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Taifan oder Liebe im Zeichen des silbernen Schwertes (1)


 
 
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wunderkerze
Eselsohr
W


Beiträge: 381



W
Beitrag20.01.2019 14:07
Taifan oder Liebe im Zeichen des silbernen Schwertes (1)
von wunderkerze
eBook pdf-Datei Antworten mit Zitat

Taifan
                                               oder
                    Liebe im Zeichen des silbernen Schwertes


                                       Erster Teil: Marjam
                                                    
                                                 1

   „Verdammt!“
   Weber bremste so scharf, dass Schönberg schmerzhaft mit dem Kopf gegen die Frontscheibe stieß. Das Schlagloch von der Größe eines Kleingartens war mit lockerem Sand zugeweht. Erst im letzten Moment hatten es Webers wachsame Augen erkannt.
   Schon seit Stunden schaukelte der klapprige Landrover über die buckelige Piste, einer 'historischen' Nebenstrecke. Wie wild tanzte der kleine weiße Buddha, der als Maskottchen unter dem Innenspiegel baumelte, auf und ab. Je weiter sie sich von der Millionenstadt Shangoran und ihren endlosen Vororten entfernten, desto trostloser wurde die Gegend. Doch der Verkehr blieb – vor allem Armeelaster und Tankwagen hüllten die Straße in dichte Staubwolken. Der Staub drang durch alle Ritzen in den Wagen hinein. Das Armaturenbrett schimmerte schon gelblich, und zwischen den Zähnen des Doktots knirschte es.
 Am Rande dieser dieser staubigen Hölle bewegte sich in beiden Richtungen unablässig eine endlose Menschenkarawane. Männer mit den landesüblichen weiten Hosen und Jacken, den weißen Turban auf dem Kopf, ein schwer beladenes Lasttier mit sich führend, andere, europäisch gekleidet mit Hose und buntem Hemd, wieder andere mit Schlips und Kragen, auf dem Kopf einen Hut...
  Und dann die Frauen! Frauen in Miniröcken und Spaghettiträgern, Frauen im schwarzen Tschador, kleine Kinder auf dem Arm oder Lasten auf dem Kopf, Frauen im bunten Sari, in Jeans und Bluse, sauber und appetitlich anzusehen – es gab wohl keine Kleidung auf der Welt, die hier nicht zu bestaunen war.  
  Schönberg fragte sich, wohin diese Leute eigentlich wollten. Die Gegend wurde immer abweisender. Von grüner, nahrhafter Natur keine Spur. Gelbgraue Öde, so weit das Auge reichte, eingerahmt von kahlen, graublauen Gebirgsketten. Dabei musste es früher einmal anders ausgesehen haben: Neben der schnurgeraden Straße verliefen schon seit einiger Zeit Bewässerungsgräben mit Abzweigen ins Innere. Jetzt waren sie zum Teil verfallen und mit Müll zugeschüttet. Jenseits der Gräben immer wieder Kraale mit tonnenförmigen Lehmziegelbauten. Die Straße selbst – oder was davon übrig war – eine Katastrophe. Ein Pasticcio aus zugewehten Schlaglöchern, sandigen Buckeln, scharfgratigen Spalten und Rissen, die das Fahren zur Qual machten. Anscheinend lag die letzte Reparatur mindestens achthundert Jahre zurück. Die gelben Staubfahnen, die der Schwerverkehr hinter sich herzog, hingen noch lange wie riesige gelbe Bänder in der flimmernden Luft.
  Schönberg rieb sich die Stirn. Er zählte die knallbunten Reklametafeln mit den Coca-Cola-Mädchen rechts und links der Straße. Die Mädchen hatten das Kopftuch so neckisch umgelegt, als sei es kein Kopftuch, sondern ein hoch gerutschtes Halstuch. Seit die Amerikaner in die Garnison in Shangoran eingezogen waren, war Coca-Cola im Umkreis von fünfzig Kilometern allgegenwärtig.
   Eine lange, gelbbraune Lehmmauer mit meterhohen, festen Holztoren kam in Sicht. Die Tore waren mit uralten eisernen Riegeln verrammelt. Die Mauer umgab das festungsähnliche Anwesen eines Khans oder Mullahs.
„Wieder so eine Festung“, sagte der Doktor, „kein Gesetz erlaubt es, in solch ein Haus einzudringen, um etwa nach einer verschleppten Frau zu suchen oder ein Waffenlager auszuheben. Die hohen Mauern machen alles unsichtbar. Ich möchte nicht wissen, was sich dahinter alles verbirgt.“
  Allmählich ließ der Menschenstrom nach und verebbte bis auf ein paar Kamel- und Eseltreiber schließlich ganz. Wo die Männer und Frauen abgeblieben waren, blieb ein Rätsel. Auch die bunten Schlafmohn- und Kürbisfelder mit den Windschutzhecken aus blühendem Persischem Flieder, die ab und zu aus der Ferne herüber leuchteten, hörten schließlich ganz auf. Baumlose Steppe, so weit das Auge reichte. Sie war gleißend hell, braun-gelb, flach wie ein Frühstücksbrett und bis zum Horizont anscheinend menschenleer. Doch wenn sie ausstiegen, etwa um sein Wasser abzuschlagen oder um sich die Beine zu vertreten, näherten sich wie aus dem Nichts plötzlich zerlumpte Gestalten. Sie starrten die Fremden wie Erscheinungen von einem anderen Planeten an und hielten bettelnd die Hand auf.
   Und doch war die Gegend nicht vollständig tot. Vereinzelte Schafherden weideten in dieser trostlosen Einöde, bewacht von kraftstrotzenden Hirtenhunden. Wie Signale aus einer fernen, heiteren Welt leuchteten die bunten Farbflecken, mit denen die Besitzer die schwarzen Fettschwanzschafe gekennzeichnet hatten. Schönberg hielt sie für die ulkigsten Tiere der Welt, deren Schwänze aussahen wie bepelzte Bratpfannen.
   Weber lief der Schweiß in die Augen. Er war ein untersetzter Typ mit Bauchansatz und kurzen Beinen, der schnell schwitzte. Gegenwärtig bedeckte ein stoppeliger Acht-Tage-Bart seine vollen Wangen. In regelmäßigen Abständen wischte er sich mit einem bunten Taschentuch die Stirn. Die Hitze im Wagen war aber auch mörderisch. Die Klimaanlage hatte schon lange den Geist aufgegeben. Unerbittlich brannte die Sonne des frühen Nachmittags auf das Blechdach mit dem roten Kreuz. Weber hatte alles Mögliche und Unmögliche versucht, um an einen neuen gebrauchten Kompressor heranzukommen – natürlich vergeblich. Ohne ein üppiges Bakschisch lief hier wenig, und in der Autobranche rein gar nichts. Doch Weber blieb hart. Bakschisch? Nicht mit mir! Trinkgelder hatte er noch nie gerne gegeben. Wofür auch? Nach zehn Kilometern wäre aus dem neuen gebrauchten Kompressor ein alter kaputter Kompressor geworden. Und ein originales Toyota-Ersatzteil hatte der Mann leider gerade nicht auf Lager. „Aber mein Schwager in...“ Weber dankte: „Salam aleikum!“
   
  Der Fahrweg wurde immer schlechter. Weber musste höllisch aufpassen, damit die Piste dem Wagen keinen Achsenbruch bescherte. Dass sie überhaupt bei dem Tempo, das er vorlegte, so weit gekommen waren, grenzte an ein Wunder. Er führte es auf die robuste Bauart des japanischen Fabrikats zurück. Die Autowracks zu beiden Seiten der Straße bewiesen, dass auch höchste Wachsamkeit nicht immer ans Ziel führte.
   Schönberg ließ die Scheibe des Seitenfensters herunter, um etwas frische Luft einzulassen, denn Weber transpirierte stark und roch unangenehm. Aber sofort fuhr ihn ein unangenehm kalter Luftzug an. Der Wind kam vom zentralen Hochland, dessen Dreitausender immer noch schneebedeckt waren.
   Schönberg drehte das Fenster wieder bis auf einen kleinen Spalt zu. Eine Erkältung war das Letzte, was er jetzt brauchen konnte. Dabei glitt sein Blick über die weite Ebene. Schon seit einer Stunde konnte man die scharf geschnittene Silhouette des Kohn i Babd, eines langgestreckten Gebirgszugs, erkennen, dessen Gipfel wie die Schneide eines Brotmessers über der Landschaft schwebten. In der überaus klaren Luft schien die Berge zum Greifen nah.
   „Sieht zum Greifen nah aus“, murmelte er versonnen. Doch er wusste, dass die Nähe eine Täuschung war. Bis dahin waren es noch mindestens achtzig Kilometer. In dieser endlosen Weite, über der sich ein blassblauer Himmel wie eine überdimensionale Käseglocke wölbte, verlor das Auge bald jedes Gefühl für Abstand und Proportionen.
   „Wenn man hier seines Lebens sicher wäre, könnte man sich in dieses weite, einsame Land mit seiner unendlichen Stille verlieben.“
   Weber grunzte unbestimmt. Wieder einmal hatte er nicht zugehört. Er war zu sehr damit beschäftigt, das Lenkrad zu bändigen. Mit der einen Hand wischte er sich den Schweiß von der Stirn, während er mit der anderen das rüttelnde Lenkrad festhielt. Er wusste, dass es Tollheit gewesen war, noch zu so später Stunde nach Ghazani aufzubrechen. Jetzt ärgerte er sich, wieder einmal nicht den Schneid besessen zu haben, Schönbergs Drängen zu widerstehen.
   „In viereinhalb Stunden wird es stockfinster sein“, grummelte er mürrisch mit schiefem Blick auf Schönberg. Der starrte mit halb geschlossenen Augen aus dem Fenster und zähle Kilometersteine. Er erweckte er den Eindruck, als ginge ihn das alles nichts an.
   „Dann ist an eine Weiterfahrt nicht mehr zu denken“, meckerte Weber weiter. „Noch dazu auch auf dieser fürchterlichen Nebenstrecke. Außerdem wimmelt die Gegend von Terroristen. Musste das denn unbedingt sein?“
   „Ja.“
  Weber kannte dieses brummige Ja: Die Diskussion war beendet, noch bevor sie richtig begonnen hatte.
  Er seufzte ergeben. Bis zum Einbruch der Dunkelheit, die sich hier wie ein schwarzes Tuch in wenigen Minuten über die Gegend legte, mussten sie die Hodschra erreicht haben. Und dann, tags darauf, waren es mindestens noch einmal vier quälende Stunden bis Ghazani.
   Er betrachtete den Doktor verstohlen aus den Augenwinkeln. Dieser zähe Hund, dachte er mit einer Mischung aus verhaltenem Ärger und stiller Bewunderung. Seine sture Menschenfreundlichkeit wird uns beiden noch einmal das Genick brechen! Bisweilen überkam Weber sogar der Verdacht, der Doktor sehne sich geradezu danach, auf eine spektakuläre Weise umzukommen. Diese Annahme war nicht ganz aus der Luft gegriffen. Weder konkrete Warnungen vor terroristischen Überfällen noch starke Müdigkeit konnten den Doktor davon abhalten, sich auf den Weg zu machen, wenn Not am Mann war. Geruht wurde dann unterwegs im Wagen. Der Doktor machte die Augen zu und wachte nach zehn Minuten oder bei der nächsten Bodenwelle erkennbar erfrischt wieder auf. Sein Durchhaltevermögen war einfach phänomenal.
  Schönberg öffnete die Augen und angelte blinzelnd nach seiner Sonnenbrille. Er hatte beschlossen, seinem apodiktischen 'Ja' noch eine Erklärung nachzuschieben.
  „Mein Lieber“, sagte er, „die beiden Typhusfälle im Kinderkrankenhaus von Ghazani sind nicht auf die leichte Schulter zu nehmen! Bei der fatalistischen Einstellung der Leute Krankheiten und anderen Unglücksfällen gegenüber kann sich daraus leicht eine Epidemie entwickeln.“
  „Trotzdem – was hätte es geschadet, wenn wir morgen ein paar Stunden später angekommen wären?“
   Der Doktor brummte Unverständliches und stemmte sich mit den Fäusten von seinem Sitz ab. Gerade steuerte der Landrover auf ein kratertiefes Schlagloch zu.

  Schönberg saß eng in seinen Sitz gepresst und blickte nach draußen. Ein alter Mann in weiten Pluderhosen, der einen schwer beladenen Esel am Strick führte, kam ihnen entgegen. Ab und zu schüttelte der Esel den Kopf als beklage er sein trauriges Los. Die Beiden, der Mann und der Esel, gingen ohne Eile, jeden Schritt auskostend als einen Sieg über den scheinbar endlosen Raum. Weber hupte, und der Alte winkte freundlich zurück. Sein wettergegerbtes Gesicht mit dem Silberbart war von einem schmutzig-weißen Fransenturban gekrönt.
   Jenseits der staubigen Piste tauchten jetzt Hinweise auf menschliche Tätigkeit auf. Stellenweise war der Boden umgebrochen, er sah aus wie nachlässig gepflügt und geeggt.
  „Trockenfeldbau“, murmelte Schönberg.
   „Was sagtest du? Sprich bitte lauter! Bei dem Geratter verstehe ich kein Wort!“
   „TROCKENFELDBAU! Ich kenne diese Methode von Marokko her. Alle drei, vier Jahre kann einmal geerntet werden, zu mehr reicht der natürliche Niederschlag nicht. Sie kratzen den Boden auf und warten geduldig auf Regen. Wenn es sein muss, jahrelang.  Ein Sack kümmerlicher Kartoffeln, ein Korb magerer Maiskolben ist alles, was dann geerntet werden kann. Verstehst du jetzt, warum die Leute hier unter Zeit etwas anderes verstehen als wir?“
    „Es ist sowieso erstaunlich, wovon diese Leute hier leben.“
   „Nun ja, sicherlich nicht nur von Kartoffeln und Mais.“ Der  Doktor wies mit der Hand in die vor Hitze flimmernde Ferne.
   Dahinten, im gelben Dunst, leuchteten blassrosa die Mohnfelder.

   Das halb zerschossene Dorf lag wie ein rotbrauner Klumpen in der glühenden Abendsonne. Auf einer Kuppel aus rotem Lehm flatterte das grüne Banner des Islam: Zwei weiße und ein roter Streifen, mit Halbmond und Stern. Hinter einer verfallenen Lehmmauer, über die vertrocknete Scheiben sterbender Sonnenblumen ragten, tummelte sich eine horde halbnackter, staubbedeckter, brauner Kinder, zwischen denen magere, verlauste Hunde herumsprangen. Plötzlich ein spitzer Schrei: Die Meute hatte den Landrover entdeckt und rannte, angeführt von den kläffenden Kötern, auf ihn zu. Weber bremste, Schönberg drehte die Scheibe herunter. Er warf ein paar Tafeln Schokolade und einige Packungen Dauerkekse heraus. Natürlich hatte er nicht vor, auszusteigen und nach dem rechten zu sehen. Ein Blick genügte: Die fröhliche Kinderschar war zwar verwurmt und schlecht ernährt, aber die Kleinen wirkten keineswegs lebensbedrohend  krank. Außerdem drängte die Zeit.
   In der Tür eines noch halbwegs unbeschädigten Hauses stand lächelnd eine junge Frau. Sie sah dem Wagen nach, als er in einer riesigen Staubwolke verschwand. Ihr buntes Kopftuch flatterte im Wind. Der blaue Salwar Kamiz, der ihre schmalle Gestalt umgab – die landesübliche Frauenkleidung bestehend aus langem Hemd und bauschiger Hose – glänzte in der schwarzen Türöffnung. Die Frau bewegte die Lippen, nun lachte sie; es war ein unverkrampftes, herzhaftes Lachen, das ihre großen, dunklen Augen noch größer erscheinen ließ. Der Anblick war eine erfrischende Abwechselung in diesem trostlosen Einerlei aus bröckelndem Mauerwerk und rotem Lehm. In diesem Land war die Vollverschleierung von Frauen nicht mehr gesetzlich geboten, was den Hass der Fundamentalisten auf die Spitze trieb.
   „Warum hat man die Frau und ihre Bälger nicht schon längst evakuiert?“, fragte Weber. „An ihrer Stelle würde ich nachts kein Auge zudrücken. Nicht auszudenken, wenn sie in die Hände der Fundamentalisten fällt!“ Er lachte trocken. „Möglicherweise sind ihre Brüder und ihr Mann ja sogar selbst Terroristen!“
   „Das glaube ich nicht. Dann würde sie nicht unverschleiert in der Tür stehen und Fremde anlächeln.“
   „Und warum ist sie dann noch hier?“
   „Frag´ mich was Leichteres!“
  Schönberg hatte noch immer das Bild der Frau vor Augen, das er jetzt weiter ausmalte. Während der steinige Fahrweg den Wagen hin und her schüttelte, sah er das lachende Gesicht, die schlanken braunen Hände, den roten Mund. „Es grenzt an ein Wunder“, sagte er versonnen, „dass dieses bitterarme, geknechtete Land mit seinen erbärmlichen Lebensbedingungen solche Lichtgestalten hervorbringt. Auch die herrlichen Gesichter dieser wilden jungen Männer hier begeistern mich immer wieder aufs Neue.“
   „Ha-ha!“ Weber lachte übertrieben laut. „Dass ich nicht lache! Lichtgestalten ist gut! Mir kommen sie ziemlich finster vor.“
   „Das sehe ich anders.“
   „So? Da bin ich aber neugierig!“
   „Viele dieser jungen Männer haben sogar blaue Augen!“
   „Na und?“
   „Stell´ sie dir dann noch mit blonden Haaren vor, und hast du Christusköpfe!“
   „Du meine Güte! Lauter Christusse mit Sturmgewehren am langen Arm!“ Weber lachte sardonisch. „Woher weißt du überhaupt, dass Christus blond war? Wahrscheinlich sah er aus wie einer dieser Typen, die hier zu Tausenden als Tagediebe herumlaufen und uns das Leben schwer machen! Nee, mein Lieber! Was du da erzählst, riecht mir zu stark nach Sozialromantik! Ich seh´ die Sache anders...“
   „Und wie?“
 „ Christus hatte, so viel man weiß, wenigstens keine Nachkommen, aber diese hier zeugen mit mehreren Frauen immer mehr Kinder. Vor fünfzehn Jahren hatte dieses Land fünf Millionen Einwohner, und alle wurden mehr oder weniger satt...“
   „Eher weniger.“
   „Lass mich doch auch mal ausreden! Jetzt sind es zwölf! Schau dir doch die Kinder an, die sie sich eben auf auf deine milden Gaben gestürzt haben! Die reinsten Kümmerlinge!“ Weber unterbrach sich, weil er einem Schlagloch ausweichen musste. „Und ein Ende dieser Bevölkerungsexplosion ist nicht in Sicht. Wenn sie die Geburtenrate nicht in den Griff bekommen, verdoppelt sich hier alle fünfzehn Jahre die Bevölkerung – mit allen daraus resultierenden negativen Folgen. Frau Merkel redet ständig davon, die Lebensbedingungen in diesen Ländern müssten verbessert werden. Schön! Wo sie Recht hat, hat sie Recht! Aber dass die Menschenlawine jeglichen sozialen und wirtschaftlichen Fortschritt auffrisst, erwähnt sie nie. Dabei sind schon jetzt mehr als zwei Drittel der jungen Männer dieses Landes ohne berufliche Zukunft. Solche Länder sind Brutstätten des internationalen Terrorismus.“
   „Und die Leute sind weiß Gott keine Dummköpfe und Analphabeten! Auch wenn du etwas anderes behauptest.“
   „Hab´ ich das? Aber das ist es ja gerade! Bildung macht anspruchsvoll und verdirbt den Charakter! Die beste Gesellschaft ist eine Gesellschaft ohne Wissen und Bildung.“
   „Wo hast du denn diesen Schwachsinn her?“
   „Stand mal so ähnlich als Spruch des Tages in der Zeitung. Stammt von einem deutschen Dichter – Morgenrot oder so.“
   „Du meinst wohl Morgenstern.“ Der Doktor verspürte keine Neigung, mit seinem Fahrer über Ironie und tiefere Bedeutung von Dichterworten zu streiten. Deshalb sagte er vermittelnd: „In einem Punkt muss ich dir allerdings Recht geben! Diese Hungerleider sind ein guter Nährboden für perverse Ideologien welcher Couleur auch immer.“
    „Mein Gott, wie du manchmal daher redest! Couleur! Oder meinst du Cholera? Ich drück´s einfacher aus: Die Chance, dem Islamischen Staat oder den Taleban personell das Wasser abzugraben, ist gleich Null. Die Kämpfer schießen aus dem Boden wie die sprichwörtlichen Pilze.“
   Der Doktor drehte das Bordradio lauter. Der Kurzwellensender Faraq1 gab eine Meldung durch, die ihn aufhorchen ließ. Im Gegensatz zu Weber, der außer Englisch keine weitete Fremdsprache beherrschte, besaß der Doktor das Übersetzerdiplom für das persische Dari. Zur Not konnte er sich zudem auf Pashto, einer anderen, hier weit verbreiteten Regionalsprache, verständigen.
   „Was sagen sie?“, fragte Weber.
   „Es sind einige Dutzend SaI-Kämpfer beobachtet worden, die sich auf Ghazani zubewegen.“ SaI war die Abkürzung für Seif al-Islam, das heißt 'Schwert des Islam', eine Terrororganisation, die in zunehmendem Maße vom benachbarten Iran her einsickerte und deren Kämpfer als Zeichen der Zusammengehörigkeit ein kleines silbernes Schwert um den Hals trugen. Sie hatten sich zum Ziel gesetzt, die vergleichsweise tolerante und nach ihrer Meinung korrupte Staatsführung des Landes durch fromme Männer zu ersetzen, die mit den Titeln Said oder Pir die Nachkommenschaft des Propheten beanspruchten.   
   „Verdammte Scheiße!“, fluchte Weber unfein. „Ich hab´s doch geahnt! Schon heute morgen, als ich aufstand, hatte ich so ein mulmiges Gefühl im Bauch! Dann ist mir auch noch die Zahnbürste abgebrochen! Wenn das kein schlechtes Omen ist! Wir sollten schleunigst umkehren, eh´ es zu spät ist.“
   „Du meinst, sie greifen wirklich an? Mit sechzig oder siebzig Mann? Unsinn!“ Der Doktor winkte ab. „Du vergisst die amerikanische Garnison in Shangoran. Obwohl sich die Amerikaner mehr und mehr aus dem Land zurückziehen, ist ihre Kampfbereitschaft bei den Terrormilizen immer noch gefürchtet. Dieser Oberst Weizenkorn hat schon mehrmals durchblicken lassen, wenn es sein muss, werde er sofort alle Hebel in Bewegung setzten, um die Amerikaner zu einer Vergeltungsaktion zu bewegen. Und diese Terroristen verstehen ihr Geschäft! Sie werden sich ausrechnen, dass man sie bereits erwartet. Nein, nein. Ich denke, es ist wieder mal eines ihrer Ablenkungsmanöver, in Wirklichkeit haben sie es auf ein anderes Ziel abgesehen. Wahrscheinlich weiter im Süden, wo noch keine alliierten Verbände liegen.“
   Unweit des Straßenrandes tauchten niedrige, schwarze Zelte aus Ziegenfell auf, zwischen denen gebückte Gestalten hin und her liefen. Ihre nackten Rücken glänzten vor Schweiß. Es war ein Trupp Straßenarbeiter, der die schlimmsten Schlaglöcher mit Steinen auffüllte. Im Näherkommen sah man, dass es sich um ganz junge Männer, viele wohl noch minderjährig, handelte, die sich mit schwer beladenen Weidenkörben abschleppten. Auf Webers Hupen hin unterbrachen sie ihre Arbeit und winkten dem Fahrzeug begeistert zu.
   „Das ist es, was ich vorhin meinte“, sagte Schönberg nach einiger Zeit. „Was soll aus einem Land werden, in dem die männliche Jugend, wenn sie Glück hat, Steine schleppen darf? Hast du gesehen, wie freundlich sie uns zuwinkten? Diese  geschundenen Kinder lachen noch, und die junge Frau vorhin trägt zwischen all dem Verfall Festtagskleidung. Ich begreife es nicht. Woher nehmen diese Leute ihren Optimismus?“
   „Vielleicht aus der Religion?“
   „Papperlapapp! In welche Festtagsstimmung sollte denn der Islam eine junge Frau mit einem Haufen ungewaschener und verwurmter Kinder versetzen? Die bei jedem Schritt von der Verwandtschaft ihres Mannes bewacht wird?“
   „Dann ist es eben das Opium. Kommt doch aufs Gleiche hinaus.“
  „Hahaha!“ Schönberg lachte herzhaft. „Das sagst du was! Opium als Religion des Volkes! Nicht schlecht! Hat schon der olle Marx gesagt. Nur anders herum!“
   „Was ich nicht begreife“, sagte Weber, ohne auf die Bemerkung des Doktors einzugehen, „warum gelingt es den Amerikanern mit ihrem geballten Militäreinsatz nicht, in der Gegend hier wenigstens etwas für Ruhe und Ordnung zu sorgen? Der Islamische Staat breitet sich trotz aller Erfolgsmeldungen der alliierten Streitkräfte immer weiter aus, und auch die Taleban sind keineswegs bezwungen, wie immer wieder behauptet wird. Alles nur Meinungsmache, um die Milliarden, die der Krieg schon verschlungen hat, zu rechtfertigen. Du siehst es doch! Die Reihe von Anschlägen in Kabul letzte Woche und anderswo, zu denen sich die Taleban und der IS immer wieder bekennen, reißt nicht ab.“
   „Das kann ich dir genau sagen!“ Schönberg klang fast ärgerlich. „Weil die Amerikaner wie Amerikaner denken.“
   „Versteh ich nicht.“
   „Jetzt lass mich mal ausreden! Sie sind noch in dem Wahn befangen, man könne solche Länder wie dieses hier mit ihren Moralvorstellungen begreifen. Sie meinen, wenn ihnen ein Warlord sein Wort gegeben hat, dann gilt dieses Wort für alle Zeiten. Irrtum! Die Halbwertszeit solcher Zusagen ist hier erschütternd kurz. Ich sprach neulich mit einem Bekannten, der einige Jahre mit den Mudshahidin zusammengelebt hat und sich hier bestens auskennt. Er erklärte mir folgendes: Natürlich gibt es auch hier so etwas wie Treu und Glauben. Aber die Loyalität auch des kleinsten Bauern, Pächters oder Tagelöhners dem jeweiligen Clanchef gegenüber ist nur so lange gesichert, wie er sich als spendabler Wohltäter und überlegener Kriegsherr bewährt. Werden diese Erwartungen nicht erfüllt, meinte er, wendet man sich ohne mit der Wimper zu zucken dem Kriegshelden zu, der die größeren Geschenke oder Versprechungen macht. Diese Bakschisch-Mentalität setzt sich bis in die höchsten politischen Kreise fort. Im Westen nennt man so etwas Korruption -“
   Plötzlich lachte Weber laut heraus. Der Doktor blickte ihn böse an. „Was ist denn daran so lustig?“, fragte er genervt.
   „Entschuldige! Aber mir fiel gerade etwas ein!“
   „So? Und was?“
   „Einer vom Bereitschaftsdienst erzählte mir neulich, der CIA ködere die Warlords neuerdings mit dem Versprechen, ihnen Viagra, these little blue pills, zu liefern! Take one of these, and you´ll love it! Wenn es nicht stimmt, dann ist es zumindest gut erfunden, hahaha!“
   „Find´ ich überhaupt nicht witzig!“
  Schönberg vergrub sich in seinem Sitz. Er schmollte. Webers blöde Bemerkung hatte ihn aus dem Konzept gebracht. Doch nach einiger Zeit fing er wieder an. Er musste jetzt reden, um das Bild der Frau aus dem Kopf zu bekommen.
   „Der Westen – unter anderem auch unsere Bundesregierung – verlangt, dass Karsai die Korruption in seinem Land bekämpft. Schön. Lassen wir mal die Tatsache beiseite, dass Deutschland, was die Korruption angeht, auch nicht besonders edel dasteht. Siehe die Dieselabgasaffäre und, und und. Trotzdem, der Beifall der politischen Ignoranten ist dieser Forderung sicher. Nur, bilden sich diese Leute wirklich ein, sie könnten ein Land, das seit dreitausend Jahren nach dieser Bakschisch-Methode funktioniert, so einfach umkrempeln? Nicht Treue und Verlässlichkeit, sondern Bestechlichkeit bildet hier die Grundlage der Politik, meinte mein Bekannter, nicht ich – hörst du mir überhaupt noch zu?“
   „Doch, ja! Erzähl nur weiter!“
  „Übrigens ein hoch gebildeter Mann, dieser Bekannte! Er schätzt nicht nur die persische, sondern auch die deutsche klassische Literatur. Man trifft hier häufig solche Leute. Statt Milliarden für den Krieg auszugeben, meinte er, solle der Westen mit dem Geld lieber die Warlords und Stammesfürsten schmieren und dadurch auf seine Seite ziehen...“
   „Seilsame Bekannte hast du!“  
  „...Er verabschiedete mich mit einem abgewandelten Goethe-Zitat: 'Dieses Land ist eine Unmöglichkeit, die zur  Wirklichkeit geworden ist'.“
   „Fuck you Göthe.“
   „Herrgottnochmal! Kannst du nicht wenigstens einmal ernst bleiben?“
   „Nee – nicht bei dieser Hitze!“
   „Blödmann! Ein bisschen klassische Bildung könnte dir auch nichts schaden, mein Lieber!“
   „Lass es, das ist nichts für mich! Ich erinnere mich noch mit Grausen an diese endlosen Gedichte, an Goethes Glocke – oder war die Glocke von Schiller? Mussten wir in der siebten Klasse auswendig lernen. 'Alle Menschen werden Brüder!' Welch ein Schwachsinn! Wieso werden Schwestern plötzlich zu Brüdern, he?“
 Schönberg grinste amüsiert. Es war aussichtslos. „Holm, du bist und bleibst ein hoffnungsloser Bildungsverweigerer!“
   Doch trotz seiner manchmal erschreckenden Bildungslücken mochte er Weber gern. Während andere Menschen ihre Eitelkeiten manchmal wie einen Hautausschlag offen mit sich herumtragen, musste man schon längere Zeit mit Weber zusammengelebt haben, um bei ihm überhaupt so etwas wie Stolz oder Ehrgeiz zu erkennen. Als er  seinen Famulus noch nicht genauer kannte, war er ihm wie ein Mann ohne besondere Eigenschaften vorgekommen. Zunächst hatte er nur Sanftmut, Bescheidenheit und Hilfsbereitschaft bemerkt. Doch mit der Zeit erkannte der Doktor, wie viel er Weber verdankte – zum Beispiel, dass der Wagen immer voll aufgetankt war, wobei es oft sein Geheimnis blieb, wieso er schon wieder einen Tankzettel in der Hand hielt, oder dass Weber stets zur Stelle war, wenn er ihn brauchte, nötigenfalls sogar um zwei Uhr morgens. Und natürlich, dass er sich nicht in sein, Schönbergs, Privatleben einmischte – weder durch einen schiefen Blick noch durch eine anzügliche Bemerkung.
   Der Doktor grinste unbemerkt. Grund genug dazu hätte er gehabt...
   Das also war Webers Ehrgeiz: Eine dezente, perfekte und verschwiegene Hilfskraft zu sein.
  Im Rückspiegel zitterte wie ein riesiger Granatapfel die untergehende Sonne. Vor ihnen, über den erglühenden Graten des Kohn i Babd, hing ein blassgelber Mond wie eine vergessene Kinderampel am stahlblauen Himmel. Eine leichte Brise wehte, das Steppengras bog sich knisternd im Wind, fernab stiegen Sandwirbel auf.
   Schönberg seufzte. Welch herrliche Natur! Ihm fiel ein Spruch ein, den er vor kurzem auf einem Blatt des Abreißkalenders in seinem shangoraner Büro gelesen hatte: Die Welt ist vollkommen überall, wo der Mensch nicht hinkommt in seiner Qual. Seitdem hatte sich der Spruch in seinem Gehirn verankert, denn er drückte genau die Stimmung aus, die ihn häufig auf Fahrten wie dieser überkam. Wo der Mensch nicht hinkommt in seiner Qual. Ja gab´s das denn überhaupt noch? Wo kommt der Mensch heutzutage denn nicht mehr hin? Schon reden sie davon, den Mars zu besiedeln...
  Dem Doktor fielen die Augen zu. Für ein paar Minuten überfiel ihn eine Art somnambuler Bewusstseinstrübung.

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wunderkerze
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nicolailevin
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Beiträge: 259
Wohnort: Süddeutschland


Beitrag20.01.2019 18:55
Re: Taifan oder Liebe im Zeichen des silbernen Schwertes (1)
von nicolailevin
Antworten mit Zitat

Uff!

Offen gestanden: Das wirkt für mich noch lange nicht so rund wie deine indische Mystery-Geschichte.

Du brauchst am Anfang sehr viel Raum, um die Geschichte in Fahrt zu bekommen. Viel Beschreibung, sehr viele Adjektive, und von einer Story ist nicht viel in Sicht.

Im zweiten Teil fühl ich mich in einer Vorlesung über die geopolitische und soziale Lage in Afghanistan, die sich nicht sehr subtil hinter einem aufgesetzten Dialog verbirgt.

Dann ist die Beschreibung nicht nur ausufernd, sondern auch nicht immer schlüssig. Ich kommentiere mal ohne Rücksicht auf Befindlichkeiten, ok?

wunderkerze hat Folgendes geschrieben:
Das Schlagloch von der Größe eines Kleingartens war mit lockerem Sand zugeweht.


Dieser Philip-Marlowe-mäßig distanzierte Zynismus passt nicht zum Rest des Erzählstils

Zitat:
Schon seit Stunden schaukelte der klapprige Landrover über die buckelige Piste, einer 'historischen' Nebenstrecke.


Aha, Landrover. Merken! Und Nebenstrecke. Merken!

Zitat:

Doch der Verkehr blieb – vor allem Armeelaster und Tankwagen hüllten die Straße in dichte Staubwolken. ...
 Am Rande dieser dieser staubigen Hölle bewegte sich in beiden Richtungen unablässig eine endlose Menschenkarawane.


Ich denke, Nebenstrecke?! Wie geht es dann auf den Hauptstrecken zu?

Zitat:
es gab wohl keine Kleidung auf der Welt, die hier nicht zu bestaunen war.


Glaub ich dir nicht.

Zitat:
Die Gegend wurde immer abweisender. Von grüner, nahrhafter Natur keine Spur. Gelbgraue Öde, so weit das Auge reichte, eingerahmt von kahlen, graublauen Gebirgsketten.


Aha. Völlig wüstenhaft und trostlos. Merken!

Zitat:
Ein Pasticcio aus zugewehten Schlaglöchern, sandigen Buckeln, scharfgratigen Spalten und Rissen, die das Fahren zur Qual machten. Anscheinend lag die letzte Reparatur mindestens achthundert Jahre zurück.


Aha. Völlig katastrophale Straße. Merken! Und wieder so eine Übertreibung, die stilistisch für mich nicht passt.

Zitat:
. Seit die Amerikaner in die Garnison in Shangoran eingezogen waren, war Coca-Cola im Umkreis von fünfzig Kilometern allgegenwärtig.


Sachlich unplausibel: Nur weil irgendwo Amis stationiert sind, startet Coca-Cola doch keine Werbekampagne für die Zivilbevölkerung, die sich das im Zweifel eh nicht leisten kann.

Zitat:
Eine lange, gelbbraune Lehmmauer mit meterhohen, festen Holztoren kam in Sicht.


Meterhoch = Höhe 1m? Oder mehrere? Ist im Kontext nicht eindeutig.

Zitat:

„Wieder so eine Festung“, sagte der Doktor, „kein Gesetz erlaubt es, in solch ein Haus einzudringen, um etwa nach einer verschleppten Frau zu suchen oder ein Waffenlager auszuheben. Die hohen Mauern machen alles unsichtbar. Ich möchte nicht wissen, was sich dahinter alles verbirgt.“


Boah. Wie kommt ein Arzt im Landrover darauf, von verschleppten Frauen zu fantasieren? Man merkt für meinen Geschmack ein bisschen zu deutlich, dass da ein Thema gesetzt werden soll ...

Zitat:
Auch die bunten Schlafmohn- und Kürbisfelder mit den Windschutzhecken aus blühendem Persischem Flieder, die ab und zu aus der Ferne herüber leuchteten, hörten schließlich ganz auf.


Wir haben uns weiter oben gemerkt, dass die Landschaft wüst und leer und trostlos ist. Auf einmal soll es geblüht haben?

Zitat:
Baumlose Steppe, so weit das Auge reichte. Sie war gleißend hell, braun-gelb, flach wie ein Frühstücksbrett und bis zum Horizont anscheinend menschenleer.


Bis vor kurzem war doch noch alles wurlevoll gewesen?

Zitat:
Doch wenn sie ausstiegen, etwa um sein Wasser abzuschlagen oder um sich die Beine zu vertreten, näherten sich wie aus dem Nichts plötzlich zerlumpte Gestalten. Sie starrten die Fremden wie Erscheinungen von einem anderen Planeten an und hielten bettelnd die Hand auf.


Jedesmal wenn sie irgendwo zum Pinkeln halten, sind sie von Bettlern umringt, die aus dem menschenleeren Nichts kommen? Wenn das Richtung Mystery gehen sollte, dann müssen sich die Helden aber ein bisschen mehr drüber wundern! In der realen Welt: unplausibel!

 
Zitat:
Vereinzelte Schafherden weideten in dieser trostlosen Einöde, bewacht von kraftstrotzenden Hirtenhunden. Wie Signale aus einer fernen, heiteren Welt leuchteten die bunten Farbflecken, mit denen die Besitzer die schwarzen Fettschwanzschafe gekennzeichnet hatten. Schönberg hielt sie für die ulkigsten Tiere der Welt, deren Schwänze aussahen wie bepelzte Bratpfannen.


Das meine ich: kraftstrotzende Hirtenhunde? schwarze Fettschwanzschafe? Zu viele Attribute, zu viel Details. Du kennst dich da vielleicht aus eigener Erfahrung aus oder hast mühsam recherchiert und jetzt muss der Leser gnadenlos alle Informationen fressen, die du so angestrengt gesammelt hast ...

Zitat:
Die Klimaanlage hatte schon lange den Geist aufgegeben.


Wir haben uns oben gemerkt, dass die beiden in einem Landrover sitzen. Ein Landrover hat keine Klimaanlage.

Zitat:
Und ein originales Toyota-Ersatzteil hatte der Mann leider gerade nicht auf Lager ... Er führte es auf die robuste Bauart des japanischen Fabrikats zurück.


Seit wann baut Toyota Landrover? Die Dinger von Toyota heißen Land Cruiser, wenn ich's richtig im Kopf hab.
   
Zitat:
Der Fahrweg wurde immer schlechter.


Nach dem, was du oben geschrieben hast und wir uns gemerkt haben, sollte damit jedes Weiterkommen unmöglich geworden sein.

Zitat:
Schönberg ließ die Scheibe des Seitenfensters herunter, um etwas frische Luft einzulassen, denn Weber transpirierte stark und roch unangenehm. Aber sofort fuhr ihn ein unangenehm kalter Luftzug an. ...
   Schönberg drehte das Fenster wieder bis auf einen kleinen Spalt zu. Eine Erkältung war das Letzte, was er jetzt brauchen konnte.


