscheinend in ein Streitgespräch vertieft, denn der eine der beiden Männer machte eine abwehrende Handbewegung, während der andere heftig den Kopf schüttelte.
   Der Oberst atmete auf. Er wusste jetzt: Der Schuppen ist sauber. Also war es doch kein Hinterhalt!
  Weizenkorn musste eine Weile warten, dann löste sich aus der Dämmerung eine Gestalt und trat auf ihn zu. „Mista Weißen-boon?“ Der Mann war zum Skelett abgemagert, seine ehemals weiße Hose schlotterte ihm um die Beine. Er schien überhaupt keinen Platz einzunehmen: Ein Mann ohne Schatten. Das einzige Körperliche an ihm waren seine großen, traurigen und dunkel umrandeten Augen.
   Der Oberst griff seine Selbstladepistole Hk P30 fester und nickte. Der Mann sagte: „Bitte, mir zu folgen, Sir!“
   Der Schuppen war vollgestopft mit altem Gerümpel und verbeultem Blech. Trotz der Dunkelheit erkannte Weizenkorn Autowracks ohne Türen und Räder, verbeulte Motorhauben, Berge abgefahrener Reifen, Stapel anscheinend nicht mehr gebrauchter Benzinkanister. Ein von Gewehrsalven durchlöcherter Ford Galaxy stand senkrecht und mit der  Motorhaube nach unten zwischen zwei ausgeweideten Trolleybussen. Es roch unangenehm nach Altöl, Bitumen und Ratten.
 Der Mann blieb vor einer ausgetreten Holztreppe stehen. Er sah den Oberst aufmerksam an. Eine nackte Glühbirne, die weiter oben brannte, verbreitete matte Helligkeit. „Sie sind doch der Oberst Weizenkorn?“ fragte er unsicher.
   „Aber ja doch! Wer denn sonst?“
  „Wir müssen sehr vorsichtig sein!“, sagte der Mann und stieg die Treppe hoch.
   Auch auf dem Zwischenboden wieder Gerümpel und ausgediente Gegenstände in fast picassoider Anordnung. Der Dürre klopfte an eine Tür und rief etwas in seiner Muttersprache. Die Tür öffnete sich, und zwei riesige Deutsche Schäferhunde prangen auf den Oberst zu, der reflexartig seine Pistole zog und entsicherte. Doch irgendetwas schien die Köter zu besänftigen; jaulend richteten sie sich auf und versuchten, dem Neuankömmling das Gesicht zu lecken, wobei sie ihr Opfer ihrer Zuneigung fast umwarfen. Anscheinend hatten sie den Landsmann gewittert.
   Der Mann verbeugte sich fast unsichtbar und sagte: „Nach Ihnen, Sir!“
  Der ziemlich große Raum war bis zum bersten mit Menschen angefüllt. Dort lag, saß, kauerte, lümmelte mindestens ein ganzer Familienclan. Wieder standen überall Sachen herum, Dinge, die jetzt keinen Nutzen brachten, aber vielleicht noch einmal gebraucht wurden. Auf dem rohen Dielenboden krochen fünf oder sechs halbnackte Kinder herum, die sich, als sie den fremden Mann gewahrten, ängstlich kreischend hinter einem Stapel Kisten verzogen. Zwei junge Frauen in langen, seitlich geschlitzten Gewändern und Babys auf den Armen verdrückten sich diskret durch eine Nebentür. In einer Ecke saßen drei Greise in Shorts bei einem Brettspiel. Ihre mageren Waden sahen wie die Beine kleiner Kinder aus. Einer der drei räusperte sich nachhaltig und spie einen gewaltigen Auswurf in einen bereitstehenden Spucknapf. Keiner der Männer nahm von Weizenkorn Notiz. In der stickigen Luft lag der Geruch von überhitztem Bratfett vermischt mit dem Duft billigen Parfüms und dem Rauch von Opiumzigaretten.
   Eine alte Frau mit dem Gesicht einer Backpflaume und dem nach innen gekehrten Blick der notorischen Opiumraucherin kam auf Weizenkorn zu und bot ihm Tee an. Der Oberst lehnte dankend ab und blickte den Dürren fragend an. Der Mann wies auf eine schmale Tür hinter einem Stapel Kisten.
   Sie traten ein.
   Auf einem kleinen Tisch brannte ein winziges Öllämpchen, das den Schatten einer schwarz vermummten Gestalt, die auf einem Stuhl hockte, flackernd an die Wand warf. Beim Eintritt Weizenkorns erhob sich die Person. Durch den engen Sehschlitz des Niqabs ekannte der Oberst zwei ängstliche Augen.
   Die Frau murmelte etwas, das der Oberst nicht verstand.
   „Was sagt sie?“, fragte er.
   „Sie will wissen, ob Sie der deutsche Oberst sind.“
  Weizenkorn ging einen Schritt auf die Frau zu und sagte: „Ja, ich bin der Oberst Weizenkorn. Soll ich mich ausweisen?“
    „Nicht nötig“, sagte der Schattenlose schnell.      
    „Und wer sind Sie?“, fragte Weizenkorn in den Seeschlitz hinein.
   „Sie will nicht erkannt werden.“
    „Was will sie?“
   „Sie hat eine Botschaft für Sie.“
     Wieder sprach die Frau, und der Oberst vernahm deutlich den Namen Taifan.
   Taifan!
  Auf einmal war der Oberst hellwach. „Was ist mit Taifan?“ rief er ungestüm, „Menschenskind, reden Sie!“
   „Herr Oberst, bitte, nicht so laut!“ zischte der Dürre, „auch hier haben die Wände Ohren! Und mit Gebrüll erreichen Sie bei ihr nichts.“
   Der Mann murmelte etwas, die Frau griff unter ihren schwarzen Niqab und brachte eine schmale Pappschachtel hervor, den sie dem Oberst hin hielt.
   „Eine Nachricht von Taifan“, hauchte sie in ihrer Sprache.
   Nur mit Mühe unterdrückte der Oberst den Wunsch, die Schachtel zu öffnen und die Botschaft sofort beim kümmerlichen Schein der Lampe zu entziffern. Stattdessen blickte er den Schattenlosen an und fragte: „Kann ich etwas für die Frau tun?“
   „Das Beste, was Sie für sie tun können ist, diese Zusammenkunft vollständig zu vergessen. Niemand darf davon auch nur ein Wort erfahren. Schon jetzt befindet sie sich in äußerster Lebensgefahr.“

   „Wer war die Frau?“, fragte der Oberst flüsternd, als er und der Dürre wieder die Treppe herunterstiegen.
    „Herr Oberst, bitte, stellen Sie auf keinen Fall Nachforschungen an! Sie war eine Gefangene der Terrormiliz 'Schwert des Islam' und konnte fliehen. Mehr weiß ich auch nicht, und mehr interessiert mich auch nicht!“

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Beitrag14.03.2019 14:36
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von wunderkerze
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Kurz nach Mitternacht verließ Schönberg die Krankenstation. Overall und Sandalen hatte er unbemerkt gegen Jeans, Hemd und festes Schuhwerk ausgetauscht. Die Taschenlampe in der rechten, den Beutel mit den beiden Zwirndocken in der linken Hand schritt er zügig den Gang zum hinteren Höhlensystem entlang. Zu seiner Expeditionsausrüstung gehörten außerdem noch einige Knochennägel, ein kleiner Reflexhammer, einige schmale hohe Kerzen sowie zwei Gasfeuerzeuge.
   Der Doktor befand sich in einem eigenartigen Wachzustand. Schon seit einigen Nächten schlief er noch weniger als sonst. Die unseelige Auseinandersetzung mit Whali Khan hatte ihn stark verunsichert, und er machte sich keinerlei Illusionen mehr. Also hatte er sich als Mann der Tat kurzerhand entschlossen, sein Schicksal in die eigenen Hände zu nehmen und unverzüglich mit der Erforschung eines Fluchtweges zu beginnen. Mithilfe eines Eisenhebels, den Weber unbemerkt von einem Krankenbett abmontiert hatte, war es ihm schon vor Tagen gelungen, den Spalt so zu erweitern, dass er hindurch kriechen konnte.
  Mein Leben hängt an einem seidenen Faden, dachte er betrübt, während er geräuschlos den Gang entlang schlich. Möglicherweise ist der Mann doch nicht so dumm und mittlerweile dahinter gekommen, dass ich ihn mit dem erfundenen Koranvers ganz schön hereingelegt habe. Bei der nächst besten Gelegenheit wird der dicke Revolverheld seine Kanone ziehen und mich über den Haufen schießen. Dann geht´s eben nicht anders. Dann werden eben die Sanitäter Skalpell und Säge schwingen, und Weber ist lange genug dabei, um ein Bein absägen zu können. Die Bauchschüsse verrecken dann eben.
   Schönberg stand jetzt in der Höhle hinter dem Spalt und knipste die Lampe an. Die Finsternis fraß den schwachen Lichtstrahl auf. Doch allmählich erkannte er Einzelheiten. Was er sah, verschlug ihm den Atem. Er blickte in das monströse Gebiss eines urzeitlichen Ungeheuers. Weiß glänzende Bodenzapfen wuchsen wie spitze Zähne aus kissenförmigen Kiefern nadeldünnen Deckenzapfen entgegen. Dahinter gähnte schwarz und unheimlich ein tiefer Abgrund. Die hochragende Halle war so endlos,  der Lampenstrahl verlor sich im Leeren. Ihre Wände glitzerten feucht,  irgendwo tropfte es. Die ungeheure Stille verstärkte das Tropfgeräusch ins Überdimensionale. Er leuchtete den Boden ab. Er war von Geröll bedeckt und ziemlich abschüssig.
  Eine fiebrige Nervosität erfasste ihn. Es war nicht nur die Hoffnung auf eine Fluchtmöglichkeit, die ihn so erregte, sondern fast noch mehr die Gewissheit, der erste Mensch zu sein, der diese geheimnisvolle Unterwelt betrat. Was er jetzt sehen würde, hatte noch nie ein Mensch vor ihm erblickt. Er nahm eine Kerze hervor, sorgte mit Steinen dafür, dass sie nicht umfallen konnte, und zündete sie an. Die Flamme brannte ruhig und erstaunlich hell.
   Wie im Rausch bewegte er sich auf das andere Höhlenende zu, dabei zählte er die Schritte. Quer über den Höhlenboden hinweg lag ein breiter Spalt, der sich in den Wänden und in der Kuppel der Höhle fortsetzte. Es sah aus, als sei der Berg an dieser Stelle auseinander gebrochen und als hätten sich die beiden Hälften gegeneinander verschoben. Der Spalt erweiterte sich nach rechts zu einem klammartigen Schacht. Er leuchtete hinein. Der Schacht war gerade so breit, dass ein nicht allzu korpulenter  Mann hindurch passte. Er leuchtete hinein. Nach unten hin verlor sich der Lampenschein im Nichts.
  Schönberg blickte sich um. Etwa zwei Meter über ihm gewahrte er eine größere Öffnung. Er legte den Beutel nieder und die Lampe so, dass ihr Licht auf die Öffnung fiel, und sprang mehrmals hoch. Aber immer wieder glitten seine Finger ab.
   Anscheinend war die Klamm die einzige Möglichkeit, hier weiterzukommen.
   An Umkehren nicht zu denken. Die Suche nach einem anderen Weg hätte viel zu viel Zeit gekostet. Deshalb entschloss er sich, die Klamm zu versuchen. Da die enge Schlucht sich nach unten hin fortsetzte, war weder an Gehen noch Kriechen zu denken. Glücklicherweise fiel der Spalt nicht senkrecht, sondern schräg ab, sodass er sich halb stehend, halb liegend in die Klamm hineinzwängen konnte. Die Taschenlampe steckte er sich in den Mund.
  Den Rücken hart an den Felsen gepresst versuchte er zunächst, Halt zu finden und nicht abzurutschen. Dann löste er das rechte Knie von der gegenüberliegenden Felswand, verschob es weiter nach rechts und zog das andere nach. Ähnlich verfuhr er mit den Ellenbogen. So arbeitete er sich Zentimeter um Zentimeter vor. Es ging besser als erwartet. Allmählich wurde die Klamm breiter, und er gewahrte in etwa einem Meter Tiefe einen Felsleiste, die einem Fuß Platz bot. Mit einem Bein gehend stieß er sich mit dem anderen ab und erreichte bald eine Art Plattform, auf der er verschnaufen und sich den Schweiß von der Stirn wischen konnte.
  Als er wieder etwas zu Atem gekommen war leuchtete in den Raum hinein. Kristalldrusen blitzten auf und erloschen wieder. Der stark abschüssige Boden war wüst mit Felsbrocken übersät. Anscheinend war vor langer Zeit die Decke eingestürzt. Die Klamm hatte sich mittlerweile zu einer breiten Schlucht gemausert, die sich in schräger Tiefe verlor. Weit weg, mehr Ahnung als Wirklichkeit, glitzerte ein erstarrter Wasserfall: Ein breiter Quarzgang. Seine Metalleinschlüsse ließen ihn im Schein der Lampe in allen Regenbogenfarben satt aufleuchten.
   Von dieser großen Höhle gingen mehrere kleinere Seitenhöhlen und Gänge ab, deren finstere Rachen das Licht der Lampe verschluckten.
    Schönberg lauschte. War das nicht das Geplätscher von Wasser?
    „Der Höhlenfluss!“, rief er aufgeregt in die Dunkelheit hinein und erschrak über sein eigenes Echo.
    Wieder nahm er einen Nagel hervor und klopfte ihn mit dem Reflexhammer in eine Spalte neben der Klamm. Durch Rütteln überzeugte sich, dass der Stahlstift auch fest saß, und band einen Zwirnsfaden daran fest. Dann stellte er wieder eine brennende Kerze auf. Er wickelte einige Meter Zwirn ab, nahm Lampe und Beutel an sich und sprang auf den nächsten Felsbrocken, und von da aus auf den Höhlenboden. Der Boden zwischen den Felsbrocken war mit Kies und Geröll bedeckt, ein Zeichen, dass hier einst Wasser geflossen war. Erneut hielt er inne, um zu lauschen. Das Geplätscher schien aus einer der Öffnungen im Hintergrund der Höhle zu kommen.
   Die sich abspulende Zwirndocke in der Hand, drang er in den Gang ein. Von oben tropfte es heftig; die Tropfen zerplatzten mit hellem Ton in Wasserlaachen auf dem Boden. Bald war er völlig durchnässt. Leider stellte sich nach etwa fünfzig Schritten auch noch heraus, dass der Gang durch einen Bergsturz verschüttet war. Er kehrte um, wobei er den Faden sorgfältig wieder aufwickelte. Weit weg ein winziger heller Stern: Die Kerze.
   Die Höhlenakustik hatte ihn genarrt. Was er für das Geplätscher eines Flusses gehalten hatte, war nichts anderes als das Geräusch zerplatzender Wassertropfen gewesen.
  
 Schönberg benötigte mehrere Anläufe, bis er den richtigen Weg fand. Einmal blieb er verwundert stehen, weil unter seinem Fuß etwas zerbrochen war. Er bückte sich. In einer flachen Bodenvertiefung lagen Knochen. Er war genug Fachmann um unschwer zu erkennen: Da lagen nicht nur Tierknochen, da lagen auch Reste eines menschlichen Skeletts. An einigen Stellen war der Boden geschwärzt. Er hatte eine prähistorische Wohnstätte entdeckt. Also musste hier irgendwo ein Höhleneingang sein. Er blickte sich um. Wo war der einsame Jäger aus- und eingegangen?
   Bald kam er in einen Abschnitt, in dem der Berg heillos zertrümmert war. Er zwängte sich durch enge Spalten, sprang über Abgründe, überwand steile Grate. Immer wieder musste er umkehren, denn viele Gänge entpuppten sich bald als Irrwege. Mehrmals rutschte er auf schlüpfrigem Untergrund aus. Einmal wäre die Lampe fast in einen tiefen Schlund gefallen. Nur dank seiner Reaktionsschnelligkeit konnte er es verhindern, indem er den Fuß blitzschnell vorschob. Akribisch achtete er darauf, dass der Zwirnsfaden, der ihn und seine Leute mit dem Leben verband, nicht abriss. Er schlug Nägel ein, band Fäden fest, stellte Kerzen auf. All das fraß viel Zeit. Die Aussicht auf die Freiheit und ungezügelte Entdeckerfreude trieben ihn an und ließen ihn die Gefahr für kurze Zeit vergessen, in der Weber und Marjam schwebten.
   Auf einmal ein Abgrund: Fast wäre er hineingestürzt. Er leuchtete nach unten. Unter ihm, in drei oder vier Meter Tiefe, glitzerte es: Das schwarze Band des Flusses.
   Der Flusses strömte lautlos, unergründlich, unheimlich, wie zu Glas erstarrt. Weiter rechts verschwand er so lautlos, wie er gekommen war in einem schwarzen Schlund: Das Schwundloch. Schönberg leuchtete es sorgfältig aus. Allem Anschein nach besaß es genug lichte Höhe, um sich darin bewegen zu können. Er versuchte, Strömung und Tiefe des Flusses abzuschätzen, aber es war unmöglich, das Licht war zu schwach, ein Grund war nirgends zu erkennen.
    Er sah sich um und suchte die Wände der Höhle nach weiteren Öffnungen ab. Doch alles war glatt und senkrecht wie in einem Kochtopf. Er begriff: Die Flucht konnte nur über diesen Fluss gelingen, denn hier oben  ging es nicht weiter. Er schlug einen letzten Nagel ein, band den Faden fest und trat den Rückweg an. Der Schein der kleinen Lampe war mittlerweile so schwach, dass er kaum zwei Meter weit reichte. Aber er hatte ja vorgesorgt. Faden und Kerzen wiesen ihm den Weg zurück. Die Zeit drängte. Jeden Moment konnte seine Abwesenheit bemerkt werden.

                                                               *

   Während der Doktor Höhlenforschung betrieb, saß Oberst Weizenkorn an seinem Schreibtisch und dachte nach. Vom Flur her näherte sich das Geräusch von Schritten. Jetzt verhielten sie, genau vor seiner Tür. Weizenkorn sah, wie etwas Weißes unter der Tür hindurchgeschoben wurde.  
   Mit zwei Sätzen war er bei der Tür, riss sie auf und blickte hinaus. Der lange Flur war menschenleer. Ärgerlich schüttelte er den Kopf und hob das schmuddelige Couvert auf, das gerade jemand unter der Tür hindurch geschoben hatte. Er ging zu seinem Schreibtisch und setzte sich. Als er den Zettel herausnahm, stellte er mit Bestürzung fest, dass seine Finger zitterten.
  Die Nachricht bestand im wesentlichen nur aus einem Satz.
  'Colonnel, sir' – las er in fehlerhaftem Englisch, 'come this evening at sunset to the store in back of busstation. It may be important'.
    Kein Absender, keine Unterschrift.
   Weizenkorn faltete den Zettel wieder zusammen und trank bedächtig einen Schluck von dem bitteren grünen Tee. Die henkellose heiße Tasse wanderte von der einen Hand in die andere.
   Es wird ein Hinterhalt sein, sagte er sich, jetzt haben sie mich ins Visier genommen. Wieder eines dieser üblichen Katz- und Mausspiele. Sein Körper straffte sich. „Ich lasse die Bude hochgehen!“, murmelte er.
  Er stellte die Tasse ab, griff zum Telefon und ließ sich mit Macron verbinden. Doch noch bevor die Verbindung stand, legte er den Hörer wieder auf. Und wenn es sich um Taifan handelt? Seit acht Tagen hatte er nichts mehr von ihr gehört. Auch die anderen Mädchen wussten nicht, wo sie sich aufhielt – zumindest behaupten sie das. Neuerdings weichen sie mir sogar aus. Da ist etwas gewaltig schief gelaufen, dachte er.
   Er wählte erneut. Es knackte ein paarmal in der Leitung – natürlich wurde sein Telefon abgehört, schließlich war er der zweite Mann nach dem Kommandierenden – dann meldete sich eine mehlig belegte Stimme.
  „Grüß´ dich, Horst!“, sagte der Oberst, „kannst du mir für heute Nachmittag ab sechzehn Uhr zwei deiner Leute borgen? –  Nein, nein, nichts Ernstes, eine reine Vorsichtsmaßnahme! – Wie? Nicht nötig, schick´ sie rechtzeitig vorbei, dann erklär´ ich es ihnen.“
   Der Oberst grinste. Sollte tatsächlich jemand mitgehört haben, so war derjenige jetzt nicht wesentlich schlauer als zuvor.
  Er legte den Hörer auf und blickte zur Uhr. Halb drei. Etwas steifbeinig erhob er sich und ging hinunter ins Arsenal.
  Der wachhabende Unteroffizier, ein Franzose, fläzte in lässiger Haltung in seinem Stuhl, die Füße auf dem Tisch, und blätterte in einem Herrenmagazin. Als der Oberst eintrat, versammelte er seinen schlaksigen Körper um eine senkrechte Achse und nahm ohne Hast Haltung an.
   „Missjö Albert“, sagte der Oberst auf Französisch, „eine schussfeste Weste, s´il vous plait. Und dann lassen Sie diese Pistole gründlich überprüfen.“ Er legte die Waffe auf den Tisch. „Die Waffe muss hundertprozentig funktionieren. Munition habe ich noch. In zwei Stunden hole ich beides wieder ab.“

   Am Busbahnhof standen die gelb und rot gestrichenen Überlandbusse wie bunte Schlachtschiffe und warteten. War der letzte Platz besetzt,  stiegen auch der verschlafen wirkende Fahrer und der noch verschlafener wirkende Beifahrer ein. Dann setze sich der Bus qualmend und ächzend in Bewegung. Zeit spielte in diesem Land noch die gleiche Rolle wie vor tausend Jahren, nämlich keine.
  Zwischen den Bussen standen Tische und Stühle im Schatten bunter Sonnenschirme, an denen die wartenden Fahrgäste mit Brettspielen die überreichliche Zeit totschlugen. Das Gewirr vieler Stimmen und blauer Dunst lagen in der warmen Luft. Hier und da waren kleine tragbare Feldküchen aufgebaut. Unter den Rosten glühten die Kohlen, oben drauf, in großen Pfannen, brutzelte der Pilaw oder rösteten Spieße mit Hammelfleisch. Der Geruch dieser Küchen vermischte sich mit dem Gestank der Dieselabgase zu einem für die Nase des Obersten schwer erträglichen Amalgam orientalischer Lebensart.
  Gerade schickte sich der glühend rote Feuerball der Sonne an, hinter dem Kohn i Babd zu versinken.
   
   Weizenkorn fand das Lagerhaus ohne Schwierigkeiten. Bei seinem Näherkommen stießen sich zwei stämmige Gestalten in landesüblicher Kleidung von der Mauer ab, gegen die sie sich bisher in lässiger Haltung gelehnt hatten, und entfernten sich. Sie waren anscheinend in ein Streitgespräch vertieft, denn der eine der beiden Männer machte eine abwehrende Handbewegung, während der andere heftig den Kopf schüttelte.
   Der Oberst atmete auf. Er wusste jetzt: Der Schuppen ist sauber. Also war es doch kein Hinterhalt!
  Weizenkorn musste eine Weile warten, dann löste sich aus der Dämmerung eine Gestalt und trat auf ihn zu. „Mista Weißen-boon?“ Der Mann war zum Skelett abgemagert, seine ehemals weiße Hose schlotterte ihm um die Beine. Er schien überhaupt keinen Platz einzunehmen: Ein Mann ohne Schatten. Das einzige Körperliche an ihm waren seine großen, traurigen und dunkel umrandeten Augen.
   Der Oberst griff seine Selbstladepistole Hk P30 fester und nickte. Der Mann sagte: „Bitte, mir zu folgen, Sir!“
   Der Schuppen war vollgestopft mit altem Gerümpel und verbeultem Blech. Trotz der Dunkelheit erkannte Weizenkorn Autowracks ohne Türen und Räder, verbeulte Motorhauben, Berge abgefahrener Reifen, Stapel anscheinend nicht mehr gebrauchter Benzinkanister. Ein von Gewehrsalven durchlöcherter Ford Galaxy stand senkrecht und mit der  Motorhaube nach unten zwischen zwei ausgeweideten Trolleybussen. Es roch unangenehm nach Altöl, Bitumen und Ratten.
 Der Mann blieb vor einer ausgetreten Holztreppe stehen. Er sah den Oberst aufmerksam an. Eine nackte Glühbirne, die weiter oben brannte, verbreitete matte Helligkeit. „Sie sind doch der Oberst Weizenkorn?“ fragte er unsicher.
   „Aber ja doch! Wer denn sonst?“
  „Wir müssen sehr vorsichtig sein!“, sagte der Mann und stieg die Treppe hoch.
   Auch auf dem Zwischenboden wieder Gerümpel und ausgediente Gegenstände in fast picassoider Anordnung. Der Dürre klopfte an eine Tür und rief etwas in seiner Muttersprache. Die Tür öffnete sich, und zwei riesige Deutsche Schäferhunde prangen auf den Oberst zu, der reflexartig seine Pistole zog und entsicherte. Doch irgendetwas schien die Köter zu besänftigen; jaulend richteten sie sich auf und versuchten, dem Neuankömmling das Gesicht zu lecken, wobei sie ihr Opfer ihrer Zuneigung fast umwarfen. Anscheinend hatten sie den Landsmann gewittert.
   Der Mann verbeugte sich fast unsichtbar und sagte: „Nach Ihnen, Sir!“
  Der ziemlich große Raum war bis zum bersten mit Menschen angefüllt. Dort lag, saß, kauerte, lümmelte mindestens ein ganzer Familienclan. Wieder standen überall Sachen herum, Dinge, die jetzt keinen Nutzen brachten, aber vielleicht noch einmal gebraucht wurden. Auf dem rohen Dielenboden krochen fünf oder sechs halbnackte Kinder herum, die sich, als sie den fremden Mann gewahrten, ängstlich kreischend hinter einem Stapel Kisten verzogen. Zwei junge Frauen in langen, seitlich geschlitzten Gewändern und Babys auf den Armen verdrückten sich diskret durch eine Nebentür. In einer Ecke saßen drei Greise in Shorts bei einem Brettspiel. Ihre mageren Waden sahen wie die Beine kleiner Kinder aus. Einer der drei räusperte sich nachhaltig und spie einen gewaltigen Auswurf in einen bereitstehenden Spucknapf. Keiner der Männer nahm von Weizenkorn Notiz. In der stickigen Luft lag der Geruch von überhitztem Bratfett vermischt mit dem Duft billigen Parfüms und dem Rauch von Opiumzigaretten.
   Eine alte Frau mit dem Gesicht einer Backpflaume und dem nach innen gekehrten Blick der notorischen Opiumraucherin kam auf Weizenkorn zu und bot ihm Tee an. Der Oberst lehnte dankend ab und blickte den Dürren fragend an. Der Mann wies auf eine schmale Tür hinter einem Stapel Kisten.
   Sie traten ein.
   Auf einem kleinen Tisch brannte ein winziges Öllämpchen, das den Schatten einer schwarz vermummten Gestalt, die auf einem Stuhl hockte, flackernd an die Wand warf. Beim Eintritt Weizenkorns erhob sich die Person. Durch den engen Sehschlitz des Niqabs ekannte der Oberst zwei ängstliche Augen.
   Die Frau murmelte etwas, das der Oberst nicht verstand.
   „Was sagt sie?“, fragte er.
   „Sie will wissen, ob Sie der deutsche Oberst sind.“
  Weizenkorn ging einen Schritt auf die Frau zu und sagte: „Ja, ich bin der Oberst Weizenkorn. Soll ich mich ausweisen?“
    „Nicht nötig“, sagte der Schattenlose schnell.      
    „Und wer sind Sie?“, fragte Weizenkorn in den Seeschlitz hinein.
   „Sie will nicht erkannt werden.“
    „Was will sie?“
   „Sie hat eine Botschaft für Sie.“
     Wieder sprach die Frau, und der Oberst vernahm deutlich den Namen Taifan.
   Taifan!
  Auf einmal war der Oberst hellwach. „Was ist mit Taifan?“ rief er ungestüm, „Menschenskind, reden Sie!“
   „Herr Oberst, bitte, nicht so laut!“ zischte der Dürre, „auch hier haben die Wände Ohren! Und mit Gebrüll erreichen Sie bei ihr nichts.“
   Der Mann murmelte etwas, die Frau griff unter ihren schwarzen Niqab und brachte eine schmale Pappschachtel hervor, den sie dem Oberst hin hielt.
   „Eine Nachricht von Taifan“, hauchte sie in ihrer Sprache.
   Nur mit Mühe unterdrückte der Oberst den Wunsch, die Schachtel zu öffnen und die Botschaft sofort beim kümmerlichen Schein der Lampe zu entziffern. Stattdessen blickte er den Schattenlosen an und fragte: „Kann ich etwas für die Frau tun?“
   „Das Beste, was Sie für sie tun können ist, diese Zusammenkunft vollständig zu vergessen. Niemand darf davon auch nur ein Wort erfahren. Schon jetzt befindet sie sich in äußerster Lebensgefahr.“

   „Wer war die Frau?“, fragte der Oberst flüsternd, als er und der Dürre wieder die Treppe herunterstiegen.
    „Herr Oberst, bitte, stellen Sie auf keinen Fall Nachforschungen an! Sie war eine Gefangene der Terrormiliz 'Schwert des Islam' und konnte fliehen. Mehr weiß ich auch nicht, und mehr interessiert mich auch nicht!“

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Beitrag14.03.2019 14:42
Antwor
von wunderkerze
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sorry, ich habe die letzten Kapitel aus Versehen 2mal eingestellt. Wie bekomme ich das wieder weg?

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nicolailevin
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Wohnort: Süddeutschland


Beitrag20.03.2019 19:47

von nicolailevin
Antworten mit Zitat

Was mir an der letzten Lieferung grob aufgefallen ist:

Zitat:
Overall und Sandalen hatte er unbemerkt gegen Jeans, Hemd und festes Schuhwerk ausgetauscht.


Wo hat er die her? Wenn du so ein Detail beschreibst, solltest du es auch plausibel machen.

Zitat:
den Beutel mit den beiden Zwirndocken


Zwirndocken?

Zitat:
Der Doktor befand sich in einem eigenartigen Wachzustand. Schon seit einigen Nächten schlief er noch weniger als sonst. Die unseelige Auseinandersetzung mit Whali Khan hatte ihn stark verunsichert, und er machte sich keinerlei Illusionen mehr. Also hatte er sich als Mann der Tat kurzerhand entschlossen, sein Schicksal in die eigenen Hände zu nehmen und unverzüglich mit der Erforschung eines Fluchtweges zu beginnen.


Viel tell, wenig show hier.

Zitat:
Mein Leben hängt an einem seidenen Faden, dachte er betrübt,


Aber er handelt doch dagegen! Dann sollte ihn das nicht betrüben, sondern anspornen!

Zitat:
Er blickte in das monströse Gebiss eines urzeitlichen Ungeheuers. Weiß glänzende Bodenzapfen wuchsen wie spitze Zähne aus kissenförmigen Kiefern nadeldünnen Deckenzapfen entgegen. Dahinter gähnte schwarz und unheimlich ein tiefer Abgrund. Die hochragende Halle war so endlos,  der Lampenstrahl verlor sich im Leeren. Ihre Wände glitzerten feucht,  irgendwo tropfte es. Die ungeheure Stille verstärkte das Tropfgeräusch ins Überdimensionale. Er leuchtete den Boden ab. Er war von Geröll bedeckt und ziemlich abschüssig.


Akute Attributitis in diesem Absatz!

Zitat:
Es war nicht nur die Hoffnung auf eine Fluchtmöglichkeit, die ihn so erregte, sondern fast noch mehr die Gewissheit, der erste Mensch zu sein, der diese geheimnisvolle Unterwelt betrat. Was er jetzt sehen würde, hatte noch nie ein Mensch vor ihm erblickt.


Also, ICH wäre da pragmatischer gestrickt und mein Leben wär mir erstmal das Bedeutendste. Aber ich bin schließlich kein selbstloser Arzt wie dein Held ...

Zitat:
An Umkehren nicht zu denken.


Dieser Satz kein Verb.

Zitat:
Die Klamm hatte sich mittlerweile zu einer breiten Schlucht gemausert,


Mausern geht für mein Sprachempfinden nur bei Tieren oder Menschen.

Zitat:
Er hatte eine prähistorische Wohnstätte entdeckt.


Da liegen Knochen rum, deshalb ist es prähistorisch? Das sieht er so auf den ersten Blick und kann auch ohne weiteres einschätzen, wie lange Knochenreste im Höhlenklima konserviert sind?

Zitat:
Bald kam er in einen Abschnitt, in dem der Berg heillos zertrümmert war.


Zertrümmert? Der ganze Berg? Dann würde ich einen gigantischen Schutthaufen erwarten, keine Gänge und Höhlen.

Zitat:
Akribisch achtete er darauf, dass der Zwirnsfaden, der ihn und seine Leute mit dem Leben verband, nicht abriss.


Wieso jetzt seine Leute? Ich denke, der ist da allein unterwegs?

                                                               *

Zitat:
Die Nachricht bestand im wesentlichen nur aus einem Satz in holprigem Englisch.
  'Colonnel, sir' – las er in fehlerhaftem Englisch, 'come this evening at sunset to the store in back of busstation. It may be important'.


Warum betonst du das schlechte Englisch? Und das gleich zweimal? Dein englischkundiger Leser erkennt das selbst - ich finde (außer dem Typo bei Colonel) übrigens in dem Satz nur einen einzigen Fehler ("in back of" statt "behind the").

Zitat:
Und wenn es sich um Taifan handelt? Seit acht Tagen hatte er nichts mehr von ihr gehört. Auch die anderen Mädchen wussten nicht, wo sie sich aufhielt – zumindest behaupten sie das. Neuerdings weichen sie mir sogar aus. Da ist etwas gewaltig schief gelaufen, dachte er.


Warum wechselst du hier die Zeitform?

Zitat:
dann meldete sich eine mehlig belegte Stimme.


Da sagt einer lediglich seinen Namen in den Hörer, und daran hört derjenige am anderen Ende der Leitung, dass die Stimme "mehlig belegt" ist ...


Zitat:
„Missjö Albert“, sagte der Oberst auf Französisch, „eine schussfeste Weste, s´il vous plait.


plaît mit Dacherl - und s'il mit Hochkomma (') abtrennen, nicht mit Accent Aigu (´).

Zitat:
Und dann lassen Sie diese Pistole gründlich überprüfen.“ Er legte die Waffe auf den Tisch. „Die Waffe muss hundertprozentig funktionieren. Munition habe ich noch. In zwei Stunden hole ich beides wieder ab.“


Wie zum Henker prüft man so eine Pistole? Durchladen ist ein Handgriff, das wird er selbst gemacht haben. Bliebe höchstens noch reinigen ...

Zitat:
Gerade schickte sich der glühend rote Feuerball der Sonne an, hinter dem Kohn i Babd zu versinken.


Das unterstellt der Sonne absichtsvolles Verhalten.
   
Zitat:
Der Oberst atmete auf. Er wusste jetzt: Der Schuppen ist sauber. Also war es doch kein Hinterhalt!


Hä? Gebäude, vor denen zwei Gestalten stehen, die dann diskutierend weggehen, sind also zwangsläufig sauber?! Naturgesetz? Allwissenheit des Oberst?

Zitat:
Der Oberst griff seine Selbstladepistole Hk P30 fester und nickte.


Ist das technische Detail von Bedeutung? Oder zahlt dir Heckler was fürs Erwähnen?

Zitat:
Ein von Gewehrsalven durchlöcherter Ford Galaxy


Anhand der Einschusslöcher lässt sich erkennen, dass die Kugeln aus Gewehren kamen?

Zitat:
Es roch unangenehm nach Altöl, Bitumen und Ratten.


Altöl und Bitumen kauf ich. Wonach riechen Ratten? Ich hab schon ein paar gesehen - auch näher als mir lieb war Smile -, aber die waren ziemlich geruchsfrei.

Zitat:
„Sie sind doch der Oberst Weizenkorn?“ fragte er unsicher.


Ein paar Zeilen weiter oben hat er den Namen noch ganz falsch gesagt ...

 
Zitat:
in fast picassoider Anordnung.


Find ich originell. Aber wieder: Gönn die Pointen deinen Figuren. Lass den Oberst das denken!

Zitat:
Der Dürre klopfte an eine Tür und rief etwas in seiner Muttersprache.


Der Oberst kann nur erkennen, ob er die Sprache kennt und - falls ja - ob der Dürre sie akzentfrei und flüssig spricht. Muttersprache geht nur aus Perspektive des Typen selbst ...

Zitat:
Anscheinend hatten sie den Landsmann gewittert.


Lassen. Unplausibel, unnötig und tendenziell rassistisch.
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Beitrag22.03.2019 12:57
Fortsetzung
von wunderkerze
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Oberst von Weizenkorn verließ den dunklen Schuppen mit grüblerisch zerfurchter Stirn. Allmählich begann er zu begreifen, dass er sich bei Taifan auf ein Abenteuer eingelassen hatte, dessen gutes Ende mehr als fraglich war. Die Schachtel hielt er wie ein kostbares Kleinod fest in der Hand umschlossen. In seinem Büro angekommen, nahm er sich nicht einmal die Zeit, Weste und Pistolengurt abzulegen. Noch im Stehen schnürte er das Päckchen auf. Es enthielt einen goldenen Pantoffel sowie einen Zettel, eingerollt und mit einem roten Schleifchen versehen. Der Oberst las:

    'Fidisahib, my dear, Allah will nicht, dass unsere Freundschaft
    Bestand hat. Sie haben mich in ein unterirdisches Höhlensystem
    entführt und verlangen Dinge von mir, die mich entsetzlich anekeln.
    Mit dir hat es immer Spaß gemacht, aber unter diesen Umständen
    ist es die Hölle. Ich bin todunglücklich und finde keine Ruhe,
    denn sie kommen immer wieder und holen mich. Deshalb werde ich,
    die Geringste unter den Töchtern Allahs, ein deutliches Zeichen setzen.
    Wenn du diese Zeilen liest, mein Freund, werde ich nicht mehr unter
    den Lebenden sein. Allah wird mir sicherlich verzeihen, und du
    wirst mich verstehen.
    In der bewussten Angelegenheit bin ich nicht weitergekommen.'

  Der Oberst ließ bestürzt den Zettel sinken und merkte, dass ihm der Mund trocken wurde. Mit allem hatte er gerechnet, nur nicht damit. Er ging zum Wandschrank mit den Getränken und goss sich einen ordentlichen Whiskey ein, den er in einem Zug hinunterstürzte. Taifan will sich umbringen! Er stellte das leere Glas so hart ab, dass eine kleine Delle in der Tischplatte zurückblieb. Den Rest der Mitteilung verstand er nur halb, so benommen war er. Taifan schrieb:
    
    'Aber vielleicht hilft dir folgende Beobachtung: In der Höhle,
    die sie als Küche benutzen, brennt Tag  und Nacht ein Feuer,
    dessen Rauch durch ein Loch in der Höhlendecke abzieht.
    Manchmal legen sie feuchtes Holz auf, und es qualmt fürchterlich.
    Vielleicht kannst du ja auf diese Weise das Versteck der Verbrecher
    herausfinden.
    Godahafiz, Fidisahib, Allah erhalte dich. Und vergiss  mich nicht!
    Auf ewig deine Taifan.'  

   Weizenkorn setzte sich und starrte aus dem Fenster, wo gerade ein uralter, blasser Mond aufging.
   Godahafiz, Fidisahib, Allah erhalte dich...
  Zum ersten Mal in seinem Leben empfand er schwere Gewissensbisse. Um meine Karriere nicht zu gefährden, habe ich eine liebende Seele geopfert, ging es ihm durch den Sinn. Beschämt riss er ein Zündholz an und hielt die Flamme an eine Ecke des Schriftstücks. Der Zettel flammte auf, aber schon sah er die Albernheit dieser Handlung ein. Wenn auch der Zettel aus der Welt war, seine Schuld war es nicht. Mit der flachen Hand schlug er die Flamme wieder aus.
  Da lag Taifans Pantoffel. Er nahm ihn hoch, roch daran und küsste ihn. Jetzt geschah etwas, das niemand, der den Oberst kannte, für möglich gehalten hätte. Der Oberst weinte.
   Nachdem er sich wieder im Griff hatte, ging er zum Tresor und legte den Pantoffel zu der Mappe mit den Briefen seiner Frau. Dann griff er zum Hörer und ließ sich mit der deutschen Botschaft verbinden.