Ein paar Sätze vorher war es noch unerträglich heiß und man brauchte unbedingt eine Klimaanlage?! Und jetzt ist es kalt und zugig? Was denn nun?

Zitat:
Der Wind kam vom zentralen Hochland, dessen Dreitausender immer noch schneebedeckt waren.  ... In der überaus klaren Luft schien die Berge zum Greifen nah. „Sieht zum Greifen nah aus“, murmelte er versonnen. Doch er wusste, dass die Nähe eine Täuschung war. Bis dahin waren es noch mindestens achtzig Kilometer. In dieser endlosen Weite, über der sich ein blassblauer Himmel wie eine überdimensionale Käseglocke wölbte, verlor das Auge bald jedes Gefühl für Abstand und Proportionen.


Unstimmig. Kaum 80 km von schneebedeckten Dreitausendern sieht man (richtihg bemerkt) eine markante Silhouette überm Horizont. Das ist doch das glatte Gegenteil vom Eindruck einer "endlosen Weite" eines flachen Horizonts!
 
Zitat:

   „In viereinhalb Stunden wird es stockfinster sein“, grummelte er mürrisch mit schiefem Blick auf Schönberg. Der starrte mit halb geschlossenen Augen aus dem Fenster und zähle Kilometersteine.


Viereinhalb Stunden? Also ist es wohl früher Nachmittag. Bisschen früh für so eine Kurzvorabendschaffenwirsdennnochstimmung, oder?

Zitat:

   Er betrachtete den Doktor verstohlen aus den Augenwinkeln. Dieser zähe Hund, dachte er mit einer Mischung aus verhaltenem Ärger und stiller Bewunderung. Seine sture Menschenfreundlichkeit wird uns beiden noch einmal das Genick brechen! Bisweilen überkam Weber sogar der Verdacht, der Doktor sehne sich geradezu danach, auf eine spektakuläre Weise umzukommen. Diese Annahme war nicht ganz aus der Luft gegriffen. Weder konkrete Warnungen vor terroristischen Überfällen noch starke Müdigkeit konnten den Doktor davon abhalten, sich auf den Weg zu machen, wenn Not am Mann war.


Das mit der latenten Todessehnsucht gefällt mir.

Zitat:

  Schönberg öffnete die Augen und angelte blinzelnd nach seiner Sonnenbrille. Er hatte beschlossen, seinem apodiktischen 'Ja' noch eine Erklärung nachzuschieben.


Ziemlich abrupter Perspektivwechsel, so mittendrin!

 
Zitat:

  „Trockenfeldbau“, murmelte Schönberg.
   „Was sagtest du? Sprich bitte lauter! Bei dem Geratter verstehe ich kein Wort!“
   „TROCKENFELDBAU! Ich kenne diese Methode von Marokko her. Alle drei, vier Jahre kann einmal geerntet werden, zu mehr reicht der natürliche Niederschlag nicht. Sie kratzen den Boden auf und warten geduldig auf Regen. Wenn es sein muss, jahrelang.


Vorlesung, erster Teil.

 
Zitat:

   Dahinten, im gelben Dunst, leuchteten blassrosa die Mohnfelder.


Auf einmal doch wieder blühende Landwirtschaft. Mann, was für ein Land!

 
Zitat:
Hinter einer verfallenen Lehmmauer, über die vertrocknete Scheiben sterbender Sonnenblumen ragten, tummelte sich eine horde halbnackter, staubbedeckter, brauner Kinder, zwischen denen magere, verlauste Hunde herumsprangen. Plötzlich ein spitzer Schrei: Die Meute hatte den Landrover entdeckt und rannte, angeführt von den kläffenden Kötern, auf ihn zu.


Noch ein Beispiel für die Attributitis des Textes: Da sind schon _sehr_ viele Adjektive drin, in dem Satz.

Zitat:
Der blaue Salwar Kamiz, der ihre schmalle Gestalt umgab – die landesübliche Frauenkleidung bestehend aus langem Hemd und bauschiger Hose – glänzte in der schwarzen Türöffnung.


Entweder dieses Outfit ist so selbstverständlich, dass es den Protagonisten nicht auffällt, dann braucht es auch der Leser nicht so reiseführermäßig erklärt zu bekommen. Oder die beiden kennen es nicht, dann kannst du es beschreiben, aber nicht benennen ...

 
Zitat:
„Es grenzt an ein Wunder“, sagte er versonnen, „dass dieses bitterarme, geknechtete Land mit seinen erbärmlichen Lebensbedingungen solche Lichtgestalten hervorbringt. Auch die herrlichen Gesichter dieser wilden jungen Männer hier begeistern mich immer wieder aufs Neue.“


Neee, nä? Zu viele Adjektive, zu viel Klischee.

Zitat:

 „ Christus hatte, so viel man weiß, wenigstens keine Nachkommen, aber diese hier zeugen mit mehreren Frauen immer mehr Kinder. Vor fünfzehn Jahren hatte dieses Land fünf Millionen Einwohner, und alle wurden mehr oder weniger satt...“
   „Eher weniger.“
   „Lass mich doch auch mal ausreden! Jetzt sind es zwölf!
...
Wenn sie die Geburtenrate nicht in den Griff bekommen, verdoppelt sich hier alle fünfzehn Jahre die Bevölkerung – mit allen daraus resultierenden negativen Folgen.
...


Ab hier eigentlich nur noch Länderkunde Afghanistan in Dialogform. Du bist doch nicht Wikipedia ...

Ich hab den Eindruck, das Ganze soll auf einen Thriller / eine Abenteuergeschichte mit Gegenwartsbezug rauslaufen, vor dem Hintergrund der realen Probleme in Afghanistan - so in Richtung Johannes Mario Simmel, schwebt mir vor.

Für so was wäre ich Zielgruppe. Smile

Mein Eindruck ist aber, dass in der jetzigen Version das Verhältnis vordergründiger Handlung / Action zu damit einhergehenden Hintergrundinfos bei 1 : 4 liegt, wenn nicht schlimmer. Damit ich so etwas lesen mag, akzeptiere ich allerdings maximal 10 : 1. Also: schneller zum Punkt, mehr Handlung - und Hintergrundinfos nur da, wo sie zum Verständnis des Plots wirklich notwendig sind.

P.S. Wenn ich meinen Kommentar jetzt so lese, ist doch ein ziemlich heftiger Verriss zusammengekommen. Ich hoffe, das entmutigt dich nicht. Ich glaube zwar, der Text benötigt eine radikale Überarbeitung, ich könnte mir aber vorstellen, dass dann noch was richtig Gute draus werden könnte ...
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wunderkerze
Eselsohr
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Beitrag29.01.2019 11:46
Taifan (2)
von wunderkerze
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Schönberg fuhr durch den Stillstand aufgeweckt hoch. Der Landrover war trotz seines Allradantriebs in einer Sandverwehung stecken geblieben. Die letzten zweihundert Meter bis zur Hodschra, dem 'gastlichen Haus', mussten sie zu Fuß gehen. In der Luft lag ein eigenartiges Sirren. Die Blätter des Steppengrases bewegten sich in der Abendbrise und rieben wie Insektenflügel gegeneinander.
  Mittlerweile war es fast dunkel. Die Gegend war übersät mit riesigen, von den letzten Sonnenstrahlen rötlich überhauchten Felsbrocken, hinter denen jederzeit einer dieser schwarz vermummten und bis an die Zähne bewaffneten Krieger Allahs mit dem Ruf: Allah akbar, Gott ist groß, hervorspringen konnte.
   Die Herberge, eine uralte Karawanserei tauchte erst im letzten Moment hinter zwei haushohen Felsen auf. Es war ein kubischer, ziemlich großer Bau aus gelben Lehmziegeln, mit schießschartenartig kleinen Fenstern ohne Scheiben. Von der massiven ehemals knallblau gestrichenen Holzbohlentür blätterte die Farbe ab. Ursprünglich umgab das Haus eine hohe Lehmmauer, von der jetzt nur noch einige kümmerliche Reste übrig waren.
  Schönberg klopfte an die Tür – nichts rührte sich. Nach mehrmaligem starken Klopfen und Heda-Gebrüll öffnete sich quietschend eine kleine Nebenpforte, die in das eigentliche Tor eingelassen war. Ein bulliger Typ mit zerzaustem Bart und einer speckigen Kaschmirmütze auf dem runden Schädel steckte seine Knollennase hindurch. Schönberg redete ihn im persischen Dari an, dem in dieser Gegend am weitesten verbreiteten Idiom.
  Mittlerweile waren einige verdächtige Gestalten, die gelangweilt in der Nähe herumstanden, näher gekommen. Die Wachmannschaft, alle schwer bewaffnet und mit schusssicheren Westen.
  Der Mann in der Tür tat, als verstünde er nicht. Der Doktor wiederholte sein Anliegen auf Pashto, der Amtssprache des Landes. Die kleine Seitentür schloss sich quietschend. Nach einiger Zeit öffnete sich knarrend das große Tor. Mit einer galanten Verbeugung ließ der Torhüter die beiden Fremden ein, nicht ohne sie von oben bis unten misstrauisch zu beäugen.
  Wenig später betraten sie das etwas düster wirkende Gebäude. An der Decke des ziemlich großen Innenraums brannten mehrere Glühbirnen, die ein müdes Licht verbreiteten; durch die Fenster drang kaum noch Helligkeit. Auf dem mit Teppichen ausgelegten Lehmboden lagen oder hockten zehn oder zwölf in Decken gehüllte Gestalten. Einige murmelten leise vor sich hin, sie schienen zu beten, andere schliefen. Nun, da die Neuankömmlinge drinnen waren, legte jemand einen schweren Balken vor die Tür.
   Ein  europäisch gekleideter älterer Herr trat auf sie zu: Der Hausherr oder Manager.
 Schönberg zeigte ihm das Papier mit dem halben Dutzend Stempeln und großartig hingekritzelten, aber unleserlichen Unterschriften.
  Der Herr des Hauses setzte eine Kennermiene auf. Eine ganze Weile beäugte er das Schriftstück mit dem starren Blick eines Kurzsichtigen, der seine Brille verlegt hat. Doch schließlich schien ihn das amtliche Dokument mit dem Aussehen einer mittelalterlichen Originalhandschrift eines weisen Mursheds zu überzeugen, denn er grunzte zufrieden. Dann stellte er sich als Ahmed Muhammad Khan vor – wohl, um anzudeuten, dass Dschingis Khan einer seiner Urahnen war. Mit seiner dicht behaarten Pranke wies er auf eine Tür neben einer runden weißen Wand im Hintergrund.
   Weber öffnete die wacklige Tür, und sie traten ein. Der kleine Raum war durch eine Tranfunzel nur mühsam erhellt. An den Wänden standen zwei Etagenpritschen mit Strohmatten, die eine davon belegt; ein Mann und eine Frau drehten ihnen bei ihren Eintreten den Rücken zu. Sie schienen zu schlafen. Zwischen den Beinen des Mannes ragte der Lauf eines Gewehres hervor. Es roch unangenehm nach verbrauchter Luft und muffigem Stroh.
  „Wasser zum waschen?“, fragte Schönberg den Wirt leise, der ihnen gefolgt war. Der Wirt schüttelte den Kopf. „Cholera!“ Er erklärte geschwätzig und mit dröhnender Stimme, dass er wegen der Cholerafälle in Ghazani kein Trinkwasser mehr aus dem nächsten Dorf kommen ließe und verwies auf eine Kiste Mineralwasser im Gastraum. Vorsorglich nannte er den Preis: Ein Dollar pro Flasche.
  „Typhus“, verbesserter Schönberg. „Im Kinderkrankenhaus von Ghazani sind zwei Typhusfälle aufgetreten.“
   Der Wirt zuckte mit den Schultern. „Cholera, Typhus, Fleckfieber und ich weiß nicht, was noch – wer soll sich da auskennen, und wem würde es etwas nützen?“, sagte er. „Alles wird geduldig ertragen, und wenn jemand stirbt – dann ist es eben Allahs Wille.“
   Nach kleiner Katzenwäsche sagte Weber: „Ich hab´ einen Bärenhunger! Komm, lass uns zu Abend essen.“
   „Aber nicht hier“, entgegnete Schönberg.
   „Wieso?“
   „Hier riecht´s nicht gut.“
   Sie gingen zurück in den großen Gemeinschaftsraum. Weber legte eine Decke auf den Lehmboden neben der weißen Wand und packte den Proviant aus: Schwarzes Dauerbrot der Marke Pumpernickel, Büchsenfleisch, Ölsardinen, zwei Flaschen nicht besonders kühles deutsches Bier.
   Draußen war es mittlerweile stockfinster. Die Fensternischen glichen schwarzen Löchern. Weber, dieser Genussmensch, stellte eine Kerze auf und zündete sie an. Ohne ein lebendes Feuer bei Tisch schmeckte es ihm nicht, auch wenn der Tisch nur eine Decke war und sich an einem finsteren Ort befand. Die flackernde Flamme warf große, schwankende Schatten an die niedrigen Wände.
   „Irgendwie unheimlich hier“, bemerkte er nach den ersten Bissen.
   „Wie kommst du darauf?“
   „Diese Schatten an den Wänden und diese winzigen schwarzen Fensterlöcher! Ich denke, wenn Dschingis Khan jetzt hier hereinkäme, würde er sich wie zu Hause fühlen.“
   „Mit dieser Vermutung liegst du nicht ganz falsch, mein Freund!“
  Die beiden Fremden blickten erstaunt auf. Vor ihnen stand der Torhüter von vorhin.
   „Du sprichst Deutsch?“, fragte Schönberg verblüfft. Wieder einmal machte er die Erfahrung, dass man in diesem seltsamen Land auf alles gefasst sein musste, auch auf das scheinbar Unmögliche. Sogar darauf, dass jemand, der aussah wie ein Strolch, perfekt Deutsch sprach.  
   „Wie du hörst“, antwortete der Mann klar verständlich. Er verzog sein glattes Gesicht zu einem selbstgefälligen Grinsen. „Ich heiße übrigens Gerian Hadschi bin Laden.“
   Schönberg verzichtete darauf, ihn zu fragen, woher er so gut Deutsch könne. Der leichte hamburger Tonfall verriet es ihm. Statt dessen stelle er sich und Weber vor.
   „Dschingis Khan ist wirklich einmal hier gewesen“, fuhr der Hadschi fort. „So ums Jahr 1200...“
   „Ach geh... Erzähl uns keine Märchen, mein Lieber“, unterbrach ihn Schönberg humorig. „Wenn ich überlege, wo euer Dschingis Khan überall gewesen sein soll, dürfte er vor lauter Reisetätigkeit keine Zeit mehr zum Erobern gehabt haben!“
   „Ich erzähle keine Märchen“, beharrte der Mann. „Das Mauerwerk da hinter euch ist der Beweis!“
   „So? Was ist damit?“, wollte Weber wissen.
   Bin Laden starrte mit lüsternem Blick auf die Büchse mit dem Corned Beef. „Wie ihr wahrscheinlich schon wisst, zerstörte Dschingis Khan auch das alte Ghazani“, begann er. „Dabei soll er mehrere Hunderttausend Bewohner umgebracht haben. Eine Handvoll Flüchtlinge jedoch entkam und suchte in diesem Raum hier Schutz. Sie dachten, die Mongolen würden sie in einer Karawanserei, in der von Alters her das Gebot des Friedens herrscht, in Ruhe lassen. Doch da täuschten sie sich. Die Mongolen...“
   Der Hadschi schwieg und leckte sich die Lippen.
  „Bevor du weitersprichst, o edler Hüter des Tors zum Paradies“, sagte der Doktor lachend, „setz dich doch und nimm ein Stück Fleisch!“
   Gerian Hadschi bin Laden ließ sich nicht zweimal bitten. Er hockte sich hin, nahm das angebotene Fleisch mit bloßen Fingern und stopfte es sich in den Mund. „Corned Beef ist eine der wenigen Errungenschaften der Amerikaner, die ich schätze“, sagte er schmatzend.
   „Und weiter?“ Schönberg hatte keine Lust, sich zu dergleichen Unsinn zu äußern.
  „Zunächst ließ Dschingis Khan einen Pfahl bis unters Dach aufrichten. Dann wurden die Gefangenen gefesselt, und man legte sie auf den Boden rund um den  Pfahl, an den man sie mit den Füßen festband. Eine Schicht Gefangene wurde auf die andere gelegt, bis unters Dach. So entstand eine Säule aus Menschenleibern.“
   Bin Laden unterbrach sich, um ein neues Stück Büchsenfleisch zu nehmen.
   Weber hörte auf zu kauen. Kleine Schweißperlen zeigten sich auf seiner Stirn.  „Was geschah dann?“, fragte er tapfer.
   „Dann befahl Dschingis Khan, die Menschensäule mit Stuckgips zu ummauern.“
   „Während sie noch lebten?“, fragte Weber tonlos.
   „Ja natürlich!“
   Alle drei schwiegen.
 „Dann müssten ja, wenn man den Gipsmantel weg schlüge“, bemerkte Schönberg schließlich, „menschliche Skelette zum Vorschein kommen. Hat das noch niemand versucht?“
   „Keine Regierung hat es bisher zugelassen. Der Weiße Turm ist so etwas wie eine nationale Gedenkstätte.“
   Schönberg schüttelte den Kopf. Und solche Leute wie du sind noch stolz darauf, dachte er bei sich.

  Weber war hundmüde und legte sich aufs Ohr. Der Doktor ging vor die Tüt, um noch etwas frische Luft zu schnappen.
  In der Ferne tausendfaches Aufblitzen und dumpfes Rollen: Artilleriegetümmel. Schönberg tastete sich Schritt für Schritt vor, um nicht über herumliegenden Müll oder Steine zu stürzen. Aus der Dunkelheit tauchten urzeitliche Monster auf und verschwanden wieder: Die runden Felsen.
  Allmählich zeichneten sich die Umrisse des Landrovers ab. Daneben gewahrte er zwei Gestalten, eine ziemlich große, stämmige sowie eine kleine, schmale. Sein erster Gedanke: Diebe! Möglicherweise sogar bewaffnete Kämpfer, die sich um den heiligen Frieden einer Hrodscha einen Dreck scherten. Er blieb stehen, unschlüssig, wie er sich jetzt verhalten sollte. Sollte er unbemerkt umkehren, sollte er Alarm schlagen? Beides hätte gleichermaßen dasselbe Ergebnis gehabt, der Landrover wäre morgen früh nur noch ein Wrack gewesen, und er möglicherweise ein Krüppel. Denn niemand in der Herberge würde für das Auto eines ferangi, eines Fremden, auch nur den kleinen Finger krümmen, auch wenn es ein rotes Kreuz auf dem Dach hatte.
   Doch jetzt erkannte er sie. Es konnten nur die beiden Schläfer aus der Kammer sein, der große Mann und die kleine Frau. Neben dem Profil des Mannes glomm es ab und zu auf, er rauchte. Nun hörte der Doktor Wortfetzen: Sie redeten miteinander.   
  Schönberg räusperte sich, um auf sich aufmerksam zu machen. Die beiden verstummten. Er trat näher und grüßte.
  „Saalam!“
  „Saalam!“ Der Mann erwiderte den Gruß. Dann schwieg er. Offensichtlich wartete er darauf, dass der Hinzugetretene als erster das Wort ergriff. Schönberg hütete sich, sofort drauflos zu reden. Schönberg wusste: Er hätte sofort als Schwätzer dagestanden und sein Gesicht verloren. An der eigenartig geformten Kopfbedeckung des Mannes erkannte er, dass er es sich bei ihm um einem Vertreter der Volksgruppe der Pashtunen handelte, der zahlenmäßig größten der zwanzig oder dreißig Ethnien, die in diesem vergleichsweise kleinen Land beheimatet waren.
  Die Männer galten als stolze und verschwiegene Gesellen, die bisher sämtlichen Eroberern getrotzt hatten – angefangen bei den Horden Dschingis Khans, deren Nachkommen sie nicht nur assimiliert, sondern regelrecht unterworfen hatten, bis hin zu den schiitischen Aschura-Kommandos der iranischen Revolutionsgarden. Dabei war einigen von ihnen allerdings der Fehler unterlaufen, für kurze Zeit mit dem moskaufreundlichen General Zaher Azami zu sympathisieren, der unter den iranischen Kämpfern einst ein entsetzliches Gemetzel angerichtet hatte. Dadurch hatten sie sich den 'ewigen Hass' der SaI-Kämpfer zugezogen, von denen der größte Teil aus dem schiitischen Iran stammte. Die Terroristen brachten gnadenlos jeden Pashtunen um, der ihnen in die Hände fiel.
 Schönberg dachte angestrengt über ein Stichwort nach, das mit spielerischer Leichtigkeit die Gesprächsbereitschaft des verschlossen wirkenden Mannes hervorrufen könnte. Natürlich würde der stolze Pashtune niemals als erster das Wort ergreifen. Es wäre unter seiner Würde gewesen.  Auch durfte es nichts Ernstes sein, nichts von Krieg und Vertreibung oder von den erbarmungswürdigen Lebensbedingungen hier, denn darüber noch Worte verlieren hieße Eulen nach Athen tragen. Auch das Woher und Wohin schied aus, denn Neugier konnte in diesem Lande leicht missverstanden werden. Außerdem konnte er sich an zwei Fingern abzählen, dass die beiden auf der Flucht waren. Denn normalerweise kehrt ein Pashtune nicht in der Hodschra eines Khans ein.
   Der Hochnebel hatte sich mittlerweile etwas gelichtet; ein milchiger Hof deutete die Existenz des Mondes an.
   „La illaha illa Allah“, murmelte der Doktor gedämpft. Diese Formel hatte schon Tolstoi in seinem Hadschi Murad erwähnt. Somit war sie für Schönberg kein Glaubensbekenntnis, sondern ein Zitat. Im übrigen erinnerte ihn vieles, was er in diesem Lande sah und erlebte, an diese Erzählung des großen Russen. In manchen Bereichen war hier die Zeit einfach stehen geblieben.
    „La illaha illa Allah“, kam es in tiefer, etwas rauchiger Stimmlage zurück.
   Schweigen.
    „Die Stille ist wunderbar“, sagte der Doktor nach einer Weile.
   „Nicht wahr?  Es ist die Stille Gottes vor dem ersten Schöpfungstag. Möchtest du eine Zigarette, Sahib?“
   Schönberg nahm dankend an. Während er die Zigarette anzündete, kam der Mann näher und blickte ihm ins Gesicht. „Du bist mit dem Landrover gekommen“, sagte er. Bist du Arzt?“
   „Ja.“
    Schönberg konnte im aufflackerden Licht des Feuerzeugs etwas von dem Gesicht des Pashtunen sehen. Es war das Gesicht eines alten Mannes.  
  Das Eis war gebrochen. Trotzdem wartete Schönberg, bis der anscheinend Ältere weitersprach.
   „Bist du auch vor den Wanzen dieser elenden Herberge geflohen, Sahib?“, fragte der schließlich.
   „Es gibt schlimmeres als Wanzen“, erwiderte der Doktor höflich.
   „Bei Allah, da sprichst du ein wahres Wort.“ Der Mann tat einen tiefen Zug und blies den Rauch mit vorgestülpter Unterlippe nach oben aus. „Deinen Freund – Gott gebe ihm ein langes Leben – scheinen sie nicht zu stören.“
   Der Doktor lachte gedämpft. „Offensichtlich nicht! Ich weiß nicht wie er das aushält! Es ist immer das Gleiche: Mich lassen die Biester nicht schlafen, und er schnarcht ungerührt wie ein satter Wolf.“
   „Es gibt ein Mittel dagegen.“
   „Ach ja? Und welches? Verrate es mir, Sahib“
   „Autosuggestion. Du umgibst deinen Körper mit einem spirituellen Panzer. Dann stechen sie zwar noch, aber es stört dich nicht mehr.“
   „Und wie soll das gehen?“
   „Du sprichst hundert Mal die Formel: La gharbi, la sharpi – Islami – weder westlich noch östlich sind wir, wir sind islamisch!“          
   Schönberg lachte. „Das nächste Mal werde ich deinen Rat befolgen! Vielleicht hilft es ja wirklich!“
   „Allahu akbar – Gott ist groß!“
   Das Gespräch hatte den Gipfel an Oberflächlichkeit erreicht. Trotzdem war die Frau beiseite getreten, denn es geziemt sich in diesem Lande nicht, dass eine Frau am Gespräch der Männer teilnimmt, sei es noch so nichtssagend.
   Der Nebel hatte sich fast vollständig aufgelöst. Am Himmel, kurz über den Gipfeln des fernen Gebirges, stand jetzt ein fast voller Mond. Seine unglaubliche Helligkeit ließ alle Gegenstände fast weiß erscheinen. Die kahlen Kalkfelsen schimmerten, als seien sie mit Schnee bedeckt.
  Während der Doktor schweigend das Naturschauspiel betrachtete, sagte der Alte in die Stille hinein: „Dieser bin Laden ist ein gewaltiger Märchenonkel!“
   „Wie?.. Was meinst du?“, stotterte Schönberg, dessen Gedanken ganz woanders waren.
   „Na, diese Geschichte mit dem weißen Turm ist natürlich blanker Unsinn. In dem Turm stecken keine menschlichen Gebeine, sondern er ist angefüllt mit Salz. Sein Mauerwerk ist auch nicht weiß von Gips, sondern von Salzausblühungen.“
   Schönberg ließ sich nicht täuschen. Der Mann hatte anderes im Sinn als ihm die wahre Geschichte des Weißen Turms zu erzählen. Obwohl er also schon ahnte, worauf die Komödie hinauslief, wollte er nicht unhöflich sein und sagte: „Ach! Da bin ich aber gespannt! Erzähl´ doch!“
   Dem Alten sprudelte munter los: „Immer und immer wieder ist Ghazani, die 'Perle des Orients' oder einfach 'Die Stadt', wie sie die alt-persischen Dichter nannten, denn mit ihr konnte sich keine andere an Pracht und Reichtum messen – Ghundum vielleicht ausgenommen – erobert und geplündert worden. Nun ja, Reichtum weckt eben Begehrlichkeiten, und großer Reichtum weckt eben große Begehrlichkeiten. Aber die Stadt Ghazani ist dabei nicht zerstört worden. Welchen Sinn hätte es auch gemacht? Die Bewohner waren umgebracht oder vertrieben, jetzt konnten sich die Eroberer in aller Ruhe einnisten und ihre Herrlichkeiten weiter ausbauen, wie zum Beispiel Schah Khan, der dort die größte Bibliothek Asiens zusammentrug.“
   „In der Tausende Abschriften der Texte lateinischer oder griechischer Schriftsteller  lagen“, ergänzte der Doktor. „Nur durch sie ist ja die Kenntnis weiter Teile der antiken Literatur, nachdem die Christen die große Bibliothek in Alexandria eingeäschert hatten, auf uns gekommen! Der Orient hat das Abendland gerettet – zumindest geistig.“
   Der Alte machte eine leichte Verbeugung. „Deine Worte erfüllen mich mit Stolz, Doktor!“, erwiderte er dankbar. „In der Tat, wir haben es nicht nötig, vor dem Westen im Staub zu kriechen!“ Er blickte sich um und fuhr fort: „Hier sind wir unter uns, und ich denke, ich sollte dir einiges erklären... Ich bin sechs Jahre lang von Privatlehrern unterrichtet worden, deren Hauptaufgabe darin bestand, mich von der Unterlegenheit diese Landes und vom Ruhm Europas zu überzeugen. Mit zwanzig besaß ich einen ausgedehnten Minderwertigkeitskomplex gegenüber dem Westen – wie übrigens viele junge Leute hier. Dies ist auch einer der Gründe, warum sich viele von ihnen radikalisieren lassen. Sie bilden sich ein, sie könnten diese angebliche Überlegenheit mit Bomben zerstören und ihr angegriffenes Ego dadurch aufwerten. “
   „Verzeih, Sahib, aber du wolltest berichten, wer Ghazani zerstört hat,“ unterbrach ihn der Doktor. Er verspürte jetzt kein Bedürfnis nach Grundsatzdiskussionen, außerdem bekam er kalte Füße. Auch die Frau, die inzwischen näher gekommen war, trat fröstelnd von einem Bein aufs andere.
   „Gut, wie du befiehlst! Weder Alexander, noch Tamerlan, noch Dschingis Khan zerstörten die alte Stadt, sondern es war die Gier der Einwohner selbst. Du wirst bemerkt haben, dass es um die Stadt herum keinen Wald mehr gibt – wie im übrigen Land auch nicht. Die Bäume wurden verheizt, verkauft, verbaut, und was nachwuchs, fraßen die Ziegen. Die Ziege ist das gefräßigste Tier der Welt und das verheerendste, wenn sein Bestand nicht reguliert wird. Und daran dachte niemand, denn die Anzahl der Ziegen ist bei den Nomaden ein Maß für den Wohlstand seines Besitzers.
   Nachdem also die Gegend kahl gefressen war, versiegten auch die Quellen. Man musste Brunnen graben, um die Felder zu bewässern. Doch dummerweise liegt unter der Stadt ein Salzdom, das Wasser der Brunnen war also ziemlich salzhaltig. Im Sommer bildeten sich auf den Feldern Salzkrusten, die abgetragen werden mussten, um überhaupt noch etwas ernten zu können. Doch wohin mit dem salzigen Zeug? Hätte man es irgendwo abgekippt, wäre das Salz irgendwann wieder im Grundwasser gelandet. Also baute man einen Turm und lagerte das Salz dort ein...“  
   „Mein Freund, worauf willst du hinaus?“, fragte Schönberg lachend. Er dachte:  Dieser Mann hier ist genau so ein Märchenerzähler wie der Torhüter. Der hat mit seiner Geschichte die Fleischhappen bezahlt, und dieser hier will die Gewährung seines Anliegens mit klingenden Worten herbeireden.
   Der Pashtune stutzte einen Moment, dann wechselte er abrupt das Thema. „Ist das Auto gut?“, fragte er.
  „Nun ja, ich hoffe, dass es noch eine ganze Weile hält“, antwortete Schönberg immer noch lachend. „Aber man weiß ja nie, wann der nächste Achsenbruch kommt. Bei den Straßen hier...“
  „Da hast du Recht! Es sind keine deutschen Autobahnen.“ Der Mann blickte Schönberg mit einem betörenden, aber wegen der Dunkelheit kaum erkennbaren Augenaufschlag an und öffnete den Mund, um seine Geschichte wenn nötig bis zum Sonnenaufgang weiter auszuspinnen.
   Schönberg beschloss, der Komödie ein Ende zu bereiten und sagte: „Na gut, ihr könnt mitfahren! Heute früh um fünf brechen wir auf. Endstation ist Ghazani. Wir brauchen sowieso noch ein paar kräftige Arme, um den Wagen aus dem Sand zu ziehen.“

              wird fortgesetzt

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nicolailevin
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Beitrag29.01.2019 18:00

von nicolailevin
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Drei konkrete Störpunkte:

Ich kenne Afghanistan nicht, würde mich aber _sehr_ wundern, wenn man dort als (westlicher) Mann in ein Zimmer gesteckt wird gemeinsam mit der Frau eines anderen, wie von dir geschildert.

Das nächtliche Geschützfeuer: Ich bin auch kein Artillerie-Experte, aber ich meine mich zu erinnern, dass non-high-tech Artillerie Sicht braucht. Du feuerst deine Kanone ab, schaust, wo sie im Verhältnis zu deinem anvisierten Ziel einschlägt und justierst dann Reichweite und Winkel, dass du beim nächsten Schuss besser triffst. Bei Nacht schießt du einfach ins Dunkle, das mag den Gegner erschrecken, aber ich denke, in Afghanistan, wo Munition kostbar sein dürfte, machen sie das nicht.

Bin Laden erzählt seine Horrorgeschichte auf Deutsch. Das Gespräch bei der Zigarette vor der Tür ist - nehme ich an - auf Pashtu. Der Pashtune nimmt hier auf das Bezug, was Bin Laden erzählt hat. Wie kann er das wissen? Spricht er etwa auch Deutsch? Wenn das als Plottwist beabsichtigt sein sollte, würde ich erwarten, dass es einem klugen Menschen wie dem Doktor mindestens so auffällt wie mir.
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Bananenfischin
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Beitrag29.01.2019 19:31

von Bananenfischin
Antworten mit Zitat

Zusammengeführt und als Fortsetzung markiert.
Wie gesagt: Fortsetzungen bitte im selben Thread posten. Letztens hattest du doch den Fortsetzungsbutton schon gefunden? wink


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Schriftstellerin, Lektorin, Hundebespaßerin – gern auch in umgekehrter Reihenfolge

Aktuelles Buch: Geliebte Orlando. Virginia Woolf und Vita Sackville-West: Eine Leidenschaft

I assure you, all my novels were first rate before they were written. (Virginia Woolf)
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Beitrag30.01.2019 14:22
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hallo Nikolaivin,
danke. Bleib bitte dran!
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Bananenfischin
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Beitrag30.01.2019 14:32

von Bananenfischin
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Hallo wunderkerze,

bitte nutze den Fortsetzungsbutton nicht für normale Antworten, sondern nur für Fortsetzungen deines Textes. Ich habe deine obigen Antworten entsprechend editiert.
Edit: Und du produzierst auch häufig Doppel- und Dreifachposts, die dann gelöscht werden müssen. Versuch mal, ein bisschen geduldiger beim Absenden zu sein. smile

Danke und Gruß
Bananenfischin


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Schriftstellerin, Lektorin, Hundebespaßerin – gern auch in umgekehrter Reihenfolge

Aktuelles Buch: Geliebte Orlando. Virginia Woolf und Vita Sackville-West: Eine Leidenschaft