                                                            *

   „Was ist geschehen?“, fragte Müller verdutzt, als er Weizenkorns übernächtigtes Gesicht sah. Diesmal lachte er nicht. Es war früher Vormittag, und der Botschafter hatte noch mit den Folgen des gestrigen Herrenabends zu kämpfen.
   Der Oberst ließ sich in einen Sessel fallen. „Jetzt brauch ich erst mal was zu trinken. Kann ich einen Whisky haben?“
   Müller goss ein, und Weizenkorn trank. Dann sagte er: „Hab´ die halbe Nacht wach gelegen! Ist mir noch nie passiert! Ein gesunder Schlaf, weißt du, ist eine der Grundvoraussetzungen für den Sieg!“
   Der Botschafter merkte trotz seines leicht benebelten Zustandes, dass mit seinem Freund etwas nicht stimmte. „Mensch Friedrich, was ist los mit dir?“ rief er, „so schlecht gelaunt kenne ich dich ja gar nicht!“
    Weizenkorn massierte sich den Nacken. „Gestern Abend erhielt ich eine Nachricht von Taifan.“
   „Taifan? Wer ist Taifan?“
   „Das Mädchen, dass den Maulwurf fangen sollte.“
   „Ach ja, jetzt erinnere ich mich! Was ist mit ihr?“
   „Sie ist tot. Sie hat sich umgebracht.“
   Müller machte den hirnrissigen Versuch, auch jetzt noch humorvoll zu wirken. Solche ernsten Gespräche liebte er nicht, und heute morgen schon gar nicht. „Tot? Wie kann sie dich denn dann benachrichtigen?“, fragte er spitz.
   „Herrgottnochmal! Sei doch nicht so begriffsstutzig! Jemand überbrachte mir eine Botschaft, die sie vorher aufgeschrieben hat, und in der sie ihren Selbstmord ankündigt. Schreckliche Sache!“
    „Bist du sicher, dass die Botschaft überhaupt von ihr stammt? Vielleicht will dich ja jemand warnen oder in eine Falle locken! Du kennst doch die asiatische Doppelzüngigkeit! Ich könnte mir vorstellen, dass du nicht bei allen Leuten in der Region hier beliebt bist.“
 „Die Mitteilung stammt eindeutig von ihr. Das Päckchen enthielt ein gewisses ...hmm... einen gewissen Gegenstand, dessen Bedeutung nur wir beide verstehen. Das Blöde ist: Hätte ich ihr nicht falsche Versprechungen gemacht, würde sie jetzt noch leben.“
   „Verstehe! Das ist natürlich nicht schön für dich.“
   „Nicht schön? Das ist eine Katastrophe!“
   Eine Weile herrschte Stille. Dann sagte der Oberst: „Ich kenne mich selbst nicht mehr. Als ich gestern Abend die Nachricht las, dachte ich zunächst: Ach was soll´s, ein bedauerlicher Unfall, hier bringen sich tagtäglich noch ganz andere Leute um. Ein Kollateralschaden eben. Aber bald merkte ich, es ging nicht. So einfach kannst du es dir nicht machen. Schließlich hat sie mir... hmmm... nun ja... offen gestanden – sie hat mich im Bett akzeptiert, wie ich nun mal bin und mich zum ganzen Mann gemacht. Wir waren fast so etwas wie... hmm... ein Liebespaar. Leider ist es mir zu spät bewusst geworden.“
   „Hast du sie geliebt?“
   „Das ist ja das Seltsame! Als sie noch lebte, habe ich es nicht gemerkt. Jetzt, wo sie tot ist, stelle ich fest, dass da tatsächlich Liebe im Spiel war.“
  Müllers Miene verfinsterte sich immer mehr. Die angenehmen Erinnerungen an den gestrigen Abend waren so gut wie ausgelöscht. „Und wieso kommst du dann zu mir? Warum gehst du nicht zum Standortpsychologen?“
   Der Oberst machte eine abwehrende Handbewegung. „Jetzt sind andere Dinge wichtiger. Taifan schreibt, dass sie in ein unterirdisches Höhlensystem entführt wurde und als Sexsklavin arbeiten muss, wenn man bei so einer Schweinerei überhaupt von Arbeit sprechen kann. Also steckt der Seif al-Islam dahinter. Vergangene Nacht habe ich den Entschluss gefasst, dieser Terroristenbande ein für alle Mal das Handwerk zu legen. Und dazu benötige ich deine Hilfe.“
   „Friedrich, wo denkst du hin! Ich bin Botschafter, kein Geheimdienstler!“
   „Erwin, erlaube, dass ich lache! Ich bin sicher, du weißt manches, was noch nicht einmal meine Schnüffler wissen! Aber so hoch will ich gar nicht hinaus. Du sprichst die Landessprache, kennst Hinz und Kunz, deine Leute reisen durch die Gegend, sind mal hier, mal da – kurz, könntest du nicht irgendwie in Erfahrung bringen, wo das Versteck der Terroristen sein könnte? Ein winziger Hinweis würde für den Anfang schon reichen!“
   „Und wie, wenn ich fragen darf? Wenn du hier gewisse Fragen stellst, triffst du auf eine Mauer des Schweigens.“
  Der Oberst ließ nicht locker.
  „Es muss doch irgendwo einen krummen Hirten geben, der schon mal etwas Verdächtiges beobachtet hat! In diesem zerklüfteten Kohn i Babd ist unsere ganze Luftaufklärung doch für die Katz!“ Er blickte in Müllers fettig glänzendes Mondgesicht. „Ich würde auch nicht kleinlich sein! Sagen wir tausend Dollar? Was hältst du davon? Ich wette meinen Bauch gegen einen hohlen Kürbis, dass diese Summe manche Zunge lösen würde!“
   Der Botschafter schüttelte energisch den Kopf. „Friedrich, ich muss mich doch sehr wundern! Du bist jetzt schon bald zwei Jahre hier und kennst die Landessitten anscheinend immer noch nicht richtig. Weißt du, was passiert, wenn ich unter der Hand auch nur zehn Dollar für eine lumpige Information auslobe?“ Müller lachte trocken. „Es melden sich hundert Informanten, die alle etwas anderes erzählen, und hinterher hast du zweihundert verschiedene Versionen! Nein, nein, so geht das nicht!“ Er sah den Oberst amüsiert an. „Da musst du dir schon etwas Besseres einfallen lassen.“
   „Na gut! Dann setzte ich eben verstärkt meine Schnüffler in Bewegung.“
  „Deine Schnüffler!“ Müller schlug die Hände über dem Kopf zusammen. „Mann Gottes, ich bitte dich! Glaubst du im Ernst, deine Schnüffler würden auch nur die kleinste verwertbare Kleinigkeit erfahren? Keiner dieser Leute hier ist so töricht und legt sich mit dem 'Schwert des Islam' an!“
   Der Oberst schaute bedrückt vor sich hin und zertrat mit der Schuhspitze eine imaginäre Ameise. „Na schön“, sagte er resignierend, „nichts für ungut, Erwin. Es hätte ja sein können. Also, dann gehe ich mal wieder.“
   Doch er ging nicht. Irgendetwas lag ihm noch auf der Zunge.
   „Was ist denn noch?“, fragte Müller ungeduldig.
   „Gieß´ mir noch einen ein, dann sag ich´s dir.“
   „Nicht nötig! Ich seh´s dir am Gesicht an. Du bist unglücklich.“
  „Nein. Ein Baum kann nicht unglücklich sein. Er kann fallen, aber nicht im Unglück, sondern im Sturm.“
   „Du wirkst aber so! Außerdem ist Unglück keine Schande! Was ist es dann?“
   „Ich fühle mich schuldig. Hässliche Angelegenheit, das.“
   „Du meinst den Selbstmord.“
    Weizenkorn wand sich wie ein Aal. „Ja – nein... auch...“
   „Was denn nun?“
  „Hätte ich sie nicht auf den Maulwurf angesetzt, könnte sie noch leben.“
 „Da will ich dir keineswegs widersprechen. Hier gibt´s nur eins: Versuch, so gut es geht darüber hinwegzukommen. Die Zeit heilt Wunden, und irgendwann ist es nur noch eine blasse Erinnerung, die nicht mehr so weh tut.“ Müller erhob sich und reichte dem Oberst die Hand. „Tut mir Leid, Friedrich, dass ich dir nicht weiterhelfen kann. Vielleicht ein andermal.“ Sein Gesicht drückte ehrliche Betroffenheit aus.
   Jetzt stutzte er.
   „Sag mal, du erwähntest doch eben liebevoll einen 'krummen Hirten', haha! Da fällt mir ein...“
   Er unterbrach den Händedruck, verließ mit einer gemurmelten Entschuldigung das Büro und kam nach kurzer Zeit mit einem Mann zurück, der ziemlich klein, aber keineswegs krumm war. Er hatte eine speckige Lammfellmütze auf dem Kopf und verbreitete den Geruch von Leuten, die nachts in den Kleidern schlafen, die sie tagsüber tragen.
  „Shahmaneh Guzman, einer unserer Gärtner“, stellte Müller ihn vor, „und eine lebende Nachrichtenagentur.“ Obwohl der Mann nichts verstanden haben konnte, grinste er gebauchpinselt. Müller sprach eine Weile mit ihm auf Dari und entließ ihn dann mit einem warmen Lächeln und einem kleinen Bakschisch.
   „Er ist von Beruf Kunsttischler“, sagte Müller, als der Winzling draußen war. „Vor zwei Jahren zerriss ihm eine Granate die rechte Hand. Seitdem kann er nur noch grobmotorische Arbeiten übernehmen. Ich beschäftige ihn als Gärtner, wofür er mir bis an sein Lebensende dankbar ist, wie er mir immer wieder versichert. Na ja, Grund dazu hat er reichlich. Von irgendetwas müssen seine zwei Frauen und die sechs Kinder doch leben!“
  Müller lachte schallend. Anscheinend war seine Katerstimmung verflogen.
   „Guzmann... Guzmannn“, grübelte der Oberst, „irgendwie kommt mir der Name bekannt vor.“
   „Einer seiner Brüder gärtnert in der Garnison.“
   „Natürlich! Auch so´n kleiner Winzling!“
  Müller fuhr er fort: „Ab und zu plaudern wir ein wenig. Dabei verrät er mir manches, was nicht in der Zeitung steht. So erzählte er mir vor ein paar Tagen, einer seiner zahlreichen Brüder, der sich als Lohnhirte häufig im 'Garten Allahs' aufhält, habe über der Festung Charog Zoda wiederholt eine dichte Rauchwolke aufsteigen sehen, wie vor fünfundsechzig Jahren, als die Sowjets den Berg in die Luft sprengten – ach ja, die Geschichte habe ich doch erzählt. Nach kurzer Zeit sei die Rauchwolke wieder verschwunden, so der Bruder.“
    „Wie viele Brüder hat er denn?“
   „Hm... ich glaube fünf oder sechs. Warum willst du das wissen?“
   „Ach, mir fiel gerade etwas ein.“
  „Wo war ich... ach ja, die Rauchwolke. Ich hielt das zunächst für eine Vision infolge eines Einsamkeitssyndroms. Wochenlanges Alleinsein, nur blökende Schafe und meckernde Ziegen um dich herum – da kann leicht die Fantasie mit dir durchgehen.  Außerdem passte mir eine Rauchwolke zu gut zu der Legende, die sich mittlerweile um die Festung rankt. Die Leute sehen und hören dann alles Mögliche, nichts als Einbildung – so dachte ich bisher. Neuerdings...“
   Der Oberst unterbrach ihn ungeduldig. „Warum erzählst du mir das?“
  „Warte! Du hast mir doch von dem Hahn berichtet, den deine Solodaten auf der Festung gehört haben.“
   Weizenkorn blickte den Botschafter genervt an. „Mein Gott, Emil! Das haben wir doch schon alles durchgekaut!“
  „Hör zu! Als du mir das mit dem Kassettenrekorder erzähltest, wurde mir klar, dass die Hirten, die davon berichteten, wirklich das Krähen eines Hahns gehört hatten! Es war mitnichten Einbildung gewesen, wie ich bisher immer angenommen hatte! Wer sagt denn nun, dass dieser elektronische Hahn nicht schon in der Vergangenheit gekräht hat? Möglicherweise wollte man die Internationale Allianz schon früher in diese Falle locken, was euch bisher glücklicherweise entgangen war.“
   Der Oberst knirschte mit den Zähnen, sagte aber nichts.
   „Nehmen wir spaßeshalber an, die Rauchsäulen, die Guzmans fünfter oder sechster Bruder gesehen haben will, waren tatsächlich echt. Sie müssen ja nicht unbedingt aus der Festung aufgestiegen sein. Und vielleicht war die Ursache ja tatsächlich doch kein Lagerfeuer irgendwo in der näheren Umgebung, wie man vermuten würde. Was heißt schon nähere Umgebung. Entfernungen sind doch auf diesen weiten Flächen nur schwer auszumachen. Deshalb fragte ich Guzman eben, ob er wisse, wo genau sich sein Bruder an dem bewussten Tag aufgehalten hat. Er wusste es!“
   Weizenkorn unterdrückte ein Gähnen. „Und wo?“
   „In der Nähe von Pashtun-Zarghun.“
   „Sagt mir nichts.“
   Müller blickte den Oberst schelmisch grinsend an. „Aber die Richtung stimmt!“
   „Ich verstehe nicht!“
   Müller blickte zur Uhr. „Friedrich, nimm es mir nicht übel, aber ich muss dich jetzt hinauswerfen. In wenigen Minuten habe ich ein wichtiges Gespräch. Nochmal zum Mitschreiben, haha, der Ort heißt Pashtun-Zarghun, auf Deutsch 'grünes Land der Pashtunen'. Mein Bauchgefühl sagt mir, dass dir diese Information weiterhelfen wird. Lass mich wissen, wenn du etwas herausgefunden hast.“

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W
Beitrag27.03.2019 12:14
Fortsetzung
von wunderkerze
Antworten mit Zitat

*
   Das konspirative Treffen fand in Webers Wohnhöhle statt. Im Lazarett über den Fluchtplan auch nur ein Wort zu verlieren, war neuerdings unmöglich. Gestern war ein verletzter Junge hereingebracht worden, der sich zu Schönbergs Überraschung als Karsten Becker aus dem Hochsauerland vorstellte. Nach seinen Worten hatte er sich aus tödlicher Langeweile und der Spielkonsole überdrüssig von einer Terrorzelle in Gelsenkirchen anwerben lassen. Schließlich war er beim SaI gelandet. Das war jetzt schon der dritte oder vierte Kämpfer, der außer dem Kommandanten bekanntermaßen Deutsch sprach.
   Nachdem Schönberg seinen Bericht beendet hatte, herrschte zunächst betretenes Schweigen. Die Gesichter waren lang, ernst und in sich gekehrt. Durch die Lattentür drang schwaches Licht vom Gang herein, die Luft roch feucht und abgestanden. Der Luftzug, der in den letzten Tagen wieder für angenehme Frische gesorgt hatte, war verschwunden. Anscheinend stand in der Oberwelt ein Wetterwechsel bevor.
   Marjam gab als erste einen Laut von sich. Sie seufzte bekümmert. „Und du siehst wirklich keine andere Möglichkeit?“, flüsterte sie.
   „Leider nein“ sagte Schönberg. „Ich habe die Wände der Höhle so gut es ging sorgfältig abgeleuchtet. Sie sind glatt und lückenlos wie die Wände der Großen Moschee von Shangaran.“
   „Das heißt, wir müssen durch den Fluss“, stellte Weber nüchtern fest. Man konnte seiner Stimme anhören, dass er schon jetzt fror.
   „Ich fürchte, ja.“
  „Sahib, wie sollen wir denn in den Fluss hinein kommen?“, fragte Marjam. „Du sagtest doch eben, er liegt mindesten in drei Meter Tiefe.“
   „Springen, meine Teuerste, springen!“
   „Das ist doch nicht dein Ernst!“, brauste Weber auf.
   „Leider doch!“
   Die Laune der beiden Mitverschwörer war auf einem Tiefpunkt angelangt.
   „Liebe Leute!", zischte der Doktor, "glaubt ihr, diese Aussichten stimmen mich heiter? Aber es hat keinen Zweck, die Flinte jetzt schon ins Korn zu werfen! Lamentieren bringt nichts.“
  Obwohl Schönberg flüsterte, entbehrte seine Stimme doch nicht einer gewissen aufmunternden Kraft. „Ein Sprung ins kalte Wasser kann manchmal recht belebend sein!“
   Weber blies die Backen auf. „Besonders wenn man nicht weiß, wie tief das Wasser ist und wie spitz die Steine sind“, moserte er. „Und sollten wir heil unten angekommen, wie geht´s dann weiter?“
   Der Doktor zuckte mit den Schultern.
   „Nehmen wir einmal an“, begann Marjam und verstummte, weil sie nach Worten suchte.
   „Was meinst du? Was nehmen wir einmal an?“, fragte Schönberg interessiert und versuchte, Marjams Gesicht zu erkennen.
   „Es ist nur so ein Gedanke... In der Gegend von Narwil gibt es mehrere Bäche, die aus Öffnungen im Felsen hervorquellen. So viel ich weiß berichten Kinder, die in diese Öffnungen hineingekrochen sind, dass die Bäche zum Teil in unterirdischen Gängen fließen, die weit in den Felsen hineinreichen. Meistens kehren die Kinder nach wenigen Metern wieder um, denn sie fürchten sich vor dem bösen Blick des Bergungeheuers, das dort angeblich haust. Nehmen wir einmal an, diese Bäche stehen mit unserem Fluss in Verbindung. Dann wäre es doch denkbar, auf diesem Wege -“
   „Wo liegt denn dieses Narwil?“
   „In der Nähe von Nok Gundrum.“
   Schönberg schlug die Hände über dem Kopf zusammen. „Herzchen, weißt du, wie weit das ist? Es sind mindestens fünfunddreißig Kilometer! Willst du fünfunddreißig Kilometer in eiskaltem Wasser waten? Außerdem weiß niemand, welchen Verlauf der Fluss nimmt. Er kann zum Beispiel plötzlich im Untergrund verschwinden und nach dem Prinzip der kommunizierenden Röhren an ganz anderer Stelle wieder auftauchen. Das haben unterirdische Flüsse in Karstgebirgen so an sich. Dann stehen wir da und wissen nicht weiter, es sei denn, wir entschließen uns, eine ganze Weile unter Wasser zu marschieren. Nein, nein, meine Liebe, unsere einzige Chance besteht darin, dass wir rechtzeitig einen Bewässerungskanal finden.“
   „Aber Hartmut, du weißt doch noch nicht einmal, ob eine solche Möglichkeit überhaupt besteht!“, nörgelte Weber. „Bisher ist das doch nicht mehr als eine unbewiesene Vermutung!“
   „Sicherlich, Holm, da muss ich dir leider verteufelt Recht geben. Das Unternehmen gleicht einem russischen Roulett mit denkbar geringsten Überlebenschancen. Und ein Zurück wird es nicht geben. Aber bleibt uns eine andere Wahl?“ Jetzt seufzte auch der Doktor. „Ich weiß nicht, wie lange sich der Dicke noch beherrschen kann. Und wenn er mich erledigt hat, dann seid ihr dran!“
   „Na, na, noch ist es nicht so weit“, meinte Weber. Es klang allerdings nicht sehr zuversichtlich.
   „Gibt es denn wirklich keine andere Möglichkeit?“, flüsterte Marjam verzweifelt. Sie sah sich wieder als Sexsklavin eines verschwitzten Kämpfers und brach in Tränen aus. „Bei Allah! Mein Mann hätte bestimmt einen anderen Weg gefunden!“ Seit sie erfahren hatte, dass al-Dorhani nicht mehr am Leben war, stand er wie eine überlebensgroße Vaterfigur vor ihr.
   Schönberg schwieg. Er verspürte keine gesteigerte Lust, sich auf Vergleiche mit diesem Übervater einzulassen.
   „Ich fürchte, da hat Marjam nicht so ganz Unrecht“, sagte Weber nach einer Weile. „Mir will es auch nicht in den Kopf, dass es keinen anderen Fluchtweg geben soll. Der Berg ist doch durchlöchert wie ein Schweizer Käse. Hast du dahinten wirklich alles durchsucht? Es muss doch einen oberirdischen Ausgang geben! Mann! Wir sind doch auch trockenen Fußes hereingekommen!“
   Der Doktor winkte ärgerlich ab. „Natürlich wird es einen solchen Ausgang geben. Aber bitteschön, wo? Und die Zeit, danach zu suchen, haben wir nicht. Irgendwann würde meine häufige Abwesenheit bemerkt werden, und dann a` dieu, schöne Welt! Es bleibt uns nichts anderes übrig, als den Versuch zu wagen... Still, da kommt jemand!“
   Tatsächlich näherten sich eilige Schritte. Kurz darauf erschien der Wuschelkopf des kleinen Arzthelfers im Höhleneingang. „Motaram daaktar!“ rief er aufgeregt, „dem Kämpfer mit dem Bauchschuss geht es nicht gut!“
   Schönberg und Weber sprangen auf. „Verdammt, das hat uns gerade noch gefehlt“, zischte der Doktor, „wo die Lage schon jetzt aufs Äußerste angespannt ist. Wenn der  auch noch stirbt, sind wir am Arsch!“  

                                                                     30
 Es dauerte eine Weile, bis der Kommandant geruhte, von seinen Papieren aufzusehen. Wieder hatte Schönberg den Eindruck, dass er nicht wirklich las, sondern nur so tat, um ihn zu verunsichern. Die schwarze Augenklappe und die Anwesenheit Whali Khans, der mit überhängendem Bauch und schadenfroh grinsend auf seinem Stuhl hockte, deuteten darauf hin, dass ein unangenehmes Verhör bevorstand. An den Wänden lümmelten gespannt etliche Krieger: Das Publikum.
  „Ich höre wieder einmal schlechte Nachrichten, motaram daaktar, Herr Doktor“, sagte der Kommandant schließlich. Die Ironie in der Anrede war nicht zu überhören. „Das ist nicht gut! Für uns nicht, und für dich erst recht nicht.“
   „Ja, leider. Aber der Bauchschuss... der Kämpfer mit dem Bauchschuss war nicht mehr zu retten. Manchmal -“
   „Das ist jetzt der dritte Todesfall innerhalb von acht Tagen“, unterbrach ihn der Kommandant. „Ich gewinne langsam den Eindruck, du willst unsere Kampfkraft zersetzen. Erinnerst du dich noch an meine Worte? Mit einem Bein stehst du bereits in der Djehenna!“
   „Aber das ist doch völlig absurd, was du da sagst! Deine Kampfkraft interessiert mich überhaupt nicht!“ Schönberg war fest entschlossen, sich auf keinen Fall unterkriegen zu lassen. „Mich interessieren ganz andere Dinge! Zum Beispiel, wie ich die multiresistenten Keime in den Griff bekomme, die sich im Lazarett eingenistet haben! Einfaches Abkochen nützt schon lange nichts mehr. Ich bräuchte einen neuen Dampfdrucktopf. Der alte ist vor drei Tagen in die Luft geflogen! So sieht es aus, Kommandant!“
   „Die Problematik ist bekannt! Wir leben hier zwar in Höhlen, aber nicht in der Steinzeit!“ Von den Wänden her erscholl bereitwilliges Gelächter. Rawshad Khan nickte gebauchpinselt. „Was meinst du wohl, warum wir euch hier durchfüttern?“, fuhr er gehässig, aber nicht mehr so aggressiv fort. „Bestimmt nicht, damit du im Lazarett Leichen produzierst. Das können die Sanitäter auch!“
   Wieder erklang dümmliches Gelächter.
   Schönbergs Magen schmerzte, aber nicht vor Angst, sondern vor Hunger. Ihm fiel ein, dass er seit heute morgen noch nichts gegessen hatte. Trotz der widrigen Umstände sehnte er sich nach einer saftigen Hammelkeule von der Größe eines Baseballschlägers mit einer turmhohen Portion frittierter Kartoffeln. Er legte die Hand auf den Magen, der jetzt hörbar knurrte.
  Whali Khan sah die Geste und grinste vergnügt. Wieder einmal hatte er etwas gründlich missverstanden.
   Der Kommandant blickte seinen Stellvertreter an, als wollte er ihn um Rat fragen. Doch das war wohl nur eine zufällige Bewegung, denn er entschied sofort: „Ich gebe dir noch eine Woche! Wenn dir dann wieder jemand unter den Händen wegstirbt, werden du und Weber liquidiert!“
 „Na schön, wenn du meinst, dass das der richtige Weg ist, dann liquidiere uns doch! Aber dann sterben in der nächsten Woche nicht drei, sondern dreizehn deiner wackeren Krieger. Und woher weißt du überhaupt, dass ich dann in die Hölle komme? In die Hölle kommen bekanntlich nur gläubige Christen, und ich bin bekanntlich ein Ungläubiger!“
   Der Doktor setzte sich unaufgefordert. „Gut, ich gebe zu, die letzte Woche war aus medizinischer Sicht nicht sehr erfolgreich. Manchmal ist auch der beste Arzt machtlos. Aber du urteilst vorschnell, Kommandant. Bei dem Bauchschuss lag es nicht am Arzt, sondern an den katastrophalen Umständen. Du vergisst: Ich arbeitete hier nicht in einer Klinik, sondern in einem Höhlenlazarett! Und die Bedingungen sind mehr als dürftig!“
   Rawshad Khan fuhr hoch. Trotz des schwachen Lichtes sah Schönberg, dass dem Kommandanten die Zornesröte ins Gesicht stieg. „Doktor, rede keinen Unsinn! In dem Höhlenlazarett, wie du es nennst, steckt fast die gesamte Ausrüstung des Krankenhauses von Meshwed!“
 „Ich rede keinen Unsinn! Natürlich, da haben wir ein Röntgengerät, das auch halbwegs funktioniert, wenn nicht gerade einer der Stromgeneratoren ausgefallen ist. Doch was soll ich hier mit einen Computertomografen? Der Kämpfer mit dem Bauchschuss musste sterben, nicht weil es an Higtech fehlt, sondern an einem so schnöden Gebrauchsgegenstand wie einer funktionierenden  Stablampe.“
   Whali Khan blickte erstaunt auf. „Beim Scheitan!“ rief er mit seiner kehlig-knödeligen Stimme, „wozu brauchst du eine Stablampe?“
   Schönberg überlegte blitzartig, wie weit er noch gehen konnte, ohne seine Glaubwürdigkeit zu verspielen. „Folgendes. Es ist ja nicht nur Bakterium thuringiensis, das mir zu schaffen macht. Es ist auch die unzureichende Beleuchtung. Bei Operationen in der Bauchhöhle habe ich einfach nicht genug Licht.“
   „Nein? Du hast immer noch nicht genug Licht? Es hängen doch schon zwei Hundertwattbirnen über dem Operationstisch! Reicht das immer noch nicht?“ Rawshad Khan schüttelte unwillig den Kopf. Dieser verdammte Hund, dachte er, aus der Standpauke vor Publikum, auf die ich mich schon gefreut habe, wird wohl nichts mehr. Er führt mich dahin, wohin er mich haben will.
   „Für grobe chirurgische Eingriffe reicht´s schon“, sagte Schönberg mutig. „Aber für sorgfältige Durchsuchungen der Bauchhöhle zum Beispiel benötige ich einen punktgenau fokussierbaren Lichtstrahl. Das Licht der Glühbirnen ist zu diffus. Und wenn ich mich über den Patienten beuge, ist da noch der Schatten. Der Kämpfer mit dem Bauchschuss ist gestorben, weil es zu lange dauerte, bis ich die Kugel finden konnte.“ Das war nur die halbe Wahrheit. Er starb an starkem Blutverlust, weil die Leberarterie getroffen war. „Damit sich so etwas nicht wiederholt, benötige ich möglichst bald zwei kräftige Stablampen mit frischen Batterien.“
   „Zwei?“
   „Ja. Nehmen wir an, die eine fällt aus. Dann stehe ich wieder im Dunkeln. Und ehe  jemand eine Ersatzlampe herbeischaffen kann, ist der Mann gestorben. Willst du das verantworten, Sahib?“
   Der Kommandant gab einem der Krieger, ein struppiger Kerl, der dem Gespräch gelangweilt gefolgt war, einen Wink. „Gulbuddin, du hast den Wunsch des Doktors gehört. Sind solche Lampen bei uns vorhanden?“
   „Ich denke schon, Motaram Kommandant. Bei dem Überfall auf -“
   „Schon gut! Bring zwei davon ins Lazarett!“ Gulbuddin, dessen ungepflegter Bart bis zu den Augen reichte, dampfte ab.
   Schönberg atmete auf. Das wäre geschafft! Jetzt brauche ich nur noch...
   „Übrigens, Doktor, wie geht es meinem Neffen?“ Whali Khan beugte sich, soweit es sein Bauch zuließ, vor und blickte dem Doktor an. Er war verärgert, weil sich der Kommandant hatte herumkriegen lassen. Um seine Augen lagen schwarze Schatten.
   „Das habe ich dir doch schon gesagt! Er wird sein Leben als Krüppel beenden.“
   Hussein Rawshad blickte bekümmert auf. „Eine andere Möglichkeit siehst du nicht?“, murmelte er.
   „Nein. Es sei denn, er wird in eine Spezialklinik gebracht. Hier kann ich nichts mehr für ihn tun. Aber das habe ich Whali Khan auch schon gesagt.“
   „Das wird nicht gehen... Wer sollte ihn dahin bringen... Und außerdem: Würde es etwas ändern?“
   „Viel nicht. Dafür liegt er jetzt schon zu lange -“
   „Und einen anderen Weg siehst du wirklich nicht?“, fragte der Kommandant mit unmissverständlichem Augenzwinkern.
   Der Doktor sprang so heftig auf, dass der Stuhl einem der Kämpfer ans Schienbein flog. „Du scheinheiliger Hund!“ schrie er fast besinnungslos vor Wut, „verlangst du auch noch von mir, dass ich meinen Eid breche? Hast du denn nicht einen einzigen Funken Anstand im Leib? Bisher bildete ich mir ein, du seist aus einem anderen Holz geschnitzt als dein Darmbewohner da!“ Er beugte sich über den Tisch und sah dem verdatterten Kommandanten ins Gesicht. „Ich habe geschworen, Leben zu retten“, zischte er, „ich habe nicht geschworen, Leben zu zerstören! Und dabei bleibt es! Basta!“
   Rawshad Khan war aschfahl geworden. Der Dicke sprang mit einer Behändigkeit auf, die man ihm bei seiner Leibesfülle nicht zugetraut hätte und zog den Revolver. Aber der Doktor war schon draußen. Er hörte noch, wie der Kommandant befahl: „Jetzt noch nicht!“, dann hastete er die ausgetretene Steintreppe hinunter, stieß einen Kämpfer beiseite, der zufällig im Wege stand, und erreichte schwer atmend das Lazarett.
   „Es ist so weit“, raunte er Weber zu.

                                                                   31

   Der Oberst stand vor der großen Landkarte an der Wand des Office.
  „Pashtun-Zarghun“, murmelte er, „Pashtun-Zarghun, grünes Land er Pashtunen...“ Es dauerte eine Weile, bis er den Ort gefunden hatte. Das Dorf lag in einer Tieflandsbucht, die sich weit in das Kohn i Babd-Gebirge hineinschob. Er nahm ein Lineal, um die Entfernung zwischen Dorf und der Festung Charog-Zoda zu messen. Fünfundzwanzig Kilometer. Unmöglich, von dort eine Rauchsäule über der Burg zu erkennen, es sei denn, sie stammt von einem Vulkanausbruch.
   Er überlegte angestrengt. Was hat Emil gesagt? Der Rauch muss ja nicht von der Burg stammen, aber die Richtung stimmt? Er verzog das Gesicht. Kryptischer geht´s wohl nicht!
   Weizenkorn zündete sich eine Zigarette an und machte einige gierige Züge. Dieser Mensch ist manchmal schwer auszuhalten, dachte er. Allein diese ständigen Heiterkeitsausbrüche! Nun ja, wahrscheinlich ist es seine Art, den Ärger über die struppigen und widerborstigen Regierungsmuftis loszuwerden, mit denen er sich tagtäglich abgeben muss. Andere, wie der amerikanische Botschafter, poltern drauflos, er lacht. Vielleicht die bessere Methode.  Aber momentan ist mir Emil etwas zu diplomatisch!
  Weizenkorn sah den Botschafter wieder vor sich, wie er ihn mit lachenden Augen verabschiedete. Ich wette hundert zu eins, er hatte gar keinen dringenden Gesprächstermin, grummelte er. Der Kerl wollte mich nur abwimmeln!
   Der Oberst warf die ausgegangene Zigarette in den Aschenbecher und trat wieder vor die Karte. Es war eine Karte für militärische Zwecke, in kleinem Maßstab, die außer größeren Orten, befahrbaren Straßen und markanten Geländepunkten, nach denen sich ein militärischer Konvoi richten konnte, nur wenige Landschaftselemente enthielt. Der Kohn i Babd war nur in seinen Umrissen angedeutet und enthielt außer ein paar Höhenangaben nichts Zielführendes. Aus der Luftaufklärung wusste der Oberst, dass das Karstgebirge stark zerklüftet war und so gut wie unwegsam. Lediglich die Nationalstraße Nr. 5 und eine windungsreiche Nebenstrecke führten hindurch. Ohne einen einheimische Führer kam man da nicht weit.
   Der Oberst kniff die Augen zusammen. An einer Stelle, einem ovalen Fleck, hatte jemand mit Bleistift etwas eingetragen. Mühsam entzifferte er: 'Trou du diable'.
   Er sprach einen der anwesenden Offiziere an. „Stephan, könnten Sie bitte mal zur Karte kommen?“
  Der Angeredete war sofort zur Stelle. Der Oberst wies mit dem Finger auf den Fleck und fragte: „Haben Sie eine Ahnung, was das bedeutet?“
  Hauptmann Stephan rückte seine randlose Brille zurecht und schaute kurz hin. „Trou du diable? Teufelsloch!“, sagte er militärisch knapp.
   „Übersetzen kann ich selber! Ich meine, warum gerade Teufelsloch?“
   Über das intelligente Gesicht des Hauptmanns glitt ein leichter Schatten. Er hasste es, auf unnütze Fragen unnütze Antworten geben zu müssen. „Verzeihung, Herr Oberst, da bin ich leider momentan überfragt! Wahrscheinlich eine ungewöhnliche Bodenvertiefung.“
  „Na schön.“ Weizenkorn betrachtete das Gesicht des Hauptmanns, in dem ein scharfer Zug kaum gebändigten Ehrgeizes lag. Hohe, etwas fliehende Stirn, wachsame, intelligente Augen, schmale, fast blutleere Lippen. „Lassen Sie mir diesen Bereich hier, sagen wir in einem Radius von fünfzehn Kilometern um das Teufelsloch herum, möglichst genau kopieren.“

   Der Oberst ging in sein Büro zurück, öffnete den Tresor, in dem neben geheimen  militärischen Interna auch die Mappe mit den Briefen seiner Frau und der goldene Pantoffel lagen. Er nahm die Fotos der Luftaufklärung heraus und setzte sich seinem Schreibtisch. Dort begann er mit der Spurensuche.
  Niemals war er entschlossener gewesen, ein Vorhaben bis zum bitteren Ende voranzutreiben, als jetzt. Die vollständige Vernichtung der Terroristen vom Schwert des Islam war für ihn nur noch eine Frage der Zeit, und zwar absehbarer Zeit. Erneut schwor er sich, unter keinen Umständen aufzugeben, und sollte er selbst dabei draufgehen.
  Während er den Stapel Fotos sortierte, glitten seine Gedanken wieder zu den geheimnisvollen Worten des Botschafters zurück. 'Die Richtung stimmt', hatte der gesagt. Dieser kümmerliche Satz flatterte in Weizenkorns Hirnkasten herum wie ein gefangener Schmetterling im Netz. Die Richtung stimmt...
   Endlich lag das passende Foto vor ihm auf dem Tisch. Es zeigte ein heillos zerklüftetes Gelände und einen ovalen Fleck: Das Teufelsloch. Da die Bilder aus großer Höhe aufgenommen worden waren, enthielten sie keine Farben. Alles war mehr oder weniger grau in grau. Der Oberst nahm eine Lupe zur Hand und sah sich das Oval genau an. Die Oberflächenstruktur wies auf Vegetation hin, möglicherweise war es dichtes Buschwerk. Die Lupe glitt über die Kopie. „Hier hat sich Guzmans Bruder aufgehalten, und hier ist die Festung“, murmelte er. „Wenn die Vision kein Hirngespinst war sondern echter Rauch, dann muss der Rauch entlang dieser Linie aufgestiegen sein.“ Er legte die Lupe weg und ergriff ein Lineal. „Vom Fuß des Gebirges immerhin noch zwanzig Kilometer unwegsames Gelände“, murmelte er weiter. „Zu weiträumig, um einen weiteren Fußtrupp loszuschicken, der dann wieder in einen Hinterhalt gerät.“
   Nervös zündete er sich eine neue Zigarette an. Das Zündholz flammte auf, und in diesem Moment fuhr ein Erinnerungssplitter in sein Gehirn. Er hastete zum Tresor und zog aus der Mappe mit den Briefen seiner Frau Taifans Zettel heraus. Was stand da?

      'Aber vielleicht hilft dir folgende Beobachtung: In der Höhle,
    die sie als Küche benutzen, brennt Tag  und Nacht ein Feuer,
    dessen Rauch durch ein Loch in der Höhlendecke abzieht.
    Manchmal legen sie feuchtes Holz auf, und es qualmt fürchterlich.
    Vielleicht kannst du ja auf diese Weise das Versteck der Verbrecher
    herausfinden.

   Eine Weile stand Weizenkorn regungslos, den Kopf wie eine äugende Amsel zur Seite geneigt. Gestern war er zu verstört gewesen, um diesem Satz Bedeutung beizumessen. Nein, er hatte ihn gar nicht mehr richtig gelesen. Doch jetzt las er ihn aufmerksam, und nicht nur das, er las ihn zweimal. Schlagartig erkannte er seine ganze Tragweite. In seine Standfigur kam Bewegung. Er öffnete die Tür zum Vorzimmer und rief: „Hauptmann Stephan sofort zu mir!“ Dann rieb er sich zufrieden die Hände.

   Der Hauptmann ließ keine zwei Minuten auf sich warten. Fast schien es dem Oberst, als habe er hinter der Tür gestanden und auf seinen Befehl gewartet. „Stephan“, sagte der Oberst, als der Hauptmann in strammer Haltung vor ihm stand, „stehen Sie bequem! Was zu trinken?“
   Stephan lehnte höflich ab.
   „Na gut, wie Sie wollen! Sie erlauben doch?“ Weizenkorn ging zur Anrichte, goss sich einen Whisky ein, trank und stellte das Whiskyglas wieder ab. Er trat auf Stephan zu und sagte: „Sie sind doch ein Mann von Welt, mein Lieber, und wissen Bescheid. Sie wissen wahrscheinlich auch, dass ich hier eine – ähem – eine Geliebte hatte.“
   „Herr Oberst, ich würde mir nie erlauben -“
   „Weiß ich, Stephan, weiß ich! Deshalb spreche ich ja jetzt zu Ihnen und nicht mit einem unserer Küchenbullen. Diese junge Dame nun, die ich von Anfang an sehr geschätzt habe“ – wieder log der Oberst ohne rot zu werden – „diese junge Dame, hat sich, wie ich gestern erfuhr, aus Gründen, die hier nicht zur Debatte stehen, das Leben genommen. Zuvor war sie von der Terrororganisation Schwert des Islam entführt worden und hat dort Sexdienste leisten müssen, wie vermutlich etwa zehn oder zwölf andere Frauen auch.“ Der Oberst sprach völlig emotionslos, so, als verlese er den Tagesbefehl oder den Wetterbericht. Der Hauptmann war erfahren genug, um zu verstehen, dass es dem Obersten nicht um die junge Dame ging, die er angeblich von Anfang an sehr geschätzt hatte, sondern um ganz etwas anderes.
   „Ich verstehe nicht“, sagte er deshalb folgerichtig.
   „Werden Sie gleich... Ich habe mich deshalb entschlossen, diese Brüder mit Stumpf und Stiel auszurotten – wenn nötig im Alleingang. Dieser SaI ist eine einzige Schweinebande und gehört vom Erdboden vertilgt. Was ich von Ihnen gerne wissen möchte, Herr Hauptmann, ist dies: Wie weit würden Sie bei diesem Kampf gehen? Würden Sie sagen, der Erfolg heiligt in jedem Falle die Mittel?“
  Stephan machte sich steif stand wieder unbequem. „Herr Oberst, ich verstehe immer noch nicht!“
  „Gut, dann muss ich wohl deutlicher werden. Würden Sie verbotene Kampfmittel begrenzt anwenden, mit der festen Überzeugung, dadurch größeres Unheil zu verhindern?“
   „Wenn Sie meine ehrliche Meinung hören wollen: Ich würde mich an die Genfer Konvention halten.“
   Der Oberst strahlte. Seine himmelblauen Augen waren zwei Zwillingssterne einer fernen Galaxie. „Sehr gut, Hauptmann, sehr gut! Von Ihnen habe ich auch keine andere Antwort erwartet!“ Bei sich dachte er: Mit dieser Einstellung wirst du es nicht weit bringen. „Nun etwas anderes, warum ich Sie überhaupt hergebeten habe. Sie kennen sich doch mit unseren Infrarotkameras aus. Aus welcher Höhe liefern die noch brauchbare Ergebnisse?“
   „Das kommt auf die Umgebungstemperatur an. Je wärmer die Luft ist, desto näher muss man herangehen“, antwortete er beflissen. Er war froh, das heiße Eisen endlich los zu sein.
   „Aha! Wann wäre Ihrer Meinung jetzt die beste Tageszeit für Bodenaufnahmen?“
   „Wo wollen Sie die Aufnahmen denn machen?“
   „Über dem Kohn i Babd.“
   „Ich denke, am frühen Morgen. Im Gebirge herrscht um diese Zeit schon leichter Bodenfrost.“
   „Schön. Dachte ich mir auch. Noch eins, Stephan. Veranlassen Sie doch bitte die Bereitstellung eines Erkundungshubschraubers einschließlich Pilot. Start: Punkt vier Uhr früh.“
   „Zu Befehl, Herr Oberst!“
   „So, das wär´s dann. Stephan, Sie können gehen. Ach ja! Schicken Sie mir doch bitte mal Stabsfeldwebel Heinze herein. Ich danke!“
   Stephan knallte die Hacken zusammen, grüßte militärisch-zackig, und verschwand.  
 