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wunderkerze
Eselsohr
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W
Beitrag31.01.2019 13:35
Fortsetzung
von wunderkerze
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Pünktlich um fünf Uhr früh drehte Weber mit klammen Fingern den Motorschlüssel um. Der Landrover stieß eine schwarze Qualmwolke aus und setzte sich schwankend in Bewegung. Über der Steppe lag morgendlicher Raureif wie ein weißes Laken. Allmählich stieg das Gelände an; erste Bodenwellen wiesen darauf hin, dass man sich dem Gebirgsvorland näherte.
   Hier und da tauchten Behausungen aus Lehmziegeln auf, von Wällen umschlossen, mit  dornigem Gestrüpp gesichert, die Mauern manchmal noch mit Glasscherben gespickt. Er hatte gelernt: Im langen und strengen Winter des Hochlandes drangen häufig ausgehungerte Wolfsrudel bis in die Dörfer vor, eine ernstzunehmende Gefahr für Menschen und Tiere.
 Hussein al-Dorhani saß sehr aufrecht mit steifem Oberkörper neben der Frau. Eine Gebetskette glitt durch seine Finger. Er murmelte Koransuren. Seine Frau Marjam hüpfte bei jedem Stoß wie ein schwimmender Korken auf und ab. So schlecht die Straße gestern war, so schlecht war sie heute, möglicherweise noch schlechter. Hinten klapperten die Reservekanister und die Metallkoffer mit dem medizinischen Material.
   Schönberg drehte sich um. "Hussein, darf ich dich etwas fragen?"
   "Gerne."
   "Deine Frau gestern... in einem Raum mit fremden Männern... Hmm... Widerspricht das nicht den Vorschriften des Islam?"
    Der Pashtune ließ die Gebetskette sinken. "Welchen Islam meinst du? Den wahren oder den der Mullahs? Im Koran jedenfalls steht nichts dergleichen! Außerdem ist es meine Sache!" Ende der Diskussion. Die Gebetskette glitt wieder durch Husseins Finger.
  Genau vor ihnen, über einem kantigen Felsrücken, ging jetzt großartig das Tagesgestirn auf, und Weber angelte nach seiner Sonnenbrille. Schönberg saß mit geschlossenen Augen da; er vermittelte den Eindruck, als döse er vor sich hin. Mit seiner inneren Ruhe war es vorbei. Eben hatte ihn die junge Frau für einen Moment angeblickt. Der Moment war nur kurz gewesen, doch mit elektrisierenden Wirkung. Er reichte schon, um sein Herz höher schlagen zu lassen. Schönberg dachte an verflossene Liebesabenteuer und seufzte.
   „Interessiert dich das Dämchen, he?“, fragte Weber auf Deutsch.
  Weber kannte seinen Weggefährten, wie er diese Straße kannte, die er schon hundert Mal gefahren war, und die doch immer wieder voller Überraschungen war. Wie der Landrover von einer Seite auf die andere schwankte, so neigten sich Schönbergs erotische Begehrlichkeiten mal zur hetero-, mal zur homosexuellen Seite, je nachdem, was gerade zu Gebote stand. Einem hübschen Knaben konnte er genau so  wenig widerstehen wie einem dieser bunten und parfümierten Dämchen in der 'Himmelspforte' von Ghasani. Das Angebot war riesig, und die Altersgrenze lag bei sechzehn. Doch wie sollte man das überprüfen? In jedem Dorf konnte jemand, der auf sexuelle Abenteuer aus war, ohne viel zu fragen sauber gewaschene und wohlriechende Persönchen unbestimmbaren Alters finden, die mit schmachtenden Haschischaugen ihre Dienste anboten. Und wer kümmerte sich in diesem gesetzesfernen Land schon um Altersgrenzen. Schönberg bestimmt nicht, und glaubhaft waren die Angaben meistens sowieso nicht. Das ist auch der Grund, warum er nicht mehr nach Deutschland zurück will, dachte Weber. Er befürchtet, schon am Flughafen wegen des Missbrauchs Minderjähriger verhaftet zu werden. Und hier? Was Recht war, bestimmten meist die Clanfürsten. Nun ja, Kindesmissbrauch war genauso geächtet wie überall auf der Welt. Aber wirklich wichtig waren andere Dinge: Gastfreundschaft, Gewährung von Asyl, Blutrache.
  Weber musste grinsen. Hier tat sich so einiges, was in der Berichterstattung der westlichen Medien nicht auftauchte. An abgelegenen Plätzen in Shangoran waren ihm Gruppen junger Männer aufgefallen, die sich nicht nur nach orientalischer Art bei der Hand hielten, sondern die sich ganz offen liebkosten, ohne das ein strenger Mufti oder greiser Quadi eingeschritten wäre. Manche dieser blutjungen Kerle hatten sich die Haare zu kunstvollen Zöpfen flechten lassen und waren grell geschminkt. In Stöckelschuhen und mit kokett schwingenden Hüften stolzierten sie über den Suk, das Damentäschchen in der einen, die Kalaschnikow an der anderen Hand. Es war eine Demonstration ausgewachsenen Transvestitentums.
   Ein mit schwer bewaffneten alliierten Soldaten beladener Armeelaster kam ihnen entgegen. Seine ungeheure Staubfahne hing wie ein gelber Vorhang in der Luft. Weber drehte das Seitenfenster herunter und hielt. „Hallo Kamerad! Wie sieht´s aus da oben?“ rief er auf Englisch dem Fahrer zu, der ebenfalls angehalten hatte.
 „All free – alles frei“, rief der zurück, „die Kerle sind wie vom Erdboden verschluckt. Wahrscheinlich sind sie nachts unbemerkt nach Süden abgezogen.“
   Auf der Ladefläche des Fünftonners brach gutmütiges Gejohle aus. Einige Soldaten hatten die junge Frau im Landrover entdeckt und warfen ihr Handküsse zu. Ihre weißen Zähne in den gut genährten, aber verstaubten und verschwitzten Gesichtern blitzten. Rufe auf Englisch und Arabisch ertönten und gingen in dem röhrenden Motorgeräusch unter, als sich der Wagen wieder in Bewegung setzte.
   Schönberg empfand so etwas wie Fremdscham. Werden diese Leute denn nie begreifen, dachte er unwillig, dass man sich mit solchen Allüren hier nur Feinde schafft?
   „Noch vor dreißig Jahren wäre so etwas undenkbar gewesen“, sagte er mehr zu sich als zu Weber. „Ein falscher Blick eines amerikanische Matrosen hätte unweigerlich zu seiner Ausweisung geführt. Heute ist man da glücklicherweise etwas toleranter. Aber ungefährlich ist es nicht. Man muss schon wissen, mit wem man sich einlässt.“
   „Na, da haben wir mal wieder Glück gehabt“, sagte Weber und gab Gas. Anscheinend hatte er gar nicht zugehört. „Der Pass ist also frei.“
   „Da wäre ich nicht so sicher, mein Bruder!“ Es war die Stimme Hussein al-Dorhanis, des Pashtunen. „Siehst du das Bussardpärchen dort?“ Er beugte sich vor und wies mit ausgestrecktem Arm auf zwei schwarze Punkte rechts über einem Berghang. Die Entfernung mochte etwa drei Kilometer betragen. „Das ist kein gutes Zeichen.“
   „Und warum nicht?“, fragte Schönberg irritiert.
   „Es sind Afghanische Bussarde. Sie halten sich immer da auf, wo Menschen sind. Wenn ich richtig sehe, stehen sie genau über dem Pass!“
  Schönberg machte eine abwehrende Handbewegung. „Wahrscheinlich werden es irgendwelche Ziegenhirten sein, die sich auf der Hochfläche hinter dem Pass aufhalten. So genau kann man das bei der Entfernung gar nicht abschätzen. Und der Fahrer eben hat gesagt, der Pass sei frei.“
   „Bei Allah, ich hoffe, du hast recht, mein Bruder!“ Al-Dorhani lehnte sich wieder zurück.
   Weber blickte den Doktor verwundert von der Seite an. „Ich verstehe ja kaum etwas von dem Kauderwelsch hier“, sagte er auf Deutsch, „aber kann es sein, dass dich unser Freund da gerade Bruder genannt hat?“
   „Hat er!“
   „Und wie kommst du zu der Ehre?“
   „Damit ich die Beiden mitnehme, erzählte er mir letzte Nacht, als du wie ein Walross schnarchtest, eine schöne Geschichte. Anschließend ernannte er mich zum älteren Bruder.“
  Weber lachte. „Potz Blitz! Auch noch zum älteren! Dabei siehst du doch um Lichtjahre jünger aus als der! Sag´ mal, was wollte er denn mit dem Bruderkuss erreichen?“
   „Ich sagte es doch bereits. Er wollte erreichen, dass wir die beiden mitnehmen.“
  „Versteh ich nicht... Versteh ich ums Verrecken nicht! Warum hat er dich nicht einfach gefragt: Könnt ihr uns mitnehmen?“
   „Weil es hier nicht üblich ist, einen Wunsch unumwunden zu äußern. Man redet so lange drum herum, wie es eben geht, macht vage Andeutungen, kommt vom Hölzchen aufs Stöckchen, die Andeutungen werden genauer, und wenn das Anliegen immer noch nicht verstanden ist, trinkt man Tee, raucht eine Pfeife – oder man erzählt eine Geschichte.“
   „Und wenn du nein gesagt hättest?“
   „Er hat mich doch gar nicht gefragt!“
   „Gut, gut! Und wenn du dich taub gestellt hättest?“
   „Die Zurückweisung familiärer Bande würde er mir nie verzeihen. Möglicherweise hätte ich irgendwann einmal sogar ein Messer zwischen den Rippen, und vorher würde mir die Frau die Augen auskratzen.“
   Der Wagen fuhr jetzt auf vergleichsweise glatter Straße im Sechzig-Kilometer-Tempo. Aber es war abzusehen, dass diese Geschwindigkeit nicht allzu lange durchgehalten werden konnte. Immer wieder musste Weber Sandverwehungen ausweichen
   Da waren wieder die afghanischen Bussarde. Der Doktor war sich jetzt nicht mehr sicher, ob sich da oben wirklich keine Kämpfer aufhielten. Dass die Soldaten keine gesehen hatten, bedeutete nicht viel. Möglicherweise hatten sie die Bussarde nicht einmal bemerkt, und wenn doch, dann wussten sie nicht, was es bedeutete.
   Der Doktor betrachtete die Gebirgswand, die sich langsam vor ihnen aufbaute und rieb sich nervös das Kinn. Nur zu gut war ihm die Fähigkeit der SaI-Kämpfer bekannt, von der einen zur anderen Minute spurlos zu verschwinden oder aufzutauchen. Im Shangoran Observer wurde das Thema ja immer wieder durchgehechelt. Man rätselte unverdrossen: Woher sie plötzlich kamen, wo sie blieben. Wieso auch genaue Auswertungen von Drohnenbildern keine Erklärung lieferten. Nun, die lieferte ein Leserbrief: Es sei aus großer Höhe trotz aller technischer Raffinessen kaum zu erkennen, ob es sich in diesem von Felsbrocken übersäten Gelände bei einem Objekt um einen kauernden Menschen oder um einen kantigen Stein handele. Und so weiter, und so fort.
  Schönberg blickte aus dem Seitenfenster und hielt nach einem Meilenstein Ausschau. Es dauerte eine Weile, bis ein runder Stein mit der halb verwitterten Aufschrift 25 km auftauchte. Noch fünfundzwanzig Kilometer bis zum Pass. Er lehnte sich zurück und versank in Grübeleien. Ja, das 'Dämchen'. Er schätzte sie auf noch nicht einmal achtzehn, doch welche Würde in der Haltung, welcher Stolz im Blick! Und diese Augen von der Farbe polierten Bernsteins! Wieder sah er die Augen vor sich, und ein erwartungsvoller Schauer lief seinen Rücken herunter. Lass die Finger davon, ermahnte er sich im nächsten Moment, es ist brandgefährlich. Ein Ungläubiger, der die Frau eines Pashtunen anrührt, ist so gut wie tot, da kann er zehnmal er der ältere Nennbruder sein.
  Doch es war bereits zu spät. Er war bis ins Mark getroffen. Er dachte: Lieber sterben, als weiterhin ohne Ziel durchs Leben zu stolpern. Dieser stolze Blick, dieses schwellende Haar von der Farbe gerösteter Maronen, das unter dem locker gebundenen Kopftuch sichtbar geworden war, die schmalen Hände, die vermutlich noch nie eine Arbeit angefasst hatten... Woher nehmen diese Menschen die Kraft, dachte er weiter, auch im größten Elend noch wie  König und Königin aufzutreten...
   Er zündete sich eine Zigarette an. Um auf andere Gedanken zu kommen, fing er  wieder an zu reden. „Die Soldaten haben nichts gesehen. Na schön. Und das mit den Bussarden – Kaffeesatzleserei. Trotzdem würde ich nicht darauf wetten, dass wir heil durchkommen. Typhus hin, Cholera her – irgendein dummes Gefühl in der Magengegend sagt mir...“
   Schönberg horchte auf. Der Sender Faraq 1 gab Nachrichten durch, erst auf Dari, dann auf Englisch. Ein Selbstmordattentat auf ein Touristenhotel in Shangoran hatte zwölf Todesopfer gekostet. In Kabul war ein mit Sprengstoff beladenes Rotkreuzfahrzeug in eine Polizeischule gerast, dabei waren so und so viele Menschen getötet worden. Zu beiden Anschlägen bekannte sich der IS. Schönberg drehte den Sender lauter. Südlich von Shangoran zogen sich SaI-Kämpfer zusammen. SaI war eine Splittergruppe des so genannten Islamischen Staates. Ihre Zahl wurde auf hundert bis hundertfünfzig schwer bewaffnete Krieger geschätzt.
   Alle im Wagen atmeten hörbar auf. Also war der Entschluss, nach Norden, nach Ghazani zu fahren, doch der richtige gewesen. Und auch die Wahl der Nebenstrecke erwies sich im Nachhinein als glücklich, denn die Nationalstraße 5 war jetzt wegen der vielen Militärtransporte  unpassierbar.
    
                                                                *
  Weber legte den zweiten Gang ein. Unter Motorengedröhn bewegte sich der Landrover schwankend den Berghang des Kohn i Babd hinauf. Die Piste stammte noch aus der Zeit, da Lasten in Eselskarren oder Pferdegespannen transportiert wurden. Sie nahm deshalb keinerlei Rücksicht auf die begrenzte Steigungsfähigkeit eines schwer beladenen PKWs. Obwohl der Pass nicht besonders hoch lag – Schönberg entzifferte auf der abgenutzten Gegeralstabskarte die Höhenangabe 3500 Fuß  – hatte die Überfahrt doch schon so manchen Kühler zum Kochen gebracht.
   Allmählich wurde die Straße enger und steiler. Der Untergrund bestand jetzt aus nacktem blendend weißem Felsgestein, in das die Räder von vielen tausend Fuhrwerken tiefe Spurrillen eingegraben hatten. Quer dazu verliefen scharfkantige Spalten, sodass Weber das Tempo noch weiter vermindern musste und bald im Schritt fuhr.
   Schönberg dachte wieder an die junge Frau in dem Dorf gestern, an ihre großen Augen und die im Lachen entblößte Reihe weißer Zähne. Wie alt mochte sie sein? Neunzehn, zweiundzwanzig, dreiunddreißig? Oder sogar ganz jung noch, blutjung? Bei dem Frauentyp hier, der lange jung bleibt und plötzlich alt wird, schwer zu sagen. Er klappte den Frisierspiegel herunter, um einen Blick von Marjam zu erhaschen. Für den Bruchteil einer Sekunde trafen sich ihre Augen, und genau so schnell senkte sie die ihren. Hussein al-Dorhani saß mit verschleiertem Blick da und ließ eine Gebetskette durch die Finger gleiten. Anscheinend hatte er sich einen spirituellen Panzer umgelegt.
  Der Doktor warf den Zigarettenstummel aus dem Fenster. Ein bunter Häher, der dem Wagen schon eine ganze Weile gefolgt war, stürzte sich auf den glimmenden Rest und flog, als er den Irrtum bemerkte, laut zeternd davon.  
   Die Straße glich jetzt nur noch dem Grund einer mit scharfer Axt in den Felsen gehauenen Kerbe. Die Felsen waren himmelhoch und schienen lückenlos. Es wäre ein leichtes gewesen, das Fahrzeug von oben zu beschießen, einen Fluchtweg gab es nicht. Auch ohne SaI-Bedrohung  wirkte ihre ungeheure Masse verstörend. Jedesmal, wenn Schönberg hier durchkam – und als Leiter der Kinderkliniken in Shergoran und Ghazani musste er oft pendeln – rechnete er damit, dass die Felswände zusammenrückten und ihn zu Staub zermalmten.
   Weber beschleunigte das Tempo und fuhr direkt auf eine dieser senkrechten Wände zu, die anscheinend den Weg versperrte. Es war ein Spaß, den er sich an dieser Stelle gerne leistete. Für einen Moment sah es so aus, als wolle er das Fahrzeug gegen die Felswand fahren. Die junge Frau kreischte auf, der Pashtune hörte für einen Moment auf zu beten. Erst im letzten Moment nahm er die enge Rechtskurve, und jetzt fuhren sie direkt in den Himmel hinein. Vor ihnen war die Straße plötzlich optisch zuende und gab den Blick in die blau schimmernde Luft über der Hochebene frei, auf der sich in weiter Ferne das silberne Band des Amu Darjis zeigte. Sie hatten die Passhöhe, das 'Tor zu Allahs Garten', erreicht, und schon in wenigen hundert Metern ging es wieder bergab.
  Schönberg beugte sich vor, um die beiden Bussarde, die jetzt fast senkrecht über ihnen kreisten, zu beobachten. Hoffentlich behält Hussein nicht Recht, dachte er bestürzt, sie stehen genau über dem Pass, und noch sind wir nicht aus dieser Mausefalle heraus.
   Als sich der Wagen zur Abfahrt neigte, kippte die Landschaft vor ihnen hoch wie ein Tablett. Plötzlich sprangen drei vermummte Gestalten auf die Straße und richteten ihre Karabiner auf die Autoreifen. Weber bremste so stark, dass die Insassen nach vorne geschleudert wurden. Die junge Frau schrie auf, und ihr Mann stöhnte: „Beim Scheitan, das ist das Ende!“ Im Rückspiegel sah Weber, dass auch hinter ihnen bewaffnete Kämpfer standen. Woher die Kämpfer so schnell gekommen waren, blieb wieder mal ein Rätsel. Die Felswände waren glatt und steil wie der Rand einer Torte, der Pass schmal wie eine Kerbe und gut zu überblicken.

                                                                4

  Der UN Special Investigator General a. D. Staffan da Azamar war ein hagerer Mittvierziger. Er wirkte sehr amerikanisch, obwohl er einen jordanischen Pass besaß. Mit seinen asketisch herben Gesichtszügen, dem kurzgeschnittenen bibergrauen Kraushaar, dem kantigen Kinn hätte er sogar im Oval Office eine gute Figur gemacht. Die United States Military Academy in West Point, New York, hatte ihn geformt wie der Hammer des Schmieds ein Stück Eisen.
   Der Sonderermittler blickte sich nach einem sauberen Tisch um. Das krawattenlose Hemd war elegant geschneidert, und seine perfekt sitzende Uniform bot einen erfreulichen Anblick inmitten von so viel militärischer Verwahrlosung. Neben seiner starken Persönlichkeit wirkte der deutsche Oberst, der ihm gegenüber Platz nahm, fast unscheinbar, obwohl er erheblich größer war.
   „Was meinen Sie, Colonel“, fragte da Azamar den Oberst in vorzüglichem Englisch, „Sie kennen die Verhältnisse hier. Wird die diesjährige Frühjahrsoffensive der alliierten Streitkräfte in Ildib diesem entsetzlichen Bürgerkrieg endlich das Ende bereiten?“ Er sprach mit leiser, aber eindringlicher Stimme, die im Lärm der Lautsprechermusik kaum zu hören war. Er wirkte deshalb etwas genervt.
  Der Oberst hatte auf lauter Musik bestanden, denn nur so, hatte er erklärt, könne man sich frei unterhalten, ohne dass unberufene Ohren Dinge aufschnappten, die nicht für sie bestimmt waren.
  „Wer weiß das?“, orakelte der Oberst. Seine betörend blauen Augen richteten sich auf die wohlgeformten Beine eines der beiden 'Mädchen des siebten Himmels', die sich in einer Seitennische des ungemütlichen Raumes gelangweilt auf einem verschlissenen roten Diwan räkelten. Er besaß genug Fantasie, um unter der züchtigen Bedeckung durch die weißseidene Pashtun-Hose die verheißungsvollsten Wölbungen und entzückendsten Härchen der hohniggelben Unterschenkel zu erahnen. Der blaue Blick blieb nicht unerwidert, denn der Oberst war ein schöner Mann. Doch er fasste sich schnell und richtete seinen Blick auf da Azamar.
   „Nehmen wir einmal an“, erwiderte er, „Russland, der Iran und die Türkei sind sich einig und gehen entschlossen gegen die Terroristen vor. Gleichzeitig bietet man den gemäßigten Rebellen, wenn sie ihre Waffen niederlegen, Straffreiheit an. Dann könnte die Offensive erfolgreich sein. Gut, gut, ich weiß! Dann wäre eine Schlacht gewonnen, aber nicht der Krieg! Der Kampf gegen den internationalen Terrorismus ginge weiter! Sie wissen so gut wie ich, Sir, dass im Ausland zig-tausende Schläfer auf ihren Einsatz warten.“
   „Am meisten Sorgen bereiten mir die drei Millionen Zivilisten, die dort in der Falle sitzen“ sagte da Azamar bedrückt. „Sollte es wirklich zu den Angriffen kommen, wird es ein entsetzliches Blutbad geben, wie wir es in diesem Bürgerkrieg noch nicht gesehen haben.“
   „Was wollen Sie machen, Sir?“ Der Oberst zuckte mit den Schultern. „Wenn man den Zivilisten Fluchtwege öffnet, setzen sich auch die Kämpfer ab, und die ganze Misere fängt wieder von vorne an und nimmt kein Ende. In einem Krieg ist Gutmütigkeit einer der schlimmsten Fehler, sagt Clausewitz.“
   „Und Sie sind der gleichen Ansicht?“
   „Ja.“
   „Von Verhandlungen halten Sie wohl nicht viel, Colonel?“
   „Mein Gott, Verhandlungen...“ Der Oberst machte ein Geräusch wie eine Gans, der man den Hals umdreht. „Immer, wenn verhandelt wurde, hat die Gegenseite die Atempause genutzt, um neue Kräfte zu sammeln! Nein, ich halte nichts von Verhandlungen, nicht mit diesen Leuten! Das Einzige, was diese Terroristen zur Aufgabe bewegen kann, ist die konsequente Anwendung militärischer Überlegenheit, ich sage nicht: Gewalt. Außerdem – die Dschihadisten-Allianz Hai` at Tarrh asch Sham, die in Ildib mit schätzungsweise sechzigtausend Kämpfern im Einsatz ist, hat bisher noch jedes Verhandlungsangebot abgelehnt.“
   „Sie lehnen Verhandlungen ab und nehmen Tausende von toten Zivilisten in Kauf. Sind Sie ein Zyniker?“
   Der Oberst schüttelte den Kopf. „Ich denke, nein. Aber ich bin Soldat und kein Moralist! Meine Aufgabe ist es, Kampfhandlungen zu beenden, um größeres Unheil zu verhüten. Und, sir, ich habe diesen Krieg nicht gewollt! Er ist auf dem Mist einer verfehlten Nahost-Politik des Westens gewachsen.“
   Staffan da Azamar sah Weizenkorn unter gesenkten Lidern an. Er gestand sich ein, dass er ihn nicht mochte, diesen Oberst. Das lag allerdings nur zum Teil an der instinktiven Ablehnung des Südländers und Briten gegenüber allem Blauäugig-Teutonischen. Da Azamar war die Frucht einer 'interkontinentalen' Liebesbeziehung. Sein Vater war damals in Amman, bevor er zur Armee ging, Sekretär in der britischen Botschaft gewesen, seine Mutter eine englische Dolmetscherin, die dort arbeitete.
   Als Vorgesetzter, fand er, hielt sich der Oberst tadellos – vielleicht etwas zu sehr auf Etikette bedacht. Aber das waren Litzenträger der Army of Her Majesty oder der US Army  auch, wenn nicht noch mehr.  Er sah ihn wieder vor sich, wie er heute morgen, trotz der frühen Stunde energiegeladen wie eine Haubitze kurz nach dem Schuss, den Befehl  zum Abmarsch erteilte. Nein, das war es nicht. Es war unter anderem die Tatsache, dass der Oberst ein scharfer Hund war. Und scharfe Hunde mochte der Sonderermittler nicht. Dazu hatte er sich unter zu vielen scharfen Hunden hocharbeiten müssen. Noch schwerer wog: Neulich war ihm zu Ohren gekommen, dass der Oberst einen verunglückten Tankwagen bombardieren ließ, nur um zu verhindern, dass der Treibstoff in die Hände von Terroristen fiel – obwohl man ihm rechtzeitig meldete, dass sich inzwischen mehr als ein Dutzend Zivilisten an dem Tankwagen zu schaffen machten. Das Resultat: Sieben Tote und vierzehn Verletzte.
    Und da waren noch andere Vorkommnisse aus dem Umfeld des Oberst, die er, da Azamar, einfach nicht glauben konnte. Nach dem Grundsatz: In dubio pro reo – im Zweifel für den Angeklagten – hielt er sie zunächst noch für Gerüchte an der Schwelle zur Verleumdung. Nun ja, es wird sich zeigen, dachte er. Fürs erste bemühte er sich, seine Abneigung nicht allzu deutlich werden zu lassen.

   Der Sonderermittler hielt sich genervt die Ohren zu. „Bitte, sir, können Sie diese entsetzliche Musik nicht etwas leiser stellen lassen?“, rief er mit gebrechlicher Stimme in den Lärm hinein. „Man versteht ja sein eigenes Wort nicht mehr!“
   Weizenkorn gab dem Jungen an der Theke ein entsprechendes Zeichen.
   „Sie reden immer von Krieg“, sagte da Azamar sichtlich erleichtert. „Ihre eigene  Verteidigungsministerin hingegen spricht nie von Krieg, nicht einmal von Bürgerkrieg. Sie spricht von Auslandseinsatz, Kampfauftrag, Mandat, von der Verteidigung der demokratischen Grundwerte, von Offensiven. Auch in euren Medien scheint das Wort Krieg mit einem Tabu belegt zu sein.“
   „Da haben Sie wohl recht!“ Der Oberst lachte trocken. „Die Eskimos haben angeblich zweiundzwanzig verschiedene Wörter für Schnee. Ich warte auf den Tag, wo in Deutschland die zweiundzwanzigste Umschreibung für Krieg auftaucht!“
   Doch der schwache Scherz kam nicht so recht an. „Das glaube ich Ihnen gerne! Wer will schon in Deutschland das Wort Krieg hören, wenn schon wieder deutsche Soldaten in ihn verwickelt sind“, versetzte da Azamar ziemlich aggressiv. „Bei eurer Vergangenheit nur zu verständlich! Da klingt 'Mandat' oder auch 'robustes Mandat' doch fast schon gemütlich. Aber immerhin, wenigstens Ihre Dienstherrin scheint überzeugt zu sein, dass der Westen den Kampf gegen den Terrorismus noch gewinnen kann.“
   „Frau van der Layen?“  
 Weizenkorn schüttelte den Kopf. „Bei allem Respekt, den ich dieser Dame entgegenbringe, das ist reines Wunschdenken! Weder die Taleban, noch die al-Kaida-Front noch die Terrormiliz IS können besiegt werden, das weiß sie so gut wie Sie und ich. Irgendwie müssen die Politiker doch die ungeheuren Summen rechtfertigen, die der Krieg bisher verschlungen hat. Aber seien wir doch mal ehrlich: Der riesige Überschuss an unbeschäftigten jungen Männern im Maghreb und anderswo sorgt dafür, dass den Terrororganisationen zumindest die Quelle an menschlichem Material, um es mal zynisch auszudrücken, nie versiegen wird. Allein in Schwarzafrika rechnet man für das Jahr Zwanzigfünfzig mit zweihundert Millionen zukunftslosen jungen Männern. Da nützen auch noch so gut gemeinte Selbsthilfeprojekte nichts! Die Zeit läuft uns davon! Und Waffen gibt es auf der Welt wie Sand am Meer.“
   „Sie entwerfen ein ziemlich düsteres Bild, Colonel! Das reinste Horrorgemälde!“
   „Bisher hat die Welt bewiesen, dass der Horror von heute die Realität von morgen ist. Es hat keinen Zweck, sich etwas vorzumachen. Noch letzte Woche sprach ich mit dem deutschen Militärattache´ in Kabul. Er versicherte mir, der IS habe trotz aller Niederlagen im Irak und in Teilen Syriens immer noch bis zu Dreißigtausend Kämpfer in Warteposition. Sie seien nahezu gleichmäßig auf die Nachbarstaaten verteilt und könnten von dort aus jederzeit nachrücken. Er ist überzeugt, dass diese Milizen in absehbarer Zeit nicht vollständig eliminiert werden können. Er sprach von 'harten Kernen', die im Irak und in Syrien überdauern werden.“
   „Hmm... Apropos... Wie sieht es eigentlich mit dem SaI aus? Haben Sie da schon irgendwelche Fortschritte erziehlt?“
    Der Oberst biss sich auf die Lippen. „Leider nein, Sir.“
   „Wie? Wollen Sie damit sagen, Sie bekämen einen zusammengewürfelten Haufen schlecht ausgebildeter Kämpfer nicht in den Griff? Wir schätzen ihre Anzahl auf höchstens hundert, hundertfünfzig Kämpfer. Weiß Gott keine quantite´ negligeabel, aber immerhin auch keine Armee.“
    Der Oberst seufzte ergeben. „Da haben Sie einen wunden Punkt erwischt, sir! Wir bekommen sie einfach nicht zu fassen!“
   „Sie scheinen keinen tüchtigen Geheimdienst zu haben, Oberst.“
  Weizenkorn tat, als habe er diese Schelte nicht gehört und dachte: Sesselfurzer! Keine Ahnung, aber dicke Lippe. Er sagte: „Daran liegt es nicht.“
   „Woran liegt es dann?“
   Weizenkorn beschloss, kein Blatt mehr vor den Munde zu nehmen. Soll er doch in Brüssel brühwarm berichten, ich sei ein notorischer Querulant, Nestbeschmutzer, Augenaushacker oder sonst wer. Er sagte: „Wie gewöhnlich wollen die Amerikaner den Ton angeben, nach dem Motto: Wer die Musik bezahlt, bestimmt auch, was gespielt wird. Obwohl der neue amerikanische Präsident vollmundig aller Welt verkündet, jetzt sollten mal Andere blechen – er meint damit hauptsächlich die Deutschen –, führen sich seine Soldaten hier auf, als  hätten sie bereits für Jahre im voraus bezahlt. Dabei weiß doch jeder verlauste Gassenjunge im Bazar von Ghazani, dass die alliierten Truppen ohne die deutschen Aufklärungsdrohnen – die übrigens von Israel für einen Haufen Geld des deutschen Steuerzahlers nur angemietet sind – so gut wie blind sind.“
   „Nun übertreiben Sie mal nicht!“
    „Ich übertreibe nicht. Schließlich rede ich mit den Leuten hier. Und das schmieren natürlich die Deutschen den Amerikanern als Retourkutsche immer wieder auf´s Brot.
Dann die national-neurotischen Franzosen, die sich von niemandem etwas sagen lassen. Und von den Engländern ganz zu schweigen. Wenn die nur das Wort Deutschland hören, schwillt denen doch schon der Kamm!“
  Weizenkorn hatte sich in Eifer geredet, und der UN-Sonderermittler war bei diesen Worten immer steifer geworden. Noch nie hatte jemand gewagt, in seiner Anwesenheit ein derart garstig Lied zu singen. Weizenkorn sah seine Bestürzung, und setzte noch eins oben drauf, denn er war gerade in Geberlaune.
 „Mit Verlaub, Sir, im Grund ist diese Führungsriege hier nichts anderes als ein Haufen eitler, selbstverliebter Egozentriker! Unter diesen Bedingungen ist es schwer, Erfolge zu erbringen, Sir.“
  Weizenkorn schwieg. Für eine Minute breitete sich betretene Stille aus. Schließlich sagte der Sonderermittler sichtlich verschnupft: „Das sind schwerwiegende Behauptungen, die Sie da gerade vorgebracht haben, Colonel. Ich werde dem nachgehen. Trotzdem verstehe ich nicht, warum der SaI noch nicht eliminiert ist. Ich meine, auch fünfhundert schlecht ausgerüstete Kämpfer müssten doch von zweitausend alliierten Soldaten in den Griff zu bekommen sein, auch wenn die Führungsriege Ihrer Meinung nach Schwächen zeigt!“
   Der Oberst runzelte die Stirn und dachte: Sollte der eitle Fatzke die Beleidigung einfach so geschluckt haben? Kaum zu glauben! Er sagte: „Müssten, Sir, müssten! Sie kennen anscheinend die Gegend hier nicht. Das sind tausend Quadratkilometer Marsoberfläche, übersät mit spitzen Steinen und Felsbrocken aller Größenordnungen. Mit bereiften Spähwagen kommen Sie außerhalb der Fahrwege nicht weit. Ich vermute, dass sogar Kettenfahrzeuge wenig nützen würden, wenn wir denn welche hätten.“
   „Was heißt das?“
   „Das heißt: Wenn das Gerät aus Europa und den USA nicht so schleppend geliefert würde und die Logistics and Resources Division in Brüssel endlich begreifen würde, was sich hier abspielt!“
   „Und dann?“
   „Dann wäre diese Gegend schon lange rebellenfrei, darauf können Sie Gift nehmen, sir! Aber wenn das Gerät endlich da ist, das Material, dann ist es häufig nur bedingt einsatzfähig. Die gelieferten G36-Gewehre der Bundeswehr schießen um die Ecke, die Hubschrauber kommen vorne und hinten nicht hoch, die Drohnen fallen vom Himmel – überspitzt formuliert.“
   „Fake – Quatsch! Reden Sie keinen Unsinn, Mann!“
   „Verzeihung, Sir!
   „Ist das Gelände vermint?“
   „Bisher haben wir noch keine Minen gefunden. Nun ja, die Terroristen werden auch nicht so dumm sein und ihr eigenes Operationsgebiet verminen.“
   „Aber dann muss doch das Hauptquartier dieser SaI-Terroristen hier irgendwo in der Nähe sein! Sie können doch nicht aus der Luft heraus operieren!“   
  „Aus der Luft ist gut! Wenn sie es nur täten! Dann hätten wir sie ja schon längst unschädlich gemacht!“
  Der Oberst bot alle Kraft auf, um nicht über die grandiose Naivität und Unkenntnis des Sonderermittlers zu grinsen. „Vermutlich befindet sich ihr Lager in einem unterirdischen Höhlensystem irgendwo im Kohn i Babd, einem hundert Kilometer langen und fünfunddreißig Kilometer breiten Karstgebirgszug, fünfundzwanzig Kilometer westlich von hier. Trotz intensiver Drohnenaufklärung haben wir immer noch nicht ihre versteckten Einstiegslöscher finden können. Es ist wie verhext: Wenn uns ein Trupp Kämpfer gemeldet wird, ist er schon wieder verschwunden, bevor wir uns in Bewegung setzen konnten. Weiß der Teufel, wie sie das anstellen. Auf jeden Fall lasse ich ab morgen früh auf alles schießen, was sich im Gebirgsvorland bewegt.“
  Diese Ankündigung klang aus dem Munde dieses schönen Mannes besonders brutal, und da Azamar schüttelte ungehalten den Kopf.
  Der General winkte einen der Boys heran, die im Hintergrund warteten, und bestellte stark gezuckerten schwarzen Tee sowie passend dazu einige Scheibchen Shirpana, das süße Brot dieser Gegend.
  „Möchten Sahibs auch Pfeifen?“, fragte der Junge in undeutlichem Englisch, aber mit ernster Höflichkeit.
   Da Azamar winkte ab, und auch der Oberst schüttelte den Kopf. „Kann ich ein deutsches Bier haben?“, fragte er.
   Der Boy blickte verlegen vor sich hin. „Leider nur warm. Kühlschrank ist kaputt.“
   „Dann bring´ mir einem Whiskey mit viel Soda!“ Der Oberst wandte sich wieder seinem Gast zu.
   „Sie rauchen nicht?“, fragte der.
  „Nein, nicht mehr. Für einen Offizier der Internationalen Allianz schickt es sich nicht. Ich weiß, viele Offiziere der hiesigen Armee können ohne ihr tägliches Quantum nicht mehr leben. Das ist wahrscheinlich einer der Hauptgründe für den desolaten Zustand der Sicherheitskräfte in muslimischen Ländern. Von den gesundheitlichen Folgen mal ganz abgesehen.“
   „Und Sie, wenn ich fragen darf?“
   „Auch nicht. Sagt Ihnen der Name Tschabatarsi etwas?“
   „Tschabatarsi,  Tschabatarsi...“ Der Oberst tat so, als denke er angestrengt nach. „Warten Sie... Irgendwie kommt mir der Name bekannt vor... Nein, im Moment sagt er mir nichts.“
 „Dieser Tschabatarsi war vor Jahren hier so etwas wie ein Staatssekretär im Sicherheitsministerium. Er hatte die besten Aussichten, Minister zu werden. Doch leider ließ er das Rauchen nicht sein. Mittlerweile raucht er hundertfünfzig Pfeifen am Tag und hat nicht nur eine Lunge, sondern auch das Gedächtnis verloren. Körperlich ist er schon lange ein Wrack. Sie müssen zweimal hinsehen, um ihn zu erkennen, so dünn ist er geworden. Nein, da danke ich schön.“
   „Bedauerlich!“, sagte der Oberst. Er blickte geistesabwesend auf die Stirnseite des langgestreckten Saales. An der Wand hingen ein ziemlich vorteilhaftes Foto des Staatspräsidenten sowie eine grobe Darstellung der heiligen Kaaba von Mekka. Worauf will er hinaus, dachte er.
   Der Boy stellte die Getränke und die Süßigkeit auf den Tisch.  Azamar trank einen Schluck, spie aus und goss den Inhalt der Tasse auf den Teppichbden. „Beim Teufel!“, fuhr er den Boy an, „du hast den Verstand einer Ameise! Wenn ich nicht rauche, dann trinke ich auch nicht, verstanden!“
   „Verzeih, Sahib!“, stotterte der Junge. „Ich besorge sofort Tee aus einer anderen Kanne!“
  Der Oberst nippte an seinem Whiskey. „Sie werden lachen, Sir“, sagte er launig, „das ist erst der dritte Whiskey, seit ich in diesem verfluchten Land bin!“
  Dem Sonderermittler war nicht nach Lachen zumute. Dieser polternde und ziemlich arrogante deutsche Oberst ging ihm allmählich auf die Nerven. Hinzu kam noch: Diese betörende Blauäugigkeit in dem sehr männlich geschnittenen Gesicht des  Mannes ihm gegenüber wirkte auf ihn besonders aufreizend. Da Azamar gehörte zu dem Typ weniger gut aussehender Männer, die auf gut aussehenden Männer sofort mit Ablehnung reagieren.
 Weizenkorn blickte durch das schmutzige Fenster, in dem sich die Umrisse der halb zerschossenen Freitagsmoschee abzeichneten. Der eine Teil ihrer Mauern war noch fast blütenweiß, der andere rußgeschwärzt. Diese Ruine, dachte er bekümmert, könnte ein Symbol für das Schicksal dieses armen Landes sein.
   Der Sonderermittler nahm ein Stück von dem süßen Kuchen. Bevor er es in den Mund steckte, fragte er: „Sagen Sie, Oberst, ist Ihnen etwas über Giftgaseinsätze seitens der Regierungstruppen im Grenzgebiet zu Syrien bekannt?“ Er war Leiter der hiesigen Observergruppe, die der UN regelmäßig Bericht über die militärische Lage im Lande erstattete. Er konnte unangenehme Fragen stellen, aber er war ein General ohne Befehlsgewalt. Und das ließ ihn der Oberst reichlich spüren.
   „Gottseidank noch nicht! Aber was nicht ist, kann ja noch werden!“
   „Nun malen Sie mal nicht den Teufel an die Wand! Wir sind hier nicht in Syrien!“
   „Wo Sie gerade Syrien ansprechen...“ Der Oberst trank einen Schluck, bevor er weitersprach. „Wissen Sie, Sir, ich verstehe die ganze Aufregung nicht, die jetzt um die angeblichen Giftgaseinsätze in Syrien gemacht wird! Das ist doch von Grund auf verlogen! Verstehen Sie mich bitte nicht falsch. Ich stehe voll und ganz hinter der Haager Giftgaskonvention, aber –“
   „Worauf wollen Sie hinaus?“ Die Stimme des Generals konnte sich kaum gegen den drittklassigen amerikanischen Jazz, der jetzt wieder lauter aus den Lautsprechern quoll, durchsetzen.
   „Ich will auf folgendes hinaus: Plötzlich ist die Öffentlichkeit entsetzt, und Obama redet von einer roten Linie, die überschritten wurde – aber als am Schatt el-Arab Hunderttausende iranischer junger Männer in den Giftgaswolken der irakischen Armee erstickten, hat die Welt zugeschaut, und niemand hat sich aufgeregt, und keine Regierung der 'freien Welt' hat auch nur den leisesten Vorwurf erhoben! Es war eben kein russisches oder syrisches, sondern amerikanisches Gas.“ Der Oberst lachte sardonisch. „Machen wir uns doch nichts vor! Die amerikanische Außenpolitik, die den Nahen Osten betrifft, wird nicht von Washington, sondern von Tel Aviv bestimmt  und ist genau so verlogen! Nehmen Sie zum Beispiel den Atomstreit mit dem Iran. Wer hat denn schon mehrfach mit atomarer Vergeltung gedroht? Der Iran war´s jedenfalls nicht!“
   Der General seufzte. „Sie haben Recht! Die Verhältnisse sind nicht so einfach, wie es sich in mancher Stammkneipe anhört.“
   Der Boy stellte eine Tasse lauwarmen Tee ohne Opium auf den Tisch. Da Azamar kostete und nickte.
   „Außerdem“, setzte der Oberst seinen Monolog unverdrossen fort, „ist Iran eines der wenigen Länder in der Region, das noch keine einsatzfähige Bombe besitzt. Sogar das bitterarme Pakistan hat eine, und Teheran verbietet man sie! Es ist schwer zu glauben, dass dergleichen Schwachsinn auf die Dauer gutgeht! Ich meine –“
   „Glauben Sie überhaupt etwas?“, unterbrach ihn der General unhöflich. Seine Abneigung dem Oberst gegenüber war jetzt deutlich zu spüren.
   „Darauf muss ich nicht antworten“, versetzte der Oberst  schmallippig.
   „Natürlich nicht! Aber mich würde es trotzdem interessieren.“
  „Na schön, aber nur, weil Sie es sind.“ Weizenkorn blickte den Sonderermittler mit zusammengekniffenen Augen argwöhnisch an. „Ich glaube beispielsweise, dass die Maschinenpistolen der beiden Wachtposten draußen vor der Tür geladen sind, oder dass mich meine Frau immer noch liebt.“
   „An Gott glauben Sie nicht?“
   „Warum sollte ich?  Ich habe keine Veranlassung dazu! Haben Sie eine?“
   „Natürlich! Ich bin gläubiger Moslem!“
   „Das ist kein Grund. Ein Grund zu glauben wäre zum Beispiel die Annahme einer allumfassenden Intelligenz. Aber dazu besteht bei der jetzigen Weltlage nun wirklich keine Veranlassung.“
   „Das ist doch nichts als Dschuhilya“, zischte der General wütend durch die Zähne, „heidnischer Schwachsinn!“
   Der Oberst spülte seinen Ärger mit dem Rest des Whiskeys herunter. „Streiten wir nicht über Glaubensfragen“, sagte er beherrscht. „Es gibt weiß Gott wichtigere Angelegenheiten, über die man streiten kann!“
   Der General ließ nicht locker. „Wenn Sie schon keine Religion haben, haben Sie wenigstens eine Überzeugung?“
   „Was meinen Sie? Meinen Sie die Überzeugung, dass ich hier am Hindukusch die Demokratie verteidige?“
   „ Genau die meine ich.“
   Der Oberst lachte sardonisch. „Bleiben Sie mir mit diesem Unsinn vom Leib! Die Demokratie wird nicht am Hindukusch, sondern in deutschen, französischen, englischen Redaktionsbüros verteidigt!“ Er nahm sich etwas zurück. „Nun gut, ich behaupte nicht, dass es dem Westen im Nahen Osten nur um Ölvorräte und diverse Bodenschätze geht. Die lassen sich in Afrika billiger beschaffen. Ich glaube auch nicht, dass sich die Amerikaner hier auf Dauer festsetzen wollen – der Albtraum der Russen. Seit dem Vietnamkrieg haben sie von solchen Experimenten die Nase voll. Ich behaupte aber, dass sich so etwas wie Demokratie hier überhaupt nicht durchsetzen lässt. Sie wissen so gut wie ich, General, dass in diesem Lande auch noch in Hundert Jahren die Clanchefs und Warlords der einzelnen Volksgruppen das Sagen haben werden, und nicht irgendwelche korrupten Volksvertreter in einer heillos zerstrittenen Zentralregierung. Außerdem gibt es hier so etwas wie Volk nicht, sondern die Umma, die Gemeinschaft der Gläubigen. Und für die Imame ist Demokratie ein Fremdwort. Hier sind Kräfte am Werk, gegen die der Westen machtlos ist.“  
   „Wenn Sie also nicht die Demokratie verteidigen, warum sind Sie dann hier?“
   Der Oberst dachte eine Weile nach. Schließlich sagte er: „Auf jeden Fall nicht, um hier irgendwelche westlichen Werte zu verteidigen. Für den Mann auf dem Donnerstagssouk in Shangoran oder Herat ist 'Westen' doch sowieso nur ein Synonym für Neokolonialismus, Ausbeutung und Pornografie, und wenn´s hoch kommt noch für Coca-Cola.“
   Das war natürlich Unsinn, und der Oberst wusste, dass es Unsinn war. Das deutsche Grundgesetz zum Beispiel wurde von vielen Staaten der so genannten Dritten Welt als Ideal betrachtet. Aber irgendwie ritt ihn jetzt der Teufel. Er wollte diesen arroganten Affen provozieren.
   „Reden Sie keinen Unsinn, Colonel!“, fuhr ihn da Azamar an. „Also, warum sind Sie hier?“  
   „Hmm... Wenn ich ehrlich bin: Manchmal weiß ich es selbst nicht mehr.“ Der Oberst blickte versonnen auf das rote Sofa, auf dem immer noch die braune Taifan lag. Erinnerungen an seine Zeit an der Theresianischen Militärakademie in Wien tauchten auf. Plötzlich hatte er das Gefühl, dass der Sonderermittler seinetwegen hier war und nicht wegen al-Kaida und co. „Sagen wir mal so: Vielleicht um zu verhindern, dass demnächst wieder eine Frau gesteinigt wird! So etwas ist eine gottserbärmliche Schweinerei!“
  Da Azamar zog die Stirn kraus. „Wissen Sie, Oberst, was mich an euch Ungläubigen so wundert? Dass ihr ständig das Wort Gott im Mund führt, obwohl ihr nicht an ihn glaubt.“
   „Wir führen Gott im Mund, und ihr Muslime pinselt ihn auf eure Waffen!“
  Da Azamar erhob sich brüsk. Seine Geduld war jetzt erschöpft. Die beiden Boys verdrückten sich ängstlich weiter in die Tiefe des Raumes. Auch der Oberst stand überrascht auf.
   „Herr Oberst Weizenkorn“, schnarrte da Azamar, und jetzt war seine Stimme keineswegs leise und gebrechlich, sondern fest und bestimmend, „wenn es stimmt, was man sich über Sie erzählt, bringe ich Sie vor´s Kriegsgericht!“
   „Was meinen Sie?“, stotterte Weizenkorn verdattert und richtete sich weiter auf. Diese Wendung kam zu überraschend. Er fühlte sich überrumpelt.
  „Sie sollen gefangene islamische Kämpfer gezwungen haben, nackt vor alliierten Truppen zu tanzen. Sogar Frauen sollen zugeschaut haben.“
   „Wer behauptet das? Das ist doch ausgemachter Unsinn!“, brauste der Oberst auf. Schweißperlen standen auf seiner Stirn. „Wer hat Ihnen denn diesen Quatsch erzählt!“
   „Weizenkorn, nehmen Sie gefälligst Haltung an!“, bellte der  Sonderermittler. Der Ex-General der jordanischen Armee hatte das Befehlen noch nicht verlernt.  
  „Ob meine Informationen Quatsch sind – (er sagte fakenews ) –, wird sich noch herausstellen! Was haben Sie dazu zu sagen, Colonel, Sir?“
   Der Oberst starrte hilflos auf den roten Diwan. Aber der war jetzt leer. Auch die Musik war plötzlich verstummt. „Können wir uns wieder setzten?“, fragte er schwach.
   Da Azamar machte eine entsprechende Handbewegung. „Bitte!“
   „Special investigator, Sir“, sagte der Oberst kleinlaut, „es gibt anscheinend Kräfte, die mich ausbooten wollen. Wo die sitzen, weiß ich noch nicht. Ich vermute mal im Berliner Verteidigungsministerium, wenn nicht sogar im Nato-Hauptquartier in Brüssel. Gewissen Leuten bin ich anscheinend zu unbequem. Da sie mir dienstlich keine Fehler nachweisen können, versuchen sie es mit Verleumdungen.“ Der Oberst hatte sich wieder gefasst. „Mal lasse ich nackte Kämpfer tanzen, mal bombardiere ich Moscheen während es Freitagsgebets, mal zwinge ich gefangene Kämpfer, mit Schweineblut beträufelte Hostien zu essen –“
   Da Azamar strich sich übers Kinn, das trotz scharfer Rasur immer noch grau-blau schimmerte. „Das mit dem Schweineblut ist mir neu“, sagte er verdutzt.
 „Und ausgemachter Schwachsinn, glauben Sie mir, Sir! Verzeihen Sie, aber Sie sind nur ein Durchreisender und kennen die hiesigen Verhältnisse nicht so gut wie ich. Als ich hier noch neu war, wunderte ich mich, wie wenig die Leute die religiösen Vorschriften beachten. Zumindest in der Oberschicht wird Schweinefleisch gegessen und reichlich Alkohol getrunken, wenn auch meist als Haarwasser getarnt. Schweinefleischverzehr ist hier kein Aufregerthema. Und was den Alkohol betrifft... Es gibt in Deutschland Firmen, die trinkbares Haarwasser speziell für den arabischen Markt herstellen, und die Nachfrage soll riesig sein.“
    Der Sonderermittler räusperte sich ungehalten.
 „Ich gebe zu“, beeilte sich Weizenkorn zu erklären, „dass einigen gefangenen Terroristen Schweinefleisch und Bier vorgesetzt wurde. Da hatten wohl einige meiner Leute etwas missverstanden!  Aber das mit den Hostien ist blanker Unsinn!“
   „Und die Nackttänze sind auch blanker Unsinn?“
   Weizenkorn biss sich auf die Lippen. In diesem Moment setzte die Musik wieder ein. Die ölige Stimme eines bekannten amerikanischen Schlagersängers waberte durch den Raum.
  „Leider nein!“ Er seufzte. „Glauben Sie mir, Sir, die Sache ist mir äußerst unangenehm! Es erleichtert mich auch nicht, dass es während meiner Abwesenheit geschah, und dass diese Schweinerei von einem heimischen Unteroffizier im Opiumrausch angeordnet wurde. Die Verantwortlichen wurden bereits zur Rechenschaft gezogen.“ Weizenkorn blickte den Ex-General blauäugig an. „Ich vermute, dass diese Vorfälle von einer ausländischen, uns feindlich gesonnenen Macht inszeniert wurden, um mich und damit die alliierten Streitkräfte zu desavouieren. Schließlich befinden wir uns im Krieg, und Lügen sind ein Mittel der Kriegsführung. Vermutlich werde ich demnächst aus der Presse erfahren, dass ich homosexuell bin.“ Er lachte gequält. „Damit wäre meine Karriere als Soldat ein für alle Mal beendet.“
  Da Azamar sah ein, dass ihm der Deutsche fürs erste entwischt war. Er stand auf und warf achtlos ein paar Dollar auf den Tisch. „Na schön“, sagte er, „für diesmal nehme ich Ihre Erklärungen an, Oberst. Trotzdem habe ich den Eindruck, dass Sie Ihre Truppe nicht im Griff haben! Ich werde mir weiterhin Bericht erstatten lassen.“ Er verbeugte sich kurz, machte zackig kehrt und verließ den Raum.
   Weizenkorn stand eine Weile unbeweglich da und starrte vor sich hin. Es ist wirklich so, dachte er verbittert, die größten Feinde der Elche sind selber welche... Er grinste verschmitzt. Aber es hätte schlimmer kommen können. Von dem Maulwurf weiß er offensichtlich nichts. Gut so. Ist auch so schon unangenehm genug. Wenn ich nur wüsste...
   Er setzte sich und trommelte eine Weile unschlüssig mit den Fingerspitzen auf den Tisch. Hm, vielleicht weiß Taifan ja was!
   Mit einem Ruck stand er auf und ging mit schlaksigen Beinen zur Tür neben dem roten Diwan. Nach kurzem Zögern trat er ohne anzuklopfen ein. „Taifan, mein Schatz!“ rief er fröhlich, „jetzt habe ich alle Zeit der Welt für dich!“