   „Herr Heinze“, fragte der Oberst eine ziemliche Viertelstunde später, „wie heißt eigentlich unser Gärtner hier?“
   „Welchen Gärtner meinen Sie? Den großen oder den kleinen?“
   „Den Kleinen. Der hier in den Gängen unaufgefordert Blumenvasen aufstellt.“
   „Ghuzman. Mahmud oder Mahmad.“
   „Ach! Ist das ein Bruder des Gärtners des Botschafters?“
   „Soviel ich weiß, ja.“
   „Interessant! Hat dieser Mahmud oder Mahmad noch mehr Brüder?“
   „Soviel ich weiß fünf oder sechs. Genau kann ich es auf Anhieb nicht sagen. Wenn Sie wollen –“
  „Schon gut, Heinze. Ist im Moment auch nicht so wichtig! Sagen Sie, stehen eigentlich noch mehr dieser Brüder in unseren Diensten?“
   „Jawohl. Da ist noch dieser Ziegenhirte, der die Festung Charog Zhoda beobachten soll.“
   „Sie haben natürlich bei allen drei eine Sicherheitsüberprüfung durchgeführt.“
   Heinze warf sich in die Brust. „Natürlich, Herr Oberst! Wie es vorgeschrieben ist! Sie sind auf Herz und Nieren geprüft.“
   „Hmm... Und Sie würden für jeden der drei die Hand ins Feuer legen?“  
  „Nicht gerade die Hand. Aber solange sie ordentlich bezahlt werden, denke ich, werden sie sich loyal verhalten. Wieso, stimmt etwas nicht?“
   „Solange sie ordentlich bezahlt werden, sagen Sie... Dass heißt, auch Sie schließen genauso wie ich die Möglichkeit nicht aus, dass einer der drei auch für die andere Seite arbeitet, weil diese Seite besser bezahlt.“
   „Nur einer? Alle drei! Bei diesen Brüdern weiß man nie, woran man ist.“

                                                                 *
   Der Hubschrauber befand sich noch in der Aufwärmphase, als sich der Oberst mit elastischen Schritten näherte. Es war noch stockfinster, der schwarze Himmel sternenlos. In der Ferne Donnerrollen: Ein Gewitter. Die Borduhr zeigte fünf vor vier. Der Oberst kletterte auf seinen Sitz und sagte: „Morning, Grenell, alles startklar?“
   „Mornig, Sir! Yes, Sir!“
   Der Oberst breitete die Kartenabschrift aus und hielt sie dem Piloten unter die Nase. „Wir nehmen diese Fluglinie hier“, entschied er. „Wenn wir diesen Punkt, das so genannte Teufelsloch, erreicht haben, machen Sie die Aufnahmen, und dann kehren wir um. Wie weit können Sie heruntergehen?“
   „Höchstens auf dreitausendfünfhundert Fuß über Boden.“
   „Wieso nicht weiter? Das Gerät hat doch verstärkte Bodenplatten!“
   „Sollten die Terroristen im Besitz des MG 50 sein, Sir, nützen die auch nichts. Eine Salve in den Rotor...“
   „Na gut, Grenell, time is over! Geben Sie Gas!“
   „No, Sir! Über dem nördlichen Kohn i Babd tobt sich gerade ein Gewitter aus. Frühestens in zwei Stunden!“

   Vier Stunden später. Der Commander in Chief, Generalleutnant Macron, stand vor dem Rasierspiegel und seifte sich die Wangen ein. Er war nur mit der Pyjamahose bekleidet, sein leicht verfetteter Oberkörper schimmerte bis zum Hals in makellosem Weiß. Gerade kniff er die Lippen zusammen, damit ihm der Rasierschaum nicht in den Mund geriet. Heftiges Klopfen an der Tür des Badezimmers, das noch aus der französischen Besatzungszeit stammte und in verblichenem Prunk glänzte, zwang ihn, die Lippen wieder zu öffnen.
   „Entrez!“
  „Pardon, mon general“, sagte sein Adjutant, Stabsfeldwebel Walther, „le Colonel Weißenkoon will Sie unbedingt sprechen!“
   „Mon dieu! Um diese Zeit! Wimmeln Sie ihn ab, Walther, wimmeln Sie ihn ab. Er soll in einer Stunde wiederkommen!“
  Doch der Abzuwimmelnde stand schon in der Flügeltür. „Excuse me, Sir“, sagte Weizenkorn, der seinen Französischkenntnissen nicht traute, „I am awfull sorry, aber meine Nachricht wird Sie für die frühe Störung entschädigen.“ Er sprach zu dem dicht und schwarz behaarten Hinterkopf des Generals, der jetzt in aller Seelenruhe mit der Rasur begann. In die schabende Stille hinein sagte Macron: „E bien, Colonel, dann schießen Sie mal los!“
   „Sir, mir ist es gelungen, das Versteck der Terroristen vom Schwert des Islam ausfindig zu machen!“
   Macron unterbrach seine Tätigkeit und blickte den Oberst im Spiegel verdutzt an. Von seinem Kinn tropfte weißer Schaum. „Par bleu,  Colonel – Donnerwetter!“ – der General verstand sehr wohl Englisch und Deutsch, hatte aber wie viele Franzosen eine gewisse Scheu, ein fremdes Idiom zu benutzen – „wie haben Sie denn das geschafft?“  
   „Ich ließ vor etwa zwei Stunden von der Gegend um einen Geländepunkt im Kohn i Babd, der sich Trou du Diable nennt, Wärmebildaufnahmen machen. An einer Stelle zeigt sich ein heller Fleck!“
   „Aha! Und das bedeutet?“
   „An dieser Stelle brennt ein unterirdisches Feuer!“

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nicolailevin
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Beitrag02.04.2019 22:17

von nicolailevin
Antworten mit Zitat

Hast du das eigentlich alles in der Schublade oder schreibst du on the fly?

Na, egal:

Zitat:
Der Oberst las:

    'Fidisahib, my dear, Allah will nicht, dass unsere Freundschaft


Und in welcher Sprache im Original? Englisch wegen my dear oder Lampukisch wegen Fidisahib?

Zitat:
Um meine Karriere nicht zu gefährden, habe ich eine liebende Seele geopfert,


Ist jetzt Erbsenpickerei, aber ich finde es seltsam, wenn ein Oberst "seine Karriere nicht gefährden will". Der kann nur noch General werden und da oben ist die Luft so dünn, dass es ohnehin politisch zugeht. Klassische Karriere ist da längst nicht mehr ...

Zitat:
Jetzt geschah etwas, das niemand, der den Oberst kannte, für möglich gehalten hätte.


Da zerschießt du die Perspektive!


                                                            *

Zitat:
„Das Mädchen, dass den Maulwurf fangen sollte.“


das! Relativsatz!

Zitat:
Ach ja, jetzt erinnere ich mich! Was ist mit ihr?“
   „Sie ist tot. Sie hat sich umgebracht.“


Ich kann mir nicht helfen: Die Dialoge Oberst / Botschafter, die haken und holzen immer noch. Da ist nichts zu hören an spezifischer Diktion der Figuren, das ist austauschbar und gestelzt. Ich krieg keinen konkreten Finger drauf, aber das passt für mein Ohr überhaupt nicht.

Zitat:
Müller machte den hirnrissigen Versuch, auch jetzt noch humorvoll zu wirken. Solche ernsten Gespräche liebte er nicht, und heute morgen schon gar nicht.


Da springst du wieder mit der Perspektive herum. Erst von außen wertend und dann wieder direkt aus der Perspektive Müller.

 
Zitat:
Weizenkorn blickte den Botschafter genervt an. „Mein Gott, Emil!


Oben hieß er noch Erwin.
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Beitrag03.04.2019 12:31
Antwort
von wunderkerze
Antworten mit Zitat

Hallo, Nicolailevin,
 vielen Dank für deine Anmerkungen.
Zunächst sage mir bitte, was heißt on the fly?

Dann: Der Brief ist in Englisch, Fidisahib ein Kosename.

Karriere: Vom Oberst geht es noch mind. 3 Stufen aufwärts.

Zur Perspektive: Ist es nicht erlaubt, dass sich ab und zu der übergeordnete
Erzähler meldet?

Gruß
Wunderkerze

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wunderkerze
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Beitrag03.04.2019 13:13
Tortsetzung
von wunderkerze
Antworten mit Zitat

Schönberg biss die Zähne zusammen. Was er jetzt machte, war Fahnenflucht und widersprach seiner inneren Überzeugung. Zwei der Patienten waren ohne seine Hilfe sichere Todeskandidaten. Für den Bruchteil eines Atemzugs war er versucht, die Flucht in letzter Sekunde noch aufzugeben. Vielleicht bot sich ja unverhofft ein anderer Ausweg. Whali Khan würde sich schon wieder beruhigen. Aber jetzt saß ihm der Kommandant im Nacken. Er, Schönberg, hatte ihn einen Hund genannt, und diese Beleidigung würde er ihm nie verzeihen. So oder so: Sein Leben war keinen Pfifferling mehr wert.
   Und dann war da Marjam. Seit sie im Lazarett half, war der Dicke immer öfter erschienen, angeblich, um nach dem Rechten zu sehen. Aber seine Schweinsäuglein redeten eine andere Sprache. Ihr lüsterner Blick hatte die junge Frau immer unverfrorener betastet, und es war klar, dass er sie haben wollte. Es war nur noch eine Frage der Zeit, bis der Kommandant nachgab. Und ein Leben ohne Marjams Nähe war für Schönberg inzwischen völlig sinnlos.
   Wieder, wie so häufig in den letzten Tagen, wog er das Für und Wider einer Flucht gegeneinander ab. Das Risiko war unendlich hoch, aber das Leben unter dem Schwert des Islam war unendlich bedrückend und hoffnungslos. Ständig musste er damit rechnen, von dem jähzornigen Stellvertreter niedergeschossen zu werden. Aber das war nicht ausschlaggebend. Ausschlaggebend war das Schicksal, das Marjam dann erwartete. Und Weber. Das durfte er auf keinen Fall zulassen.
  Er warf noch einen letzten, bekümmerten Blick, der fast einem wehmütigem Abschiedsblick glich, durch die Krankenhöhle, dann gab er sich einen Ruck. Barsch befahl er den Sanitätern, ihn und Weber nur im äußersten Notfall zu wecken. Sie beide, erklärte er, brauchten jetzt erst einmal eine gründliche Ruhepause.

   Weber und Marjam warteten schon fröstelnd hinten am Spalt, als der Doktor endlich erschien. Sie kletterten hindurch, und dank der starken Lampen und des Fadens erreichten sie bald und ohne Umwege die Plattform über dem Fluss. Im starken Lichtkegel der Stablampe sah Schönberg jetzt, dass die Wände der Höhle keineswegs so glatt waren, wie er angenommen hatte. Sie waren faltig und fleckig wie das wettergebräunte Gesicht einer alten Marktfrau.  
   Er trat an den Rand des Abgrunds. „Ich springe zuerst“, sagte er und übergab Marjam die Lampe, „und zwar so, dass ich mit dem Rücken fast parallel zur Wasseroberfläche aufkomme. Der Fluss kann zwanzig Zentimeter oder zwei Meter tief sein, und ich will mir nicht gleich zu Anfang die Beine brechen.“ Er machte sich sprungbereit. „Leuchtet mir!“ Die Vorsichtsmaßnahme erwies sich als berechtigt, denn das Wasser war nur knietief. Doch die Strömung war so stark, dass er zunächst Mühe hatte, stehen zu bleiben. Das Wasser war bitterkalt. „Marjam“, rief er, „wirf mir die Lampe zu! Aber zielgenau!“
   Als nächster sprang Weber. Er kam weniger glücklich auf und stieß mit dem Hintern hart auf Grund. Marjam schreckte noch vor dem Sprung in die dunkle Tiefe zurück. „Du musst beim Absprung das rechte Bein vorstrecken, als wolltest du einen Ball wegkicken, dann passiert nichts“, ermunterte sie der Doktor.
   Es passierte aber doch etwas.
    Als Marjam unten ankam, schrie sie auf. Sie hatte sich den linken Knöchel verstaucht. Schönberg fluchte leise. Das Unternehmen stand offensichtlich unter keinem guten Stern. „Kannst du gehen?“, fragte er.
   Die junge Frau machte ein paar unbeholfene Schritte und verzog vor Schmerz das Gesicht. Sie schwankte, und Weber griff ihr unter die Arme. „Ja doch, ich glaube schon“, keuchte sie.
   „Gut! Beiß die Zähne zusammen, wir müssen weiter!“
   Der Tunnel vor ihnen war nicht so hoch, wie Schönberg angenommen hatte. Sie kamen nur gebückt jedoch vergleichsweise zügig voran. An der Decke glitzerte es. Quarzadern. Plötzlich schrie Marjam entsetzt auf und blieb wie vom Donner gerührt stehen.
  „Herrgottnochmal!“, schimpfte Weber, „was ist denn nun schon wieder los!“ Die junge Frau wies auf eine Gruppe weißer schlangenförmiger Gebilde, die sich gegen die Strömung kurz unter der Wasseroberfläche rasch auf sie zu bewegten. An ihren Vorderenden hingen bizarre Büschel flatternder Fransen. „Grottenolme“, sagte Schönberg, „das da vorne sind ihre Kiemen. Die Tiere sind völlig harmlos. Wahrscheinlich wollen sie feststellen, wer da in ihre finsteren Jagdgründe eingedrungen ist.“
   Allmählich senkte sich die Decke des Tunnels noch weiter. Eine Strecke kamen sie nur noch auf allen Vieren voran. Der Doktor und Weber trugen die Lampen, in Hygienebeutel gewickelt, auf dem Rücken, sie hatten sie sich hinten in den Hosenbund gesteckt. Sollte sich die Decke des Tunnels noch weiter senken, würde es mit dem Transport der Lampen ein Problem geben. Sie durften auf keinen Fall nass werden. Alle waren so aufgeregt, dass sie die Eiseskälte des Wassers kaum wahrnahmen. Die Kälte bewirkte aber auch, dass sich Marjams verstauchter Knöchel allmählich beruhigte und der Schmerz nachließ.
  Der Tunnel zog sich in die Länge. Weber stellte fest, dass er kein Gefühl mehr in den Beinen hatte, und die junge Frau stöhnte wieder. Die Qual nahm noch zu, denn sie mussten eine Weile über scharfkantiges Geröll kriechen, das ihnen Hände und Knie zerschnitt. Doch keiner dachte an Umkehr. Ihr gesamtes Nervensystem war darauf ausgerichtet, dieser kalten Hölle möglichst schnell und mit halbwegs heiler Haut zu entkommen. Weber, der als letzter durchs Wasser kroch, sagte mehrmals laut, als müsse er sich Mut zusprechen: „Leute, wir schaffen das!“
   Schon seit einiger Zeit vernahmen sie ein eigenartiges Geräusch, das allmählich deutlicher wurde. Es kam von vorne und hörte sich an wie gedämpfter Kanonendonner. Bald darauf bemerkte der Doktor in einiger Entfernung einen grauen Schimmer. „Licht, ich sehe Licht!“ rief er begeistert, „Hurra! Die erste Etappe ist geschafft! Wir haben einen Ausgang gefunden!“ Weber stöhnte erleichtert auf, und Marjam dankte Allah für seine Güte.
   Der Tunnel erweiterte sich jetzt, und kurz darauf standen sie am Rande eines kleinen Sees. Linker Hand erstreckte sich eine Art Uferbereich, auf den er sich Schönberg ächzend hochzog. Der Streifen war zum Teil meterhoch mit Kies und Geröll bedeckt und, soweit ersichtlich, die einzige Möglichkeit, aufs Trockene zu gelangen. Die junge Frau war so erschöpft, dass sie aus dem Wasser gezogen werden musste. Weber, nachdem er aufs Trockene geklettert war, führte eine Dauerlauf-Pantomime  auf, um wieder Gefühl in die Beine zu bekommen.
   Leider kam das Licht nicht von einem Ausgang, sondern von oben. Über der fast kreisrunden Öffnung eines natürlichen Kamins stand der blanke Mond und tauchte die Höhle in silbermattes Schummerlicht. Schönberg knipste an seiner Stablampe herum und fluchte unflätig. Die Lampe war trotz größter Vorsicht nass geworden und versagte den Dienst. Blieb noch die Lampe von Weber.
 Obwohl sie sich keine zehn Minuten im Wasser aufgehalten hatten, waren alle fürchterlich ausgekühlt. Marjam zitterte wie Espenlaub. Schönberg schlug vor, die nassen Sachen auszuziehen und kräftig auszuwringen. Dann werde dem Körper nicht so viel Verdunstungswärme entzogen, und, bei entsprechender Bewegung, wären sie bald wieder warm.
   Das Mondlicht war verschwunden, und auch das Donnern hatte sich verändert. Es klang, als trommelte eine Herde Affen auf leeren Blechkanistern herum. Das Gewitter stand jetzt genau über ihnen.
   Während sich Weber aus ihren Kleidern schälte, leuchtete Schönberg die Höhle ab. Er konnte nirgendwo einen Abfluss entdecken. Entweder verschwand das Fließgewässer im Untergrund, wie er es gestern vorausgesagt hatte, oder die Abflussöffnung befand sich unterhalb der Wasseroberfläche. Wie dem auch sei, woran er nicht hatte denken wollen, war jetzt Fakt: Sie saßen in der Falle. Aus. Endstation. Wenn jetzt auch noch die einzige Lampe ausging...
  Verzweifelt leuchtete er die Wände ab. Was hatte er Weber noch vor ein paar Tagen forsch ins Gesicht gesagt? Es gibt immer einen Ausweg! Also gab es einen! Nur wo?
  Genau auf der gegenüberliegenden Seite, in etwa fünf Metern Höhe, war ein ziemlich breiten Spalt, aus der ein dünnes Rinnsal mehr tröpfelte als floss. Das Rinnsal wurde allmählich stärker, schon war es ein kräftiger Strahl, und gleichzeitig verstärkte sich das Rumoren, das aus dieser Öffnung kam.
  Schönberg blickte auf den Geröllhügel, auf dem Marjam gerade halbnackt und zitternd vor Kälte versuchte, das ausgewrungene, aber immer noch zu feuchte Hemd anzuziehen. Plötzlich fuhr ihm ein kalter Luftstoß ins Gesicht, und die Erkenntnis kam blitzschnell. Mit einem Satz war er bei ihr, nahm sie hoch und drückte sich mit ihr seitwärts an die Höhlenwand. In diesem Moment schoss ein mächtiger Sturzbach aus dem Spalt und ergoss sich krachend und prasselnd auf den kleinen Hügel, auf dem Marjam noch vor wenigen Sekunden gestanden hatte. Der Sturzbach schichtete einen wüsten Haufen Geröll und Gestein auf, der sie vermutlich begraben hätte.
   Die junge Frau war so verblüfft, dass sie die Umarmung reglos ertrug. Schönbergs Bärennatur hatte seinen Körper und seine Kleidung bereits wieder auf Temperatur gebracht. Weil sie süchtig nach Wärme war, verharrte sie eng an ihn gepresst, obwohl es nach ihren Moralvorstellungen eine Unschicklichkeit war. Allmählich begriff sie, dass Schönberg ihr wahrscheinlich gerade das Leben gerettet hatte.
 „Danke, Sahib! Gott erhalte dich!“, flüsterte sie. Ihr Kopf lag dankbar an seiner warmen Brust, und er fühlte ihren kalten geschmeidigen Körper. Sie hob das Gesicht, Schönberg senkte das seine, ihre Münder waren sich so nahe, dass sich ihr Atem vermengte. Ihre Lippen trafen sich, und im nächsten Moment spürte er ihre Zunge. Ihre Finger drückten seinen Nacken und glitten tiefer über seine Schultern. Erregungsschauer liefen über seinen Rücken. Begierig presste er sie enger an sich. Plötzlich schrie sie auf und stieß sich mit beiden Händen von ihm ab. Im wieder erstarkten Mondlicht sah er in ihre vor Überraschung oder in ungeheurem Erstaunen aufgerissenen Augen. Eine Weile stand sie erregt atmend und mit wogendem Busen vor ihm. Auf ihrem Gesicht lag maßlose Verwunderung, die im nächsten Moment in einen Ausdruck heillosen Schreckens umschlug. Sie legte die Hände vors Gesicht und wandte sich schluchzend ab.
   „Marjam... ich... ich...“, stammelte Schönberg. Er wusste selbst nicht, was in ihn gefahren war.
   Ein lauter Ausruf ließ den Doktor herumfahren. „Hartmut!“ rief Weber, „kannst du mal herkommen?“
 Die humanitäre Hilfskraft wühlte in einem Steinhaufen am Ende der Uferplattform herum. Steine und Geröll flogen herum. Schönberg war froh, jetzt keine peinlichen Entschuldigungen stammeln zu müssen. Mit wenigen Schritten war er vor Ort. Weber hielt ihm einen Stein unter die Nase. Es war ein gelblicher Ziegelstein. Er wies auf ein Loch, das er bereits gegraben hatte. „Dahinter liegen noch mehr von der Sorte!“, sagte er.
   Der Doktor musste nicht lange überlegen. „Wir sind gerettet!“ rief er,  „das ist ein Qanatstein! Natürlich, die Kanäle sind ausgemauert!“ Er ließ sich auf die Knie neben Weber nieder, und beide begannen hurtig wie grabende Hunde das Loch zu erweitern. In hohem Bogen flogen die Steine davon und klatschten hinter ihnen ins Wasser. Allmählich zeigte sich eine Wölbung und dahinter der auf den ersten Blick sorgfältig ausgemauerte Gang. Schönberg schätzte ihn etwa ein Meter sechzig hoch.
  Weber leuchtete hinein. „Lampe aus!“, zischte Schönberg. „Bist du wahnsinnig? Das Licht kann man kilometerweit sehen! Sollten in dem Gang Kämpfer stecken, wäre unsere Flucht schon zuende!“ Er kroch in den Gang hinein und lauschte eine ganze Weile angespannt. Nichts rührte sich. Es war totenstill. „Gut, wir wagen es. Gib mir die Lampe!“
   Jetzt zeigte sich, dass das Mauerwerk an vielen Stellen teilweise zusammengefallen war. Der Boden war mit einem Wust von Steinen bedeckt, und die Decke war an vielen Stellen eingestürzt. Es stand zu befürchten, dass der Kanal überhaupt unpassierbar war. Deshalb kroch der Doktor hinein, um den weiteren Verlauf zu erkunden.
  Marjam hatte sich wieder beruhigt. Sie wischte sich die Tränen ab und kauerte sich schweigend neben Weber vor die Qanatöffnung. Beide beobachteten gespannt, wie der runde Schein der Lampe immer kleiner wurde. Nach etwa zehn Minuten war Schönberg wieder zurück. „Es wird gehen“, sagte er. „Soweit ich sehen konnte, ist der Kanal frei. Aber es wird nicht einfach sein. Ich konnte an keiner Stelle aufrecht stehen.“