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nicolailevin
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Beitrag31.01.2019 18:29
Re: Fortsetzung
von nicolailevin
Antworten mit Zitat

Ich bin nur bis Ende Kap 3 gekommen.

Genereller Störpunkt: Ich nehme dem Helden das Verlieben nicht ab. Er sieht sie einmal, sie fährt mit, du hast sie uns nicht als Besonders geschildert, und dann macht's auf einmal Bumm! Da musst du den Leser schon innerlich vorbereiten - und vielleicht dem Moment des ersten bedeutungsvollen Zusammentreffens mehr Schmackes geben ("Meet You" nennen das die Rom-Com-Autoren, hab ich gelernt).

Ich finde es auch ungeschickt platziert, dass ihn der Blitz trifft und gleich drauf sein moralisch fragwürdiges Verlangen nach sehr jungen Mädchen diskutiert wurde und seine generelle sexuelle Offenheit. Wenn du ihn als "richtig" verliebt zeigen willst, sollte er das aus einer Position von Reinheit tun, damit auch wir prüderen Heteros ihn mögen und mit ihm mitfühlen. Das kannst du dann hinterher gern dekonstruieren ...

Die Schilderung der schwulen Jungs wirkt auf mich (der ich die arabische Welt ein bisschen, aber nicht gut kenne) total unglaubwürdig. Homosexualität ist überall, wo ich in der arabischen / islamischen Welt unterwegs war, ein totales Tabu und geht überhaupt nicht. Was du schilderst, klingt für mich nach den Rotlichtbezirken von Manila oder Bangkok, aber niemals nach Afghanistan.

wunderkerze hat Folgendes geschrieben:

  Seine Frau Marjam hüpfte bei jedem Stoß wie ein schwimmender Korken auf und ab.


Das zum Beispiel geht gar nicht. Niemand wird nachvollziehen, wie man sich in einen Schwimmkorken verlieben kann. Du musst sie positiver schildern, wenn wir dem Helden das Begehren abnehmen sollen.

Zitat:

   "Deine Frau gestern... in einem Raum mit fremden Männern... Hmm... Widerspricht das nicht den Vorschriften des Islam?"
    Der Pashtune ließ die Gebetskette sinken. "Welchen Islam meinst du? Den wahren oder den der Mullahs? Im Koran jedenfalls steht nichts dergleichen! Außerdem ist es meine Sache!"


Da hätte doch der Wirt auch noch ein Wörtchen mitzureden, wer mit wem im Zimmer liegen darf ...

Zitat:
ging jetzt großartig das Tagesgestirn auf, und Weber angelte nach seiner Sonnenbrille.


Für mich eine Stilblüte Tagesgestirn ist zu lyrisch und beißt sich mit dem angeln.

Zitat:

 Mit seiner inneren Ruhe war es vorbei. Eben hatte ihn die junge Frau für einen Moment angeblickt. Der Moment war nur kurz gewesen, doch mit elektrisierenden Wirkung. Er reichte schon, um sein Herz höher schlagen zu lassen. Schönberg dachte an verflossene Liebesabenteuer und seufzte.


Das reicht emotional für einen müden Flirt, aber nie für echte Liebe! Hier darfst du mal ausnahmsweise dicker auftragen!
 
Zitat:
„Interessiert dich das Dämchen, he?“, fragte Weber auf Deutsch.
  Weber kannte seinen Weggefährten, wie er diese Straße kannte, die er schon hundert Mal gefahren war, und die doch immer wieder voller Überraschungen war.


Und hier machst du die Liebesszene viel zu schnell und viel zu heftig kaputt. Auch wenn du (das weiß ich ja noch nicht) die Gegenposition einnehmen solltest, darfst du die Liebe nicht so niedrig hängen - und bei Gegenposition fände ich es eigenartig, wenn du aus Schönbergs Perspektive schreibst, aber auf Webers Seite bist ...

Zitat:
Wie der Landrover von einer Seite auf die andere schwankte, so neigten sich Schönbergs erotische Begehrlichkeiten mal zur hetero-, mal zur homosexuellen Seite, je nachdem, was gerade zu Gebote stand.


Da wär ich mal poetischer, "mal zum einen mal zum anderen Ufer" oder "mal zu Männern, mal zu Frauen". So klingt das so schrecklich technisch!

Zitat:

Das Angebot war riesig, und die Altersgrenze lag bei sechzehn ...


Wie gesagt, dieser Absatz passt einfach nicht nach Afghanistan! In der arabischen Kultur werden Frauen eifersüchtigst bewacht, die Jungfräulichkeit ist heilig, und Prostituierte sind Randexistenzen. Wenn Kindesmissbrauch stattfindet, dann nur in der engeren Familie, und das ist ein Thema, das total totgeschwiegen wird.

Zitat:

An abgelegenen Plätzen in Shangoran waren ihm Gruppen junger Männer aufgefallen, die sich nicht nur nach orientalischer Art bei der Hand hielten, sondern die sich ganz offen liebkosten ...


Nie. Mals.

Zitat:

   Ein mit schwer bewaffneten alliierten Soldaten beladener Armeelaster kam ihnen entgegen.


Warum so allgemein? Wer sich im Land auskennt, wird sofort sagen können, zu welcher Armee konkret das Auto gehört ...

Zitat:
Seine ungeheure Staubfahne hing wie ein gelber Vorhang in der Luft. ...
   Auf der Ladefläche des Fünftonners brach gutmütiges Gejohle aus.


Ein Fünftonner? Das ist ein besserer Pickup. Der macht doch keine "ungeheure" Staubfahne und bietet nur Platz für eine Handvoll Passagiere ...

Zitat:
Einige Soldaten hatten die junge Frau im Landrover entdeckt und warfen ihr Handküsse zu.


Jede Armee schult ihre Soldaten vor Auslandseinsätzen. Und für Afghanistan lernen sie, dass sie auf keinen Fall mit einheimischen Frauen poussieren dürfen!

 
Zitat:
Rufe auf Englisch und Arabisch ertönten


Wer redet denn auf einmal in Afghanistan arabisch?

Zitat:

   „Na, da haben wir mal wieder Glück gehabt“, sagte Weber und gab Gas. Anscheinend hatte er gar nicht zugehört. „Der Pass ist also frei.“
   „Da wäre ich nicht so sicher, mein Bruder!“ Es war die Stimme Hussein al-Dorhanis, des Pashtunen. „Siehst du das Bussardpärchen dort?“


Weber und Schönberg reden deutsch miteinander. Und schon wieder versteht der Pashtune sie, und keiner bemerkt's!

Zitat:

  „Versteh ich nicht... Versteh ich ums Verrecken nicht! Warum hat er dich nicht einfach gefragt: Könnt ihr uns mitnehmen?“
   „Weil es hier nicht üblich ist, einen Wunsch unumwunden zu äußern.


Hölzern. Rauslassen. Infodump.

Zitat:
Er schätzte sie auf noch nicht einmal achtzehn, doch welche Würde in der Haltung, welcher Stolz im Blick! Und diese Augen von der Farbe polierten Bernsteins! Wieder sah er die Augen vor sich, und ein erwartungsvoller Schauer lief seinen Rücken herunter.


So ewas in der Art muss kommen, wenn wir erfahren, dass er sich verliebt ! Nicht erst jetzt.

Zitat:
Die Piste stammte noch aus der Zeit, da Lasten in Eselskarren oder Pferdegespannen transportiert wurden. Sie nahm deshalb keinerlei Rücksicht auf die begrenzte Steigungsfähigkeit eines schwer beladenen PKWs.


Ich denke, Landrover? Wo ein Pferdegespann hinauf kommt, kommt ein Landrover spielend auch hinauf! Der ist für so was gebaut.

Zitat:

   Schönberg dachte wieder an die junge Frau in dem Dorf gestern, an ihre großen Augen und die im Lachen entblößte Reihe weißer Zähne. Wie alt mochte sie sein?


Wie jetzt? Ich denke, er steht auf die Kleine vom Rücksitz? Wenn das ein notgeiler Dackel sein sollte, der sich auf alles Junge stürzt, was nicht bei Drei aufm Baum ist: Dann hatte er am Vortag hundert Gelegenheiten an der Straße, mehr oder weniger attraktive Frauen zu erspähen Jetzt kommt es unglaubwürdig.
 
Zitat:
Plötzlich sprangen drei vermummte Gestalten auf die Straße und richteten ihre Karabiner auf die Autoreifen.


Nö, ich glaube, das geht nicht. Wenn du drei oder vier Meter vor einem Landrover stehst, kannst du rein winkelmäßig die Reifen nicht treffen. Erst recht nicht auf einer abschüssigen Straße, wo du tiefer stehst als das Auto.
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wunderkerze
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Beitrag31.01.2019 18:53
Antwort
von wunderkerze
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hallo nicolailevin
das mit den schwulen Jungs steht bei Scholl-Latour. Und der muss es ja wissen.

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nicolailevin
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Beitrag31.01.2019 20:01

von nicolailevin
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Von wann ist denn der Scholl-Latour-Bericht? In Zeiten des IS? Aber es ist auch egal, es erscheint mir unstimmig, selbst wenn es so was gäbe, ich würde dir raten, es zu lassen, wenn du's nicht zwingend für den Plot brauchst.
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nicolailevin
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Beitrag01.02.2019 12:47
Re: Fortsetzung
von nicolailevin
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Nu also noch 4.

Generell viel zu viel Infodump. Eigentlich nur Infodump, in der Geschichte passiert gar nichts, nur dass die beiden Offiziere rumsitzen und sehr lang und sehr breit ihre Auffassungen über den Krieg, die Weltlage im Allgemeinen und die Afghanistanpolitik seit Anno Tobak austauschen.

Problematisch fand ich auch, dass mit jedem Redeanteil die Perspektive wechselt, immer in die des Sprechenden. Bisschen viel, bisschen oft.

Und: Mag sein, dass Scholl-Latour das wieder anders sieht, aber ich als hohes Armeetier würde micht nicht einfach so in den Puff begeben - und erst recht nicht in Uniform.

wunderkerze hat Folgendes geschrieben:
Die United States Military Academy in West Point, New York, hatte ihn geformt wie der Hammer des Schmieds ein Stück Eisen.


Das impliziert für mich, dass die Formung gegen seinen Willen geschah, immer feste druff. Und die Aussagen weiter hinten beißen sich oft mit dem, was ich von einem typischen US-Offizier erwarten würde, den du uns hier präsentierst.

Zitat:

   Das krawattenlose Hemd war elegant geschneidert, und seine perfekt sitzende Uniform bot einen erfreulichen Anblick inmitten von so viel militärischer Verwahrlosung.


Die UN haben m.W. keine eigenen Uniformen. Die UN-Beauftragten tragen die Uniformen ihrer Herkunftsländer. Welche Uniform trägt er den nu? Die britische? Die jordanische? Die amerikanische? Und: Welche Uniform kann man zu einem zivilen Maßhemd tragen? Ist das so eine anzugartige Galajacke? Das ist irgendwie nicht rund.

Zitat:
Neben seiner starken Persönlichkeit wirkte der deutsche Oberst, der ihm gegenüber Platz nahm, fast unscheinbar, obwohl er erheblich größer war.


Bis jetzt wissen wir nur, dass er fesch aussieht. Woran machst du die starke Persönlichkeit fest?

Zitat:

   „Was meinen Sie, Colonel“, fragte da Azamar den Oberst in vorzüglichem Englisch


An so einem halben Satz erkennst du, dass sein Englisch vorzüglich ist? Respekt! Ich würde hier eher auf den Akzent abzielen: redet er britisch, amerikanisch oder hört man, dass er woanders her kommt?

Zitat:
Er sprach mit leiser, aber eindringlicher Stimme, die im Lärm der Lautsprechermusik kaum zu hören war. Er wirkte deshalb etwas genervt.


Er spricht leise und das nervt ihn? Soll er doch lauter reden.
 
Zitat:

  „Wer weiß das?“, orakelte der Oberst.


Orakeln ist für mich was anderes.

Zitat:
Seine betörend blauen Augen


Wen betören die?

Zitat:
richteten sich auf die wohlgeformten Beine eines der beiden 'Mädchen des siebten Himmels', die sich in einer Seitennische des ungemütlichen Raumes gelangweilt auf einem verschlissenen roten Diwan räkelten. Er besaß genug Fantasie, um unter der züchtigen Bedeckung durch die weißseidene Pashtun-Hose die verheißungsvollsten Wölbungen und entzückendsten Härchen der hohniggelben Unterschenkel zu erahnen.


Für meinen Geschmack viel zu schwülstig, aber geschenkt. Wieso ist der Raum ungemütlich, Puffs versuchen in der Regel einladend und gemütlich zu wirken.

Zitat:

Der blaue Blick blieb nicht unerwidert, denn der Oberst war ein schöner Mann.


Ich denke, wir haben es hier mit Profis zu tun? Die schmachten jeden an ...

Und: Spätestens ab hier geht die Infozuschüttung los.

Zitat:
„Sollte es wirklich zu den Angriffen kommen, wird es ein entsetzliches Blutbad geben, wie wir es in diesem Bürgerkrieg noch nicht gesehen haben.“


Redet so ein erfahrener Offizier im Generalsrang? Blutbäder sind dessen täglich Brot; er mag sie ablehnen, würde für meine Begriffe aber - gerade einem Kollegen gegenüber - weniger emotional argumentieren, sondern eher so etwas sagen wie "da gehen die zivilen Verluste in die Tausende" (oder so ähnlich)

Zitat:
Der Oberst machte ein Geräusch wie eine Gans, der man den Hals umdreht.


Ich hab dieses Geräusch noch nie gehört und kann mir nichts darunter vorstellen.

Zitat:
die konsequente Anwendung militärischer Überlegenheit, ich sage nicht: Gewalt.


Solche Begriffs-Sophistereien interessieren doch Offiziere untereinander nicht. Das sind Argumente, die die Politiker benötigen, wenn sie Einsätze einer pazifistisch gesinnten Öffentlichkeit verkaufen müssen ...

Zitat:

Außerdem – die Dschihadisten-Allianz Hai` at Tarrh asch Sham, die in Ildib mit schätzungsweise sechzigtausend Kämpfern im Einsatz ist, hat bisher noch jedes Verhandlungsangebot abgelehnt.“


Diese Information dürfte beiden Gesprächspartnern bekannt sein. Hier wird es für den Leser sehr spürbar, dass das Gespräch nur dazu dient, ihn zu belehren.

Zitat:
Er gestand sich ein, dass er ihn nicht mochte, diesen Oberst. Das lag allerdings nur zum Teil an der instinktiven Ablehnung des Südländers und Briten gegenüber allem Blauäugig-Teutonischen.


Unplausibel für meine Begriffe. Briten mögen Vorurteile gegenüber Deutschen haben, Südländer mögen Vorurteile gegenüber Deutschen haben, aber die sind dann nicht deckungsgleich.

Zitat:

   Als Vorgesetzter, fand er, hielt sich der Oberst tadellos


Woher weiß er das? Er hat doch nicht unter dem Oberst gedient ...

Zitat:
trotz der frühen Stunde energiegeladen wie eine Haubitze kurz nach dem Schuss, den Befehl  zum Abmarsch erteilte.


Meinst du: vor dem Schuss?

Zitat:
Nach dem Grundsatz: In dubio pro reo – im Zweifel für den Angeklagten –


Entweder, der Held kennt den Spruch, dann braucht er ihn nicht übersetzen, oder er kennt ihn nicht, dann reicht die deutsche Fassung. Latein UND Deutsch ist wieder nur Nachhilfestunde für den ungebildeten Leser.

Zitat:
rief er mit gebrechlicher Stimme in den Lärm hinein.


Wieso jetzt gebrechlich? Ist er auch noch krank?

Zitat:

   „Sie reden immer von Krieg“, sagte da Azamar sichtlich erleichtert. „Ihre eigene  Verteidigungsministerin hingegen ...


Wieder: Ein Thema für Politik-PR-Leute, aber nichts, was nach meiner Erwartung die alten Haudegen umtreibt.

Zitat:

   „Frau van der Layen?“  


von der Leyen heißt die Dame.

Zitat:
Aber seien wir doch mal ehrlich: Der riesige Überschuss an unbeschäftigten jungen Männern im Maghreb und anderswo sorgt dafür, dass den Terrororganisationen zumindest die Quelle an menschlichem Material, um es mal zynisch auszudrücken, nie versiegen wird ...


Ab hier wieder nur noch Schwadronieren zur Belehrung des geneigten Lesers ... Wenn du's nicht für den Plot brauchst: Streichen!

Zitat:
Kämpfer. Weiß Gott keine quantite´ negligeabel, aber immerhin auch keine Armee.


Quantité négligeable, tät ich sagen, aber mein Französisch ist rostig.

Zitat:

   „Sie scheinen keinen tüchtigen Geheimdienst zu haben, Oberst.“
  Weizenkorn tat, als habe er diese Schelte nicht gehört


Schelte? Ist doch nicht der Job eines Bundeswehrobersts, einen guten Geheimdienst aufzubauen ...

Zitat:

  „Nein, nicht mehr. Für einen Offizier der Internationalen Allianz schickt es sich nicht.


Ach? Aber Puffbesuche sind ok? Wenn Opiumpfeifen gemeint sind, finde ich "schickt sich nicht" zu schwach.

 
Zitat:

   Der Boy stellte die Getränke und die Süßigkeit auf den Tisch.  Azamar trank einen Schluck, spie aus und goss den Inhalt der Tasse auf den Teppichbden. „Beim Teufel!“, fuhr er den Boy an, „du hast den Verstand einer Ameise! Wenn ich nicht rauche, dann trinke ich auch nicht, verstanden!“
   „Verzeih, Sahib!“, stotterte der Junge. „Ich besorge sofort Tee aus einer anderen Kanne!“
  Der Oberst nippte an seinem Whiskey. „Sie werden lachen, Sir“, sagte er launig, „das ist erst der dritte Whiskey, seit ich in diesem verfluchten Land bin!“


Hä? Er hat doch selbst Tee bestellt? Und das mit dem Rauchen hat doch der Knabe vorgeschlagen? So einen Ausfall lässt der Oberst kommentarlos vorbeiziehen, wo die beiden sich vorher so in den Haaren hatten?

Zitat:
Die Stimme des Generals konnte sich kaum gegen den drittklassigen amerikanischen Jazz, der jetzt wieder lauter aus den Lautsprechern quoll, durchsetzen.


Wieso ist er jetzt auf einmal Jazzexperte? Und wer legt in einem afghanischen Puff Jazz auf?

Zitat:
Der Oberst lachte sardonisch.


Sardonisch? Nicht eher sarkastisch oder bitter?

 
Zitat:
   Der Oberst lachte sardonisch.


Auf sardonisch stehst du, oder? Smile

 
Zitat:
Der Oberst blickte versonnen auf das rote Sofa, auf dem immer noch die braune Taifan lag.


Und was zum Henker ist eine Taifan? Du erklärst Gott und die Welt, aber das titelgebende Ding der Geschichte geht so unter ...

Zitat:

 Erinnerungen an seine Zeit an der Theresianischen Militärakademie in Wien tauchten auf.


Der stahlblaue Oberst ist also Österreicher? Kommt jetzt ziemlich spät und unvorbereitet. Hat Österreich überhaupt Truppen in Afghanistan?

Zitat:

  Da Azamar zog die Stirn kraus. „Wissen Sie, Oberst, was mich an euch Ungläubigen so wundert? Dass ihr ständig das Wort Gott im Mund führt, obwohl ihr nicht an ihn glaubt.“


Der Mann ist General, war in West Point, ist Chefermittler für die UN - und spricht dann von 'Ungläubigen'. Das geht kulturell nicht zusammen. 'Atheisten'?

Zitat:

   „Herr Oberst Weizenkorn“, schnarrte da Azamar, und jetzt war seine Stimme keineswegs leise und gebrechlich, sondern fest und bestimmend, „wenn es stimmt, was man sich über Sie erzählt, bringe ich Sie vor´s Kriegsgericht!“


Passt nicht. Da müsste der eine der klare Vorgesetzte des andern sein und es ein gemeinsam zuständiges Kriegsgericht geben. Nach meiner Kenntnis könnte er es maximal in Den Haag probieren ...

Zitat:

  „Sie sollen gefangene islamische Kämpfer gezwungen haben, nackt vor alliierten Truppen zu tanzen. Sogar Frauen sollen zugeschaut haben.“


Na, da wird das Kriegsgericht aber gucken! Im Ernst: Das ist doch juristisch total Banane - Misshandlung minderer Schärfe, dafür steht doch kein Staatsanwalt auf!
  
Zitat:
„Vermutlich werde ich demnächst aus der Presse erfahren, dass ich homosexuell bin.“ Er lachte gequält. „Damit wäre meine Karriere als Soldat ein für alle Mal beendet.“


Wenn die Geschichte heute spielt, ist das doch Quatsch. Weder in DE noch in AT sollte das noch ein Thema sein. Hallo?! Wir hatten einen offen schwulen Außenminister?

Zitat:
Nach kurzem Zögern trat er ohne anzuklopfen ein. „Taifan, mein Schatz!“ rief er fröhlich, „jetzt habe ich alle Zeit der Welt für dich!“


Also ist Taifan doch ein Name? Und der Oberst doch nicht schwul? Ich bin verwirrt.
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wunderkerze
Eselsohr
W


Beiträge: 381



W
Beitrag04.02.2019 13:15

von wunderkerze
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Zwei Kämpfer kamen auf den Wagen zu und stiegen hinten ein. Sofort verbreitete sich der Geruch von Schweiß und Waffenöl. „Losfahren!“, befahl der eine auf Englisch. Weber verspürte den Lauf einer Maschinenpistole in seinem Rücken und gab Gas. „Not so fast!“, schnauzte der Kämpfer. Seine Kumpanen trabten hinterher.
   „Jetzt haben wir den Salat“, brummte Weber auf Deutsch, „schöne Scheiße! Ich hätte mehr auf mein Bauchgefühl hören sollen. Ich hab´s doch die ganze Zeit geahnt! Wer weiß, was sie mit uns vorhaben. Bestimmt nichts Gutes! Was ist dies doch für ein scheiß Land, wo man seines Lebens nicht sicher sein kann!“
   „Sie werden uns zum Mittagessen einladen“, sagte Schönberg, dem dieses Gejammer auf die Nerven fiel.
   „Deinen Humor möcht´ ich haben!“
   „Shut up !“, kam es roh von hinten.
   Immer, wenn Weber Angst hatte, fing er an zu reden. Und jetzt hatte er Angst. Nun gut, unter diesen Bedingungen kann das dem Tapfersten passieren. Angst haben bedeutet ja nicht, ein Feigling zu sein. Es kann mancherlei bedeuten, zum Beispiel, dass man mit den Nerven fertig ist und nicht mehr weiter weiß, oder dass man zu der Erkenntnis gelangt, das Risiko sei die Sache nicht wert, dass man aber nicht mehr zurück kann. Die meiste Angst hat man, wenn etwas schief läuft und man mit einem bösen Ende rechnet. Genau das war jetzt der Fall.
   „Da hinein!“
   Unvermutet öffnete sich die Wand und ließ eine schmale Gasse frei, in die Weber jetzt einbog. Der Weg war so schmal, das der Wagen nur mit Mühe hindurchpasste. Nach einigen hundert Metern bog der Pfad nach rechts ab; schließlich mündete er in einer kleinen Bucht.
    „Anhalten, Motor ausstellen und aussteigen! Die Hände schön über den Kopf! Wird´s bald?“, röhrte der Kämpfer.
   Weber stellte den Wagen am Grund eines überhängenden Felsens ab, so dass er von oben nicht zu sehen war.
   „We are unarmed “, sagte Schönberg, als einer der beiden Kämpfer auf ihn zu trat, um ihn abzutasten, „oder hast du das rote Kreuz nicht gesehen?“ Der andere Kämpfer stand etwas abseits mit der Waffe im Anschlag.
   Der Angeredete sagte nichts. Stumpfsinnig fuhr er mit seiner Tätigkeit fort. Es war ein Mann in mittleren Jahren, mit leichtem Fettansatz, plump und unbeholfen in seinen Bewegungen, die etwas Marionettenhaftes an sich hatten. Obwohl sein Gesicht von Bart und Sonnenbrille fast vollständig verdeckt war, erkannte der Doktor, dass es stark entstellt war.
  Nachdem er den Doktor  abgetastet hatte, wandte sich der Kämpfer Hussein al-Dorhani zu. Schönberg hatte jetzt Gelegenheit, den stolzen Mann in Ruhe zu betrachten. In der Nacht war es zu dunkel gewesen, und beim Einsteigen heute früh war alles sehr schnell gegangen, und im Auto hatte er ihn kaum angeblickt.
  Er schätzte sein Alter auf fünfundfünfzig bis sechzig. Auf dem Kopf des mittelgroßen, aber kräftigen Mannes saß die turmhohe Pelzmütze mit dem mehrfach geschlungenen weißen Band, das al-Dorhani als 'Hadschi', als Mekka-Pilger, auswies. Sein Bart war grau, das Gesicht braun und von Wind und Wetter gegerbt. Besonders beeindruckend waren die hellen blauen Augen, die in diesem Umfeld etwas fremdartig wirkten. (Die Pashtunen behaupten von sich, dass sie zur arischen Rasse gehören.) Bekleidet war er mit einer Art Kosakenuniform – möglicherweise ein Beutestück – deren Hosenbeine in Schaftstiefeln aus Ziegenleder steckten.
 Gegenwärtig blickte er ziemlich martialisch drein, denn die Untersuchung behagte ihm natürlich überhaupt nicht.
   Der Kämpfer war nun mit al-Dorhani fertig. Er blickte sich unschlüssig um. Jetzt trat er einen Schritt auf die junge Frau zu. Für einen Moment sah es so aus, als wollte er tatsächlich auch sie abtasten.
   Hussein al-Dorhanis finsteres Gesicht verdüsterte sich noch weiter. Er zog geräuschvoll die Nase hoch. Anscheinend war er im Begriff, vor dem Kämpfer auszuspucken. Der erhob sein Gewehr, um al-Dorhani einen heftigen Stoß vor die Brust zu versetzen. Doch dazu kam es nicht. Ein scharfer Befehl, den Schönberg nicht verstand, bewirkte, dass sich der Kämpfer wütend umdrehte und zur Seite trat. Inzwischen waren nämlich auch die anderen Krieger angekommen, darunter offensichtlich auch ihr Anführer. Der, ein Hüne von Mann,  trat auf den Pashtunen zu und zischte auf Dari: „Wag´ es noch einmal, du dreckiger Hund, einen meiner Kämpfer zu beleidigen, und du bist ein toter Hund!“ Die junge Frau übersah er.
   Die Lage war jetzt hochexplosiv. Die Luft knisterte geradezu vor Spannung. Wie gut, dass ich ihre Sprache beherrsche, dachte Schönberg, vielleicht höre ich ja Dinge, die mir und der Frau noch einmal das Leben retten. Dass al-Dorhani ein Todeskandidat war, daran bestand für ihn nach dem Vorfall eben kein Zweifel. Sie würden die geringste Verfehlung zum Vorwand nehmen, um ihn umzulegen. Auch ohne dem hassten sich die iranischen Schiiten und die einheimischen Suniten, die sich gegenseitig Verrat am Propheten vorwarfen, bis aufs Blut.
   Der Anführer streckte den Arm aus und sagte: „Go on! Da geht´s lang! Beim geringsten Fluchtversuch schießen wir!“
   Der kleine Trupp setzte sich in Bewegung, zwei Kämpfer vor den Gefangenen, der Rest als Nachhut. Schönberg ging hinter der jungen Frau. Trotz der fürchterlichen Situation genoss er die Anmut ihrer Bewegungen. Ihr Gewand ließ wenig von ihren  Formen erkennen, aber er kannte die Körper ähnlicher Frauen: Sie waren mädchenhaft zart und voll zugleich. Er stellte sich vor, wie sie ihr Kleid abstreift und nackt, nur mit den bunt schillernden Reifen um Hand- und Fußgelenken, vor ihm steht. Rosenduft erfüllt das Bodoir. Mit den gehauchten Worten: „Komm. Liebster, komm!“ sinkt sie in seine Arme...

 Der Pfad, der sich in gewundener Zickzacklinie zwischen den kantigen Felsen hindurchschlängelte, wurde allmählich schmaler. Die Gruppe war gezwungen, im Gänsemarsch zu gehen. Die Kämpfer trieben die Gefangenen mit heiseren Rufen an. Gelegentlich stießen sie ihnen mit den Läufen ihrer Karabiner in den Rücken.  Manchmal stolperte die junge Frau und hielt sich am Arm ihres Mannes fest.
   Die Gefangenen marschierten zunächst schweigend.

  Schönberg verspürte keine Angst. Er wusste: Sie würden weder ihn noch Weber töten, zumindest nicht in absehbarer Zeit. Bis dahin ließe sich bestimmt ein Ausweg finden, wenn er auch jetzt noch keinen sah. Es kam immer wieder vor, dass Ärzte entführt und gezwungen wurden, in den versteckten Terroristencamps medizinische Dienste zu verrichten. Außerdem benötigten die Terroristen seinen fachlichen Rat, die medizinische Gerät und die Medikamente, die hinten im Landrover lagen. Die Berichte von Kollegen, die in eine ähnliche Situation geraten waren, ließen hoffen: Wenn er sich gefügig zeigte, würden sie ihn sogar vergleichsweise gut behandeln. Und in gewisser Weise stand er als Mitglied von 'Ärzte ohne Grenzen' ja auch unter dem Schutz der internationalen Gemeinschaft. Wirklich überzeugt davon, dass ihnen die internationale Gemeinschaft helfen könnte, war er gerade nicht. Dafür war das Land hier viel zu unübersichtlich.
  Nein, Kopfzerbrechen bereitete etwas anderes. Es war der Gewissenskonflikt, der jetzt auf ihn zukam. Sein ärztliches Ethos gebot ihm, einen verwundeten SaI-Kämpfer genau so sorgfältig zu behandeln wie einen verwundeten Zivilisten, auch in der Gewissheit, dass der Kämpfer nach seine Genesung wieder versuchen würde, Unschuldige in den Tod zu bomben. Wenn Schönberg auch in anderen Lebensbereichen ein Hallodri war, seinen Eid nahm er verdammt ernst, wie kaum ein Arzt dieses von Korruption und Vetternwirtschaft gebeutelten Landes.
   Nun ja, in dieser Hinsicht war er allerdings nicht der einzige. Es gab verbürgte Berichte von Kollegen, die an diesem Zwiespalt im Drogenrausch oder sonst wie zugrunde gegangen waren.
  „Wohin führst du uns, du Herrscher über tausend tapfere Krieger?“ rief die junge Frau plötzlich dem Anführer, der vor ihr ging, auf Pashto zu. Die nackten Felswände verstärkten den Klang ihrer hellen Stimme, sodass sie dem Doktor wie Glockengeläut vorkam.
   Der Ausruf kam so überraschend, dass Schönberg zunächst den Sinn der Worte nicht verstand. Dann stockte ihm der Atem. Die Anrede in der den schiitischen Terroristen verhassten Sprache, noch dazu von einer Frau, war eine ungeheure Provokation. Sein erster Gedanke: Das ist nicht Mut, das ist Waghalsigkeit, mehr noch, das ist todessehnsüchtige Tollheit. Ist die Frau lebensmüde? Doch er fand er eine andere, ebenso unheimliche Erklärung: Marjam wollte sich jetzt schon als unerschrockene Kämpferin andienen. Frauen wurden durchaus als Kriegerinnen geschätzt. Vielleicht, kalkulierte Schönberg weiter, will sie ja das Leben ihres Mannes retten, indem sie ihr Leben gegen seines in die Waagschale wirft.
   Der Anführer drehte sich um. „Das wirst du schon sehen, mein Täubchen!“ gab er  übertrieben galant zurück. Dabei schnalzte er mit der Zunge. Am liebsten hätte ihm Schönberg die Faust in die Fresse geschlagen.
  Inzwischen war es den Gefangenen heiß geworden. Die Strahlen der tiefer stehende Sonne fielen fast senkrecht auf die schrägen Felswände und heizten sie gehörig auf. Kein Luftzug sorgte für Kühlung; der Weg zog sich endlos dahin.
  Mit Zurufen und Rippenstößen trieben die Entführer ihre Opfer jetzt zur Eile an. Nach endlosem Stolpern über buckeliges Gestein am Boden enger Felsengassen traten die weißen Kalksteinwände plötzlich zurück, und der Blick weitete sich. Vor ihnen lag ein breites, langgestrecktes Tal, auf dessen Grund sich rötlich der Pfad dahin schlängelte. Die Luft flimmerte vor Hitze. Auf den weniger steilen Hängen wucherte Dornengestrüpp, so dicht und verfilzt, dass es aussah, als käme kein Kaninchen hindurch, geschweige denn ein Mensch.
  
   Bis auf das knisternde Geräusch ihrer Schritte war es totenstill. Das Tal lag  ausgestorben unter dem brütenden Glast der Sonne. Es vermittelte den Eindruck extremer Fremdartigkeit. Wie mit Spiegeln warfen die Felswände die Helligkeit auf die Menschen. Schönbergs Augen schmerzten. Er hätte viel für seine Sonnenbrille gegeben. Doch die lag im Landrover oder war schon als Kriegsbeute verteilt. Auf der Venus sieht es wahrscheinlich kaum anders aus, dachte er, nur der blassblaue Himmel und die kreisenden Bussarde hoch oben erinnern daran, dass wir uns auf einem Planeten namens Erde bewegen.
   Mit jedem Schritt wurde das Gehen mühsamer. Weber blickte auf seine Armbanduhr und stellte fest, dass sie sich bereits seit fast anderthalb Stunden über diese Mondlandschaft quälten, und immer noch gab es kein Anzeichen, dass die unsägliche Tour bald ein Ende finden würde. Weder ein Bergdorf, eine Burgruine, ein Ziegenstall, noch irgendetwas anderes, das auf die Anwesenheit von Menschen und Tieren hinwies, kam in Sicht. Noch nicht einmal ein Karnickel ließ sich blicken. Außerdem quälte ihn der Durst. Die Zunge füllte ihm wie ein trockener Tennisball den Mund aus. Nase und Lippen waren aufgedunsen und von der Sonne verbrannt. Seine Schirmmütze lag natürlich im Landrover.
   Schönberg ging es etwas besser. Als geübter Marathonläufer war er Durststrecken gewohnt. Doch auch er war kein Kind der Wüste und schon gar kein Kamel, das gelernt hat, auch bei größter Hitze tagelang ohne Wasser auszukommen. Nicht nur als Arzt hielt er es jetzt für angebracht, eine Weile zu rasten, um verschnaufen und etwas zu trinken.
   „He, du, Anführer!“ rief er, „wir brauchen eine Verschnaufpause und Wasser!“
   Der Hüne tat, als habe er nicht gehört und ging weiter.
   „Bei Allah!“ rief Schönberg noch lauter, „Anführer, bist du taub? Willst du, dass wir verdursten? Denk´ daran, wir sind deine Gäste, und deine Religion gebietet Gastfreundschaft!“
   Der Anführer blieb stehen und drehte sich um. Er sah Schönberg drohend an. Die Gläser seiner Sonnenbrille waren zwei Schwarze Löcher, die jede Hoffnung vernichteten.
   „Das gilt nur für Gläubige, nicht für Ungläubige. Es geht weiter!“

                                                                5

   Der Oberst drückte Taifan einen flüchtigen Kuss auf die heiße Stirn, lockerte Kragen und Koppel und ließ sich herzhaft seufzend in den abgenutzten Fauteuil fallen, der offensichtlich noch aus der französischen Besatzungszeit übrig geblieben war und ziemlich muffig roch.
   „Wer war denn dieser schreckliche Mann eben?“, fragte Taifan mit ihrer piepsigen Kinderstimme.
   Der Oberst machte eine wegwerfende Handbewegung. „Ach, irgend ein Schnüffler von der UN“, antwortete er leichthin, „einer von der unangenehmen Sorte, die sich in alles einmischen aber von nichts eine Ahnung haben. Nennt sich Special Invertigator. Diese Leute machen einem den Dienst noch schwerer, als er sowieso schon ist.“
    „Mein armer Soldat! Du sahst zwischendurch auch ziemlich unglücklich aus. Wie zerknautscht und schlecht gebügelt.“ Taifan lachte einfältig. „Hat er dich sehr geärgert, der Unmensch?“
   „Geärgert? Nicht sehr... Aber ich war tatsächlich unglücklich, mein Täubchen, sehr unglücklich sogar!“
   „Wegen dieses Schnüfflers?“
 Weizenkorn erhob sich und ließ sich neben dem 'Täubchen' nieder. „Natürlich nicht wegen dieses –“ er wollte sagen Sesselfurzers, aber ihm fehlte der englische Begriff, er sagte – „doch nicht wegen dieses pen pushers! Sondern weil ich dich plötzlich nicht mehr sehen konnte, denn du warst auf einmal verschwunden!“
   „Das tut mir aber leid, o du mein strahlender Held! Ich war mal eben – na, du weißt schon! Was wollte er denn?“
   Der Oberst hätte sich lieber die Zungenspitze abgebissen, als auch nur die kleinste militärische Einzelheit auszuplaudern. Er wusste natürlich, dass Taifans entzückende Naivität nur vorgetäuscht war. So dämlich wie sie jetzt tat, war sogar in diesem Land keine junge Frau mehr. Immerhin gab sie ihr Alter mit zweiundzwanzig einhalb an – das mochte stimmen oder auch nicht – und sie hatte nach eigenen Angaben sogar einige Jahre das englische Gymnasium in Shangoran besucht. Der Oberst dachte: Ihre heilige Einfalt gehört mit zum Spiel, zum Kriegsspiel. Und sie spielt nicht schlecht. Etliche dieser 'Jungfrauen des siebten Himmels' waren nämlich Spioninnen der Taleban, des IS oder einer der anderen der vielen Terrormilizen, die hier neuerdings wie die Pilze aus dem Boden schossen und oft auch so schnell wieder verschwunden waren. Während ihrer einfühlsamen Liebesdienste waren die Mädchen auf militärische Geheimnisse aus. Das war die eine Seite des schmutzigen Spiels, zu dem sie sich freiwillig oder gezwungenermaßen hergaben. Die andere Seite war die Hoffnung, doch noch einen englischen, französischen oder deutschen Mann heiraten zu können – wobei die deutschen Männer aus irgend einem Grund am begehrtesten waren. Auf diese Weise wollten sie ihrem Elend entkommen.
   Taifan richtete sich auf. Sie saß jetzt mit übergeschlagenen Beinen und in lässiger Haltung in dem abgenutzten Diwan, in dem ihre zarte Gestalt fast versank. Einer ihrer goldschimmernden Pantöffelchen löste sich und fiel klappernd zu Boden. Ein  Sonnenstrahl, durch den er fiel, ließ ihn für den Bruchteil einer Sekunde kostbar aufleuchten. Taifans pralle, wohlgeformten Unterschenkel zeichneten sich ungemein  verführerisch unter dem Hosenstoff ab.
   „Ohhh!“
  Der Oberst stöhnte wollüstig auf. Eine Weile noch versuchte er, der Verführung zu widerstehen. Doch schon bald gab er sich geschlagen. Er rutschte vom Diwan, ließ sich auf die Knie nieder und umschlang Taifans Beine, die er gierig mit Küssen bedeckte. Diese perfekten Gliedmaßen, dieser braune, nackte, duftende Fuß mit den perlmuttartig lackierten Nägeln schienen ihn aufs Äußerste zu erregen. Wie ein tödlich verliebter Gymnasiast stammelte er unverständliche Worte. Er nahm den goldenen Schuh mit vor Begierde zitternden Händen auf, steckte seine Nase hinein und schnüffelte hingebungsvoll. Dann bedeckte er auch den Fuß mit Küssen.
   Ja, Oberst Friedrich Weizenkorn war ein Fuß-Fetischist. Daran ließ sich nun nichts mehr ändern, und mittlerweile empfand er wegen dieser Abartigkeit auch keine Gewissensbisse mehr. Er sagte sich: Wenn mich ein Gott so geschaffen hat, wird er nicht unbedacht gehandelt haben. Ich erkenne nur den Sinn in seinem Tun noch nicht.
    Das war natürlich Unsinn, denn er glaubte an keinen Gott.
  Allerdings – seine Ehe war aus diesem Grund eine sexuelle Katastrophe. Für dergleichen ausgefallene Raffinessen hatte seine Frau, die aus einem Kaff in Ostwestfalen-Lippe in der Nähe von Paderborn stammte und eine geborene  Niedergesäß war, nun wirklich kein Verständnis. Wenn sie mit ihrem Gatten verkehrte, wie es so unschön heißt, dann nur nach der Devise: In Paderborn nur von vorn, sprich: In der so genannten Missionarsstellung. So hatte er sich für den Auslandseinsatz gemeldet.
Er meinte, es sei immer noch besser, befriedigt bei einem Bombenattentat umzukommen, als unbefriedigt in Paderborn bei lebendigem Leibe zu versauern. Das war also der wirkliche Grund, warum er 'hierher gekommen' war und nicht der, den er dem General a. D. Azamar gesagt hatte. Es hätte auch ein anderes Land sein können. Aber auf keinen Fall das Paderborner Land. Und dann war da noch die nicht unbegründete Aussicht, mit Eichenlaub und Gereralssternen auf den Schulterklappen in den 'Schoß' der Familie zurückzukehren.
   Der Oberst, vor Verlangen keuchend, sah jetzt keinen Grund mehr, den Höhepunkt noch weiter hinauszuschieben. Er stand auf, trat zwei Schritte zurück und begann, sich zu entkleiden. Dabei blickte er Taifan mit lüsternen Augen verzückt an.
    „Zieh dich aus!“, befahl er heiser.
   Die junge Frau sah das betörende Blau seiner Augen und gehorchte. Mit schnellen Bewegungen warf sie den bunten Sarong ab, der ihr als Kopftuch diente. Sie löste das Band ihrer seidenen Hose, die auf ihre golden leuchtenden Beine fiel. Als sie versuchte, den anderen Pantoffel abzustreifen, schwankte sie leicht; es sah aus, als könnte sie im nächsten Moment die Balance zu verlieren. Doch schon sprang der Oberst hinzu, um sie aufzufangen. Behutsam legte er die junge Frau, die leicht wie ein Kind war, auf den Diwan, und sich daneben. Ihre Körper schmiegten sich aneinander, und der Oberst genoss den Blumenduft, der von ihrer Haut ausging, und den Nelkengeschmack ihrer Küsse. In seinen Ohren pulste hörbar das Blut. Für einen Augenblick fürchtete er, die Besinnung zu verlieren. Mit kühnem Griff drückte er Taifan an sich, ihr kleiner Körper erbebte unter dem bald nachgebenden, bald drängenden, bald wild fordernden Ansturm seiner Liebkosungen. Sie stöhnte leise mit ihrer zarten Kinderstimme. Langsam öffnete sie die Beine...
   Durch das halb geöffnete Fenster drang das Sonnenlicht wie eine Flut flüssigen Goldes. Auf dem Boden lag ein luftig-helles Dreieck. Von draußen, nahe beim Fenster, drangen ungewohnte Geräusche herein. Ein Gärtner bemühte sich, etwas Ordnung in das zugewucherte Grünzeug zu bringen. Die Rufe der Rikschafahrer wehten herein, irgendwo schnatterte aufgeregt eine Schar Gänse.
   Der Oberst hörte das alles nicht mehr. Zu sehr nahmen ihn jetzt Taifans Waden in Anspruch.
   
   Der Himmelsfleck auf dem Boden war weitergewandert und zum diamond, zur Raute geworden. Sie lagen eng aneinander geschmiegt; sein rechtes Bein ruhte fest zwischen ihren Schenkeln. Das Schweigen dauerte schon eine ganze Weile, sodass ihn ihre Stimme jetzt überraschte.
   „Fied-rick...“
   Der Oberst musste lachen. „Nenn´ mich einfach Fidi“, sagte er, „das fällt deiner süßen Zunge leichter!“
   Sie drehte sich zu ihm hin. Mit einer Haarsträhne kitzelte sie seine Nasenspitze.
   „Fidi, deine Frau in Deutschland, ist sie schön?“
   Vielleicht war es gar nicht ihre Stimme, die ihn so überraschte, sondern die Frage. Die anderen Frauen hatten 'danach' meist gefragt: Ahnt deine Frau etwas? oder: Liebst du deine Frau noch? Oder gar: Liebst du deine Frau mehr als mich?
   Der Oberst dachte amüsiert: Für Taifan ist also Schönheit wichtiger als Moral und Liebesbekundungen und der ganze Humbug, der im Westen um die eheliche Treue veranstaltet wird.
  Dabei konnte er an Taifan beim besten Willen nichts Unmoralisches erkennen. Sie war eben ein Kind Asiens, mit der ganzen Unbekümmertheit eines Menschen, der nur für den Moment lebt. Was kümmerte sie Religion, Konvention und das alberne Was-werden wohl-die-Leute-sagen? Aber gerade diese Leichtlebigkeit fand er an Taifan so erfrischend. Moralische Bedenken, sagte er sich, kann ich auch noch kultivieren, wenn ich für das Andere zu alt bin. Moral war für ihn nur eine Potenzschwäche.
    „Fidi, ist deine Frau schön?“
   Der Oberst blickte ein wenig irritiert auf und dachte nach. Ist meine Frau schön?  Kann eine Frau mit Doppelkinn und Stubsnase schön sein? Oder wenigstens gut aussehend?
 „Schwierige Frage, mein Kind!“, murmelte er zerstreut. „Wenn er ehrlich bin: Ich weiß es nicht.“ Möglicherweise hatte es ihn auch nie sonderlich interessiert. „Frag mich was Leichteres!“
   Angestrengt versuchte er jetzt, sich das Bild seiner Frau vor Augen zu führen, doch der Bildschirm blieb leer. Er hatte seine Frau buchstäblich aus den Augen verloren. Erschüttert stellte er fest, dass zwei Jahre der Trennung die Erinnerung an sie fast vollständig ausgelöscht hatten. Gut, ihr Foto stand auf seinem Schreibtisch. Aber im Grunde stand es nur da, weil der Schreibtisch eines Offiziers ohne Foto mit Frau und Kindern Anlass zu allerlei falschen Vermutungen gibt. Nur – wann hatte er das letzte Mal darauf geschaut?
   „Wenn deine Frau nicht schön ist, warum hast du sie dann überhaupt geheiratet?“
   "Ja, zum Teufel, warum habe ich sie überhaupt geheiratet?"
  Er dachte eine Weile nach, dann begann er:
 Er hatte geheiratet, weil ein karrierebewusster Offizier eben in gut bürgerlichen Verhältnissen zu leben hatte – wenn er gar von Adel war, erst recht. Er war zwar von Adel, aber er hatte kein Geld. Dumm, äußerst dumm. Die Familie seiner Frau hingegen ließ in dieser Hinsicht keine Wünsche übrig – sie besaß Geld, aber keinen Adel. Dafür allerdings ein gerüttelt Maß an Überheblichkeit. Sein Schwiegervater, ein Börsenspekulant mit vielen guten Papieren und noch mehr schlechten Manieren, brüstete sich vor Gästen – die übrigens aus dem gleichen Holz geschnitzt waren –  so laut, dass es noch in der Nachbarvilla zu hören war: „Kinder, gestern hab´ ich tausend Euro für nichts und wieder nichts ausgegeben, hahaha!“ Dann öffnete er den Sack fauler Sprüche, den er immer bei sich trug, und haute solche Sachen heraus wie: „Ich hab´ mal wieder ´nen Bargeldstau!“ oder: „Reich werden erfordert Körper und Geiz!“
Allein das Lachen ließ dem Schwiegersohn in spe das Blut in den Adern gefrieren... Schwamm drüber! So wurde ein fairer Handel eingefädelt und das 'Von' gegen eine üppige Mitgift eingetauscht.
   Der Oberst schwieg.
   Taifan schien eingeschlafen zu sein. Ihr kleiner Busen hob und senkte sich im Gleichmaß ihrer Atemzüge. Der Oberst beugte sich über sie. Durch die zu einem schmalen Spalt verengten Lider schimmerten die Pupillen durch. Es sah aus, als starre sie ihn an.

   „Fidisahib, bist du noch da?“ Taifan war wieder wach. Die Ruhe hatte sie geweckt. Oder hatte sie gar nicht geschlafen?
   „Wie... Was... Natürlich!“ Weizenkorn schreckte aus seinen Gedanken hoch. „Was wolltest du wissen? Ach ja... Weißt du, mein Täubchen, ich kann mich tatsächlich nicht mehr erinnern, wirklich nicht.“
   „Fidi, jetzt lügst du! Das glaub´ ich nicht!“
   „Doch, es ist so, wie ich sage!“
   Die nächste Frage war schon vorprogrammiert.
   „Liebst du sie noch?“
   Der Oberst lachte gekünstelt und beugte sich über sie, um ihr die Schläfe zu küssen.
   „Du stellst Fragen!“
   Aber auch diese Frage konnte er vor sich nicht eindeutig beantworten. Wenn er sie jemals wirklich geliebt hatte, dann war diese Liebe jetzt zugeschüttet von einem Berg kleiner Alltagsnichtigkeiten. Und einem großen Problem.
   Von draußen drang rohes Gelächter, vermischt mit dem Geräusch zersplitternden Glases, herein. Weizenkorn richtete sich auf und blickte aus dem Fenster. Einige offenbar betrunkene Männer des Sicherheitsdienstes, die nicht seiner militärischen Befehlsgewalt unterstanden, zerschmissen leere Bierflaschen an der Wand einer Lagerhalle. Er schloss das Fenster und kroch wieder zu Taifan unter die Decke.
   Taifan hatte sein Zögern verstanden. „Wenn du sie nicht liebst, warum lässt du dich dann nicht scheiden? Oder bin ich dir nicht schön genug?“
   War Taifan schön?
   Der Oberst nahm ihre Hand, die wieder mit der Haarsträhne vor seiner Nase herumfuchtelte, beiseite. Er blickte sie an. Der halb geschlossene schwarze Wimpernkranz ihrer Augen verlieh ihrem Gesicht etwas Katzenhaftes. Er befand: Sie ist hübsch, aber nicht schön. Dazu fehlt ihrem allzu glatten Gesicht die geistige Dimension.
   Taifan schmollte. „Warum sagst du nichts?“
   „Ach weißt du, in meinem Alter spielt Schönheit bei einer Frau nicht die große Rolle mehr“, log er ohne rot zu werden, „es kommt darauf an, the base is right.“ Er zögerte. „Und bei meiner Frau und mir hat sie leider nicht gestimmt.“
   Taifan schien nicht verstanden zu haben, denn sie kicherte einfältig. Vielleicht bereitete ihr auch das Englische des Obersten Schwierigkeiten.
    „Dann tu´s doch! Lass dich scheiden! Wo ist denn da ein Problem?“
   „Taifan, Täubchen, das stellst du dir zu einfach vor!“
   Taifan Täubchen warf die Lippen auf. „Was soll daran nicht einfach sein? Du könntest mich heiraten, ich gehe mit dir nach old germany, und ich würde dich glücklich machen.“
   Der Oberst unterdrückte ein Grinsen. Sie kommt schnell zur Sache, dachte er amüsiert. „Nun höre mir mal gut zu, du Blume Asiens! In spätestens zwei Jahren ist mein Auftrag hier beendet, dann muss ich wieder zurück nach old germany. Willst du  für den Rest deines Lebens eine zweite Madame Butterfly spielen?“
   „Wer ist Madame Butterfly? Ist sie schön?“
   Über so viel gespielte Einfalt musste der Oberst jetzt doch herzhaft lachen. „Mal mehr, mal weniger. Sie ist eine tragische Opernfigur aus Japan, die von ihrem amerikanischen Liebhaber erst geheiratet und dann sitzengelassen wurde.“
   „Oh, das ist ja furchtbar!“ Taifan runzelte die Stirn. „Ich weiß! Du würdest mich auch sitzenlassen! Ihr Männer seid doch alle gleich. Fidisahib, das hätte ich nicht von dir gedacht!“ Ihr Kummer war nicht echt, aber gut gespielt.
   „My dear! Was redest du da! Ich würde dich natürlich mitnehmen – wenn ich könnte! Aber es geht nicht.“
   „Es ginge schon, aber du willst nicht.“
   „Wenn ich es doch sage! Es geht nicht!“
   „Und warum nicht?“
   „Weil es nicht geht!“
  Taifan sah ihren Liebhaber mit gekonntem Schlafzimmerblick an. „Fidi, du schaffst es noch, dass ich heute Nacht traurig bin und weinen muss!“
  „Das wäre natürlich das Schlimmste, was  diesem Lande noch passieren könnte.“
   Jetzt bloß kein falsches Wort, dachte er. Um Zeit zum Überlegen zu gewinnen, schlug er vor: „Wie wär´s mit einer kleinen Erfrischung? Ich hol´ uns erst mal was zu trinken! Sonst komm´ ich noch um vor Durst. My honey, was möchtest du haben?“
  „Am besten kalten Tee mit Schuss – na, du weißt schon, welchen. Aber nicht zu viel! Sonst werd´ ich wieder müde!“
   Der Oberst stieg in seine Hose und machte sich auf die Socken. Als er aus der Tür trat, war der scheeläugige Gärtner gerade dabei, auf einem Tischchen eine Vase mit Blumen aufzustellen. Weizenkorn stutzte. Was ist denn das? Seit wann werden hier im Flur Vasen mit Blumen aufgestellt? Doch er war innerlich zu sehr mit sich und der Kleinen beschäftigt, um über diesen Anachronismus weiter nachzudenken.
   Plötzlich kam ihm eine Idee...  
   Die Kleine ist doch ein ganz durchtriebenes Aas, dachte er. Wenn die nicht für irgendwelche obskuren Hintermänner arbeitet, fress´ ich´n Besen!
   Mit einem Reisbecher Tee sowie einer Flasche lauwarmes Bier kam er zurück. Taifan saß mit hoch gezogenen Beinen, das Hemd über den Knien, auf dem Diwan. Sie rauchte. Der süßliche Duft des Opiums verbreitete sich im Zimmer. Obwohl der Oberst selbst nicht rauchte, empfand er den Duft jetzt als ausgesprochen angenehm.
  „Und warum geht es nicht?“, fragte Taifan über den Teebecher hinweg. Sie ließ nicht locker, doch jetzt kam ihre Hartnäckigkeit dem Oberst sehr entgegen.
   Mit seiner Koppelschnalle sprengte der Oberst die Verschlusskappe der Bierflasche ab und nahm einige kräftige Züge. Dann sagte er:
  „Schau, Taifan-Kind, es verhält sich so. In Deutschland würdest du keine dauerhafte Bleibeberechtigung bekommen, denn dein Heimatland gilt bei uns immer noch als teilweise sicheres Herkunftsland. Eine Möglichkeit wäre, ich heirate dich tatsächlich. Aber daran ist jetzt erst einmal nicht zu denken.“
   „Wie heißt deine Frau eigentlich?“
   „Mathilde.“
   „Mathilde“, flüsterte Taifan, „was bedeutet das?“
   Das war wieder eine dieser leichten Fragen, zu denen sich nur schwer eine Antwort finden lässt, zumindest aus dem Handgelenk. „Die Heldenhafte“, antwortete der Oberst auf gut Glück.
   Doch Taifan schien die Antwort schon nicht mehr zu interessieren. „Besteht denn wirklich keine Chance für mich?“ Über ihre glatte Wange kullerte eine entzückende Träne.
   Der Oberst tat, als überlege er. Schließlich sagte er: „Hm... Nun ja... Ich könnte meiner Frau schreiben“, log er. „Vielleicht willigt sie ja doch ein.“
   Taifun sprang begeistert auf und fiel ihm um den Hals. Dabei fiel wie zufällig ihr Hemd zu Boden, „O Fidisahib, my dear, Liebster“, zwitscherte sie beglückt, „das würdest du wirklich für mich tun? Das wäre ja wunderbar!“ Sie drückte ihm einen heißen Kuss auf die Stirn. „Duset daaram!“ rief sie pathetisch in ihrer Muttersprache, „ich liebe dich!“  
   Ich muss mich beeilen, dachte der Oberst, bevor ihr das Opium den Verstand völlig benebelt.
   „Gut, ich schreibe ihr. Allerdings... Nehmen wir einmal an, meine Frau weigert sich. Und zwingen kann ich sie nicht. Was machen wir dann? Siehst du!“
   „Ja, was machen wir dann?“ Taifans flinke Finger erstarrten.
   Der Oberst legte scheinbar grübelnd die Hand ans Kinn. „Da kommt mir eine Idee!“
   „Was meinst du?“ Taifan rückte ihren heißen Körper wieder näher an den Oberst heran.
  „Die Idee ist noch nicht zuende gedacht... Hm... Ich könnte dich als politisch verfolgt erklären und in der deutschen Botschaft unterbringen. Der Botschafter ist ein guter Bekannter von mir und wird sich um die Papiere kümmern. Deine Ausreise nach Deutschland wäre dann so gut wie sicher. In zwei Jahren komme ich nach, und alles weitere wird sich finden.“
  „Politisch verfolgt? Fidisahib, werde ich denn politisch verfolgt? Ist das nicht ziemlich gefährlich?“
   Weizenkorn lachte. „Ich hoffe doch nicht!“
   „Wie soll das denn gehen?“
   „Ich sagte doch gerade, das weiß ich noch nicht! Lass mich nachdenken... Nehmen wir einmal an – rein theoretisch natürlich – du würdest jemanden verraten, jemand mit Macht und Einfluss. Daraufhin fürchtest du seine Rache. Wir beide wissen, wie wenig das Leben einer Frau hier wert ist, und gar, wenn es sich um eine Verräterin handelt...“
   Taifan sprang mit einem Satz von seinen Knien und blieb vor ihm stehen. „Worauf willst du hinaus?“ Ihr naives Gehabe war auf einmal verschwunden.
   „Halt die Beine still und setz dich!“, befahl der Oberst.
   Sie setzte sich und blickte Weizenkorn argwöhnisch an.
   „Sag mal, Taifan, ihr... Mädchen hier, für wen arbeitet ihr?“
   „Ich verstehe nicht.“
   „Gut, ich frag´ mal anders – wer beschützt euch?“
   „Unsere Brüder! Wer denn sonst!“
   „Na klar! Eure Brüder! Wie viele Brüder hast du denn? Und wie heißen sie? Na?“
   Taifan sah ein, dass sie in der Falle saß. „Was willst du?“
  Ich muss jetzt auf volles Risiko gehen, dachte der Oberst. Entweder es geht gut, oder ich kann meine Koffer packen. Außerdem verrate ich ja nichts, was die Gegenseite nicht schon weiß.
   „In der Garnison existiert ein Maulwurf, ein Spion, ein Verräter, der etliche meiner Leute auf dem Gewissen hat. Sehr unangenehme Sache. Gerade vorgestern sind fünf meiner besten Leute ums Leben gekommen, weil ihr Patrouillengang verraten wurde.“
  Der Lärm draußen hatte aufgehört, es war jetzt sehr still in dem Zimmer. Weizenkorn öffnete das Fenster, um frische Luft hereinzulassen. „Der Verräter muss jemand sein, der an den geheimen Dienstbesprechungen teilnimmt, also ein Mitglied des Führungsstabes. Dieser unbekannte Jemand muss außerdem Verbindungen zur Terrororganisation Seif al-Islam haben. Bisher tappe ich völlig im Dunkeln, um wen es sich da handeln könnte. Aber eines ist sicher: Wenn dieser Jemand nicht bald enttarnt wird, komme ich in Teufels Küche, und dann ade´, schöne Taifan, und ade´, old germany!“
   „Und was habe ich damit zu tun?“, fragte die junge Frau mit unbewegtem Gesicht. Doch ihre Hand zitterte.
   Sie hat angebissen!, jubelte der Oberst stumm. War einfacher, als ich dachte. Jetzt gibt es kein Zurück mehr!
   „Hm... nun ja...“ – der Oberst rang nach Worten, um ihren Stolz nicht zu verletzen – „ich meine, du hast doch hier allerlei Männerbekanntschaften. Kannst du dich nicht mal ein bisschen umhören?“
   „Ich wüsste nicht, wie!“
  „Teifanschatz, nun stell dich nicht so arg dumm! Du bringst deine erotischen Fähigkeiten ins Spiel, erhöhst die Opiumdosen ein wenig, die du deinen Liebhabern in den Tee schüttest, stellst ein paar entsprechende Fragen – mit aller gebotenen Vorsicht natürlich – da wäre es doch gelacht, wenn nicht der eine oder andere deiner Verehrer mal aus dem Nähkästchen plauderte!“  
   Taifanschatz warf dem Oberst einen schnellen Blick zu, der sie verriet. Sie weiß etwas, dachte er. Sollte sie etwa selbst die Plaudertasche sein? Ich werde möglichst schnell ihre Männerbekanntschaften aus dem Stab überprüfen lassen... Oder sollte es etwa einer ihrer so genannten 'Brüder' sein... Womöglich erübrigt sich ja dann dieser ganze Heiratsquatsch.
   Taifan saß mit eingezogener Unterlippe da und betrachtete ihre krallenlangen Fingernägel. Schließlich sagte sie: „Nehmen wir mal an, ich tu´s. Ich arbeite für dich. Würdest du mich dann wirklich mit nach Deutschland nehmen?“
   „Aber natürlich, mein Schatz!“
   „Schwöre es!“
   Weizenkorn atmete schwer. „Ich schwör´s!“ Schließlich war Krieg, und im Krieg heiligt der Zweck die Mittel.
   Entweder war´s das Opium, oder Weizenkorns unheiliger Schwur. Taifun ließ sich entspann zurück in den Diwan fallen. „Germany... old germany...“, flüsterte sie ehrfurchtsvoll. „Sag einmal, Fidisahib, wie heißt eigentlich deine Heimatstadt?“
   „Paderborn.“
   „Und wo liegt das?“
   „Irgendwo hinter den Bergen“, sagte er der Einfachheit halber.
   „Pa-da-boon!“, stammelte sie verzückt und fing an, aufs Geratewohl drauflos zu schwatzen. Welche Kleider sie sich in Pa-da-boon kaufen würde, wie sie gerne wohnen wollte, sie schwatzte von gelben Untergrundbahnen und zweistöckigen roten Autobussen.
   Der Oberst zog sich an. „Also abgemacht!“ sagte er, als er fertig war. Er nahm einen Hundert-Dollar-Schein aus seiner Jackentasche, rollte ihn zusammen und steckte ihn in den Ausschnitt ihres Hemdes zwischen die spitzen Brüste. Dabei dachte er: Doppelt genäht hält besser. Sollte sie mir nicht glauben – an die Dollars glaubt sie bestimmt.

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nicolailevin
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Beitrag04.02.2019 19:49

von nicolailevin
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Bevor ich weiter die Details zerlege: Ich hab generell noch ein größeres Störgefühl mit der erotischen Komponente. Das ist zu viel auf einmal und in den Figuren zu einförmig. Anders gesagt: Lauter Perverse auf einen Haufen! Wink

Wenn du einen Softporno oder eine Sexfantasie präsentieren willst, mag das ok sein (da fühle ich mich allerdings überhaupt nicht zu Verbesserungsvorschlägen berufen ...); dann stellt sich aber die Frage, warum du so viel Politik und Zeitgeschichte drumrum gruppierst. Würde mich als Zielgruppe abschrecken, wenn ich vor allem auf Saftiges aus bin.

Sollte das hingegen nur etwas Dekor und erotische Würze in eine Abenteuergeschichte bringen, drängt es sich zu sehr in den Vordergrund: Du hast bisher drei bis vier Hauptfiguren, von denen zwei auffällig lüstern rüberkommen, beide vorgeblich oder echt (auch) zu Männern hingezogen, einer dazu noch zu einer Nutte und obendrein Fußfetischist mit Frust zuhause in Paderborn. Den anderen - wie du andeutest - zieht's zu kleinen Mädchen. Das reicht für eine Groteske! Hier ist es für meine Begriffe zu viel, zu abseitig, zu schnell und zudem nicht sehr plausibel.

Du kannst nach meiner Einschätzung maximal einer deiner Figuren eine exotische erotische Komponente gönnen, die Vorlieben sollten aber nicht gleich von Anfang an hingeworfen werden, sondern (show don't tell) sich allmählich im Verhalten (mit wem flirtet er? wen schaut er wie lang an?) herausschälen. Und bitte: Entweder, Füße oder frustriert oder schwul, aber nicht gleich alles auf einmal ...

Mit der Neigung Schönbergs hab ich zudem ein grundsätzliches Plausibilitätsproblem: Er ist offen Männern und Frauen gegenüber, das erzählt man sich, also scheint er kein Kind von Traurigkeit zu sein. Und dann hat er scheints eine pädophile Ader. Das beißt sich.

(Disclaimer für das Folgende: Ich bin kein Sexualpsychologe oder Profiler oder so - ich schildere nach laienhaft bestem Wissen und Gewissen)

Pädophile sind sexuell verschlossen, sie haben Hemmungen, sie können keine Beziehung zu anderen Erwachsenen aufbauen. Sie haben Angst vor selbstbewussten Partnern, die sagen (und tun), was sie sich wünschen. Pädophile haben Angst, verglichen zu werden, Angst zu versagen, sie sind unfähig zu Beziehungen auf Augenhöhe. Deshalb suchen sie als Opfer Kinder: die kennen sich nicht aus, die sind passiv, die vergleichen nicht. Bei Kindern fühlen Pädophile keinen Leistungsdruck, müssen nicht performen (emotional oder körperlich). Ich halte es daher für ausgeschlossen, dass jemand, der ein aktives munteres Sexleben mit Männlein und Weiblein hat, zugleich das Bedürfnis nach Sex mit sehr jungen Menschen empfindet. Pädophile sind verklemmt und gehemmt, sonst müssten sie nicht pädophil sein.

(Disclaimer Ende)
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wunderkerze
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Beitrag05.02.2019 14:08
Antwort
von wunderkerze
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Was du zum Problem Pädoph. sagst, ist natürlich richtig. Da bin ich wohl übers Ziel hinausgeschossen. Die Fabel ist folgende: Da sind zwei Männer, die aus unterschiedlichen Gründen noch keine Frauenliebe erfahren haben. Der eine, weil er sexsüchtig ist, der andere wegen seiner abartigen Veranlagung. Unter der terroristischen Bedrohung erfahren beide so etwas wie eine Läuterung und lernen jetzt echte Frauenliebe kennen. Gut, das klingt vielleicht etwas kitschig, aber warum soll es deshalb nicht möglich sein. Außerdem sind die Figuren noch nicht klar erkennbar, sie entwickeln sich noch, denn es ist ein Roman.
Warum das ganze Drumherum. Es soll ein exotischer Abenteuerroman sein, der in einem Land spielt, das unversehens aus Scheherazades Zeit ins 21. Jh. katapultiert wurde.
Wie bisher nehme ich deine Anmerkungen mit Dank entgegen und brücksichtige sie, wenn es mir angebracht erschein - und meistens verhält es sich so.
Herzliche Grüße
Wunderkaerze

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Beitrag07.02.2019 13:54

von wunderkerze
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Am späten Nachmittag erreichten sie den Rand einer Hochfläche, deren von Steinen übersäter Boden allmählich weiter anstieg. Ein Ziegenpfad zwängte sich durch das Steingewirr. Er verlor sich irgendwo im Niemandsland. Der Anführer lenkte seine Schritte auf ein ausgetrocknetes Bachbett zu. In der Mitte verlief zwischen Kies und Geröll eine ausgetretene Spur. Man stolperte voran mit gesenktem Kopf und hängenden Schultern, um sich gegen die immer noch stechende Sonne so gut es eben ging zu schützen.   
  Schon seit einiger Zeit beobachtete Schönberg, dass al-Dorhanis Frau das rechte Bein stark nachzog. Er blickte genauer hin und sah, dass dem Schuh die halbe Sohle fehlte, und dass der Fuß blutete.
   „Einen Augenblick!“ rief er dem Hünen zu, „der Fuß der Frau blutet stark! Er muss verbunden werden!“ Ohne eine Antwort abzuwarten, forderte er Marjam auf, sich zu setzen und den Schuh auszuziehen. Der Strumpf war mit wässrigen Blut durchtränkt. Schönberg riss einen Ärmel aus seinem Hemd und umwickelte den Fuß so fest wie eben möglich. Darüber zog er den Schuh und sagte: „Für´s erste wird es gehen. Im Notfall habe ich ja noch des restliche Hemd!“
   Marjam sah ihn dankbar an. Das Oval ihres Gesichts, das der Hidschab freiließ, bestand nur aus Lippen und Augen. Wieder leuchteten sie wie uralter goldener Bernstein. Wieder  fühlte sich Schönberg bis ins Innerste getroffen.
   