                                                                33

   „Sag das nochmal!“, bellte Whali Khan.
   „Die Ferangi sind verschwunden!“
   „Wer sagt das?“
 „Der der der Sanitäter Muhammed. Er wollte den Doktor heute mor mor morgen um sechs Uhr auftragsgemäß wecken, und da war er nicht in seiner Höhle. Auch die bei bei beiden anderen V-Vögel sind anscheinend ausgeflogen.“
   „Beim Scheitan, habe ich euch nicht befohlen, sie Tag und Nacht im Auge zu behalten?“ schrie der Dicke außer sich vor Wut. „Wie konnten sie dann entkommen, he?“ Sein wabbliges Dreifachkinn zitterte.
  Die tapferen Krieger Allahs Mahmut und Omar zitterten nicht nur am Kinn, sondern am ganzen Körper.
   „Sahib, ich... ich kann es mir n-nicht erklären“, stammelte Mahmut. „Außer zu den Mahlzeiten sind sie nie aus de-dem Lazarettbereich hinaus-ge-ge-kommen. N-na gut, mit Ausnahme des Daaktar Sa-ha-hib, wenn er beim K-kommandanten war. Aber sonst nicht! Bei A-Allah, ich schw-wör´s!“
   „Omar?“
  „Ich kann´s mir auch nicht erklären, Sahib. Wir haben sie rund um die Uhr bewacht.“
   Whali Khan ließ sich auf einen Stuhl fallen. Er drehte den Revolver, der neben ihm auf dem Tisch lag so, dass die Mündung auf Mahmut zeigte. „Erzählt hier keine Schauermärchen! Wenn ihr sie rund um die Uhr bewacht habt, wieso konnten sie dann entkommen, he? Sie müssen sich an euch vorbei geschmuggelt haben, anders geht es nicht. Hinterm Lazarett ist nur noch der Blindgang, da geht es nicht weiter.“ Er nahm den Revolver und drehte spielerisch die Trommel. Sie war wie immer voll mit Patronen bestückt. „Ihr seid dümmer als Eselsmist und zu nichts zu gebrauchen!“ Whali spannte den Hahn und hob den Revolver...
   „Steck das Ding weg, sonst geht es noch los!“
   Rawshad Khan humpelte herein. Ein Krieger schob ihm einen Stuhl unter, und der Kommandant setzte sich ächzend. „Dort geht es anscheinend doch weiter, mein Freund. Ich lasse das gerade überprüfen.“
   „Da geht es noch weiter?“, fragte Whali ziemlich dümmlich.
   „Ja.“
   „Wieso weißt du wieder mal mehr als ich?“
   „Weil ich das Ohr am Busen des Volkes habe!“ Rawschad Khans Lachen glich dem Krächzen einer Krähe, die in einem leeren Ölfass haust. Er gab den beiden wackeren Wächtern ein Zeichen, zu verschwinden.
  „Ich dachte mir, Frauenmund tut Wahrheit kund, wie es so schön heißt. Deshalb hörte mich eben etwas im Frauenlager um. Und siehe da, auf das Versprechen hin, sie vom Liebesdienst zu befreien, berichtete mir die kleine Fatima, diese Marjam, die Frau des Verräters al-Dorhani – er möge in der Hölle schmoren – habe ihr zugesteckt, hinter dem Lazarett bestehe möglicherweise ein Fluchtweg.“
   „Aber ich... aber ich habe doch alle Gänge und Tunnel hinter dem Lazarettbereich überprüfen lassen“, stammelte der Dicke. „Da war doch alles dicht!“
   „Du hättest besser selber nachsehen sollen! Jetzt ist es zu spät!“
   Ein Kämpfer hastete atemlos herein. „Kommandant“, keuchte er, „die Hunde sind durch einen Spalt gekrochen, den sie mit einer Eisenstange erweitert haben. Die Stange liegt noch in der Höhle dahinter.“
   Whali Khan zog erstaunt die schmalen Augenbrauen hoch. „Mit einer Eisenstange? Mit welcher Eisenstange?“
   „Mit dem abmontierten Hebel einer Krankenliege.“
   „Ich fasse es nicht! Da steckt doch wieder dieser ungläubige Hund... Na warte, die Sanitäter können was erleben!“
   „Whali, reg´ dich ab!“ Der Kommandant sah den Krieger erstaunt an. „Sage mir, mein Freund, wieso konnten sie sich denn mit einer einfachen Eisenstange Zugang zu der Höhle hinter dem Spalt verschaffen?“
   „Weil das Gestein an dieser Stelle nur fingerdick ist.“
   „Bei Allah! Wer konnte das ahnen!“
   Hussein Rawshad Khan sah plötzlich steinalt aus. „Gut, du kannst gehen“, sagte er müde.
   Wieder einmal stand er dicht am Abgrund. In der Allianz kämpften auch Teile der syrischen Armee, und die würden keinen Moment zögern, ihn mit Giftgas auszuräuchern. Und wie das dann aussah, hatte er oft genug bei ähnlichen Gelegenheiten beobachten können. „Sie dürfen auf keinen Fall entkommen!“ rief er überlaut, um sich Mut zu machen. „Whali, du nimmst sofort die Verfolgung auf! Ich mache dich persönlich verantwortlich! Seit wann sind sie überhaupt verschwunden?“
   „Rawshad, eiß ich nicht! Nach der Aussage des Sanitäters war der Doktor um sechs Uhr auf jeden Fall nicht mehr da.“
   „Und die beiden anderen?“
   „Wusste er nicht. Aber ich nehme doch an, dass sie gemeinsam geflohen sind.“
   „Das heißt, sie können schon seit Stunden unterwegs sein... Also los! Du befiehlst sofort ein paar fähigen Leuten, die Verfolgung aufzunehmen! Sie müssen unbedingt aufgehalten werden! Sonst –“
   Der Dicke machte eine heftige Bewegung, sodass sein Stuhl krachte. „Rawshad, wie stellst du dir das vor? Die Leute werden völlig im Dunkeln tappen! Das Gebirge ist durchlöchert wie ein Schweizer Käse! Eher findest du eine Ameise in einem Heuhaufen!“
   „Vielleicht kann ich da weiterhelfen!“ Einer von Rawshad Khans Leibgardisten wühlte in einem Stapel Papieren herum und zog zwei Fotografien heraus, von denen er eine weiterreichte. „Dies ist eine Luftaufnahme des Gebirgszuges, in dem wir uns befinden“, erklärte er. Er war ein gedrungener älterer Mann mit gestutztem Bart. „Hier“, er wies mit der Bleistiftspitze auf die entsprechende Stelle, „unsere Doline mit dem Höhleneingang. Und diese Punkte hier sind noch einzelne offene Revisionsschächte des Qanatsystems. So, und nun das Ganze noch einmal in der Vergrößerung.“ Er legte die andere Fotografie vor. „Hier haben wir Q1 und Q2, die Kanäle, die wir immer benutzen. Aber was ist das hier?“ Auf dem Foto waren mehrere hauchdünne Striche zu erkennen, die mit einigen Unterbrechungen vom Rand des Karstgebirges bis in die unmittelbare Nähe der Dörfer auf der Hochfläche führten.
   „Jydjel, mach´s nicht so spannend!“
   „Ihr müsst schon genau hinschauen!“
  Der Kommandant und sein Stellvertreter senkten so heftig die Köpfe, dass sie zusammenstießen. „Bei Allah, vergessene Qanate!“, rief Whali Khan überrascht. „Wieso wussten wir nichts von ihnen?“
   „Weil sie nur aus der Luft zu erkennen sind, und dann auch nur bei untergehender Sonne. Die Erdhügel sind schon längst auf die Äcker der Dörfler gewandert. Man erkennt sie in dieser Schräglichtaufnahme, weil sich die Kanaldecken über weite Strecken gesenkt haben.“
  „Und ich Tropf hatte bisher angenommen, die Löcher in der Landschaft seien lokale Brunnen“, gestand der Dicke mit milder Selbstkritik.
   Der Kommandant kraulte sich den Bart. „Du meinst, Jydjel, sie könnten einen dieser Kanäle als Fluchtweg benutzen.“
   „Möglich wär´s.“
   „Hmm... Nur welchen!“
   „Tja, das ist die Frage! Aber meiner Meinung kann es sich nur um einen von diesen hier handeln.“
   „Wie kommst du darauf?“
   Jydjel verlängerte mit dem Bleistift einige dieser kaum erkennbaren Striche auf dem Foto. „Weil die Kanäle hier sternförmig zusammenlaufen. Ich vermute, dass an dieser Stelle im Berg eine Art See oder Wasserbecken existiert, aus dem sie früher gespeist wurden.“
   „Wie weit ist denn dieser See von unserem Höhlensystem entfernt?“
   Jydjel legte ein Lineal an. „Ich schätze mal so sechshundert Meter.“
   Der Stellvertreter rieb sich vergnügt die Hände. „Dann brauchen wir sie gar nicht verfolgen! Wir besetzen die Revisionsschächte und erwarten sie dort  in aller Ruhe! Rawshad, gib sofort - “
  „Vorsicht, Whali“, warnte Jydjel, „weißt du, wie viele Revisionsschächte es da früher gab? Hunderte! Und aus jedem könnten sie im Prinzip herauskriechen! So viele Leute hast du gar nicht, um die alle zu besetzen.“
  „Momentchen! Jydjel, woher weißt du überhaupt, dass sie gerade den Weg über einen Kanal wählen?“, gab der Kommandant zu bedenken. „Es gibt doch bestimmt noch andere Möglichkeiten, zu entkommen.“
   Der Adjutant schüttelte den Kopf. „Möglich ist es, aber sehr unwahrscheinlich.“ Er zeigte auf eine tiefe Delle, die sich quer durch das Karstgebirge zog.
   „Das Teufelstal!“
   „Richtig. Der Einschnitt ist an der tiefsten Stelle vierhundert Meter tief. Frage: Wo bleibt unser Fluss? Denn fünfunddreißig Kilometer weiter südlich, bei Nok Ghudrum, ist er wieder da!“
   „Ja wo bleibt er?“
    „Er taucht unter dem Teufelstal ab und dahinter wieder auf.“
   „Geht denn so etwas überhaupt?“, wollte der Dicke wissen. Doch keiner der beiden beachtete ihn.
   „Aha! Verstehe!“, rief der Kommandant. „Und einen anderen Ausgang gibt es nicht?“
   „Möglicherweise doch. An der Nordwand des Teufelstals gibt es einige Öffnungen, die aber noch niemand untersucht hat.“
   „Und warum nicht?“
   Jydjel grinste schelmisch. „Derjenige müsste schon fliegen können!“
  „Ich fasse zusammen“, sagte der Kommandant grinsend und erhob sich. „Wenn sie nicht fliegen können und nicht tauchen wollen, müssen sie einen der Kanäle nehmen. Und wenn sie denn nicht finden, sind sie sowieso geliefert! Whali, schicke sofort Späher aus! Sie sollen das Gelände genauestens beobachten! Lebend kommen diese Christenhunde mir nicht davon!“
   
Forts. folgt

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nicolailevin
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Wohnort: Süddeutschland


Beitrag10.04.2019 20:15

von nicolailevin
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Mahlzeit!

zu "On the fly": Schreibst du derzeit an den noch nicht hier geposteten Abschnitten oder hast du das gesamte Opus schon mehr oder weniger fertig im der Schublade?

zu den Perspektivwechseln: Ich finde es unglücklich und nicht sehr elegant, wenn zwischen die personalen Perspektiven der allwissende Erzähler unvermutet reingrätscht.

Nun aber zur nächsten Lieferung

Zitat:
Das konspirative Treffen fand in Webers Wohnhöhle statt.


 
Zitat:
„Sahib, wie sollen wir denn in den Fluss hinein kommen?“, fragte Marjam. „Du sagtest doch eben, er liegt mindesten in drei Meter Tiefe.“
   „Springen, meine Teuerste, springen!“
   „Das ist doch nicht dein Ernst!“, brauste Weber auf.
   „Leider doch!“
   Die Laune der beiden Mitverschwörer war auf einem Tiefpunkt angelangt.
   „Liebe Leute!", zischte der Doktor, "glaubt ihr, diese Aussichten stimmen mich heiter? Aber es hat keinen Zweck, die Flinte jetzt schon ins Korn zu werfen! Lamentieren bringt nichts.“
  Obwohl Schönberg flüsterte, entbehrte seine Stimme doch nicht einer gewissen aufmunternden Kraft. „Ein Sprung ins kalte Wasser kann manchmal recht belebend sein!“
   Weber blies die Backen auf. „Besonders wenn man nicht weiß, wie tief das Wasser ist und wie spitz die Steine sind“, moserte er. „Und sollten wir heil unten angekommen, wie geht´s dann weiter?“


Das holpert für mich. Passt vom Redestil nicht zur Situation und dem Thema ...

Zitat:
„Herzchen, weißt du, wie weit das ist? Es sind mindestens fünfunddreißig Kilometer! Willst du fünfunddreißig Kilometer in eiskaltem Wasser waten? Außerdem weiß niemand, welchen Verlauf der Fluss nimmt. Er kann zum Beispiel plötzlich im Untergrund verschwinden und nach dem Prinzip der kommunizierenden Röhren an ganz anderer Stelle wieder auftauchen. Das haben unterirdische Flüsse in Karstgebirgen so an sich [...]“


überflüssige Lektion.

Zitat:
„Sicherlich, Holm, da muss ich dir leider verteufelt Recht geben. Das Unternehmen gleicht einem russischen Roulett mit denkbar geringsten Überlebenschancen. Und ein Zurück wird es nicht geben. Aber bleibt uns eine andere Wahl?“ Jetzt seufzte auch der Doktor. „Ich weiß nicht, wie lange sich der Dicke noch beherrschen kann. Und wenn er mich erledigt hat, dann seid ihr dran!“


Den zweiten Teil der Rede finde ich glaubwürdig. Das bilderreiche Schwadronieren des Doktors im ersten Teil des Absatzes klingt mir auch hier unpassend.

Zitat:
Seit sie erfahren hatte, dass al-Dorhani nicht mehr am Leben war, stand er wie eine überlebensgroße Vaterfigur vor ihr.


Gönn doch dem Leser diese Erkenntnis aus Sicht der Dame ... Oder bleib in der Perspektive Schönbergs und lass ihn das vermuten.


                                                                     30

 
Zitat:
"Mit einem Bein stehst du bereits in der Djehenna!“


Also, der Mann hat in DE studiert, spricht fließend deutsch - mal wieder die Frage, in welcher Sprache die beiden reden, denn wenn auf Deutsch, was naheliegend wäre, dann verstehen doch die Publikumskrieger nichts. In jedem Fall klingt diese 'Djehenna' für mich doof, da kupferst du die schlimmeren Unsitten Karl Mays ab (ich warte nur, dass demnächst jemand einen Ungläubigen als Giaur beschimpft wie weiland bei Hadschi Halef Omar ...)

Zitat:
Zum Beispiel, wie ich die multiresistenten Keime in den Griff bekomme, die sich im Lazarett eingenistet haben! Einfaches Abkochen nützt schon lange nichts mehr. Ich bräuchte einen neuen Dampfdrucktopf. Der alte ist vor drei Tagen in die Luft geflogen! So sieht es aus, Kommandant!“


Multiresistent heißt doch nur, dass bestimmte Bakterien trotz aller Antibiotika überleben, aber nicht, dass sie wunderbarerweise hitzeresistent werden, oder?

Zitat:
Schönbergs Magen schmerzte, aber nicht vor Angst, sondern vor Hunger. Ihm fiel ein, dass er seit heute morgen noch nichts gegessen hatte. Trotz der widrigen Umstände sehnte er sich nach einer saftigen Hammelkeule von der Größe eines Baseballschlägers mit einer turmhohen Portion frittierter Kartoffeln. Er legte die Hand auf den Magen, der jetzt hörbar knurrte.


Passt für mich hier nicht rein und bringt doch der Geschichte nichts.

Zitat:
„Folgendes. Es ist ja nicht nur Bakterium thuringiensis, das mir zu schaffen macht.


Lustig? Eher nicht.

Zitat:
"Das habe ich dir doch schon gesagt! Er wird sein Leben als Krüppel beenden.“


Würde ein Arzt sowas so formulieren? Die Mediziner aus meinem Bekanntenkreis haben da eine bemerkenswert positivere Grundhaltung, die finden erstmal alles klasse, was überlebt und irgendwie "erfolgreich" ist ... Einschränkungen des Patienten? Ach Gott, ja, natürlich ...
 
Zitat:
Der Doktor sprang so heftig auf, dass der Stuhl einem der Kämpfer ans Schienbein flog. „Du scheinheiliger Hund!“ schrie er fast besinnungslos vor Wut, „verlangst du auch noch von mir, dass ich meinen Eid breche? Hast du denn nicht einen einzigen Funken Anstand im Leib? Bisher bildete ich mir ein, du seist aus einem anderen Holz geschnitzt als dein Darmbewohner da!“ Er beugte sich über den Tisch und sah dem verdatterten Kommandanten ins Gesicht. „Ich habe geschworen, Leben zu retten“, zischte er, „ich habe nicht geschworen, Leben zu zerstören! Und dabei bleibt es! Basta!“


Ich weiß nicht: Diese Eruptionen kommen mir nicht motiviert genug, wo er doch sonst so ein strategisch denkender kluger Kopf ist ...

                                                                   31
Zitat:
Was hat Emil gesagt?


Siehe letzte Lieferung: Wie heißt er denn nu? Führst du kein Personenverzeichnis?

Zitat:
Eine Weile stand Weizenkorn regungslos, den Kopf wie eine äugende Amsel zur Seite geneigt.


Bisschen sehr schräg der Vergleich ...

Zitat:
Was ich von Ihnen gerne wissen möchte, Herr Hauptmann, ist dies: Wie weit würden Sie bei diesem Kampf gehen? Würden Sie sagen, der Erfolg heiligt in jedem Falle die Mittel?“
  Stephan machte sich steif stand wieder unbequem. „Herr Oberst, ich verstehe immer noch nicht!“
  „Gut, dann muss ich wohl deutlicher werden. Würden Sie verbotene Kampfmittel begrenzt anwenden, mit der festen Überzeugung, dadurch größeres Unheil zu verhindern?“
   „Wenn Sie meine ehrliche Meinung hören wollen: Ich würde mich an die Genfer Konvention halten.“


Was soll denn diese Diskussion hier? Unter normalen Umständen sollten dem Oberst doch gar keine unerlaubten Kampfmittel zur Verfügung stehen ...

Zitat:
Stephan knallte die Hacken zusammen, grüßte militärisch-zackig, und verschwand.


Dass ein Militär militärisch grüßt, klingt mir normal; ich würde sagen, zackig alleine tut's hier auch.  
 
Zitat:

   „Ghuzman. Mahmud oder Mahmad.“
   „Ach! Ist das ein Bruder des Gärtners des Botschafters?“


Ich weiß nicht recht: Vielleicht solltest du uns einen Grund nennen, warum die sich alle so gut auskennen, was die Hintergründe ihres einheimischen Hilfsgärtners angeht. Ich würde erwarten, dass die höheren Offiziere von dem nicht einmal den Namen wissen würden.