  Die Gruppe kam jetzt immer langsamer voran. Mittlerweile hinkte auch Weber. Sogar al- Dorhani schien es nicht gut zu gehen. Er blieb mehrfach stehen, um zu verschnaufen, dabei stöhnte er leise. Es war ersichtlich, dass er am Ende seiner Kräfte war. Doch ein Kämpfer trieb ihn mit Rippenstößen weiter. Die ständigen Verzögerungen machten die Entführer anscheinend nervös.
   Nach einiger Zeit sagte al-Dorhani etwas. Seine Frau, die jetzt vor ihm ging, drehte sich um. Schönberg sah, dass er ihr verstohlen ein Zeichen gab. Nach wenigen Metern blieb der Pashtune erneut stehen, schwankte und fiel stöhnend zu Boden.  Seine Frau warf sich mit einem Aufschrei über ihn. Weber, der hinter den beiden ging, wäre fast über sie gestolpert. Die Kämpfer ließen die Verschlüsse ihrer Gewehre knacken und stießen heisere Drohungen aus. Einer dieser rohen Gesellen gab der jungen Frau mit seinem Karabiner einen so kräftigen Rippenstoß, dass sie stöhnend  zur Seite fiel.
   Der Doktor beobachtete diese Szene mit Abscheu. Wenn al-Dorhani auch nicht sein leiblicher Bruder war und die Frau für ihn unerreichbar, so fühlte er sich doch irgendwie für die beiden verantwortlich. Unbeherrscht schrie er den Kämpfer auf Dari an: „Was tust du da, du Unmensch? Geht ein rechtgläubiger Sohn Allahs so mit einer Frau um? Kennst du den Koran nicht?“ Er war kurz davor, die Nerven zu verlieren.
   Der Gemaßregelte kniff die Augen zusammen und fuchtelte mit seinem Karabiner vor Schönbergs Nase herum. Außer sich vor Wut brüllte er: „Du wagst es, den Namen Allahs auszusprechen... Ich erschieße dich, du ungläubiger Hund!“ Er wurde jedoch von dem hünenhaften Anführer der Räuberbande beiseite geschoben. „Wir brauchen ihn lebend“, sagte er, „als Leiche nützt er uns nichts.“
  Der Doktor kniete sich unbeeindruckt von dem Gezeter nieder. Aufmerksam fühlte er al-Dorhanis Puls.
   „Ach, Deutscher, du sprichst unsere Sprache“, sagte der Hüne, der näher getreten war. Verwundert blickte er auf den Arzt herab. „Bei Allah! Das ist gut, sehr gut sogar! Das steigert deinen Wert! Aber hüte in Zukunft deine Zunge!“
   Schönberg kniff verärgert die Lippen zusammen. Der Sprachvorteil war im Eimer.
   Al-Dorhani lag da, unbeweglich, mit Schaum vor dem Mund. Sein Atem ging keuchend, die rechte Hand presste er krampfhaft auf die Brust. Ein epileptischer Anfall? Eine Herzattacke? Ein Schwäche infolge starker Dehydrierung?
   Schönberg schüttelte leicht den Kopf. Der Puls war zwar erhöht, aber nicht besorgniserregend. Außerdem lag al-Dorhanis Hand nicht auf der linken, sondern auf der rechten Seite der Brust. Schönberg überlegte. Wenn deine schwache Frau die Tour bisher ausgehalten hat, wieso fällst du kräftiger Mann plötzlich um? Er betrachtete das wettergegerbte Gesicht des Daliegenden. Obwohl es zur Maske erstarrt war, vermeinte Schönberg ein leichtes Grinsen zu erkennen.
   Marjam hatte sich stöhnend wieder aufgerichtet und kniete jetzt neben ihrem Gatten. Schönberg spürte ihren hastigen Atem und roch den leisen Parfümduft, der immer noch ihren Wangen entströmte. Der Pashtune atmete jetzt ruhiger. Er sah den Doktor unter halb geschlossenen Lidern starr an. Das rechte Augenlid zuckte.
  Auf einmal erkannte Schönberg in jenem Blick die ganze Durchtriebenheit dieses Volkes. Wie sonst auch hätte es die Jahrhunderte von Fremdherrschaft, von Vergewaltigung, Mord und Gemetzel überstehen können. Al-Dorhani lieferte eine gekonnte Komödie ab, um den sturen Anführer zur Rast zu zwingen. Der Doktor brachte seinen Mund nah an al-Dorhanis Ohr. „Du bist nicht herzkrank, Bruder“, flüsterte er fast unhörbar, „du bist ein guter Schauspieler!“ Al-Dorhani kniff ein Auge zusammen.
   Schönberg erhob sich. „Der Mann hat einen leichten Herzanfall“, sagte er, „ich muss auf einer Pause bestehen, um ihn gründlicher zu untersuchen. Weitergehen kann er erst einmal nicht. Und er braucht dringend Wasser.“
   „Und nicht nur er!“ rief Weber mutig.
   Das Geschrei der Krieger verhieß nichts Gutes. Die Lage war wieder kritisch. Einer der Kämpfer brüllte: „Steh auf, du Hurensohn!“ und richtete seinen Karabiner auf al-Dorhanis Kopf. Es war derselbe, der Marjam eben den Rippenstoß versetzt hatte.
  „Warum willst du ihn töten?“, fragte die junge Frau und sah an dem Mann vorbei, „er glaubt an den gleichen Gott wie du!“
   „Allah gibt jenen, die keine Zähne haben, Nüsse“, sagte Schönberg.
   Es gab noch mehr Geschrei, aber es fiel kein Schuss. Auf einen markigen Befehl des Anführers hin ebbte das Tamtam ab. Anscheinend hatte er Weisung, nicht nur den Arzt lebend ins Camp zu bringen. Mit einem verächtlichen Blick auf al-Dorhani winkte er zwei seiner Leute herbei und entfernte sich mit ihnen.
   Schönberg drehte sich nicht um. Er spürte ihren Atem. Die Frau stand neben ihm und flüsterte: „Danke!“
   Die drei Kämpfer diskutierten heftig. Mit ihren Karabinern stießen sie Löcher in die Luft. Schließlich kamen sie zurück, und der Hüne befahl: „Er bleibt hier, die anderen gehen weiter.“
   „Nein, ich bleibe bei ihm“, sagte Schönberg bestimmt. „Schließlich bin ich Arzt und zur Hilfeleistung verpflichtet. Ich weiß, in diesem unheiligen Land wird niemand wegen unterlassener Hilfeleistung zur Rechenschaft gezogen. Schlimm genug, aber ich tu es trotzdem. Erschieß´ mich, wenn du willst. Doch es wäre besser, du gibst uns zu trinken.“
   „Wir haben selbst nicht genug!“
   „Beim Scheitan, dann besorg´ welches!“ schrie Schönberg aufgebracht. „Steht nicht geschrieben: 'Und sie haben an Ihm ihren Nutzen und zu trinken?' Zu TRINKEN! Jetzt erzähl´ mir nicht, das gilt nur für Muslime!“
  Der Anführer hörte diese Sätze, die der deutsche Arzt erbost, aber in gepflegtem Dari schrie, mit unbewegtem Gesicht an. Er war wütend, erstens über den Ton, zweitens darüber, dass der 'ungläubige Hund' sich im Koran anscheinend besser auskannte als er selbst. Die Koranfestigkeit dieses ungläubigen Hundes schien ihm zu imponieren. Mehrmals strich er sich unschlüssig den krausen Bart, sagte aber nichts. Auf seiner verspiegelten Brille explodierte das Licht der untergehenden Sonne. Er rührte sich nicht.
   Schönberg platzt der Kragen. „Was stehst du hier herum und starrst Löcher in die Luft“, zischte er, „los, beweg´ gefälligst deinen Hintern und besorg´ was zu trinken!“
   Man hätte eine Stecknadel fallen hören können, so still war es. Alle blickten den Hühnen gespannt an.
   Der stand unbewegt, wie zur Salzsäule erstarrt. Nur seine Halsmuskulatur arbeitete stark. Schließlich sagte er sichtlich verwundert. „Bei Allah, hast du eigentlich keine Angst, Fremder?“
   „Warum sollte ich Angst haben, und vor wem?“, kam es kalt zurück.
   Der Hühne trat näher an den Doktor heran. Sein Gesicht mit der dunklen Brille glich einer U-Bahn. Schönberg roch seinen schlechten Atem, als der Hüne sagte: „Deine Worte sind stark und gut gewählt! Na schön, Doktor, fünfzehn Minuten Pause!“ Er winkte einen Kämpfer heran und raunte ihm etwas zu. Der Mann trabte ab. Dann kletterte er auf einen hohen Stein, von dem aus er die Gruppe im Auge behielt.
   „Was ist mit dem Wasser?“ rief  Schönberg.
   „Stell keine unnützen Fragen und warte ab!“, kam es grob zurück. Doch trotz des rauen Tones, den die Kämpfer nach wie vor an den Tag legten, behandelten sie Schönberg von jetzt ab mit einer gewissen Zurückhaltung. Sie gehorchten sogar seinen Anordnungen.
   Die junge Frau stellte sich neben den Doktor. „Das ist nochmal gutgegangen“, raunte sie. „Aber bitte nicht noch einmal!“
  „Wo soll denn in dieser heißen Bratpfanne Wasser zu finden sein?“, fragte Weber nach einer Weile. Er  sah Schönberg fragend an.
   „Dies ist ein Karstgebirge“, erklärte der Doktor bereitwillig, „irgendwo muss es hier einen unterirdischen Bach oder Fluss geben. Wenn mich nicht alles täuscht, ist der Untergrund durch versickerndes Wasser ausgehöhlt wie ein Schweizer Käse.“ Auch in dieser alles andere als gemütlichen Situation konnte er es sich nicht verkneifen, an Webers lückenhafter Bildung zu arbeiten. „Entweder sind wir dem Ziel schon sehr nahe, oder es gibt hier irgendwo versteckte Quellen oder Brunnen.“
   In der Tat, nach knapp zehn Minuten war der Krieger mit zwei vollen Feldflaschen zurück.
   Weber, der von von dem Schauspiel des Pashtunen nicht das Geringste ahnte – er war überzeugt, der Mann habe einen Herzinfarkt erlitten – und Marjam legten den angeblich schwerkranken Mann in den Schatten einer überhängenden Felswand. Al-Dorhani spielte seine Rolle weiter und stöhnte herzerweichend. Nach einer Weile beugte sich der Doktor über ihn, um ihm noch einmal den Puls zu fühlen. Damit wollte er der Komödie mehr Realität verleihen, denn die Kämpfer ließen al-Dorhani nicht aus den Augen.
  Der Pashtune blickte den Doktor an. „A´Ischa, der Bote Gottes spricht“, sagte er vernehmlich, „niemals sah ich jemanden, der größere Schmerzen ertragen muss als der Gesandte Allahs.“
  Schönberg verstand. Er erhob sich wieder. Der Pashtune hoffte, als der 'Gesandte Allahs' betrachtet zu werden und dadurch vor weiteren Misshandlungen sicher zu sein.

   Arzt und vermeintlicher Patient blieben unter Bewachung zweier Kämpfer zurück,  der Rest des Trupps machte sich wieder auf den Weg. Allmählich wurden die Schatten länger, es kühlte sich sogar etwas ab. Obwohl ihnen der kühle Trunk gut getan hatte, schleppten sich Marjam und Weber, der immer noch hinter ihr ging, nur wenig erfrischt dahin. Weber bewunderte die Leichtigkeit, mit der sich die junge Frau trotz ihres schlimmen Fußes bewegte.
  Das Bachbett verengte sich wieder. Für einen Moment sah es so aus, als ginge es nicht mehr weiter. Ein riesiger Felsbrocken lag wie ein versteinerter Dinosaurier quer zum Trampelpfad, davor wucherte dichtes, auf den ersten Blick undurchdringlich erscheinendes Weidengestrüpp. Jemand, der mehr mit den Dingen der Natur vertraut gewesen wäre als Weber, hätte hier irgendwo Wasser vermutet. Aber er war zu sehr mit sich beschäftigt. Die Blase an seinem Hacken war aufgeplatzt. Jeder Schritt wurde zur Qual.
  Der Führer, ein blutjunger Kämpfer mit einem Ziegenbart am Kinn und Pusteln auf der Stirn, drang in das Gestrüpp ein. Dann gab er ein Zeichen, zu ihm folgen. Wider Erwarten setze sich der Trampelpfad zwischen Gebüsch und Felsen nach links fort, nur wurde er noch enger und steiler und das Gehen immer mühsamer. Häufig mussten scharfe Grate und breite Spalten überwunden werden. Zuweilen peitschten ihnen Weidenzweige ins Gesicht.
  Allmählich änderte sich der Charakter des Geländes. Beengten vorhin noch hoch aufragende Felswände die Sicht, so war es jetzt das Abgründige, das den Blick auf sich zog. Das Felsige trat zurück; immer öfter zeigten sich tiefe, breite, fast kreisrunde Vertiefungen im Boden. Ihr lehmiger Grund  war dicht mit saftig grünem Gebüsch bedeckt, in dem kleine bunte Vögel geschäftig hin und her huschten.
  Der Weg war jetzt kaum noch zu erkennen. Schließlich verlor er sich zwischen den Dolinen. Der Boden, auf dem die Gruppe am Ende ihrer Kräfte mehr stolperte als ging, war verkarstet; überall zeigten sich tiefe Rissen und Spalten, in denen Bulte schneidend scharfen Pampagrases wuchsen. Das lose Geröll, das bei jedem Schritt ins Rollen kam, machte das Gehen über die Maßen anstrengend. Doch der Führer ließ sich nicht beirren. Zielstrebig und ohne zu zögern setzte er seine Füße.
   Die Kämpfer waren jetzt genau so erschöpft wie die Gefangenen. Keiner redete ein Wort; man hörte nur keuchenden Atem und das knisternde Geräusch der Schritte. Zuweilen mussten sie mehr rutschend als gehend steinige Abhänge überwinden. Weber war solche Gewalttouren in keiner Weise gewohnt; er blickte auf seine aufgerissenen Hände und verfluchte lauthals die Stunde seiner Geburt.
   „Ahhh!“
 Vor ihnen tat sich ein faszinierender Anblick auf. Sie standen am Rande einer riesigen Doline von der Größe mehrerer Fußballfelder. Ihre Wände stürzten atemberaubend steil in die Tiefe. Man sah auf ein dichtes Blätterdach, aus dem vereinzelt einige hohe Schirmakazien herausragten. Über dem jenseitigen Ende des grandiosen Erdfalls bohrte, von der Abendsonne rot entflammt, ein Gebirgszug seine blutenden Grate in den Himmel. Und in noch weiterer Ferne leuchteten, wie über Wolken und in grellem Kontrast, die weißen Schneegipfel des Hindukusch. Sogar Marjam, die sich kaum noch auf den Beinen halten konnte, schien beeindruckt. Sie blickte nach oben. Die Bussarde standen jetzt genau über ihnen.
   Das Ziel war erreicht.
   Die Krieger trieben die Gefangenen weiter an. Eine Weile gingen sie am Rande des  Erdfalls entlang, schließlich standen sie an einer schmalen, grob ins Gestein gehauenen Treppe, die ziemlich steil in die Tiefe führte. Die Stufen waren ausgetreten und in der sich ausbreitenden Dunkelheit schwer zu erkennen.
   „Da geht´s hinunter!“, befahl der Kämpfer mit dem Ziegenbart. Mit ausgestrecktem Arm wies er auf die Steintreppe.  

                                                                   6
   Es war das perfekte Versteck. Der Eingang zu dem ausgedehnten Höhlensystem lag hinter dichtem Gebüsch verborgen. Das Erlenwäldchen, das den Boden des Talkessels wie ein verfilzter Teppich bedeckte, sorgte dafür, dass ankommende oder abgehende Kämpfer aus der Luft nicht erkannt werden konnten. Keiner der Gefangenen ahnte, dass es in dieser Gegend noch sehr, sehr viel raffiniertere Schleichwege gab.
 Der Doktor und al-Dorhani trafen etwa zwei Stunden später als Weber und Marjam ein. Al-Dorhani, der immer noch den Gebrechlichen spielte, stützte sich auf der Schulter Schönbergs ab. Mit gekrümmtem Rücken stolperte er in die Höhle hinein. Er hinkte jetzt stark. Es war wirklich nicht zu erkennen, ob er spielte oder wirklich krank war und Schmerzen litt. Er stöhnte laut und mit offenem Mund. Eine Szene wie auf einem Bild des Hieronymus Bosch.
   Immerhin hatte es der 'Gesandte Allahs' erreicht, dass ihn der Anführer weniger roh behandelte. Wenn der Pashtune stehen geblieben war, angeblich um zu verschnaufen, hatten die Kämpfer geduldig ohne Gebrüll und Karabinergefuchtel gewartet. Es sollte sich aber nur allzu bald zeigen, dass nicht al-Dorhanis 'Gottesgesandtschaft' für diesen Stimmungsumschwung gesorgt hatte, sondern Schönbergs beherztes Auftreten.
  Schließlich standen sie in der Höhle mit den Ausmaßen einer mittelgroßen Moschee. Sie hätte bestimmt zweihundert Gläubigen Platz geboten. Der Boden war geebnet und mit Brettern ausgelegt. Der beißende Qualm vieler Petroliumlampen, die qualmend und blakend auf roh gezimmerten Tischen standen, erfüllte die Luft. Drum herum saßen oder lagen einige Dutzend Kämpfer, viele rauchten, einige schienen zu schlafen. In den kleineren Höhle dahinter herrschte ein reges Kommen und Gehen.
  Noch ehe der Doktor Zeit fand, sich weitere Einzelheiten einzuprägen, sagte der Hüne. „Der Pashtune bleibt hier, du kommst mit.“ Auf seinen Wink hin eilten zwei bewaffnete Männer herbei, nahmen al-Dorhani, der mit hängendem Kopf dastand, in ihre Mitte und brachten ihn weg.
   Der Kämpfer führte Schönberg über eine wacklige Holztreppe auf eine Art Galerie an der rechten Seite des großen Höhlen-Domes, hinter der mehrere kleinere Nebenhöhlen lagen. Aus einer dieser Höhlen erklang gedämpftes Gemurmel. Der Hüne trat ein und meldete: „Kommandant, Motaram Daaktar – der Herr Doktor!“ Dann trat er zurück und blieb im Höhleneingang stehen.
   Der Schönberg trat ein. Von der Decke hing eine nackte Glühbirne und verbreitete mattes Licht. Der Boden war mit zerschlissenen Teppichen ausgelegt. An einer Wand hing ein Foto, dass die heilige Stadt Mekka aus der Vogelperspektive zeigte.
  An dem roh gezimmerten Tisch saßen vier bärtige Männer. Sie blickten den Ankömmling erwartungsvoll an. Alle waren bewaffnet. Irgendwo ratterte ein Stromgenerator. Keiner der Männer rührte sich. Im Hintergrund zwei weitere Gestalten mit Sturmgewehren in den Händen. Ein Blick genügte, um zu erkennen: Die eine Gestalt war eine Frau. Ein weiterer: Es waren alte deutsche G3-Sturmgewehre.
   In die mittlere Figur am Tisch kam Bewegung. Der Mann war etwas kleiner als seine Nachbarn und trug eine schwarze Klappe über dem linken Auge. „Bismillah rahman rahim!“, begann er. Die übliche Begrüßungsformel der Muslime. „Ich bin Kommandant Rawschad Khan. Und du bist der deutsche Arzt Doktor Hartmut Schönberg.“ Anscheinend gelangweilt blätterte er in einem dicken Papierstapel herum, der vor ihm lag. „Komm doch näher“, sagte er auf deutsch.
   Überrascht trat Schönberg einen Schritt vor.
   „Du hast nicht damit gerechnet, hier unten deutsche Worte zu hören“, fuhr der Kommandant sichtlich stolz in Schönbergs Muttersprache fort. „Ich habe in Leipzig Jura, Betriebswirtschaft und Philosophie studiert – nicht um mehr Wissen anzuhäufen, denn alles, was ein gläubiger Jünger des Propheten wissen muss, steht im Koran. Nein, ich wollte herausfinden, wie ihr Westler fühlt und denkt. Und nachdem ich eure Denkweise verstanden hatte – eure Gefühlswelt habe ich nie begriffen –, entschloss ich mich, meine Erkenntnisse in den Dienst unserer Religion zu stellen.“ Der Mann daneben nickte eifrig. Er hatte Schlitzaugen und war unförmig dick. Weil sein Bauch nicht in die Hose passte, hatte er sie geöffnet.
 „Ich liebe dein Land und besonders deine Sprache“, fuhr der Kommandant mit knarriger Stimme fort. „Von den Franzosen haben wir das logische Denken gelernt, von den Russen das Fluchen, und von euch Deutschen das Kommandieren.“ Er grinste, salutierte scherzhaft und brüllte: „Jawoll, Herr General! Im Lauf-schritt, marsch, marsch! Abtei-lung – halt!“  Er lachte bellend wie ein heiserer Fuchs. „Sogar das bekannte O.K. stammt von einem deutschen General!“ Er blickte den Doktor eine Weile an und fuhr etwas ruhiger auf Dari fort: „Du bist ein mutiger Mann, Motaram Daaktar, wie ich höre, und du sprichst unsere Sprache. Das wird sehr nützlich sein. Außerdem kennst du dich im Koran aus. Sage mir: Welche ist die längste Sure?“
   „Die sechste. Sie umfasst hundertfünfundsechzig Verse“, antwortete Schönberg prompt in der Originalsprache.
    „Und welchen Namen trägt die zweite?“
   „Al-Baqara, die Kuh.“
  Der Schlitzäugige hörte auf, mit seinem Revolver zu spielen. Verblüfft blickte er den Motaram Daaktar an. Dass ein Giaur, ein ungläubiger Hund, die Sprache des Propheten besser beherrschte als er sebst, ging über seinen Verstand.
    „Sehr gut!“ rief der Kommandant anerkennend, und sein gesundes Auge zwinkerte vertraulich, „du kennst dich anscheinend besser im Koran aus als mancher meiner Krieger!“  
   „Das will ich dir gerne glauben!“, versetzte Schönberg. „Die Bedeutung der Religion nimmt auch in diesem Land immer mehr ab.“
   „Da hast du zweifellos Recht! Diese Entwicklung ist sehr zu bedauern, denn der Koran weist uns den Weg.“
   „Darüber kann man geteilter Meinung sein. Momentan bezweifle ich, dass du dich auf dem richtigen Weg befindest.“
   Der Kommandant tat, als habe er die provozierende Bemerkung des Fremden nicht verstanden. „Auch da hast du zweifelsohne recht, Doktor“, sagte er beherrscht, „manchmal erreicht man das Ziel nur auf Umwegen. Diese Umwege können manchmal hart und steinig sein. Doch der Mensch wächst an seinen Prüfungen und findet so zu Gott!“
   Schönberg brauste auf. „Was soll das? Worauf willst du hinaus, Kommandant? Du hast mich doch nicht entführt, um mit mir über Gott und die Welt zu plaudern! Außerdem würde ich mich gerne setzen und etwas trinken!“
   „Aber natürlich, entschuldige! He, du da! Einen Stuhl und Wasser!“
   Der Kommandant wartete, bis Schönberg saß und getrunken hatte. Dann sagte er: „Wir haben dich und deinen Freund entführt“, sagte der Kommandant, als Schönberg Platz genommen hatte, „weil wir dringend medizinisches Personal und Material benötigen, sehr dringend sogar. Nun ja, das wirst du dir wahrscheinlich schon gedacht haben. Die beiden anderen sind sozusagen nur Beifang. Pech für sie.“ Sein Gesicht verzog zu einem widerwärtigen Grinsen. „Es sollte möglichst ein deutscher Arzt sein, denn eure Ausbildung gilt weltweit als die beste. Aber nicht nur das schätze ich an dir.“ Das Auge des Kommandanten blinzelte. Zum ersten Mal versuchte er, sein Gegenüber offen anzusehen. „Du bist ein Mann mit Grundsätzen! Du nimmst den hypokratischen Eid sehr ernst. Sogar Drohungen schrecken dich nicht ab, wenn es darum geht, einem Leidenden zu helfen. Das imponiert uns!“ Die beiden finsteren Gesellen rechts und links neben ihm nickten eifrig. „Nun gut, ich komme zur Sache. Wir haben hier einige schwer verwundete Kämpfer, die dringend medizinisch versorgt werden müssen. Den Arzt, der bisher hier den Dienst versah, ein opiumsüchtiger Quacksalber, mussten wir leider... äh... liquidieren, und unsere beiden Sanitäter sind am Ende ihres Lateins, wie man bei euch sagt. Wahrscheinlich muss sogar einem meiner Leute ein Bein amputiert werden.“
   „Ich habe lange nicht mehr praktiziert“, wandte Schönberg sicherheitshalber ein. Bei sich dachte er: Genau das habe ich immer befürchtet. Sie entführen dich, machen dir Angst und spießen dich an deinem Eid auf.
   Der Kommandant nahm ein Blatt zur Hand und beäugte es aufmerksam. Dann sagte er: „Du hast dich in Heidelberg als Chirurg ausbilden lassen und zwei Jahre am UKE in Münster in diesem Beruf gearbeitet. Nicht ohne Erfolg, wie ich hier lese. Dann hast du diesen aussichtsreichen Posten plötzlich verlassen und bist zu uns in dieses Land gekommen. Sage uns, Doktor, warum?“
   „Wieso fragst du, wenn du es schon weißt?“
   Schönberg sah betreten auf den Boden mit den halb zerfetzten Teppichen. Das war jetzt eine peinliche Angelegenheit! Er nahm an, der Kommandant –  wahrscheinlich sogar seine gesamte Muschpoke – wusste es. Und natürlich auch, dass er in Wirklichkeit nicht Schönberg sondern Krähwinkel hieß.
   Die #me too-Bewegung nämlich hatte auch ihn ereilt.

  Das alles lag nun schon lange zurück. Zwei der Frauen, die vor Gericht gegen ihn aussagten, hatte die Richterin sofort als unglaubwürdig entlarvt. Dann war da eine ehemalige Studentin, die sich einbildete, er habe sie durchs Examen fallen lassen. Mit blühender Fantasie schilderte sie Einzelheiten, die nie stattgefunden hatten. Auch die schied im Kreuzverhör als Zeugin aus. Mit der anderen Dame hatte er einvernehmlich Sex gehabt, allerdings mehr schlecht als recht. Er konnte sich nicht mehr erinnern, wer von ihnen damals die treibende Kraft gewesen war. Schnell wurde er den Verdacht nicht los, sie habe sich die Stelle als Oberärztin in seiner Abteilung erschlafen wollen. Die Hoffnungen der Dame erfüllten sich nicht. Nun bezichtigte sie ihn der Vergewaltigung.
  Die Richterin glaubte der Frau mehr als ihm. Da die angebliche Tat schon etliche Jahre zurück lag und ihm keine weiteren Übergriffe nachgewiesen werden konnten, verurteilte sie ihn zu sechzehn Monaten auf Bewährung. Dadurch war er vorbestraft und verlor seine Approbation.
   Seltsamerweise empfand er die Strafe fast als gerecht. Seine Weste war keineswegs so blütenweiß gewesen, wie er seiner Frau jahrelang vorgegaukelt hatte. Wer die Hierarchie in einer deutschen Klinik kennt, weiß, dass ein Abteilungsleiter ein sehr mächtiger Mann auf der Etage ist. Und er hatte manchmal ordentlich zugelangt...   
   Nach Verbüßung seiner Strafe und der Scheidung – Kinder waren keine da – setzte er sich ins Ausland ab. In Deutschland durfte er sich zwar noch Doktor der Medizin nennen, aber mit dem Praktizieren war es vorbei. Doch seine Diplome und Zeugnisse waren hervorragend. Zunächst versuchte er in Kenia, sich wieder als Arzt zu betätigen. Nach einiger Zeit stellte er jedoch fest, dass ihm die Mentalität der Leute in dem ländlichen Gebiet, das ihm zugewiesen worden war, nicht zusagte. Ständig stand er in Konkurrenz zu den eingeborenen Medizinmännern. Dann hörte er von einem Bekannten, einem Kinderarzt, dass in Shangoran und Ghazani händeringend ein Kinderarzt gesucht wurde. Allerdings warnte ihn der Mann eindringlich. Er müsse zweimal die Woche durch das Gebiet einer Terroristenmiliz pendeln.
  Allah ist groß, und der Weg von Deutschland ist weit! Weil die wenigsten Staatsbediensteten in Shangoran Deutsch lesen konnten, hatte es sich einfach Schönberg genannt, und niemandem war etwas aufgefallen, und wenn doch, dann hatte es niemanden groß gekümmert. Warum auch? Man war heilfroh, dass sich überhaupt jemand bereit fand, den aufreibenden Job als Leiter der beiden Kliniken zu übernehmen, bei dem immer die Gefahr bestand, als so genannter Kollateralschaden ums Leben zu kommen. Hauptsache, sagten sich die Verantwortlichen, der Mann macht seine Arbeit gut. Und Schönberg alias Krähwinkel machte seine Arbeit gut. Hinzu kam, dass er aufgrund seiner enormen Sprachbegabung und seiner Geschmeidigkeit im Umgang mit Lokalgrößen schnell von den Leuten als Ihresgleichen anerkannt wurde.
   Alle diese verschiedenen Erinnerungsfetzen schossen ihm jetzt wie ein eiskaltes Feuerwerk durch den Kopf.

   Rawschad Sahib grinste schief und legte das Papier zur Seite. „Schön, lassen wir das. Im Grunde geht uns dein Privatleben ja auch gar nichts an. Du bist nicht der einzige, der aus enttäuschter Liebe ein Helfersyndrom entwickelt und in unser Land kommt!“
   Gottseidank, er weiß nichts! jubelte Schönberg innerlich. Entweder blufft er nur, oder er sie haben ihm die falschen Papiere vorgelegt!
 „Es spielt auch jetzt keine Rolle mehr.“ Der Kommandant räusperte sich und blätterte weitere Papiere durch. Schönberg war sich jetzt sicher, dass diese Unterlagen nichts mit ihm zu tun hatten. Das Geraschel mit den Papieren sollte ihn nur einschüchtern.
   „Du kannst dir wahrscheinlich schon denken, was wir von dir verlangen, Doktor“, sagte der Kommandant nach einer Weile. „Wir erwarten von dir, dass du unsere verwundeten Krieger genauso sorgfältig behandelst wie einen dieser Hurensöhne der internationalen Allianz oder einen verwundeten Zivilisten.“
   Schönberg runzelte die Stirn.  Eine Lösegeldforderung wäre mir lieber, dachte er.
   „Doktor, dir bleibt keine andere Wahl“, fuhr der Kommandant fast zärtlich fort, als er Schönbergs besorgte Miene sah, „andernfalls müssen wir dich und deine Freund den Kopf abschlagen. Es würde mir leid tun, glaube mir, denn ein guter Arzt ist eine Gabe Allahs und hier nicht mit tausend Eseln aufzuwiegen! Aber du kannst dir sicherlich vorstellen, dass diese unterirdische Garnison auf keinen Fall verraten werden darf, bevor wir unsre Ziele erreicht haben.“ Er seufzte. „Es ist sowieso nur eine Frage der Zeit, bis sich hier ein Maulwurf einnistet. Heutzutage kann man niemanden mehr vertrauen, nicht einmal den eigenen Leuten.“ Sein Auge suchte Schönbergs Blick. „Wenn du dich bewährst, soll es dir und deinem Freund hier im Rahmen unserer Möglichkeiten an nichts fehlen. Betrachte dich doch einfach als unseren Gast. “
   Die Birne an der Decke flackerte ein paarmal und ging aus. Der matte Schein des Holzfeuers, der von unten hereinfiel, verwandelte die bärtigen Gesichter der Getreuen und ihres Chefs in zuckende rote Fratzen. Als das Licht wieder da war, saß der Kommandant über den Tisch gebeugt. Anscheinend fasziniert betrachtete er ein Astloch. Sein Atem ging heftig, und Schönberg erkannte, dass er litt. Sofort meldete sich der Arzt in ihm. „Hast du Schmerzen, Kommandant?“, fragte er.
   „Was gehen dich meine Schmerzen an!“ rief der Kommandant wütend. Seine Goldzähne blitzten. „Kümmere dich lieber um die Schmerzen meiner Kämpfer! Also, Doktor, hast du es dir überlegt? Willst du hier als Arzt arbeiten und unser Gast sein? Deine Rede sei ja, ja oder nein, nein. Ausflüchte gibt es nicht!“
   „Du sagtest es doch eben schon. Bleibt mir eine andere Wahl?“
  „Du hast Recht! Genau genommen nicht.“ Der Kommandant winkte verabschiedend  mit der Hand. „Du kannst gehen. Einer meiner Leute wird dich und Motaram Weber in eure Wohnhöhlen führen. Wenn du besondere Wünsche hast, lass es mich wissen. Aber vorher schaust du dir noch den verletzten Kämpfer an, der gerade hereingekommen ist. Er liegt im Lazarett. Ahmad wird dich hin führen.“ Einer der Beisitzer flüsterte dem Kommandanten etwas ins Ohr. „Ach, einen Augenblick noch, Doktor! Setz dich wieder! Kennst du den Befehlshaber der deutschen Sektion in Ghazani, einen gewissen Oberst Weizenkorn?“
   „Kennen wäre zu viel gesagt. Sein Name ist mir bekannt, ja. Aber wir Ärzte sind Zivilisten und haben mit der militärischen Führung nichts zu tun.“
   „Du kennst ihn also nicht. Hm... Weißt du vielleicht, ob der Oberst zuweilen den Stützpunkt außerhalb der Dienstzeit verlässt, um irgendwo – na sagen wir an verschwiegenen Orten geheimen Vergnügungen nachzugehen? Du kommst doch viel herum und hörst als Arzt sicherlich so manches.“
   „Davon ist mir nichts bekannt. Und wenn es mir bekannt wäre, würde ich es dir nicht sagen. Was willst du von ihm?“
   „Hier stellen wir die Fragen, merk´ dir das!“, meckerte der Dicke.
    „Warum setzt du nicht deine Spione auf ihn an?“, fuhr Schönberg ungerührt fort.
   „Bei Allah! Das würde ich ja gerne, verdammt gerne, aber es geht nicht!“
   „Und warum nicht?“
 Die Stimme des Kommandanten schwoll an. „Dieser Oberst ist einer der Sieben Teufel, von denen der Koran spricht. Der bloße Anblick einer dieser Teufel bewirkt, dass der Gläubige nicht mehr in den Himmel aufgenommen werden kann. Verstehst du? Ich kann und will keinen meiner Kämpfer zwingen, diesen Unmenschen zu beschatten! Er müsste sich dabei seinem Anblick auszusetzen und würde dadurch die ewige Seeligkeit verlieren.“
   „Nimm doch ausländische Kämpfer, die nicht an den Teufel glauben!“
   „Bisher hat sich noch niemand bereit erklärt. Und, wie gesagt, zwingen will ich niemanden. Schließlich ist der Teufel Fakt!“
  Schönberg wollte kein Spielverderber sein und fragte: „Was hat er denn Schlimmes getan, dieser Oberst, dass du ihn so verteufelst? Er übt doch nur sein Handwerk aus, genau so wie du!“
   Der Dicke schnaufte und ließ mehrmals den Verschluss seines Revolvers knacken. „Ich verbitte mir solche Vergleiche!“ rief er aufgebracht, „wir sind ehrliche Krieger, aber dieser Oberst ist ein verdammtes Schwein! Er zwingt gefangene Kämpfer, mit Schweineblut befleckte Hostien zu essen.“ In seinem stark erregten Hamstergesicht spiegelten sich Wut und Hass.
   „Wie? Er zwingt Kämpfer, Hostien mit Schweineblut zu essen? Das ist allerdings stark!“ Schönberg wirkte sichtlich betroffen. „Das höre ich jetzt zum ersten Mal. Wenn das stimmt, gehört der Mann vor´s Kriegsgericht.“
   „Willst du etwa behaupten, der Kommandant lügt?“, mischte sich der andere Beisitzer ein. Er hatte bis jetzt geschwiegen und sah es an der Zeit, endlich auch etwas zu sagen. Seine Stimme klang unnatürlich gepresst. Es klang, als könne er jeden Moment platzen.
   Schönberg schüttelte den Kopf. „Ich will gar nichts behaupten! Dieser Oberst ist mir völlig gleichgültig! Ich finde es nur so unglaublich, weil sich der Oberst, soviel ich weiß, bisher stets an die Genfer Konvention gehalten hat.“
   „Es stimmt“, sagte Rawshad Khan, „das tut er, aber nur außerhalb der Garnison, da, wo die Fernsehteams und die Kriegstouristen herumlaufen.“ Seine Mimik hatte sich wieder beruhigt. „Wir besitzen ein Video, das dieses Verbrechen und noch andere eindeutig belegt.“ Er schwieg bedrückt.
   Schönberg hatte den Eindruck, dass der Kommandant gleich vom Stuhl fallen könnte und bereitete sich schon auf einen Rettungssprung vor.
   „Dir wird es nicht entgangen sein, Doktor“, fuhr der Kommandant jedoch nach einer nachdenklichen Weile fort, „dass ich ein todkranker Mann bin. Mir sind nur noch wenige Jahre vergönnt, wenn überhaupt. Und ich will es noch erleben, dass dieser Teufel dahin fährt, woher er gekommen ist: Zur Hölle! Ich kann nicht warten, bis das Tribunal seinen Spruch bekannt gibt, wenn es denn überhaupt jemals einen Spruch fällt.“ Seine magere Gestalt straffte sich. „Wir werden ihn fangen und liquidieren, verlass dich darauf! Und wenn ich die Hälfte meiner Männer opfern muss!“ Er sackte wieder in sich zusammen. „Nun gut, damit hast du nichts zu tun, Allah sei´s gedankt... Du kannst jetzt gehen.“
  „Eine Frage noch! Was geschieht mit dem Mann und seiner jungen Frau, die bei uns waren? Der 'Beifang', wie du dich ausdrücktest.“
  Der einäugige Kommandant hieb überraschend heftig mit der Faust auf den Tisch. „Hast du nicht gehört?“ brüllte er unter den Glitzern seines Auges, „die Fragen stelle ich! Geh jetzt und mach dich an die Arbeit!“

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wunderkerze
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Beitrag07.02.2019 14:01
Antwort
von wunderkerze
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hallo, ihr Lieben
habe gerade zwei weitere Kapitel eingestellt

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nicolailevin
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Beitrag08.02.2019 01:00

von nicolailevin
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Okay, sehr gut, die Fabel hilft weiter. Danke! Jetzt seh ich viel klarer.

Die Idee gefällt mir sehr gut, warum soll das nicht funktionieren? Und gerade in so einer Weltgegend wie Afghanistan, wo man an vieles denkt, nur nicht an Liebe ... Find ich interessant.

Zu den Figuren: Ich sehe die Gefahr, dass in der Geschichte - so Banane das jetzt klingen mag - Liebe und Sex zu sehr verwischt werden, vor allem bei Weizenkorn (BTW für den Namen eines adeligen Offiziers m.E. zu ungewöhnlich, ich denke da eher an eine jüdische Familie). Der hat des Geldes wegen ohne Liebe geheiratet (wobei: Wofür braucht er als ordentlich bezahlter Offizier die Familienkohle so dringend?), im Bett daheim ist es langweilig, er liebt seine Frau nicht besonders und turnt deshalb nur zu gern in der Welt herum. Sex kauft er sich, aber wenn wir ehrlich sind, ist das auch scheiße. Mir würde das als Ausgangspunkt für eine "große Liebe" voll und ganz reichen. Ich würde auf den Fetisch verzichten; ich denke mir, so ein Fußfetisch hält ihn vielleicht ab von sexueller Befriedigung (wobei er die ja zur Not käuflich bekommt), aber so im eigentlichen Sinne hat er doch nichts mit Liebe zu tun.

Schönberg dagegen ist sexsüchtig. Einverstanden. Nach meiner Erfahrung sind das Leute, die innere Leere mit körperlicher Lust übertünchen wollen. Steht ein bisschen im Konflikt damit, dass Arzt ohne Grenzen eigentlich ziemlich sinnstiftend und erfüllend sein müsste; vielleicht muss an der Stelle noch was erklärt werden. Was für meine Begriffe gut funktionieren müsste, ist, dass so ein Sexsuchtler - jenseits körperlicher Begierde - wie von dir geplant, unverhofft die echte Liebe findet.

Deine Charakterisierungs-Logik "Schönberg will soviel Sex, dass er auch nach Männern schielt" greift dagegen für mich nicht. Sexsüchtige (ich kenne zwei Exemplare) sind sehr eindeutig orientiert und halten dann die Standards niedrig: Eher zielen sie auf Objekte, die andere als unattraktiv empfinden, zu alt, zu ungebildet usw. Ganz ohne Alkohol "saufen sie sich die Weiber schön". Auch die Logik "selbst kleinste Mädchen" passt nicht, das hatten wir ja schon. Was Sexsüchtige hingegen anzieht, ist nach meiner Erfahrung Pornografie.

Zu dem ganzen Drumherum: Wenn es dir um so eine wunderbare, im Grunde altmodische Fabel geht, würde ich all die Info zu diesen sehr konkreten politisch-sozial-historischen Hintergründen und Zusammenhängen komplett beiseite lassen und den Krieg nur als Dekor nehmen. Da finden sich reichlich Soldaten aller Seiten im Land, einer schießt auf den anderen, die Grundlogik Westen gegen Islamisten kennt eh jeder, da würde ich gar nichts tiefer erklären, sondern die Figuren auf einer untergeordneten Eben durchs geheimnisvolle Kriegsgeschehen lotsen: Die wissen nicht so genau, wer wo gegen wen schießt, es ist ihnen auch egal, sie haben ihre eigenen Probleme, und davon reichlich. Mitten in diesem Krieg zwischen Landminenräumern und MG-Nestern ereignet sich fast märchenhaft dieses Liebesabenteuer. Da kannst du dann auch schön kontrastieren zwischen einer unbestimmten Hässlichkeit der Welt und der Schönheit im Auge des Betrachters. Nur darfst du es eben nicht durch zu viel Erklären kaputt machen, da muss viel unbestimmte Magie bleiben.

Noch was Technisches: die Sprachen. Da rutschst du immer wieder in Plausi-Fallen. Ich hab mir überlegt, ob du beim Schreiben nicht die Sprachen farblich markieren solltest. Dialog auf Englisch: schwarz, auf Deutsch: blau, auf Pashtu: grün usw. Dann siehst du, wo es wechselt und musst dir jedesmal aktiv überlegen, in welcher Sprache die jetzt reden. Und das solltest du dann viel häufiger dem Leser auch mitteilen, ich frag mich bei jedem zweiten Dialog, in welcher Sprache die jetzt schwätzen.
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wunderkerze
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Beitrag11.02.2019 17:26

von wunderkerze
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5

   Weber musste für einige Zeit fest geschlafen haben, denn als er die Augen aufschlug, brauche er eine Weile, um sich zurechtzufinden. Auf mehreren Tischen brannten Öllampen, deren Flammen unruhig im Luftzug flackerten. Auf den Bänken davor saßen Kämpfer, deren Gesichter im wechselnden Lampenschein aus der Dunkelheit für Sekunden auftauchten und wieder in der Dunkelheit versanken. Die Höhlendecke glänzte feucht; ein Tropfen löste sich und verfehlte nur um Haaresbreite Webers rechtes Auge.
   Der Pashtune murmelte Gebetsformeln. Seine Frau kauerte hinter ihm an der Wand und starrte mit ausdruckslosem Gesicht ins Leere. Manchmal zuckte sie zusammen, als plage sie ein schlechter Traum. Ein wild aussehender Kämpfer mit einer tiefen Narbe in der Stirn stellte zwei Konservendosen mit Wasser und zwei kleine Fladenbrote aus Maismehl vor die Gefangenen hin. Die Frau beachtete er nicht.
  Weber griff augenblicklich zu, denn er hatte einen Bärenhunger. Seinem robusten Naturell konnte eine Kleinigkeit wie eine Entführung den Appetit nicht verderben.
   Al-Dorhani bot seiner Frau Wasser und ein Stück Brot an. Sie rührte sich nicht. Er sprach in drängendem Tonfall auf sie ein, doch sie schüttelte mehrmals abwehrend den Kopf. Seufzend sah er sie mit eindringlicher Zärtlichkeit an und stellte Wasser und Brot neben sie.
   Weber hatte inzwischen seine Ration aufgegessen. Er schnippte mit den Fingern, um anzudeuten, dass er noch nicht satt war. Der wild aussehende Kämpfer runzelte die Stirn. Sie sah aus, als sei sie in zwei Hälften gespalten. Schließlich bequemte er sich murrend und brachte noch ein halbes Brot und etwas Wasser.
  Entspannt  streckte sich Weber wieder aus und dachte nach. Die Lage, in der er sich befand, war alles andere als hoffnungsvoll. Zwar rechnete er nicht damit, dass sie ihn in absehbarer Zeit umbringen würden. Medizinisch geschultes Personal war in diesem Lande einfach zu kostbar, sogar, wenn es nicht besonders gut ausgebildet war. Die Terrororganisationen benötigten ständig Ärzte und Medikamente, gerade jetzt, wo Raubzüge immer schwieriger wurden. Er sah voraus, was auch Schönberg in diesen Minuten die Sorgenfalten auf die Stirn trieb: Er würde hier unten möglicherweise über Jahre als medizinisch-technische Kellerassel bei Wasser und Fladenbrot vor sich hin vegetieren.
 Der wild aussehende Kämpfer saß breitbeinig auf seinen Schemel. Gelangweilt betrachtete er die Gefangenen. Er zündete sich eine Zigarette an, machte einen tiefen Zug und blies den Rauch durch den Mundwinkel aus. Jetzt lag sein Blick auf der jungen Frau. Er grinste unverschämt. Ein zweiter Kämpfer setzte sich neben ihn. Sie flüsterten, und ihre Blicke glitten dabei immer wieder zu Marjam hinüber.
 Weber beobachtete die beiden angewidert. Nur mit Mühe vermied er es, aufzuspringen und ihnen die Leviten zu lesen. Es wäre möglicherweise sein letzter Sprung gewesen. Schließlich war er kein Arzt, sondern nur Sanitäter, genauer gesagt: Humanitäre Hilfskraft. Oder, wie ihn der Doktor manchmal scherzhaft nannte: Sein medizinischer Weberknecht. Er schloss die Augen und versuchte, eine halbwegs bequeme Lage zu finden und an etwas Anderes zu denken.
   Die junge Frau hatte die Blicke der beiden Krieger gesehen. Sie legte den Kopf auf die Brust ihres Mannes, die sich sanft hob und senkte. Sie zitterte. Al-Dorhanis Arm umfing schützend ihre Taille, und sein Mund flüsterte beruhigende Worte. Ihre anfängliche Kühnheit war völlig verschwunden. Sie sah voraus, was ihr blühte.

   Im Hintergrund der Höhle vernahm Weber knirschende Schritte, die sich schnell näherten. Er öffnete die Augen. Vor ihnen standen zwei Kämpfer mit struppigen Bärten in zerschlissenen Kampfanzügen. Der eine hielt den obligatorischen Karabiner in der Hand – Weber erkannte eine russische Kalaschnikow älterer Bauart –, der andere war unbewaffnet. Das geöffnete Hemd ließ einen Teil seiner behaarten Brust frei, an der das silberne Schwert blitzte. Er gab al-Dorhani einen derben Fußtritt und befahl: „Lass die Frau los!“ Dabei beugte er sich nieder und packte Marjam am Arm.
  „Rühr´ sie nicht an, du Hund!“ brüllte al-Dorhani. Wutentbrannt richtete er sich halb auf. Marjam befreite sich von dem Griff des Kämpfers und blickte ihn hasserfüllt an.
   „Halt´s Maul, du Hundesohn!“ brüllte der andere Krieger zurück und versetzte  dem Pashtunen einen Stoß vor die Brust. Der kippte nach hinten und schlug mit dem Hinterkopf hart auf dem Boden auf. Doch mit unheimlicher Elastizität sprang er wieder auf. Mit wutverzerrtem Gesicht stürzte er sich auf den Angreifer. Dessen Kumpan schlug al-Dorhani mit dem Karabiner auf den Kopf, und der Pashtune brach stöhnend zusammen. Er rührte sich nicht mehr, und aus der Kopfwunde sickerte Blut.
   Marjam schrie schrill auf. Ihre Augen waren vor Entsetzen geweitet. Ein Kämpfer ergriff sie am Oberarm und zerrte sie hoch. „Mein Mann verblutet!“ schrie sie aus Leibeskräften, „wollt ihr, dass er stirbt?“
   „Dein Mann stirbt nicht, er ist nur besinnungslos.“
  Ein Mann ohne Bart und in Zivil war hinzugetreten. „Er ist bald wieder bei Bewusstsein. Wir haben da so unsere Methoden, ihn wieder zur Besinnung zu bringen!“ Seine Stimme klang kalt und abstoßend sachlich. „Schafft ihn weg!“ rief er. Zwei Krieger sprangen hinzu und schleiften al-Dorhani fort.
   Die junge Frau schrie weiter Zeter und Mordio. „Hör´ auf zu schreien, sonst fallen wir jetzt schon über dich her“, schrie sie der Schläger an. Sie verstummte und sackte zusammen wie eine zerbrochene Puppe. Ein Kämpfer nahm die junge Frau widerlich grinsend über die Schulter. Unter dem rohen Gelächter der Meute trug er sie ebenfalls weg.
  Weber sah diese Ungeheuerlichkeit fassungslos mit an, unfähig, sich zu rühren. Er war vor Schreck wie gelähmt. Für einen Moment dachte er sogar an einen Albtraum. Doch das rohe Gelächter, das jetzt gedämpft aus dem Hintergrund der Höhle erklang, belehrte ihn eines besseren: Er träumte nicht, er war wach, allzu wach.
  Beschämt biss er sich auf die Lippen. Du hast dich wieder mal als Schlappschwanz erwiesen, dachte er, von sich selbst angewidert. Schönberg hat Recht! Du bist tatsächlich nichts anderes als ein unbedeutender Weberknecht, der nutzlos in einer finsteren Ecke herumhängt und aufs Fressen wartet. Ein Mann mit Mumm in den Knochen hätte eben ohne viel zu überlegen eingegriffen. Andrerseits – was hätte es gebracht? Was kann ein einzelner Hase schon gegen ein Rudel gefräßiger Wölfe ausrichten?
   Weber wusste, dass er sich etwas vormachte. Schon einmal hatte er sich mit verheerenden Auswirkungen als Schlappschwanz erwiesen.
   Sollte die Qual nie enden?
 
   Vor seinem inneren Auge tauchten bruchstückhaft wieder diese unsäglichen Szenen auf. Nach dem Erstkommunionsunterricht bat ihn der Geistliche – ein Vikar der Kirchengemeinde – noch zu bleiben. Der Unterricht fand in der Wohnung des Geistlichen statt. Als sie allein im Raum waren, setze er sich auf einen Stuhl und zog Weber zu sich heran. Dann begann er, ihn auszufragen, zunächst nach allerlei Unbedeutendem und Trivialem, schließlich danach, ob Weber öfter Hand an sich lege. Weber stand da, mit Tränen in den Augen. Was bisher ein streng gehütetes Geheimnis gewesen war, sollte nun offen gelegt werden.
   Der Vikar nahm die Tränen als Schuldbekenntnis. Nun ließ er eine Tirade pseudoreligiöesn Schwachsinns ab; er fabulierte von der Verwerflichkeit dieses Tuns, von Gott, der alles sähe, der aber auch verzeihe, wenn der reuige Sünder eine angemessene Buße auf sich nähme, und so weiter und so fort. Er fragte Weber, ob er mit einer angemessenen Buße einverstanden sei. Weber nickte ohne nachzudenken. Er war so eingeschüchtert, dass er sich nicht wehrte, als der Geistliche seine Hose aufknöpfte, sie herunterzog, ihn übers Knie legte. Er fühlte, wie ihm der Mann die Unterhose abstreifte. Dann versetzte er ihm mehrere Schläge mit der flachen Hand auf das blanke Gesäß. Schließlich entließ er ihn mit dem Hinweis, dies eben sei Beichte und Buße gewesen. Sie unterlägen dem Beichtgeheimnis und dürften auf keinen Fall verraten werden.
   Diese entsetzliche Tat geschah noch mehrere Male, jetzt in der Sakristei der Kirche. Es hörte erst auf, als der Geistliche versetzt wurde.
   Wenn die Schläge auch nie besonders hart gewesen waren, so übten sie doch eine verheerende Wirkung auf Webers Selbstwertgefühl aus. Immer wieder fragte er sich zerknirscht, warum er sich nicht gewehrt hatte. Dann: Warum der Mann gerade auf ihn als Opfer gekommen war. Ein fürchterlicher Verdacht stieg in ihm auf: Weil sich herumgesprochen hatte, dass der Vater ein Schläger war, der keinen Widerspruch duldete. Weil der Vater ihm den Mumm aus dem Leib geprügelt hatte. Nur allzu oft gellten seine und die Schreie seines Bruders durchs Treppenhaus. Die blauen Augen, mit denen die Brüder anschließend herumliefen, sprachen Bände. Der Vikar hatte in ihm einen willenlosen Prügelknaben erkannt.
   Weber erfuhr dann, dass der Mann in der Kirchenhierarchie aufstieg und eine Pfarrei irgendwo im Münsterland zugewiesen bekam.
   Weber kam zu dem Schluss: Einmal Opfer, immer Opfer. Und: Du bist ein jämmerlicher, eierloser Versager.
   Als Konsequenz dieser Erlebnisse verließ er, sowie er volljährig war, zunächst  die katholischen Kirche, später dann auch das Land, in dem Naziverbrecher und Kinderschänder nicht nur ungeschoren davonkamen, sondern auch noch befördert wurden.  
   Auch jetzt wieder war er unfähig gewesen, sich zu rühren. Wieder dachte er: Sollte die Qual nie enden?

   Der Kämpfer auf dem Schemel spuckte die Kippe auf dem Boden und drehte sich flink einen neuen Glimmstengel, den er sich lässig zwischen die Lippen steckte. „Ziemlich schlecht ausgegangen, eure Spritztour“, sagte er auf Deutsch. „Na ja, manchmal hat der Mensch eben Pech.“
   „Was habt ihr mit den beiden vor?“, fragte Weber gepresst.
   „Wir?“ Der Kämpfer blickte seinen Nachbarn fragend an. „Haben wir etwas mit den beiden vor?“
   „Nichts, was ich mir vorstellen könnte.“  
  Weber betrachtete ihn. Unter seiner gespaltenen Stirn grinste ein fatalistisches Gesicht, das von einem gewaltigen Bart umrahmt war.
  „Wo haben unsere Leute euch denn erwischt?“, fragte der Mann jetzt. Sein Lächeln, soweit es unter dem Rauschebart erkennbar war, wirkte verschlagen.
   Weber schwieg.
 „Aha, verstehe, du sprichst nicht mit unsereinem“, fuhr der Rauschebart fort. „Na klar! Wir sind ja Fundamentalisten und in deinen Augen der letzte Abschaum. Aber so zu denken ist ein Fehler!“
   Sein Nachbar nickte eifrig und echote: „Du sagst es! Ein Fehler.“
   Da Weber immer noch schwieg, wurde der Tonfall drohender. „Kannst du dir vorstellen, Achim, warum er nicht mit uns redet?“
   „Nö. Vielleicht, weil wir uns noch nicht vorgestellt haben?“
   „Mann, das wird´s sein! Also Kamerad, das ist Joseph aus Recklinghausen, und ich bin der lustige Achim aus Aachen. Und mit wem haben wir die Ehre?“
   Weber schwieg.
   „Irgendetwas hat ihm die Stimme verschlagen“, meinte Joseph.
   „Das wird´s wohl sein! Nur, mir fällt im Moment nicht ein, was es sein könnte!“
   „Mir auch nicht! Wir geben ihm zu trinken, wir geben ihm zu essen, wir lassen ihn schlafen, uns stört es auch nicht, dass er im Schlaf furzt wie Omars Stute – und er spricht nicht mit uns.“
   „Er kann sich einfach nicht benehmen. Was meinst du, Joseph, sollen wir ihm Benehmen beibringen, ehe es zu spät ist?“  
   „Ich fürchte, darauf wird´s hinauslaufen.“
   Weber sah sich gezwungen, zu antworten. „Zweihundert Meter hinter dem Pass“, sagte er widerwillig.
   Achim nickte. „Na siehst du, es geht doch!“
 „Ja ja, das ist schon eine ganz besondere Stelle“, setzte Joseph scheinbar nachdenklich hinzu, „vor dem Pass blickst du in den Himmel, dahinter in die Hölle.“ Er lachte rau. „Und die Amis haben euch natürlich gesagt, der Pass sei frei!“ Jetzt schüttelte er den Kopf. „Ihr Zivilisten seid doch blind wie meine Oma beim Haarewaschen! Ihr meint, wenn die Drohnen nichts entdecken, dann ist da auch nichts, und wenn sich nichts bewegt, ist die Gegend ausgestorben wie ein Wadi in der Trockenzeit... Irrtum, mein Lieber, Irrtum! Dieser Berg hier zum Beispiel ist durchlöchert wie ein Schweizer Käse! Und dann gibt es da noch uralte...“ Ein scharfer Pfiff brachte den Schwätzer zum Schweigen.
   Weber kochte. „Was geschieht mit der Frau?“, fragte er wütend. Er kannte sich selbst nicht mehr.
   „Weißt du, Joseph, lieber Joseph mein, was mit der Frau passiert?“, fragte der lustige Achim aus Aachen gewollt infantil.
  „Ich denke, sie wird verdienten Kämpfern zugeführt“, antwortete Joseph. Er trug eine Khakihose und ein Militärhemd, das ihm mindestens zwei Nummern zu groß war.
   „Du meinst als Sexsklavin“, versetzte Weber. „Verträgt sich denn so etwas mit den Lehren des Propheten?“
   Der Kämpfer Joseph dachte nach. Weber gewann den Eindruck, dass er wirklich nachdachte, nicht nur zum Schein, und dass ihm das Denken schwer fiel. „Frauen sind von Natur aus Sklavinnen“, sagte der Kämpfer nach einer Weile, „denn sie haben keine Seele. Allah hat es so gewollt.“
   „Frauen sind wie Vögel“, ergänzte der Achim und nickte zustimmend, „flatterhaft und geschwätzig. Meine Frau darf nur reden, wenn ich es ihr erlaube!“ Er brachte diesen hirnverbrannten Unsinn, der sich weit unterhalb des geistigen Existenzminimums eines Kanarienvogels befand, mit völlig unbewegter Stimme vor, so, als zitiere er den Wetterbericht.
   Auf einmal überkam Weber eine heiße Welle unbändigen Zorns. Von nun an hatte er keine Gewalt mehr über sich. Er fühlte sich einer stärkeren Macht unterworfen, die stärker als sein eigener Wille war. „Könnte ich auch eine Zigarette haben?“, fragte er geistesabwesend. Er wusste nicht, warum er das fragte, denn nach Rauchen war ihm nun wirklich nicht zu Mute. Es war ihm einfach herausgerutscht.
   Der Kämpfer Achim, immer noch die kalte Zigarette im Mundwinkel, zögerte kurz. „Aber natürlich, warum denn nicht?“ Er drehte eine neue und hielt sie Weber hin.
   Weber wollte aufstehen, doch der Krieger sagte schnell: „Bleib liegen!“ Er watschelte auf seinen Haxen, die krumm waren wie türkische Säbel, auf Weber zu und beugte sich zu ihm herab, um ihm die Zigarette in den Mund zu stecken. Weber sah das Weiße in seinen lang bewimperten Augen, und eine maßlose Wut ergriff ihn. Sein Arm schnellte hoch; mit aller Kraft versetzte er ihm einen Faustschlag mitten ins Gesicht. Mit einem Aufschrei taumelte Achim zurück, aus seinen Nase schoss das Blut. Sofort sprangen Joseph sowie noch einige andere seiner Genossen, die Zeugen dieser Szene waren, herbei. Brüllend traktierten sie Weber mit Fußtritten und Gewehrkolben. Er wehrte sich so gut es ging mit Händen und Füßen. Ein Kämpfer sprang zurück und griff sich aufheulend in den Schritt. Da traf ein Gewehrkolben Weber hart an der Schläfe. Bevor er die Besinnung verlor, dachte er noch: Sieg! Sieg! Sieg!

                                                               6

   Schönberg alias Krähwinkel stieg die Treppe hinunter, dicht gefolgt von seinem Begleiter Ahmud oder besser: Von seinem Bewacher. In dem schmalen, niedrigen Gang war es ziemlich dunkel. Die einzige schwache Glühbirne hing meterweit weg. Der Doktor musste den Kopf einziehen, um sich nicht die Stirn blutig zu stoßen. Je näher sie dem Ausgang kamen, desto deutlicher wurden das Geplätscher von Wasser und der Singsang orientalischer Musik.
  Überrascht blieb der Doktor stehen. Die große Höhle war durch bunte Glühbirnen in freundliche Kirmesbeleuchtung getaucht. Von der hohen, glitzernden Decke herab hingen die seltsamsten Tropfsteingebilde wie die Choreographie in einem steinernen Ballett: Wüst verdrehte, knotig verdickte Stäbe, bizarr geformte, spitz verlängerte Flaschenkürbisse, vielfach verschlungene und trompetenartig erweiterte Stränge. Im flackernden Schein eines knisternden Feuers, das in der Mitte der Höhle fast rauchlos brannte und das Gefühl von Wärme verbreitete, schienen diese Gebilde einer übermütigen Natur zu tanzen. Das bisschen Rauch zog durch einen natürlichen Kamin in der Höhlendecke ab. Im schwarz-glitzernden Wasser eines kleinen Sees tummelten sich etliche nackte Männer. Andere dösten, mit Tüchern um die Hüften, auf Pritschen, wieder andere gingen rauchend und plaudernd auf und ab. An den Wänden entdeckte Schönberg mehrere nischenartige Ausbuchtungen, in denen einzeln oder zu zweit, zum Teil eng umschlungen, weitere leicht bekleidete Gestalten lagen. Aus mehreren Kassettenrekordern erklang näselnder Gesang, begleitet von ziemlich mittelalterlich anmutenden Klängen. Zwei Männer tanzten mit wiegenden Hüften um eines dieser Geräte herum. Es roch nach Haschisch und Weihrauch. All das verlieh diesem bizarren Herrenbad einen unwirklichen, geradezu außerirdischen Charakter.
  „Doktor! Weiter!“ Ahmud drängte. Am gegenüberliegenden Ende der Badehöhle gähnte in einiger Höhe eine dunkle Öffnung, die über eine Holztreppe zu erreichen war. Auf diese Treppe steuerte der Kämpfer jetzt zu. Der daran anschließende Gang führte weiter in den Berg hinein. Vor einem Bretterverschlag, durch dessen Ritzen gelbes Licht drang, machte Ahmud halt. „Das Lazarett“, sagte er und entfernte geräuschvoll das riesige Vorhängeschloss.
   Der Boden der geräumigen Höhle war mit Brettern ausgelegt. An den Wänden standen verschiedene Metallschränke. Die Mitte des Raums nahm ein moderner Operationstisch ein, der in dieser Steinzeithöhle ziemlich überraschend wirkte. Schönberg dachte: Raubgut. Er trat näher heran. Über dem Tisch baumelten zwei Glühbirnen, die jetzt ausgeschaltet waren. Das Licht in der Höhle stammte von einer kleinen Lampe über dem Waschbecken.
  „Unser OP und die Apotheke“, sagte der Kämpfer Ahmud nicht ohne Stolz. Schönberg öffnete einen der Schränke. Er enthielt medizinisches Gerät, das einfache Operationen erlaubte. In einem anderen mit einer verbeulten Tür fand er Narkose- und Desinfektionsmittel, Kompressen, Binden, Tupfer, Spritzen... Er klappte den Schrank wieder zu und runzelte die Stirn. „Na ja“, murmelte er auf Deutsch, „Albert Schweizers Urwaldapotheke war sicherlich besser bestückt als diese hier.“
  Der Kämpfer hatte Schönbergs Blicke interessiert verfolgt. „Nicht zufrieden, Doktor?“, fragte er sichtlich pikiert. „Dann schau hier hinein!“ Er öffnete einen weiteren Bretterverschlag und knipste das Licht an. Schönberg erblickte erstaunt einen Röntgenapparat, einen Computertomografen sowie weiteres hochwertiges medizinisches Gerät. In Regalen an den Wänden lagen sauber gestapelt Matratzen, Decken, Betttücher, Verbandsmaterial und allerlei für den Klinikalltag nützliches Zeug.
   „Bist du nun zufrieden?“
  Schönberg wich aus. „Fürs erste wird´s wohl reichen.“ Er wies auf ein weiteres Holzgatter. „Liegen dort die Patienten?“
   Ahmud öffnete das Gatter. Sie betraten den „Krankensaal“. Schönberg überblickte den in schummrigem Halbdunkel liegenden Raum. Rund herum an den Wänden standen etwa zehn oder zwölf Krankenbetten, von denen allerdings nur zwei belegt waren. Auf einem Schemel hockte ein Kämpfer, der sich krampfhaft die Schulter hielt. Offensichtlich hatte er starke Schmerzen. Die Jacke seines Kampfanzuges war verdreckt und blutverschmiert. Neben ihm stand ein Sanitäter, ein anderer hielt sich ziemlich verschüchtert im Hintergrund auf. Schönberg trat näher. „Ist das der Mann?“, fragte er. Ahmud nickte.
  Schönberg forderte den Mann auf, ihm in den 'Operatiossaal' zu folgen. Er befahl dem Sanitätskrieger, für Licht zu sorgen. Dann legte er den Oberkörper des Verletzten frei. Steckschuss in der rechten Schulter, konstatierte er, allerdings von hinten. Er versuchte, die Kugel mit dem Skalpell zu erreichen. Der Kämpfer verzog keine Miene. Er war noch sehr jung und fast bartlos. Das Projektil steckte fest im Knochen neben der Gelenkkapsel und musste herauspräpariert werden. „Betäubungsspritze, Alkohol, Tupfer!“, befahl er
   „Nein, er wird ohne Betäubung operiert!“
   Schönberg blickte hoch. Neben ihm stand der Kerl, der vorhin immerzu mit seinem Revolver gespielt hatte. Er war so fett wie ein Sumakämpfer; sein Bauch sprengte fast die Hose, die jetzt zugeknöpft war. Seine rechte Hand lag auf dem Revolver.
   „Wer bist du und was willst du hier?“, fragte der Doktor.
  „Ich bin Whali Khan Sahib, der stellvertretende Kommandant. Nun mach schon, Doktor!“, drängte er mit unangenehm knödelnder Stimme. Dabei sah er den 'Feigling' verächtlich an. „Bei Schüssen in den Rücken von Feiglingen wie diesem hier gibt es keine Betäubung! Merk dir das! Unsere Vorräte an Betäubungsmitteln reichen kaum für die Tapferen! Er wird´s schon aushalten.“
   Das war natürlich eine freche Anmaßung. Schönberg fühlte, wie seine Halsadern anschwollen, doch er bezwang sich. Bedrückt sah er voraus, dass es zwischen ihnen bald Krach geben würde, erheblichen Krach, der möglicherweise sogar auf Leben oder Tod hinausliefe. Der Kerl war offenbar auf Krawall gebürstet.
   Er überlegte. Sollte er es jetzt schon auf einen Machtkampf ankommen lassen? Vielleicht war dieser Whali Khan ja nur ein übler, aufgeblasener Gernegroß, der bei der ersten scharfen Auseinandersetzung in sich zusammenfallen würde wie ein  Windbeutel im kalten Luftzug. Oder auch nicht. Das Risiko, dass der dicke Revolvermann tatsächlich scharf schoss, war einfach zu groß. Deshalb entschloss sich der Doktor, den Klügeren zu spielen und erst einmal klein beizugeben.    
   „Wie du willst, Sahib“, sagte er deshalb, „aber sollte ich die Wunde erweitern müssen, wird selbstverständlich betäubt!“
   Die Wunde musste zum Glück nur ein wenig erweitert werden. Der Junge biss die Zähne zusammen, stöhnte leise, aber er bewegte sich nicht. Schönberg entfernte die Kugel, reinigte die Wunde und legte ein Tampon auf. Dann machte er einen festen Verband. Der junge Krieger ertrug die Prozedur fast ohne einen Laut von sich zu geben. Schönberg wunderte sich immer wieder, mit welch stoischem Gleichmut diese jungen Männer auch starke Schmerzen ertrugen. Wahrscheinlich liegt´s am Opium, mit dem sie sich vor dem Einsatz zuschütten, dachte er.
  Er klopfte dem Krieger leicht auf die gesunde Schulter. „Das wird schon wieder! In ein paar Tagen bist du wieder auf dem Damm!“, sagte er aufmunternd.  
   „Ruhe!“ bellte der Dicke, „als stellvertretender Kommandant verbiete ich dir, über das medizinisch Notwendige hinaus mit den Patienten zu sprechen!“ Er nestelte ostentativ an seinem Holster.
  Der Doktor erhob sich. Er war mindestens einen Kopf größer als der Dicke und natürlich besser durchtrainiert, allerdings ohne Waffe, und das machte diesen Vorteil leider wieder zunichte. „Was medizinisch notwendig ist entscheide immer noch ich“, versetzte er frostig.
  Die olivgrüne Gesichtshaut des Dicken wurde dunkel, seine Katzenaugen zogen sich noch mehr zusammen. Gleich springt er mich an, um mir die Augen auszukratzen, dachte Schönberg amüsiert.
   „Wage es nicht, dich hier aufzuspielen“, zischte Whali Khan mit wutverzerrtem Gesicht. „Noch gebe ich hier den Ton an!“ Er schnaufte als wollte er sich noch weiter aufblasen.
  „Aber der Arzt bin ich, und hier im Lazarett rede ich, mit wem ich will“, versetzte Schönberg kalt. Ahmud trat drohend näher. Die beiden Sanitäter verkrochen sich vorsichtshalber in die Apotheke.
  Wunderlicherweise verspürte Schönberg nicht einen Hauch von Angst, als der Dicke den Revolver zog. Er wird mich nicht niederknallen, dachte er, noch nicht. Denn in Whali Khans Augen erkannte er zwar Wut und Hass, nicht aber den Willen zu töten. Er hatte sich nicht getäuscht.
   „Na gut, wie du willst“, sagte der Dicke wütend, aber vergleichsweise beherrscht. Er steckte den Revolver wieder ein. „Dann gehe ich jetzt zum Kommandanten und erstatte Bericht.“
  Schönberg war es gewohnt, einen einmal eingeschlagenen Weg bis zum bitteren Ende zu verfolgen. Richtig wohl fühlte er sich manchmal erst in der Revolte. Jetzt war es wieder so weit. Er setzte also noch einen oben drauf. „Ist es bei euch nicht üblich, Denunzianten zu köpfen?“
   Whali Khan klappte den Mund ein paarmal auf und zu, sagte aber nichts. Seine Kinnlappen zitterten. Diese Antwort verschlug ihm offensichtlich die Sprache. Er starrte den Doktor eine Sekunde hasserfüllt an, dann drehte er sich um und stapfte wütend hinaus.
   Die beiden Sanitäter und die Kranken hatten diese Auseinandersetzung interessiert und mit wachsender Begeisterung verfolgt. Hut ab! Da war endlich mal jemand, der diesem aufgeblasenen Ochsenfrosch Paroli bot. Sie mochten diesen Stellvertreter nicht. Nun ja, wer mochte ihn schon. Sich selbst hielten sie in aufrechter Verblendung für aufrechte Kämpfer vor dem Herrn, die nur das taten, was Allah, sprich der Kommandant, ihnen befahl. Whali Khan hingegen... für einen selbstherrlichen Sadisten. Außerdem gesundheitlich stark angeschlagen. Da sie von Psychologie und dem Rest der Welt null Ahnung hatten, wussten sie nicht, dass dieser Stellvertreter dem Typ des Massenmörders mit gestörter Sexualität entsprach. Nur die Begrenztheit seiner Macht hielt ihn im Zaum, und zum Hitler oder Stalin fehlte ihm natürlich das Format. Sogar der Kommandant schien, verglichen mit ihm, einer von der besseren Sorte zu sein. Wie dem auch sei: In den Augen der Sanitäter war das Ansehen des Doktors erheblich gestiegen, es befand sich nun auf gleicher Höhe mit dem des Lagerchefs.
   Schönberg verlangte nach Wasser und Seife. Die Schulter ist nur ein leichter Fall, überlegte er, während er sich gründlich die Hände wusch. Das hätten auch die Sanitätsheinis hinbekommen. Also wollten sie mich erst einmal testen. Und die beiden anderen Kranken... Hm, wenn die überhaupt krank sind... Plötzlich ging ihm ein Licht auf: Der Kampf im Süden! Sie brauchen mich für die Verwundeten, die in den nächsten Tagen hereingetragen werden! Sie wollen wissen, ob ich etwas tauge oder genauso ein Versager bin wie mein seeliger Vorgänger!
   Der Doktor trocknete sich die Hände. „Was ist mit dem Mann da?“, fragte er. Der Kämpfer lag mit geschlossenen Augen auf der Liege und wimmerte schon seit einiger Zeit leise vor sich hin. Er bestand nur noch aus Haut und Knochen, wie man es häufig bei langjährigen Opiumrauchern beobachten kann. Sein Gesicht sah abgezehrt, aber nicht wirklich krank aus, eher wie verhungert. Auf seiner Stirn lag kalter Schweiß. Der Mann zitterte wie Espenlaub.
   „Wo ist er verletzt?“, fragte Schönberg.
  „Sieh selbst, Sahib“, sagte Ahmud. Aha, schon bin ich Sahib, dachte der Doktor amüsiert. Er winkte die beiden Sanitäter heran. „Zieht ihn aus!“, befahl er. Der angeblich Kranke bäumte sich kurz auf, dann fiel er kraftlos stöhnend wieder aufs Bett zurück. Na klar! Kein Moslem zeigt sich gerne nackt vor einem Ungläubigen.
  „Sahib! Ich habe ihn untersucht“, stotterte der eine Sanitäter einfühlsam. Seine Oberlippe verunstaltete eine grabentiefe Hasenscharte, er nuschelte stark. „Ich konnte keine äußeren Verletzungen erkennen.“
  „Wer ist hier der Doktor, du oder ich?“, schnauzte Schönberg.
   „Natürlich du, Sahib!“
   „Na dann! Was zögert ihr noch? Zieht ihn aus!“
  Schönberg dachte: Hier gibt es zwei Möglichkeiten. Entweder ist der Mann ein Simulant, und sie wollen mir schon wieder auf den Zahn fühlen, oder der Mann ist am Ende.
   Die zweite Möglichkeit erwies sich als richtig. Durch die dünne Haut konnte der Doktor alle Rippen abzählen. Er legte dem Zitternden die Hand auf die Stirn. Eiskalt, wie bei einem Toten. Dann zog er ein Augenlid zurück und betrachtete die Pupille. Diabeteskrampf, erkannte er, totale Unterzuckerung.
  Schönberg und richtete sich wieder auf. Er sagte: „Dieser Mann hat eine starke Hypoglykämie. Er benötigt dringend eine Insulinspritze, sonst bekommt er noch  Diabetesbrand, und es ist endgültig aus mit ihm.“
    Die Arzthelfer sahen betreten zur Seite. „Insulin ist ausgegangen, und Nachschub ist nicht in Sicht“, nuschelte der mit der Hasenscharte.
  „In einem der Metallkoffer aus dem Landrover ist Insulin.“ Der Doktor wandte sich dem anderen Sanitäter zu, den er für cleverer als seinen Kollegen hielt. „Wenn der Koffer hier ist, gibst du ihm sofort eine Spritze!“ Er nannte die Dosis. „Wenn sich der Patient wieder erholt hat, gibst du ihm zu essen und zu trinken. Aber nicht zu viel und auf keinen Fall Fleisch oder Eier, sonst bekommt er einen Eiweißschock und stirbt doch noch! Und jetzt will ich mir noch den anderen Kranken ansehen!“
   Erst jetzt bemerkte Schönberg den Kommandanten, der auf einen Stock gestützt im Höhleneingang stand.
   „Das hat Zeit bis morgen. Er schläft tief und fest in Morpheus Armen.“
   Der Kommandant verließ seinen Beobachtungsposten und humpelte auf Schönberg zu. Sein gesundes Auge blinzelte ihn an, und in diesem Auge entdeckte der Doktor jetzt sogar einen Funken Anerkennung.
   „Doktor“, sagte der Kommandant, „du wirst sicherlich müde sein. Ahmud, zeige  dem Doktor seine Höhle! Allerdings, bevor du dich zur Ruhe begibst, Sahib, solltest du nach deinem Freund Weber sehen.“
   „Wieso, was ist mit ihm?“
  „Geh und sieh selbst!“ Der Kommandant wandte sich um und ging. Noch eine Weile konnte man das schwächer werdende Tock – Tock – Tock seines Krückstocks hören, das von den Wänden des Höhlenganges dumpf widerhallte.

                                                                 7
   
   Weber betastete mit den Fingerspitzen vorsichtig seine Schläfe. Die Wunde war offen und blutverkrustet. Sein Schädel dröhnte wie ein chinesischer Gong. Was einmal eine lustige Zunge gewesen war, klebte jetzt als dumpf-trockener Klumpen am Gaumen.
   Er sehnte er sich nach einem Schluck Wasser. Es musste auch nicht besonders kühl und schmackhaft sein, dieses Wasser – einfach nur Wasser. Dann war da dieses eklige Gefühl, sich im nächsten Moment übergeben zu müssen. Es wurde immer stärker. Und auch mit seinem Gesicht stimmte etwas nicht. Ein dumpf-pochender Schmerz lag da, wo eigentlich die Nase sein sollte. Mit dem Zeigefinder ertastete er aufstöhnend eine Delle, wo noch gestern ein Höcker gewesen war. Das Nasenbein war eingeschlagen.
  Durch die Ritzen des Bretterverschlags drang ein wenig Licht herein, doch zu wenig, um Einzelheiten des Raumes, in dem er sich befand, zu erkennen. Es war so still, dass Weber befürchtete, die Schläge könnten ihm das Gehör geraubt haben. Er hustete. Gottseidank, sein Gehör funktionierte noch. Am Widerhall stellte er fest, dass die Höhle nicht sehr groß sein konnte. Ächzend drehte er sich auf die Seite und befühlte den stinkenden Strohsack, auf dem er lag. Nach einer Weile richtete er sich stöhnend auf und lauschte. Kein Laut. Nur in seinen Schläfen hämmerte es. Er klappte den Sack an einer Seite um. Bevor er seinen Nacken auf den Wulst legte, schüttelte er vorsichtig den Kopf. Sofort überschwemmte der Schmerz sein Gehirn wie mit Nadelstichen. Er biss die Zähne zusammen und drückte auf die verwundete Schläfe. Der Knochen gab nicht nach. Also nichts Ernstes, dachte er in grimmigem Galgenhumor. Ein Nasenbeinbruch, einige Platzwunden am Kopf, eine kräftige Gehirnerschütterung. Keine Peanuts, aber immerhin, ich lebe noch, wenn auch mehr schlecht als recht.
   Plötzlich ein fürchterlicher Gedanke: Aber wie lange noch? Man weiß doch, dass diese verdammten Terroristenbanden gerne köpfen! Schönberg, ja, der ist fürs erste fein ´raus. Ihm werden sie nichts tun! Im Gegenteil! Sie werden ihn schön bei Kräften halten, denn sie brauchen ihn. Sicherlich ist er schon bei der Arbeit. Aber mich werden sie früher oder später umbringen, denn wer braucht mich schon! Was ich kann, können alle anderen auch! Was bin ich schon? Eine mickrige humanitäre Hilfskraft, wie es offiziell heißt. Scheiße! Ich bin ein Feigling, der einmal ein bisschen Mut gezeigt hat! Und schon geht der Mut in die Hose! Dabei war es noch nicht einmal richtiger Mut, es war unüberlegte Tollheit! Wenn ich wüsste, wie spät es ist.
   Er befühlte sein rechtes Handgelenk und stellte fest, dass sie ihm die Armbanduhr abgenommen hatten.
   Von irgendwoher erklang jetzt leise orientalische Musik. Nach landesüblicher Sitte wurde eine uralte Grundmelodie immer wieder in überlieferten Variationsformen durchgespielt. Es war ein gleichmäßiges, anscheinend eintöniges Dahinfließen. Er liebte diese Klänge. Wenn man sich ihnen mit Muße hingibt, wirken sie mit der Zeit berauschend wie eine leichte, narkotische Droge, sie versetzen Körper und Geist in süße Erschlaffung.
   Trotz seines fürchterlichen Zustandes tauchten allmählich angenehme Erinnerungen auf. Weber ließ sich vorsichtig auf sein Strohlager gleiten. Er sah sich wieder in der Teestube 'Zur Heiligen Straße', in die ihn ein Bekannter nach einer ermüdenden Fahrt abgeschleppt hatte. Eigentlich wollte er sich ins Bett legen, doch er konnte schlecht nein sagen, denn dort tanzte auch En-Barke, eine Cousine seines afghasischen Kollegen. Sie tanzte auf die alte Oulad-Weise, Kopf und Körper unbeweglich, zitternd durchdrungen vom rhythmischen Aufschlagen der nackten Füße. Obwohl er für den Bauchtanz wenig übrig hatte – er erinnerte ihn zu sehr an seinen Bauch – versetzte ihn das unaufhörliche Klirren und Klappern der Armreife En-Barkes in einen eigenartig schwebenden Zustand. Er hörte wieder die näselnde Musik, schmeckte das herrliche Kaabeli palau, den Reis mit Rosinen, Pistazien und Hammelfleisch, sah weißen Haschischrauch von den Tischen aufsteigen, roch wieder den süßen Duft...
   Die Zeit kroch dahin, und er konnte nicht sagen, ob es sich um Minuten, Stunden oder Tage handelte. Schließlich siegten Erschöpfung und Müdigkeit über die Schmerzen, und er versank in einer Art somnambuler Bewusstseinstrübung.  
   