                                                                 *

Zitat:

   „Entrez!“
  „Pardon, mon general“, sagte sein Adjutant, Stabsfeldwebel Walther, „le Colonel Weißenkoon will Sie unbedingt sprechen!“
   „Mon dieu! Um diese Zeit! Wimmeln Sie ihn ab, Walther, wimmeln Sie ihn ab. Er soll in einer Stunde wiederkommen!“


Das klingt jetzt irgendwie für mich nach Fin-de-Siècle-Gesellschaftskomödie im Theater, Bunbury oder so.

Zitat:
„I am awfull sorry,


y

Viele Grüße
Nico
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wunderkerze
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Beitrag12.04.2019 11:57
Antwort
von wunderkerze
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Hallo Nico
schön, dass du noch dran bist!

Der Roman umfasst etwa 250 Manuskriptseiten und lagerte schon ein Weilchen auf dem Labtop, bis ich dieses Forum fand. Ich stelle ihn leicht gekürzt ein und will damit keinen Preis gewinnen, sondern schlicht und einfach unterhalten.
  Ach Gott, Karl May! Durchs wilde Kurdistan, Djehenna und Giaur, wenn ich mich nicht irre, hihi... Ich gestehe hinter vorgehaltener Hand (es müssen ja nicht alle gleich mithören): Als Winnetou starb, hatte ich feuchte Augen. Ich las das mit sechzehn. Ist man da noch ein Kind, wenn 17jährige schon autofahren dürfen?
   Auch der Giaur steht bei mir irgendwo, ist aber möglicherweise einer Kürzung zum Opfer gefallen. Ich wählte diese Worte nicht, weil ich sie bei K.M. fand, sondern wegen ihres lautmahlerischen Gehalts. Djehenna klingt irgendwie nach Hühnerhof, und Giaur geradezu krachledern. Taifan klingt nach Bauchtanz, Sahib nach Unterwerfung, und bei Motaram daaktar höre ich die knarrende Stimme des Kommandanten.

Nun zu den Kritikpunkten.

Die einzige Möglichkeit, multirestente Keime, z.B. Bact. thuringiensis (also überhaupt nicht lustig), abzutöten, besteht, zumindest unter den gegebenen Bedingungen, im Sterilisieren der Sachen in einem Dampf-Hochdruck-Sterilisator bei 180 Grad, denn gegen Antibiotika sind sie ja resistent, aber eben nicht gegen Hitze.


Der Oberst kennt Ghuzman doch gar nicht, deshalb fragt er ja. Aber warum sollte er ihn nicht schon gesehen haben? Und dass der Botschafter über sein Personal Bescheid weiß nehme ich doch stark an. Aber dass der mal Emil mal Erwin heißt ist natürlich ärgerlich.


Der Oberst hat ja auch keine verbotenen Kampfmittel, aber er ist gerade dabei, sich über finstere Kanäle welche zu beschaffen, wie sich später herausstellt.

Warum soll in einem Abenteuerroman nicht auch etwas Komödie stecken?

Die Eruption des Doktors und die anderen Sachen habe ich im Orig. überarbeitet.

Noch eins, bitte: Was bedeutet das Schluss-y?
 
Viele Grüße
wunderkerze

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wunderkerze
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Beitrag12.04.2019 13:26
Fortsetzung
von wunderkerze
Antworten mit Zitat

„Ich frage mich die ganze Zeit“, sagte Weber ziemlich laut, „warum in diesem Kanal hier kein Wasser ist. Er diente doch, verdammt noch mal, der Bewässerung von Feldern, und was nützt ein Bewässerungskanal ohne Wasser!“ Im Grunde interessierte ihn die Antwort nicht sonderlich. Er wollte nur seine Stimme hören, denn die unheimliche Gruftathmosphäre legte sich ihm aufs Gemüt. Er bekam auch keine Antwort, sondern einen Anschiss. „Bist du wahnsinnig, so laut zu brüllen!“, zischte Schönberg. „In dieser engen Röhre kann man dich meilenweit hören!“
   Der Doktor war schlechter Laune, denn sein Rücken schmerzte. Da er der Längste war, hatte er unter der gebückten Haltung am meisten zu leiden. Auch die junge Frau litt. Immer öfter verzerrte sich ihr Gesicht vor Schmerz, sie kniff die Lippen zusammen und stöhnte hinter zusammengebissenen Zähnen.
 Nach weiteren hundert Metern hielt Schönberg an.
   „Ich halt´s nicht mehr aus“, stöhnte er, „mein Rücken macht nicht mehr mit.“ Er übergab Weber die Stablampe, ließ sich zu Boden gleiten und streckte sich lang aus. Ohne auf das Geröll und den Staub zu achten, machte er Bewegungen wie eine Schlange auf Fließsand. Dabei fiel sein Blick auf Marjams Fußgelenk, das stark angeschwollen war. Er richtete sich halb auf. „Herrje, das Gelenk muss sofort fest umwickelt werden!“, sagte er. Vorsichtig betastete er das geschwollene Fleisch. Wie schon damals Weber, riss er sich einen Ärmel aus dem Hemd und legte einen festen Verband an. Doch er wusste, dass es bereits zu spät war. Auf diese primitive Weise ließ sich die Schwellung kaum noch eindämmen, und schon gar nicht, wann das Gelenk immer wieder belastet wurde.
   Marjam blickte betreten vor sich hin. An Schönbergs Gesichtsausdruck erkannte sie, wie es um sie stand.
  Weber saß mit angewinkelten Knien an der Kanalwand und massierte sich den Rücken. Er begriff die Misere und sagte: „Wenn sie nicht durchhält, laufe ich bis zum nächsten Revisionsschacht vor und versuche, Hilfe zu holen.“
   Schönberg schüttelte den Kopf. Er wusste, wie absurd dieser Vorschlag war. Seine Uhr zeigte kurz nach halb sieben, ihre Flucht war mit Sicherheit längst entdeckt.
   "Sie  haben bereits ihre Maschinengewehre in Stellung gebracht", sagte er, "und suchen das Gelände mit Ferngläsern ab. Sowie sich etwas bewegt, werden sie es mit einer Salve sirrenden Bleis wegblasen. Die einzige Möglichkeit auf Rettung besteht darin, dass sie den Kanal nicht kennen und Marjam noch eine Weile durchhält."
   Ein eigenartig flatterndes Geräusch ließ sich vernehmen, das schnell näher kam. Es hörte sich an, als schlüge jemand rasend schnell Wäschestücke aus.
   „Was ist das?“, fragte Marjam.
   „Ein Aufklärungshubschrauber der alliierten Streitkräfte“, erklärte Schönberg.
   „Sie suchen uns!“, flüsterte Marjam.
  „Unsinn! Warum sollten sie? Wissen sie denn, dass wir hier unten sind? Wenn uns jemand sucht, dann ist es der Dicke mit seinen Schergen!“
   Das Geräusch wurde leiser und war schließlich verschwunden.
   Weber wurde plötzlich munter. „Sie werden wiederkommen!“ rief er aufgeregt,  „wir... wir legen beim ersten Wartungsschacht etwas oben aus... was sie aufmerksam macht... zwei Kleidungsstücke über Kreuz...“ Er sah Schönbergs Blick und sank wieder in sich zusammen.
   Der Doktor stand auf. „Wir müssen weiter. Mein Rücken hat sich wieder etwas erholt." Er reichte Marjam die Hand und zog sie hoch. „Versuch, den linken Fuß möglichst wenig zu belasten, indem du dein Körpergewicht auf das rechte Bein verlagerst“, empfahl er. Die junge Frau biss die Zähne zusammen. Das hoffnungslose Häufchen Elend setzte sich behutsam in Bewegung.
                                                         *
   Das Gesicht des Dicken war vor Wut fast schwarz. „Ihr nichtsnutzigen, räudigen Hunde!“ brüllte er. In seinen Augen lag die gesamte Verachtung konzentriert, zu der seine verkümmerte Seele fähig war. Vielleicht waren ja Wut, Hass und Verachtung die einzigen Emotionen, die ihm zu Gebote standen.
   „W-wir konnten doch nicht a-ahnen...“ Der kleine Sanitäter Mohammed war nur noch Haut und Knochen. Es war ein Rätsel, wie er sich auf den Beinen halten konnte.
   „Schweig gefälligst!“, donnerte der Dicke. Jetzt, wo er nicht mehr unter der Fuchtel des Kommandanten stand, ließ er seinen sadistischen Trieben freien Lauf. „Du redest nur, wenn du gefragt wirst! Verstanden?“
   Mohammed biss sich auf die Lippen.
   „Habe ich nicht angeordnet“, giftete Whali Khan weiter, „genau hinzuschauen und mir sofort Bescheid zu sagen, wenn euch etwas Besonderes auffällt?“ Er wandte sich dem Krankenpfleger mit der Hasenscharte zu. „Wie heißt du, Kerl?“
   „Abdul.“
   „Kerl, das weiß ich! Der Familienname!“
   „Schah-Mashaud.“
   Der Dicke stutzte. Schah-Mashaud? Der Name kam ihm bekannt vor. Irgendetwas in seinem Spatzenhirn warnte ihn, aber er kam im Moment nicht darauf, wovor. Also schnauzte er ungehemmt weiter. „So. Und ein Schah-Mashaud ist nicht in der Lage festzustellen, dass an einem Krankenbett ein eiserner Hebel fehlt! He?“
   „Natürlich haben wir das festgestellt, Sahib, aber... aber -“
   „Aber aber aber! Was aber?“
   „Wir hielten es für nicht wichtig. Und bei Allah, wir hatten Wichtigeres zu tun, als uns um einen abgebrochenen Hebel zu kümmern! Hätten wir gewusst - “
   „Seit wann bestimmt ein Urinschwenker was wichtig ist und was nicht?“ schrie Whali Khan blaurot im Gesicht. „Ihr hättet sofort Meldung machen müssen! Jetzt haben wir die Bescherung!“
   „Aber d-der Doktor hatte uns doch bef-fohlen“, sprang der kleine Muhammed mutig ein, „gut auf die Patienten aufzupassen und uns nicht von der Stelle zu rühren.“
   „Was sagst du? Der Doktor hatte euch befohlen?“
   Whali Khan grinste widerlich und machte einen Schritt zur Seite. Plötzlich drehte er sich blitzschnell um und verpasste dem Kleinen eine saftige Ohrfeige. Der warf taumelnd einen Stuhl um.
  „Hat dich jemand gefragt?“
   Whali Khan waberte ein paarmal wutschnaubend vor den Jammergestalten auf und ab, dann setzte er sich. „Ja beim Sheitan, habt ihr Kerke denn gar keinen Stolz im Leib? Ihr seid Gotteskrieger und lasst euch von einem ungläubigen Hund Befehle erteilen! Ich fasse es nicht! Und dieser ungläubige Hund erkundet unterdessen seelenruhig einen Fluchtweg! Was glaubt ihr wohl, was mit diesem Stützpunkt passiert, sollte ihnen tatsächlich die Flucht gelingen, he?“ Er nestelte an seiner Revolvertasche herum. „Dafür sollte ich euch erschießen!“
   „Whali Khan, du erschießt weder ihn noch mich!“, sagte Abdul. „Du vergisst anscheinend, aus welcher Familie ich stamme!“
 Der Dicke sah überrascht auf. „Bei Allah“, grunzte er, „warum sollte ich euch nicht erschießen, wenn ich fragen darf? Und deine Familie -“
   Plötzlich ging ihm ein Licht auf. Natürlich! Ahmed Schah-Mashaud, der Löwe von Pashtun! Eine lebende Legende! Bestürzt erinnerte er sich wieder: Der Löwe war seinerzeit mit seiner Freischärlertruppe und dem Schlachtruf: Hupp el-watam min el-Iman – die Liebe zum rechten Glauben ist die Liebe zum Vaterland – zum Gaila-Pass gezogen und hatte dort unter den sowjetischen Söldnern des Generals Makarow ein entsetzliches Gemetzel angerichtet, wobei der General gefallen war. Seitdem war sein Clan einer der einflussreichsten und mächtigsten im Lande.
  Whali Khan biss sich auf die wulstigen Lippen. Das könnte gefährlich werden, dachte er, auch wenn dieser Abdul nur um zehn Ecken mit der Familie des 'Löwen' verwandt ist keineswegs wie ein Löwe aussieht.   
  Sofort machte er eine Kehrtwende um dreihundertsechzig Grad. „Aber natürlich nicht“, säuselte er, „Abdul, mein Sohn! War doch nur ein kleiner Scherz! So schnell schießt der Whali nicht!“ Er schnaufte verdrießlich. „Entschuldigt, Kinder, besonders du, Muhammed, war nicht so gemeint! Schwamm drüber, ja? Aber ihr müsst mich doch auch verstehen! Der Kommandant sitzt mir im Nacken, und solange wir die Flüchtigen nicht gefasst haben, leben wir auf einem Pulverfass, das jeden Moment in die Luft fliegen kann! Wenn ich daran denke -“
   „Whali Khan, hast du sonst noch was?“, fragte Abdul aus der Familie des 'Löwen'. Plötzlich nuschelte er kaum noch.
   „Wie? Nein, natürlich nicht! Ihr könnt gehen... Ach übrigens, wenn ihr eine Frau braucht, sucht euch eine aus!“ Sie waren schon draußen, da rief er ihnen nach: „Von mir aus könnt ihr sie alle haben!“
  Muhammed grinste. Endlich ist es heraus. Nicht aus Sorge um die Garnison war Whali so wütend, dachte er, sondern aus Enttäuschung darüber, dass ihm die einzige Frau, zu der er in seinem bisherigen einsamen Leben anscheinend so etwas Zuneigung empfunden hatte, die Frau des Pashtunen, auf dumme Weise entwischt war.
   Whali Khan saß noch eine Weile da, und seine schlaffen Züge verfielen immer mehr. Er war doch schon so nah am Ziel gewesen!

                                                               *

  Mit einem Aufschrei sank die junge Frau zu Boden. Sie war mit dem geschwollenen und schmerzenden Knöchel hart an einen Stein gestoßen und krümmte sich vor Schmerzen. An ein Weitergehen war nicht zu denken. Also war schon wieder eine Zwangspause fällig. Schönberg runzelte die Stirn. Ihr Vorsprung schmolz dahin wie Märzschnee in der Mittagssonne. Dabei hatten sie noch nicht einmal den ersten Revisionsschacht erreicht! Mit Sicherheit waren ihnen die Verfolger bereits dicht auf den Fersen.
  Der Doktor fasste sie am Arm. Mit einem unterdrückten Klagelaut stand Marjam wieder auf und belastete vorsichtig das kranke Gelenk, wobei sie sich mit der anderen Hand an der Wand abstützte. Anscheinend hatte sich der Knöchel wieder etwas beruhigt, denn sie humpelte ein paar Schritte und sagte: „Wir können weitergehen.“
  Doch der Doktor gab sich keinen Illusionen hin. Mit Marjam würden sie das Ziel nie erreichen.
   Seine Miene verfinsterte sich zusehends. Es ist schlichtweg zum Verzweifeln, dachte er. Normalerweise hätte er sich die kleine Frau über die Schulter geworfen und wäre mit ihr nötigenfalls bis zu einem Lazarett am Ende der Welt marschiert. Doch hier in diesem engen Tunnel, in dem ein Mann mit breiten Schultern schon Schwierigkeiten hatte, sich hindurch zu zwängen, war an solche Heldentaten nicht zu denken. Das nächste Dorf lag nach seinen Informationen mindestens zehn Kilometer vom Fuße des Karstgebirges entfernt. Sie müssten also noch stundenlang gehen, dann die Nacht abwarten und versuchen, im Schutze der Dunkelheit das Dorf zu erreichen. Unter den gegebenen Umständen ein Ding der Unmöglichkeit. Und sollte es wider Erwarten doch gelingen, dann konnte es ihnen noch passieren, dass sie der Dicke hämisch grinsend in Empfang nahm, denn Zeit genug, ihren Fluchtweg auskundschaften zu lassen, hatte er dann ja reichlich gehabt.

  Nach endlosen, qualvollen Metern über Schutt und Sand zeigte sich in der Ferne endlich ein heller Fleck: Der erste Wartungsschacht.
   Während sich Weber und Marjam total erschöpft auf den Boden kauerten, kletterte Schönberg auf den Geröllhaufen, der darunter lag, und steckte vorsichtig den Kopf aus der Öffnung. In der aufgehenden Sonne glänzte die Bergflanke, als sei sie mit Schnee bedeckt. Zur anderen Seite hin, ganz in der Ferne, lag über der brettglatten Ebene wie eine Fata Morgana das Dorf. Er schätzte, dass sie erst magere zwei Kilometer zurückgelegt hatten, wenn überhaupt.
   Schönberg zog den Kopf wieder zurück, stieg ab und berichtete. „Kämpfer konnte ich nirgens entdecken, sie hocken wahrscheinlich auf den Felsen und spähten das Gelände aus.“
   „Konntest du ein Dorf sehen?“, fragte Weber.
   „Ja.“
   „Wie weit ist es denn noch?“
   „Frag mich nicht, dann lüg ich nicht.“  
    Eine Weile herrschte betretenes Schweigen.
   „Bei diesem Schneckentempo haben wir keine Chance“, sagte Weber deprimiert und mit einem unfreundlichen Seitenblick auf Marjam. Doch sein Groll richtete sich nicht so sehr gegen sie, sondern gegen Schönberg. Ich wusste es doch, grummelte er vor sich hin, Frauen haben bei solchen Abenteuern nichts zu suchen. Aber dieser verliebte Hahn war ja durch nichts zu belehren!
   „Kurz über lang werden sie die Wartungsschächte besetzen, und dann stecken wir fest“, stöhnte er.
  Schönberg schüttelte den Kopf. „Das glaube ich kaum. Wenn alle anderthalb bis zwei Kilometer ein Schacht kommt, dann hat allein dieser Kanal zehn, und er ist nicht der einzige, den sie überwachen müssen. Die Gegend ist voll davon. Und sie können nicht die halbe Mannschaft losschicken, um die Schächte zu besetzen. Bei dem offenen Gelände würde das auffallen.“ Schönberg wandte sich der jungen Frau zu, die gegen die raue Ziegelwand lehnte und heftig atmete. „Marjam, du stammst doch von hier. Um welches Dorf  könnte es sich handeln? Ich meine, eben vier Minaretttürme gesehen zu haben.“
   „Das kann nur Zeranje sein. Die anderen Dörfer in dieser Gegend besitzen keine Moscheen.“
    „Zeranje? Liegt da nicht ein Außenposten der Amerikaner? Der Ort ist doch nur fünfundzwanzig Kilometer Luftlinie von Ghasani entfernt!“
   Weber wurde hellhörig. „Marjam, wie weit gehen die Kanäle normalerweise bis an die Dörfer heran?“, fragte er aufgeregt.
   „Früher bis zum Dorfbrunnen. Aber die Brunnen sind schon lange zugeschüttet.“
   „Hm... Aber es besteht immerhin die Möglichkeit, bis in die unmittelbare Nähe dieses Dorfes zu gelangen.“ Weber richtete sich unvorsichtigerweise auf und stieß mit dem Kopf an die Decke. „Was haltet ihr von folgendem Vorschlag. Ich versuche, dieses Dorf zu erreichen und die Amerikaner zu alarmieren. Ihr kommt inzwischen langsam nach.“
   "Gar nichts! Die Amerikaner sind doch dafür bekannt, dass sie sich freiwillig keine hundert Meter von ihren Stützpunkten entfernen. Gerade in diesem Gebiet, wo ständig Scharfschützen auf der Lauer liegen! Die werden sich hüten!"
 "Ich versuch´ es trotzdem", sagte Weber. "Mehr als sterben kann ich nicht. Und einen Versuch ist es allemal wert. Vielleicht habe ich ja Glück und komme durch."
   Schönberg war unschlüssig. "Was meinst du, Marjam, soll er´s wagen?“
   „Ich weiß nicht... Was hast du vor, Sahib?“
   „Natürlich bleibe ich bei dir!“
   „Nein! Bei Allah! Willst du unbedingt den Märtyrer spielen?" Marjams Stimme klang überraschend zornig. "Von der Sorte gibt es hier doch wahrlich schon genug!“
   „Ich bleibe bei dir und gehe auf keinen Fall mit!“, beharrte Schönberg. „Du bist verletzt, ich bin Arzt und meinem Eid verpflichtet! Soll ich dich hier deinem Schicksal überlassen? Für wen hältst du mich eigentlich? Vielleicht kommt Holm ja tatsächlich durch und kann Hilfe holen.“
  „Aber das ist doch heller Wahnsinn!“ Noch hatte sich Marjam in Schönbergs Gegenwart so entschlossen gezeigt.
   Der Doktor murmelte: „Ein Wahn, der mich beglückt, ist eine Wahrheit wert, die mich zu Boden drückt.“ Laut sagte er: „Keine Widerrede! Ich bleibe bei dir!“
   Marjam schwieg.
   „Also dann los, Holm, mein Junge“, sagte Schönberg, „mach dich auf die Socken! Hier, nimm die Lampe, dann kommst du schneller voran.“ Er nahm die Hand seines 'Weberknechts' und schüttelte sie kräftig. „Solltest du durchkommen“, flüsterte er ihm ins Ohr, „überleg´ nicht lange und tue, was du tun musst! Und jetzt Abmarsch!“
   Sie beobachteten, wie Weber allmählich in der Dunkelheit verschwand. Dann war da noch eine Weile der Schein der Lampe, der immer dünner wurde und sich schließlich zu einem winzigen Punkt zusammenzog.

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Beitrag16.04.2019 12:10
Fortsetzung
von wunderkerze
Antworten mit Zitat

*
   Marjam ließ sich erschöpft zu Boden gleiten. In ihren Augen lag nichts als abgrundtiefe Trauer. Mit der Gelassenheit ihrer Rasse sah sie ihrem Ende entgegen. Sie hatte einen Zustand erreicht, in dem die Seele wie Glas ist und jeden Moment zerbrechen kann.
    Schönberg setzte sich mit dem Rücken an die Wand und streckte die Beine aus.
   „Sahib, warum bist du nicht mitgegangen?“, fragte Marjam, „doch nicht, weil du Arzt bist!“ Wie alle hellhörigen Frauen erkannte sie eine Lüge auch, wenn sie unausgesprochen blieb.
  Der Doktor betrachtete ihren Knöchel, der noch weiter angeschwollen war. Es widerstrebte ihm, jetzt jene leichten Worte zu gebrauchen, die man Frauen sagt, wenn sie einem viel bedeuten. Jene abgenutzten Floskeln ohne Saft und Kraft, jenes abgedroschene Liebesgestammel, das so banal ist wie der Börsenbericht oder die Betriebsanleitung für einen Staubsauger. Würde sie solche Worte überhaupt begreifen?, fragte er sich. Denn noch steht überlebensgroß al-Dorhani zwischen uns.
   Schönberg legte seine Hand auf ihre Schulter. „Tut es sehr weh?“
   „Ja. Aber du sollst mich nicht berühren, es sei denn als Arzt.“
   Doch ihr Protest klang schon halbherzig. Es war nicht nur der Schmerz, der ihren Willen lähmte, sondern auch die Einsicht, dass solchen Begriffen wie Anstand und Ehre jetzt keine Bedeutung mehr zukam.
   Schönberg zog die Hand zurück, und beide schwiegen.
  „Es ist unglaublich“, sagte Marjam nach einer Weile, „als kleines Kind hatte ich immer eine Höllenangst, dass mein Großvater von seinen Kontrollgängen eines Tages nicht mehr zurückkam. Er war nämlich zwanzig Jahre lang Qanatinspektor. Einmal nahm er mich mit, um mir zu zeigen, dass da unten keine Teufel hausen. Aber genutzt hat es nichts, denn ich wusste schon damals: Die wirklichen Teufel sind unsichtbar, und irgendwann werden sie den Großvater holen.“ Sie lachte brüchig. „Und jetzt geschieht genau das mit mir.“
   „Und, haben sie ihn geholt?“
   „Nein. Er starb an einer Zahnfistel. Zum Schluss war er ganz krumm. Er sah aus wie ein Haken. Das ständige gebückte Gehen hatte ihn so verbogen.“
   „Morbus Scheuermann!“
   „Was meinst du?“
   „Es waren nicht die Kanäle, die ihn so verbogen haben, sondern eine Erkrankung der Wirbelsäule.“
   „Ja? Das wusste ich nicht.“
   „Musstest du auch nicht. Und jetzt ist es völlig belanglos.“  
    Stille.
  „Hattest du in deinem Leben viele Frauen?“
   Die Frage kam völlig überraschend und traf ihn wie ein Keulenschlag.
   „Warum willst du das wissen?“, fragte er mit rauer Stimme.  
   Sein Gesicht wurde hart, und er schluckte eine sarkastische Bemerkung hinunter. Sollte er ihr erklären, dass er ein Frauenheld und Sexist war, der immer nur auf Abenteuer aus gewesen war? Dass er nie wirkliche, echte Liebe gesucht hatte? Dass er in dieser Beziehung ein unordentliches Leben geführt hatte? Dass sie die Frau war, nach der er sich, ohne es zu ahnen, immer gesehnt, die er aber nie gefunden hatte? Etwas zu viele Erklärungen und zu wenig Überzeugungskraft. Deshalb sagte er einfach: „Ja.“
 „Al-Dorhani hatte nur zwei Frauen“, sagte Marjam versonnen, „die Ältere Frau und mich.“
   Jetzt war es an ihm, Fragen zu stellen. „Sag mal, Marjam, hast du deinen Mann wirklich geliebt? Als Zweitfrau, und dann noch bei diesem Altersunterschied! Eine junge Frau und ein alter Mann? Ich kann mir nicht vorstellen, dass eine Frau unter diesen Bedingungen glücklich sein kann.“
   „Verzeih, Sahib, du redest wie ein Unwissender! In diesem Land fragt niemand nach dem Glück einer Frau! In manchen Gegenden ist es noch üblich, der Frau die kalten Essensreste zu servieren, die am Mittagstisch des Gatten übrig geblieben sind. Al-Dorhani hat solcherlei Machogehabe nie mitgemacht. Natürlich, nach außen hin spielte er zuweilen den rohen Gesellen, aber das gehört in dieser Männergesellschaft zum guten Ton. Im Hause war er ein liebevoller Gatte und einfühlsamer Liebhaber...“ Ihre Worte gingen in Schluchzen über. „Und diesen wunderbaren Mann haben die elenden Hunde umgebracht! Allah möge sie strafen!“
   Schönberg schwieg. Was sollte er auch sagen? Auch wenn ihre Erinnerung rosig  war, hier konnte er nicht mitreden. Also war es besser, den Mund zu halten.
   Marjam trocknete sich die Tränen. „Der Altersunterschied? Doktor, ich hatte dir als Arzt mehr Menschenkenntnis zugetraut! Ich bin siebenundzwanzig, und Hussein war sechsundvierzig! Wo ist da ein Problem? Ein grauer Bart ist in diesem Land nicht unbedingt ein Zeichen von hohem Alter – was war das?“
   Es hatte sich angehört, als fiele eine Handvoll Erbsen zu Boden.
   „Eine Maschinengewehrsalve. Sie haben Weber erledigt.“ Ganz in der Ferne des Tunnels zeigte sich ein schwacher Lichtpunkt. „Sie kommen von der anderen Seite. Hätte ich mir eigentlich denken können. In spätestens einer viertel Stunde werden sie hier sein.“
   „Hartmut, ich habe Angst! Sie werden dich umbringen!“
   Sie hatte ihn beim Vornamen genannt! Zum ersten Mal hatte sie Hartmut zu ihm gesagt! Es war für ihn wie eine Liebeserklärung!
   „Natürlich werden sie das! Ihr Hass auf mich ist einfach zu groß! Aber dich werden sie nicht umbringen, und irgendwann werden sie dich laufenlassen. Und dann kannst du ein neues Leben beginnen.“
   „Bei Allah, Welches Leben meinst du denn? Eine geschändete Frau ist hier weniger wert als ein toter Esel! Dann doch lieber tot als ein Leben in Schande und Einsamkeit!“
   „Dann komm mit mir“, sagte Schönberg.
   „Wie meinst du das?“
   Er zog den Lederbeutel hervor und entnahm ihm ein Plastikröhrchen, in dem sich zwei kleine weiße Kugeln befanden. „Wenn du diese Kugel unter die Zunge legst, verlierst du in zehn Sekunden das Bewusstsein, und in zwei, spätestens fünf Minuten bist du tot. Entscheide dich! Ich habe mich schon entschieden. Den Triumph, mein Leben auszulöschen, gönne ich ihnen nicht.“
   Inzwischen war das Licht näher gekommen, und sie hörten rohes Gelächter. Von den Wänden des engen Kanals vielfach reflektiert, klang es über die Maßen abscheulich. „Ich nehme die Kugel zuerst“, sagte der Doktor, „denn bei mir braucht  das Nervengift länger als bei dir, um zu wirken. So werden wir beide gleichzeitig sterben.“
   „Gib du mir auch eine Kugel, mein älterer Bruder, ich möchte von deiner Hand sterben.“
   Schönberg wartete, bis Marjam ohnmächtig geworden war, dann warf er sich über sie und bedeckte ihr sterbendes Gesicht mit Küssen. Begierig küsste er das seidige, duftende Haar, die zarte Haut ihrer Schläfen, die weichen Wölbungen ihres Busens. Er merkte, wie die Projektile in seinen Körper eindrangen, aber es störte ihn nicht. Er wunderte sich nur, dass Sterben so schön war, und ein ungeheures, nie gekanntes Glücksgefühl erfüllte ihn. Dann verlor er das Bewusstsein.
   

                                    Zweiter Teil: Taifan

                                                                              
                                                                              Die Welt ist vollkommen überall,
                                                                              wo der Mensch nicht hinkommt
                                                                              in seiner Qual.
                                                                              Friedrich Schiller

                                                               1

  Die Tür zum Verschlag wurde aufgerissen, und der Lichtstrahl einer Taschenlampe richtete sich auf die kauernde Gestalt am Boden. „Los, aufstehen!“ befahl der Mann und zerrte die Frau brutal hoch.
   Taifan stolperte mehr, als sie ging, der Kämpfer musste sie stützen. Der Blutverlust und die Verhöre hatten ihr stark zugesetzt. Auf den fünfzig Metern zur Höhle des Kommandanten wäre sie zweimal fast gestürzt, wenn sie der Kerl nicht aufgefangen hätte.
   Anwesend waren der Kommandant, sein Stellvertreter Whali, der unangenehme Mensch mit dem glatt rasierten Gesicht, und zwei Kämpfer, darunter eine Frau. Da es offensichtlich war, dass die Gefangene nicht alleine stehen konnte, trat die Kämpferin hinzu, und sie und der Kerl, der Taifan hereingebracht hatte, nahmen sie in ihre Mitte und hielten sie aufrecht.
   Rawshad Khan stützte sich auf die Ellenbogen und sah mit Verachtung auf Taifans  Handgelenk mit dem blutdurchtränkten Verband. Dann gab er dem Bartlosen ein Zeichen, mit dem Verhör zu beginnen.
   „Also zum letzten Mal“, näselte der, „was stand in dem Brief, he?“
    Taifan schien ihn nicht zu verstehen und schüttelte den Kopf.
    „Antworte gefälligst!“
   „Ich kann mich nicht erinnern“, kam es kaum hörbar.
   „So, du kannst dich nicht erinnern“, sagte der Bartlose in erhöhter Tonlage. Seine Stimme klang, als stehe er unter Lachgas. Jetzt verließ er seinen Platz und baute sich drohend vor seinem Opfer auf. „Taifan, ich verstehe dich nicht“, sagte er gefährlich ruhig, „du hast bereits zugegeben, du hättest vorgehabt, deinen Bruder Nur an Weizenkorn zu verraten. Dass es nicht dazu gekommen ist, verdanken wir Nurs Wachsamkeit! Ihr konntet ja nicht ahnen, dass der krumme Gärtner mit der verkrüppelten Hand durch das geöffnete Fenster alles mithörte.“ Siegessicher blickte er in die Runde, als verkünde er eine  unerhörte Neuigkeit. „Der Oberst deutete als Lohn für diesen Verrat die Möglichkeit einer Ausreise an, stellte  sogar eine Heirat in Aussicht. Stimmt das?“
   Taifan nickte schwach.
   Der Bartlose lachte höhnisch. „Ha! Wie dumm bist du eigentlich? Hast du wirklich geglaubt, so einer wie der heiratet eine kleine, dreckige Hure, he? Das war dumm von dir, sehr dumm sogar! Aber du bist nicht dumm, du bist alles andere als dumm! Du hast herausgefunden, dass dein Bruder Nur für uns arbeitet, und wolltest dieses Wissen gewinnbringend verwerten!“ Er schüttelte scheinbar verständnislos den Kopf. „Und so eine will uns erzählen, sie könne sich nicht erinnern. Also, was stand in dem Brief? Was hast du dem Oberst mitgeteilt?“
   Taifan öffnete den Mund, aber es kam kein Laut.
   „Gib ihr zu trinken!“, befahl der Kommandant.
   Der angesprochene Kämpfer reichte Taifan einen Becher Wasser, an dem sie kurz nippte, den sie dann aber entkräftet fallen ließ.
   „Also, rede!“ brüllte der Bartlose und holte aus, um ihr eine kräftige Ohrfeige zu verpassen.
  „Abdullah!“ rief der Kommandant scharf, „lass das! Wir sind hier nicht in einem deiner Folterkeller! Es geht auch anders.“ Er senkte die Stimme. „Taifan, wir wissen mittlerweile, was in diesem Brief steht. Wir haben da so unsere Methoden, mit denen wir auch verstockte Vögel zum Singen bringen. Leugnen ist also zwecklos, und wir müssten dir nur unnötig weh tun. Und Allah will nicht, dass seine Töchter leiden, und ich will es auch nicht. Aber Allah will, dass sich die Sünderin zu ihren Taten bekennt, damit er Gnade walten lassen kann. Deshalb würden wir den Inhalt dieses Briefes gerne aus deinem Munde erfahren.“
 Wäre Taifan wirklich so abgebrüht gewesen, wie sie Abdullah eben noch eingeschätzt hatte, und nicht so erschöpft wie sie war, wäre sie sicherlich auf diese plumpe Finte nicht hereingefallen.
   „Ich hab´ ihm geschrieben, dass ich die Schande nicht länger ertragen kann und mich umbringen will“, flüsterte sie kaum hörbar.
   „Welche Schande meinst du?“, höhnte Abdullah.
 „Das mit dem Umbringen hat ja nun nicht geklappt“, fuhr der Kommandant dazwischen. Er mochte die zynische Art dieses bartlosen Gesellen mit dem Kinderkopf nicht.
 Dieser Mensch war ein verdeckter Agent des pakistanischen Geheimdienstes und spielte gleichzeitig auf mehreren Klavieren. Seine offizielle Mission bestand darin, den örtlichen Sicherheitsorganen, der Local Police, Informationen über die verschiedenen Terrormilizen des Verwaltungsbezirks zukommen zu lassen. Bisher hatte er allerdings noch nicht viel geliefert. Die Angaben, die er der Behörde gelegentlich übermittelte, waren ungenau und kamen immer etwas zu spät. Er hatte auch nicht vor, präziser zu werden. Sonst hätten ja Schönberg, Weber und Marjam in dem Kanal nicht jämmerlich verrecken müssen. Die eigentliche Aufgabe dieser zwielichtigen Figur nämlich bestand darin, pakistanische Terroristen ins Land zu schleusen, um das Straßenbauprojekt einer Indischen Firma zu sabotieren. In dem unterirdischen Labyrinth des SaI hatte er ein passendes Versteck gefunden. Seit einer Woche stand er in Verhandlung mit dem Kommandanten, der sich die Unterbringung natürlich teuer bezahlen lassen wollte. Doch der hatte aus ihm, was die Bezahlung betraf, auch nach einer Woche zähen Gefeilsches noch keine nennenswerte Summe herausquetschen können.
  Rhawshad Khan wusste also Bescheid, seine Leute aus Sicherheitsgründen jedoch nicht, ausgenommen sein Stellvertreter Whali. Um sich nicht zu verraten, musste der Bartlose das Spiel, das gerade gespielt wurde, mitmachen, obwohl ihm dergleichen Praktiken nicht zusagten. Er begriff sich als Agent Allahs, als ehrlichen Makler im Namen Gottes, als durchtriebenen Verhörspezialisten. Trotzdem – er spielte seine Rolle vorzüglich.
 „Weiter! Was stand noch in dem Brief?“
    „Da war von Rauch die Rede, der manchmal vom Herdfeuer aufsteigt.“
  „Rauch? Von welchem Rauch? Und von welchem Herdfeuer?“
   „Von dem in der Küchenhöhle.“
 Der Kommandant stutzte und dachte einen Moment nach. Plötzlich sackte er regelrecht in sich zusammen.
   „Bringt sie weg!“, befahl er tonlos.
      
                                                                2

   Noch während die Kämpfer Taifan wieder zurück in die Gefängnishöhle brachten, entbrannte in der Höhle des Kommandanten eine heftige Debatte.
   „Ich hab´ es ja geahnt“, stöhnte Rhawshad Khan, „o Allah! Ich hab´s die ganze Zeit geahnt, dass jemand unseren Stützpunkt irgendwann einmal verraten würde. Nur habe ich den Verräter in unsren eigenen Reihen gesucht und nicht unter den geilen Gespielinnen des Oberst! Wie man sich doch verdammt täuschen kann! Ich fürchte, wir müssen so schnell wie möglich weg von hier, ehe sie uns ausräuchern!“
   Bei sich dachte er: Jetzt wird natürlich auch aus dem schönen Geschäft nichts!
   „Rawshad, und ich fürchte, da kann dir nicht ganz folgen“, meinte Whali erstaunt.
   „Ich übrigens auch nicht“, pflichtete Abdullah bei.
   „Bei Allah, was seid ihr begriffsstutzig!“ rief Gylen munter. „Der Rauch! Na klar! Sie haben unsere Küchenhöhle anhand der Rauchfahne, die ab und zu aufsteigt, geortet! Wenn sie zwei und zwei zusammenzählen können, wissen sie Bescheid.“
   „Die Hure dieses gottlosen Christenhundes hat uns verraten“, resümierte Rawshad Khan bitter.
   „Wenn du ehrlich bist, Sahib, haben wir uns selbst verraten“, meinte Gylen mutig. „Gib´s doch zu! Es war ein Fehler, sie hierher zu bringen.“
   Der Kommandant lächelte mit schiefem Mund.
  „Wie dem auch sei, Fehler hin, Fehler her, der Oberst muss sofort liquidiert werden“, entschied Whali Khan barsch, „bevor er diese verdammte Information in Taten umsetzen kann.“
   „Und wie willst du das anstellen, du Schlaumeier?“, konterte Abdullah. „Die Garnison ist wie eine Festung gesichert, und außerhalb bewegt er sich nur in seiner gepanzerten Limousine. An Weizenkorn kommen wir so leicht nicht heran.“
   Ratlose Stille, nur unterbrochen durch das Rattern des Stromgenerators.
    „Ähem... Ich hab´ da eine Idee!“
   Muhammed, der große Schweiger.
   „Da ist doch in zwei Tagen diese äh... Tanzveranstaltung im Hotel Kabul. Es wird Zeit, dass wir diesem gottlosen Treiben endlich einmal ein Zeichen entgegensetzen. Der Oberst und der Botschafter werden aller Wahrscheinlichkeit auch dort sein, jedenfalls war´s äh... bei ähnlichen äh... Veranstaltungen in der Vergangenheit so. Wir könnten im Hotel äh... geschickt eine Bombe platzieren und den Fall Oberst damit beenden. Wir hätten den Teufel Oberst dahin geschickt, wohin er gehört: In die Hölle!“ Muhammed schnaufte, denn eine so lange Rede hatte er lange nicht mehr gehalten.
  „Dummkopf!“ schrie der Stellvertreter wütend, „wie willst du denn bei diesen Sicherheitsvorkehrungen, die sie jetzt anstellen, einen Sprengsatz ins Hotel schmuggeln? Muhammed, mein Sohn, erklär´ mir das! Sie ziehen dich bis aufs Hemd aus und stecken dir noch einen Finger in den Hintern, denn Plastiksprengstoff passt überall rein, und du bist ein großes Arschloch! “
   Muhammed zuckte mit den Schultern, als habe er die Beleidigung nicht gehört. „Nun ja, einfach wird´s nicht sein!“
   „Einfach wird´s nicht sein! Einfach wird´s nicht sein!“, höhnte Abdullah. „Wenn ich das schon höre! Was in unserem Kampf gegen die Gottlosen ist schon einfach! Grips im Kopf ist gefragt, sonst nichts!“
   „Deinen Worten entnehme ich, dass du meinst, Grips im Kopf zu haben“, flachste Gylen.
   „Vorsicht, Vorsicht, meine Tochter! Nicht nur Grips, sondern sogar eine Idee. Hätt´ste nicht gedacht, was?“
   „Nee!“
  „Bei Allah!“ rief der Kommandant genervt, „hört auf damit! Abdullah, rede!“
   Abdullah räusperte sich umständlich und begann zu reden. Als er fertig war, schauten ihn alle verblüfft an.
    Verdammt! So ein Teufelskerl, dieser Abdullah!
   „Was hast du nun mit der Frau vor, Kommandant?“, fragte Gylen nach einer Weile. „Unter diesen Umständen kann sie hier nicht bleiben.“
   „Du sagst es! Deshalb werde ich sie nach Ghundum bringen lassen, zu unseren Freunden vom Kalifat, und eine Fatwa in Auftrag geben. Dann werden wir weitersehen. Auf jeden Fall sind wir damit auf der sicheren Seite.“

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