   Ein kleiner heller Punkt, der schnell größer wurde, erschien am sternenlos-schwarzen Himmel. Der Punkt kam direkt auf ihn zu und nahm allmählich die Gestalt einer feurigen Sonne an. Weber wollte aufstehen. Er dachte: Bloß weg von hier, bloß weg! Doch aus irgendeinem Grund konnte er sich nicht bewegen. Er kam sich wie eine dieser ägyptischen Mumien vor, von kilometerlangen weißen Bändern eingefasst und zu ewiger Bewegungslosigkeit verdammt. Todesangst erfasste ihn. Noch nie in seinem Leben hatte er eine Bedrohung so hautnah empfunden. Er merkte, wie ihm der Schweiß aus allen Poren brach...
   Die furchtbare Sonne war jetzt ganz nahe. Im nächsten Moment würde sie ihm das Gesicht versengen. Schon brannte seine Nase... Er wollte schreien...
   Jemand rüttelte heftig an seiner Schulter. Weber schlug die Augen auf. Schönberg kniete neben ihm und leuchtete sein Gesicht mit einer Taschenlampe ab. „Das sieht ja nicht gerade sehr erheiternd aus“, bemerkte er trocken. „Wer zum Teufel hat dir denn das angetan?“
   Weber versuchte zu antworten, aber außer ein paar gutturalem Krächzlauten kam nichts.
 Schönberg legte die Lampe beiseite. „Trink erst mal einen Schluck, eh du weiterstammelst“, sagte er launig. Es sollte aufmunternd wirken. Er hielt Weber eine verbeulte Blechflasche vor den Mund. Der richtete sich ächzend halb auf und trank gierig.
   „Mein Kopf, mein Kopf“, stöhnte er.
   „Hast du starke Schmerzen?“
  „Herrgottnochmal, ja, und nicht zu knapp!“, röchelte Weber. Seine Worte waren kaum zu verstehen.
  Der Doktor zog eine Schachtel mit Opiumzigaretten hervor. „Hier, rauch das. Dann wird´s bald besser.“ Er zündete die Zigarette an und steckte sie Weber zwischen die aufgesprungenen Lippen. „Also, was ist geschehen?“
   Weber machte ein paar verzweifelt-tiefe Züge. „Na was schon! Ich wollte einmal im Leben mutig sein! Dabei hab´ einem dieser idiotischen Kämpfer die Fresse poliert, und daraufhin sind sie über mich hergefallen. Den Erfolg dieser Kur hast du ja eben abgeleuchtet.“
   „Welchem Kämpfer?“
  „Na diesem Großmaul! Nennt sich Achim aus Aachen, der Dreckskerl! Schwatzte einen solch hirnverbrannten Schwachsinn über Frauen, dass ich nicht anders konnte. Zuvor hatten sie schon Marjam fortgeschleppt. Ich war wütend, weil sie  die Frau so brutal behandelten.“
   „Und da hast du einfach zugeschlagen?“
   „Ja. Der Blödmann hat´s mehr als verdient.“
   „Mann, Holm! So kämpferisch kenne ich dich gar nicht! Musste das denn sein? “
   „Ich weiß selbst nicht, was in diesem Moment mit mir los war. Der Kerl beugte sich über mich, plötzlich schnellte meine Faust vor. Ich sah noch, wie er sich die Nase hielt, und dann prügelten sie auf mich ein. Irgendwann wurde es dunkel.“
   „Hmm...“ Der Doktor kratzte sich am Kopf. „Das sieht nicht gut aus! Damit hast du wahrscheinlich dein Todesurteil unterschrieben!“
   „Nun mal nicht gleich den Teufel an die Wand! So wie ich dich kenne, wirst du mich schon wieder irgendwie `raushauen! Diesmal ging´s eben nicht anders.“
    „Es geht immer anders!“
   Weber seufzte. „Schon heute morgen wusste ich, dass dieser Tag kein guter Tag sein würde.“
   „Mensch, Weber! Hör auf zu jammern! Dadurch wird´s auch nicht besser.“
   „Entschuldige!“
   Irgendwo löste sich ein Wassertropfen und fiel klingend in eine Pfütze.
 „Diese Geschichte macht unseren Aufenthalt hier natürlich nicht einfacher“, bemerkte der Doktor nach einer Weile.
   Weber schwieg schuldbewusst.
  „Es ist so schon alles sehr schwierig“, fuhr Schönberg fort. „Vorhin dachte ich, der Dicke bringt mich um.“  
  „Wieso?“
   „Er wollte mir verbieten, mit den Patienten zu sprechen, der Idiot.“
   „Und? Hat er´s geschafft?“
  „Für wen hältst du mich eigentlich? Natürlich nicht! Hmm... Ich konnte es mir hinterher allerdings nicht verkneifen, ihn ein bisschen zu provozieren... Ich geb´s zu, war keine gute Idee von mir. Jetzt hab´ ich einen Feind mehr.“
   „Viel Feind, viel Ehr´!“
   „Quatsch! Von dieser zweifelhaften Ehre halte ich überhaupt nichts! Für mich ist jeder Feind ist einer zu viel, es muss nicht einmal ein Todfeind sein.“
   „Meinst du, er ist wirklich gefährlich? Vielleicht ist er ja einfach nur ein Maulheld.“
  „Schwer zu sagen. Dieser Revolver... Weißt du, er spielt ständig mit seinem Revolver herum, wie einer dieser dussligen Westernhelden im Film. Vielleicht hast du ja Recht, und er will sich tatsächlich nur aufspielen. Soweit ich weiß, ist ein Revolver als Schusswaffe viel zu umständlich. Eh´ du wieder abziehen kannst, wozu du beide Hände brauchst, hat dich der Gegner schon erledigt. Andrerseits... Je nun... ich halte ihn nicht für einen Mann der offenen Auseinandersetzung. Der ist einer dieser giftigen Typen, die nur aus dem Hinterhalt feuern. Doch hier sind zu viele Zeugen, und ich schätze, er weiß, dass ihn etliche Kämpfer am liebsten zu den Jungfrauen katapultieren würden. Ein Schuss könnte leicht in die falsche Richtung abgehen. – Sag mal, deine Heldentat, wann ungefähr war das?“
   „Kurz nachdem du mit dem Pashtunen am langen Arm hereinkamt. Draußen war es schon dunkel.“
   „Also vor etwa sechs Stunden.“
   „Tatsächlich? Dann muss ich ja eine ganze Weile ohnmächtig hier herumgelegen haben.“
   „Sieht so aus! Wie fühlst du dich jetzt?“
   „Beschissen. Sag mal, könnte ich nochmal einen Schluck aus der Pulle da nehmen? Mit klebt die Zunge am Gaumen.“
   „Gleich im Lazarett. Hier kann ich dich nicht verarzten. Deine Nase muss gerichtet werden, die Platzwunde genäht, dann muss ich schauen, was sie sonst noch mit dir angestellt haben.“
   „Warum die viele Mühe? Nach deinen Worten bin ich doch so gut wie ein toter Mann!“
   „Rede keinen Unsinn! Noch bist du nicht tot! Kannst du gehen?“
   „Ich hab´s noch nicht versucht, aber ich denke schon! Sag mal, wo bin ich hier eigentlich?“
   „Na wo wohl. Im Gefängnis.“

   Während Schönberg Webers Wunden behandelte, fragte er: „Du sagtest vorhin, sie hätten Marjam weggebracht. Hast du zufällig gesehen wohin?“
   „Nein. Einer dieser Urviecher warf sie sich über die Schulter und verschwand nach hinten in einem Gang. Aber frag mich nicht in welchem. Wenn mich nicht alles täuscht, war sie da schon ohnmächtig.“ Weber blinzelte seinen medizinischen Freund verschmitzt an. „Weißt du schon wie?“
   Der Doktor lachte herzhaft. „Dir kann man aber auch nichts vormachen, mein Lieber! Selbstverständlich werde ich sie da herausholen, und wenn ich bis zum Nordpol laufen muss! Darauf kannst du Gift nehmen!“
   „Es wird nicht ganz einfach sein!“
   „Natürlich nicht, du alte Unke! Aber irgendetwas wird mir schon einfallen, verlass dich drauf!“
   „Na klar, dir ist ja in Liebesangelegenheiten bisher noch immer etwas eingefallen!“
    „Noch ein Wort, und ich lass dich in deinem Gefängnis verschmachten!“

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Beitrag14.02.2019 11:57
antwort
von wunderkerze
pdf-Datei Antworten mit Zitat

Langsam  lichteten sich die Schleier der Betäubung, in die sie die rohe Behandlung der Kämpfer versetzt hatte. Marjam vernahm das verhaltene Getuschel und Gewisper weiblicher Stimmen. Irgendwo plätscherte Wasser; von irgendwo her erklang leise orientalische  Musik.
   Für eine Weile noch hielt sie die Augen geschlossen. Erst allmählich tauchte ihr Bewusstsein aus den Tiefen der Agonie wieder auf. Alarmiert streckte sie die Arme aus, um nach ihrem Mann zu tasten. Als sie merkte, dass er nicht mehr neben ihr lag, richtete sie sich entsetzt auf und blickte sich um.
   „Wo ist mein Mann?“
  Der Aufschrei ließ das Getuschel verstummen. Jetzt war nur noch das leise Plätschern und der monotone Singsang zu hören.
  In der geräumigen Höhle, die durch das Feuer und bunte Glühbirnen matt erleuchtet war, hielten sich an die zwanzig Frauen auf. Die meisten waren mit hellen Obergewändern und bauschigen Hosen bekleidet, die Füße steckten in Filzpantoffeln. Einige kauerten mit angezogenen Knien an den Wänden, andere lagen auf Strohsäcken. Auf einem Tisch standen Schalen mit Früchten, Brot und Gebäck, dazu Trinkbecher. Aus einem natürlichen Bassin, das als Badewanne diente, stieg eine Frau, hüllte sich in ein Badelaken und stellte sich ans Feuer.
  Marjam war wieder auf ihr Lager gesunken. Allmählich kehrte die Erinnerung zurück. Was geschah jetzt mit ihrem Mann? Sie sah das böse, mit Hass überschwemmte Gesicht des Kämpfers, der ihn niedergeschlagen hatte. Ein dunkler Schleier legte sich auf ihre Seele. Sie werden ihn foltern, und weil sie nichts aus ihm herausbringen, werden sie ihn töten. Dabei war doch alles nur ein Zufall. Aber es gibt Dinge, die diese Leute einfach nicht begreifen.
   Jemand berührte sie an der Schulter. Es war die Frau im Badelaken. Marjam blickte auf. Die Frau war klein und schmal und nicht mehr ganz jung. Ihr Gesicht war faltig und ausdruckslos. Das Kinn verunzierte ein Grübchen, in das eine kleine Linse hineingepasst hätte. Eine Weile beobachtete sie den Neuzugang, dann hockte sie sich hin und fragte: „Wie heißt du, meine Tochter?“
   Marjam antwortete nicht.
  „Hmm... Mein Name ist Fatima Hafzibulla-Maraud“, fuhr sie geschwätzig fort. „Mein Mann Abdulla ist als Märtyrer gestorben – Allah akbar! – als sie unser Dorf überfielen. Mich und zwei andere Frauen konnten sie noch mitnehmen, die vierte, Safia, schlugen sie nieder, weil sie sich wehrte und um Hilfe schrie. Dann kamen die Amerikaner und vertrieben die Bande. Wo haben sie dich denn erwischt?“
   Marjam rührte sich nicht und  schwieg.
   „Die da“ – Fatima wies auf eine blutjunge Frau, die mit wiegendem Oberkörper auf einem Stuhl saß – „haben sie auf dem Nachhauseweg mit drei anderen Schülerinnen geschnappt, gerade als der Trolleybus hinter der Dorfmauer verschwunden war. Woher sie so plötzlich kamen, und wie sie sich unbemerkt dem Dorf nähern konnten, ist uns allen ein Rätsel. Die Gegend ist flach wie ein Pilaw-Brett. Außer ein paar verfallenen Erdhügeln gibt es da nichts, wo sich ein Haufen Kämpfer verstecken könnte.“
  Ein Vorhang wurde zur Seite geschoben, und zwei sehr junge Frauen betraten die Höhle. Das Gesicht der einen war verweint, die andere blickte verstört auf den Boden. Sie warfen sich auf ihre Strohsäcke und blieben reglos liegen. Bei ihrem Anblick begann Marjam unbeherrscht zu zittern. Seit sie von al-Dorhani getrennt war, hatte sie jeglichen Mut verloren. Und jetzt erfasste sie nackte, panische  Angst.
   „Sie verbanden uns die Augen, und dann wurde ich ohnmächtig“, plauderte Fatima unbekümmert weiter. „Als ich wieder aufwachte, lag ich in dieser widerlichen Haremshöhle.“ Sie zog das Badetuch höher und begann zu weinen. „Manchmal wünschte ich, ich wäre tot. Ich würde alles tun, um hier herauszukommen. Alles!“, jammerte sie.
   Marjam war am Ende ihrer Kraft. Ihre Nerven versagten. „Hör auf!“ schrie sie verzweifelt, „warum erzählst du mir das? Glaubst du, ich will das hören? Ich will zu meinem Mann! Wo ist mein Mann?“
  Einer der Wächter am Höhleneingang, von dem Geschrei angelockt, schlenderte lässig heran und blieb vor den beiden Frauen stehen. „Du willst zu deinem Mann?“, fragte er mit zynischem Grinsen, „das geht jetzt nicht. Er wird gerade verhört.“ Der Wächter gab Fatima einen Fußtritt. „Pack dich und rede keinen Unsinn!“, schnauzte er.
   Marjam stöhnte auf und fiel wieder in Ohnmacht.
   Aus den quäkenden Lautsprechern eines Kassettenrekorders erklang jetzt 'Schir o schakar', 'Milch und Zucker', jene uralte, wehmütige Volksweise, deren Strophen von einer tiefen Männerstimme und einem hellen Knabensopran im Wechsel vorgetragen werden. Doch niemand, nicht einmal die Wächter, hörten hin.

                                                             8

   „Schau dir das mal an“, sagte der Dicke mit leicht näselnder Stimme. Er wies auf die Füße des Mannes. Der Kranke blickte den Doktor aus traurigen Augen verängstigt an.
  Schönberg schlug die Decke zurück. Dem Kämpfer fehlte der rechte Fuß. Der Unterschenkelstumpf war sauber und fest verbunden, aber darüber zeichneten sich bereits böse Stauchungserscheinungen ab. Schönberg löste den Verband vorsichtig vom Stumpf. Der Stumpf begann schon schwarz zu werden. Der unangenehme Geruch faulenden Fleisches stieg auf. Er betrachtete den anderen Fuß. Der Spann war gerötet und nässte. Atopisches Exem, stellte er fest. Unter den gegebenen Umständen ohne Behandlungsbedarf.
   „Wer hat den Fuß abgenommen?“, fragte er.
  „Ich“, sagte der Sanitäter mit der Hasenscharte. Er blickte jetzt fast so traurig drein wie der Kranke.
   Schönberg betastete vorsichtig den Stumpf, drückte hier, drückte da. Kurz bevor er zum Knie kam, stöhnte der Kranke heftig auf.
  Der Doktor richtete sich auf. Whali Khan beobachtete ihn, die Hand auf dem Revolver. Der Doktor sagte: „Das Bein muss bis zum Knie amputiert werden, und zwar möglichst rasch. Der Brand ist schon weit fortgeschritten.“ Er wandte sich dem anderen Schwerverwundeten zu, der vor wenigen Minuten hereingetragen worden war. Hemd und Hose waren derart mit Blut durchtränkt, dass Schönberg sofort eine schwere Bauchverletzung annahm.
  Der Mann lag mit offenen Augen da und wimmerte leise. „Legt seinen Bauch frei!“, befahl er. Seine Befürchtung erwies sich als richtig. In der Bauchdecke klaffte bis zur Leistengegend ein langer Riss, aus dem ein Teil des Dünndarms hervorquoll. Die Kleidung über dem Riss war zerfetzt. Ein Granatsplitter hatte den Mann von schräg unten getroffen, möglicherweise war er auf eine Mine getreten. „Deckt ihn wieder zu und gebt ihm Morphium“, sagte er.
  Beim nächsten Patienten sah es auch nicht besser aus. Der Bauch war eine einzige blutende Wunde, und in seinem linken Oberschenkel steckten mehrere Granatsplitter. Wieder verordnete Schönberg Morphium.
   Sein Entschluss stand fest.
   Er ging zurück in die Apotheke. Der Dicke und Ahmud folgten ihm. „Du musst sofort operieren“, knödelte der Stellvertreter und wies auf die Schüssel mit der Bleichlauge, die von den Sanitätern schon vorsorglich auf den Tisch gestellt worden war. Sein Blick ging an Schönberg vorbei. „Wasch dir die Hände und fang an!“
   „Ich denke nicht daran!“
   Whali Khan prallte verdutzt zurück.
   „Wie?“ Er sah Schönberg entgeistert an.
   „Ich werde niemanden operieren!“
  „Was soll das heißen: Ich werde niemanden operieren“, stammelte der Dicke, wobei er Schönbergs deutschen Akzent übertrieben nachäffte.
   „Du hast es doch gehört! Ich operiere nicht!“
  „Ich operiere nicht, ich operiere nicht!“, wiederholte Whali Khan gehässig. In seinem Gesicht wetterleuchteten Rachegelüste. „Soll das heißen, du weigerst dich, meinem Befehl zu folgen?“  
   „Du kannst befehlen, so viel du willst! Mein Entschluss steht fest!“
   „Welcher Entschluss?“
   „Bei Allah, bist du schwerhörig?“
   Für einen Moment sah es so aus, als sei Whali Khan der Situation nicht gewachsen. Er sah Ahmud fassungslos an und stammelte: „Hast du das gehört, Ahmud? Der Giaur hat einen Entschluss gefasst!“ Plötzlich brüllte er los: „Die Kämpfer ringen mit dem Tode, und du verdammter Christenhund weigerst dich, deine Arbeit zu tun – das werden wir doch mal sehen!“ Er zog den Revolver und richtete ihn auf den Doktor. „Na dann schau´n wir doch mal, wie lange dein Entschluss vorhält! Wenn du bei 'drei' deine verdammten Hände nicht in die Schüssel tauchst, knalle ich dich wie eine Ratte ab. Eins – zwei –“
   Schönberg rührte sich nicht, aber er verlagerte sein Körpergewicht unmerklich auf das linke Bein.
   „ – drei!“
   Der Schuss krachte, aber die Kugel prallte von der Decke ab und fuhr mit einem katzenartigen Geräusch in einen der Metallschränke. Schönberg reagierte blitzschnell. Noch bevor Whali Khan erneut den Hahn seines altertümlichen Revolvers spannen konnte – wozu er beide Hände brauchte – riss er das rechte Bein hoch und trat die Schießhand nach oben. Der Dicke war so verblüfft, dass er einen Moment zögerte, und schon schlug ihm Schönberg mit einem kräftigen Hieb den Revolver aus der Hand. Noch während er sich bückte, um das Schießeisen mit der linken an sich zu nehmen, ballte er die rechte Hand zur Faust und rammte sie Ahmud, der gerade seine Pistole entsicherte, mit voller Wucht in den Unterbauch. Der Kämpfer ließ die Waffe fallen und sackte aufheulend in sich zusammen. Schönberg nahm auch die Pistole an sich und hielt den Dicken mit ausgestrecktem Arm in Schach. Ahmud stöhnte leise, dann rührte er sich nicht mehr. Die beiden Sanitäter standen fassungslos im Durchgang zum Lazarett. „Du“, rief Schönberg dem Kleineren  zu, „lauf schnell los und hol den Kommandanten!“
                                                                  9
   
   Als Marjam wieder aufwachte, war die Musik verstummt. Vom Feuer war nur noch ein glimmender Aschenhaufen übrig, und in der Luft lag der Geruch schwelenden Holzes. Einige Frauen schliefen, andere dösten mit offenen Augen gedankenschwer vor sich hin.
   In den Eingeweiden der jungen Frau rumorte es schon seit einiger Zeit. Jetzt merkte sie, dass sie Hunger hatte. Ihr Körper forderte mit Macht sein Recht. Sie konnte zwar nicht sagen, wie lange ihre letzte Mahlzeit zurücklag, aber es musste schon vor ziemlich langer Zeit gewesen sein. Zumindest kam es ihr so vor. Sie stand auf, holte sich Obst und Brot, füllte einen Becher mit Wasser und setzte sich mit gekreuzten Beinen wieder auf ihr Lager.
   „Guten Appetit!“
   Marjam war gerade dabei, einen Granatapfel zu zerlegen, was ohne Messer ziemlich schwierig war. Sie blickte in die Richtung, aus der die Flüsterstimme kam. Sie gehörte der Frau, die neben ihr lag. Die Frau hatte ihre Matratze herangeschoben und schaute Marjam auf der Seite liegend interessiert zu. Der Granatapfel platzte auf, und der blutrote Saft bekleckerte Marjams Hemd.
   Die Frau streckte die Hand aus. „So macht man das nicht. Gib her!“, befahl sie. Marjam gehorchte verdutzt. Ihre Nachbarin nahm den Apfel und ritzte die Schale mit dem Daumennagel so ein,  dass sie ihn in zwei Hälften zerbrechen konnte. Ihre lackierten, spitzen Fingernägel schimmerten matt. In ihrem müden Gesicht blitzten zwei helle Augen, die zu den senkrechten Falten um ihre Mund nicht so recht passen wollten. Leise lachend gab sie die beiden Hälften der Frucht zurück.
   „Danke“, sagte Marjam ohne rechte Begeisterung und verstummte.  
   Die nicht mehr ganz junge Frau musste einmal sehr hübsch gewesen sein. Jetzt sah sie aus wie eine kleine, heruntergekommene Liebesdienerin aus einem der Teehäuser in der Straße 'Zum Siebten Himmel' in Shangoran. „Du sorgst dich um deinen Mann“, flüsterte sie. „Hat er was ausgefressen, he? So oder so, sie werden ihn zwangsrekrutieren.“
   Marjam fuhr auf. „Bei Allah, kannst du mich nicht in Ruhe essen lassen?“
  „Pst! Nicht so laut! Jetzt ist Nachtruhe! Der Kommandant achtet darauf, dass wir ausgeruht sind.“
  Einer der Wächter war aufmerksam geworden und blickte herüber. Es war derselbe, der vorhin die Frau getreten hatte. Marjam beobachtete ihn ängstlich aus den Augenwinkeln, darauf gefasst, dass er aufstehen und herkommen würde.
   Die vermutliche Lustbereiterin a. D. sah den Blick und grinste. „Ach der! Ein Großmaul und Aufschneider, wie er im Buche steht!“, tuschelte sie. „Du musst ihn mal hören, wenn er drei Haschischzigaretten intus hat! So und so viele gefangene Frauen, so und so viele getötete Amerikaner, so und so viele in Brand geschossene Lastwagen und was weiß ich noch. Ich glaub´ ihm kein Wort. Er nennt sich  'Malik', 'König', haha, das sagt doch schon alles. Dabei ist der Typ völlig arschlos und ein Weichei erster Sorte! Ich heiße übrigens Sheila.“
   Sheilas munteres Getuschel und die genossene Nahrung verfehlten nicht ihre beruhigende Wirkung. Marjam legte sich auf die Seite und sah ihre Nachbarin an. „Wie lange bist du schon hier?“, fragte sie schließlich.
   „Genau weiß ich es nicht. In diesem verfluchten Gewölbe gibt es keine Zeit. Aber ich denke, vier oder fünf Monate werden es schon sein.“er mehrere. Manche können sogar ausgesprochen nett sein. Ich hatte mal einen –“
   „Ach nee! Und warum hat dieser nette Kerl vorhin die Frau getreten?“
   Sheila hielt sich warnend den Zeigefinger vor die Lippen. „Pst, nicht so laut! Weil er eben ein eierloses Arschloch ist, der Scheitan möge ihn holen! Er markiert hier den dicken Macker, um von seiner Unfähigkeit abzulenken.“
   „Bei Allah, das verstehe ich nicht! Wieso wird so einem denn überhaupt eine Frau zugeführt?“
    „Na warum wohl? Na ganz einfach! Weil von seinem Handicap bisher niemand nichts weiß! Und ich bin nicht so dumm, ihn zu verraten! Sag mal, bist du verletzt? Dein Fuß blutet ja! Ich sag´ dem Arschloch Bescheid, dass er einen Sanitäter holt!“
   „Nein, nicht nötig, es ist nichts“, wiegelte Marjam zerstreut ab. Ihr war gerade ein Gedanke gekommen. Dann war ja dieses nette Arschloch möglicherweise erpressbar. Sie nahm sich vor, diesen Gedanken im Sinn zu behalten.  
   „Na schön, wie du meinst.“ Sheila griff in eine versteckte Öffnung ihrer Matratze und zog eine halbe Tafel Schokolade hervor. „Hat mir der kleine Sanitäter mitgebracht. Möchtest du?“ Marjam schüttelte den Kopf. Sheila biss ab und kaute genüsslich. „Du hast mir immer noch nicht gesagt, wie du heißt!“
   „Das ist doch jetzt völlig unwichtig!“
   „Dann nenne ich dich einfach 'Namenlose'.“
   Marjam legte sich wieder auf den Rücken und starrte an die Höhlendecke. Dunkle Schatten huschten hin und her. Was hatte die Plaudertasche da eben gesagt? Der Kommandant achtet darauf, dass wir ausgeruht sind? Eine eiserne Hand zwängte Marjams Brust ein. Ausgeruht! Wofür?
  „Du zitterst ja, Namenlose“, sagte Sheila nach einer Weile, „hast du Angst?“   
  „Wenn ich bloß wüsste, was sie mit al-Dorhani vorhaben“, murmelte Marjam, „ich fürchte, sie werden ihn foltern und töten.“
   „Wer ist al-Dorhani? Ist das dein Mann? Na, da kann ich dich beruhigen. Hier wird nicht gefoltert. Der Kommandant hält sich streng an den Koran. Und da steht, dass der Hass gegen die Feinde nie zur Unmenschlichkeit verführen darf, oder so ähnlich.“
   „Glaubst du das?“
   „Nun ja, beschwören kann ich´s nicht. Aber ich hab´ auch noch nicht das Gegenteil gehört. Und hier haben auch die Höhlenwände Ohren!“
   „Aber al-Dorhani werden sie töten!“
   „Was hat er denn verbrochen?“
   „Kümm´re dich um deinen eigenen Dreck!“
   „Na, na! Ich muss doch sehr bitten! Bisschen freundlicher könntest du schon sein! Vielleicht bist du noch mal auf meine Hilfe angewiesen! Unverhofft kommt nämlich oft!“
   „Entschuldige! Ich bin einfach mit den Nerven am Ende.“
   „Kann ich verstehen, Namnelose, kann ich verstehen! Mir ging´s anfangs genau so. Aber mit der Zeit gewöhnt man sich daran. Ich meine, an das Höhlenleben, nicht an das... Andere. Daran natürlich nicht.“
   „Stimmt es, dass sie Verräter köpfen?“
   „Was du alles wissen willst! Na ja, soll schon vorgekommen sein! Aber das ist mehr fürs Ausland bestimmt. Damit wollen sie ihren Lösegeldforderungen Nachdruck verleihen. Es gehört sozusagen zu ihrem Geschäftsmodell... Es hat nicht viel zu bedeuten – außer für den Geköpften natürlich... Sag mal, Namenlose, wen oder was hat dein Mann denn verraten?“
   „Nichts, das dich was anginge! Und jetzt lass mich bitte in Ruhe!“ Marjam drehte sich ostentativ auf die andere Seite. Doch Sheila ließ nicht locker.
   „Sag mal, ist dein Mann reich? Wenn er reich ist und zahlt, werden sie ihn bestimmt irgendwann laufen lassen und dich auch.“
   Marjam schloss die Augen. Dieses zynische Geschwafel raubte ihr den letzten Nerv, und eine entsetzliche Angst überschwemmte ihr Gehirn. Nicht alles Geld der Welt konnte ihren Mann noch retten, das war so sicher wie das 'Amin' des Muezzin auf dem Turm. In den Augen dieser Verbrecherbande war er ein Verräter, und die Blutrache ist in diesem Lande stärker als die Barmherzigkeit Gottes. Und dann würden sie ihr, der Namenlosen, hier unten einen Vorgeschmack von der Djehenna, der Hölle geben...
                                                                  10

   Das Tock – Tock – Tock wurde lauter. Der Kommandant erschien, gefolgt von zwei bulligen Leibwächtern. Neben seinen Gorillas wirkte Rawshad Khan geradezu unansehnlich klein und zart. Seine Säbelbeine wiesen ihn als Nachfahren eines Kriegers der Reiterhorden Dshingis Khans aus. Verdutzt blieb er am Höhleneingang stehen. Anscheinend hatte ihn der Sanitäter aus dem Schlaf geweckt, denn die schwarze Augenklappe fehlte. Er sah Schönberg mit zwei Waffen in der Hand dastehen und rief verblüfft: „Bei Allah, was ist hier geschehen?“
   „Der deutsche Hund wollte mich doch tatsächlich erschießen!“, greinte der Dicke mit hervorquellenden Augen. Seine niedrige Stirn war schweißnass.
   „So, meinst du! Und wie kommt er an dann die Waffen?“ Rawshad Sahib belegte seinen Stellvertreter mit einem vernichtendem Blick. „Nehmt dem Doktor die Waffen ab!“, befahl er seinen Gorillas.
   „Nicht nötig“, sagte Schönberg lachend, „ich brauche diese Schießeisen nicht und gebe sich freiwillig her. Meine Waffen sind Skalpell und Knochensäge.“
   Ahmud kauerte immer noch am Boden und hielt sich stöhnend den Leib. „Was ist mit ihm?“, fragte der Kommandant, „ist er verletzt?“
   „Ich hoffe nicht allzu schwer! Ein Leberhaken hat ihn außer Gefecht gesetzt. Er wird sich bald wieder erholen.“
   Der Kommandant blickte seinen Stellvertreten an. „Was ist hier geschehen?“, fragte er.
  Whali Khan hatte sich wieder gefasst. „Das ungläubige Schwein weigert sich zu operieren“, polterte er. Er wirkte, als habe ihn jemand gerade kräftig geohrfeigt.
   „Ach! Und da wolltest du ihn erschießen.“ Im Tonfall des Kommandanten lag unverhohlene Verachtung. „Warum hast du ihn nicht nach dem Grund gefragt und dann erst die Waffe gezogen?“ Ohne eine Antwort abzuwarten, wandte er sich dem Doktor zu. Der sah in ein offenes und in ein zugenähtes Auge. In dem offenen Auge lag so etwas wie Bewunderung. „Hast du eine Kampfausbildung?“   
   „Ich war dreimal hintereinander Kampfsportmeister bei den Teutonen in Münster. Danach –“  
   „Und warum willst du nicht operieren? Hast du schon vergessen, in welcher Lage du dich befindest, Doktor? Nun?“
  Schönberg rieb sich die schmerzende Hand. „Natürlich habe ich das nicht vergessen, ich bin ja kein Dummkopf! Ja, ja, ich weiß! Du könntest mich jetzt erschießen oder von mir aus köpfen lassen, aber du wirst lachen, es wäre mir völlig egal. Besser tot als in diesen muffigen Katakomben bei lebendigem Leibe verfaulen. Aber ich denke, du wirst den Befehl nicht geben, Sahib, denn du bist alles andere als ein Dummkopf. Du weißt genau: Wenn du mich jetzt umbringst, sterben in den nächsten Tagen viele deiner Kämpfer, die ich retten könnte. Es wäre eine unverzeihliche Milchmädchenrechnung“, sagte er auf deutsch, „das Leben deiner Krieger gegen einen toten Hund einzutauschen.“
   „Verdammter Sauhund!“, schimpfte der Dicke, der 'Hund' verstanden hatte, prompt und steckte seinen Colt wieder ein.
   „Also was willst du?“, fragte Rawshad Sahib. Es sah aus, als schrumpfe er mit einem Mal noch weiter in sich zusammen.
   „Was hast du mit al-Dorhani und seiner Frau vor?“
   „Setz dich! Ich blicke nicht gerne zu einem Ungläubigen auf!“
   Schönberg setzte sich. „Also, Kommandant, was hast du – “
   „Der Verräter Al-Dorhani ist bereits liquidiert. Die Frau wird verdienten Kämpfern als Kriegsbeute zugeführt.“
   „Ich verstehe nicht! Was hat al-Dorhani dir denn getan? Der Mann war doch gläubiger Moslem!“
   „Papperlapapp! Auch ein gläubiger Moslem kann ein Verräter sein! Sein Dorf hat seinerzeit mit den Russen kollaboriert und somit den wahren Glauben an die Christen verraten! Und mit Verrätern machen wir kurzen Prozess.“
   „Findest du diese Handlungsweise gerecht? Das ist doch Unsinn!“
  Rawshad Khan fuhr auf. „Hüte deine Zunge, Doktor! Es ist kein Unsinn. Außerdem geht es nicht darum, was ich finde ober nicht finde. Es ist die Gerechtigkeit Allahs! In der zweiten Sure heißt es: 'Erschlagt sie, wo immer ihr auf sie stoßt, denn Unterdrückung ist schlimmer als Totschlag'. Und Männer aus al-Dorhanis Sippe haben den Unterdrückern zugearbeitet.“  
   „Kommandant, du kennst dich im Koran gut aus. Dann weißt du, dass da auch steht: 'Der Hass aber, den ihr gegen Leute hegt, soll euch nicht dazu bringen, dass ihr das rechte Maß verliert'. Wenn ich deine Worte eben richtig verstanden habe, hast du das rechte Maß verloren. Denn es ist gar nicht bewiesen, dass al-Dorhani persönlich zu den Kollaborateuren gehörte.“
    Mahmud richtete sich stöhnend auf und hielt sich am Tisch fest. „Bringt ihn weg!“, schnarrte der Kommandant angewidert. Er war wütend, weil er sich ertappt fühlte.  Um seinem Ärger Luft zu machen, polterte er: „Du verstehst nichts, Fremder! Nach ungeschriebenen Gesetz sind die Toten, die auf das Konto eines Verräters gehen, solange entehrt, bis nicht das Blut der Feinde geflossen ist. Wenn die eigentlichen Übeltäter verschwunden sind, dann müssen eben andere an ihrer Stelle das Leben lassen.“
   „Bei Allah! Das ist doch Sippenhaft!“ Der Doktor sprang auf. „Nenne mir eine Stelle im Koran, die Sippenhaft oder Blutrache vorschreibt!?“
   „Setz dich und schweig! Du denkst wie ein abgezogenes Ziegenfell, ohne die Kraft des Glaubens! Aber ihr Westler denkt ja alle so! Das ist auch der Grund, warum ihr verlieren werdet, und dass ihr verliert ist so sicher wie das Amin nach dem 'Dikhr' des Muezzin!“ Der einäugige Blick des Kommandanten sog sich am Gesicht des Doktors fest. „Verstehe mich nicht falsch! Persönlich lege ich keinen Wert darauf, dass jemand verliert. Wichtig ist, was jemand gewinnt. Und wir werden gewinnen! Wir werden die Eindringlinge vertreiben! Wir haben die Mongolen vertrieben, wir haben Türken vertrieben, wir haben die Russen vertrieben, und wir werden auch die Internationale Allianz vertreiben. Allah und unsere Ehre gebieten es.“
   „Und dann?“
   „Dann werden wir weiter für die Sache Allahs kämpfen!“
   Schönberg sah ein, dass es verlorene Zeit war, sich mit diesem Mann über Blut und Ehre zu unterhalten. Er sagte: „Kommandant, warum degradierst du al-Dorhanis Frau zur Hure?“
   „Die Frau eines Verräters ist bereits entehrt.“
   „Gib sie frei!“
   „Ich denke nicht daran! Meine Kämpfer würden mir die Augen auskratzen!“
   Der Kommandant stutzte. Irgendwie hatte er er sich verrannt.
   „Na, na, nun übertreib mal nicht! Deine Kämpfer werden dir schon nicht die Augen auskratzen! Dir geht es doch nicht um die Kämpfer, dir geht´s ums Prinzip.“
   Eine Weile herrschte Stille, nur unterbrochen durch das gelegentliche Aufstöhnen des Kämpfers mit dem fürchterlichen Bauchschuss und das Keuchen des Dicken. Schließlich sagte der Kommandant: „Du verlangst viel von mir, Doktor!“
   „Mag sein! Aber nichts Unmögliches!“
   „Es widerspräche uralten ungeschriebenen Gesetzen!“
 „Aber es widerspricht nicht den Lehren des Koran! Steht nicht in der sechsunddreißigsten Sure geschrieben: 'Seid barmherzig zu denen, die euch Unrecht getan haben?' Allah will Barmherzigkeit, du willst Rache. Bist du größer als Allah?“ Es war ein Schuss ins Blaue, denn weder Schönberg noch der Kommandant wusste, was in der sechsunddreißigsten Sure steht. Aber der Schuss traf.
   „Nun gut, ich werde es mir überlegen“, sagte der Kommandant schnell.
   „Kommandant! Was gibt es da viel zu überlegen! Die Ehre einer entehrten Frau gegen die Gesundheit deiner Krieger! Wo liegt da das Problem?“
   Der Dicke trat einen Schritt vor und hob beschwören die Hände. „Rawshad!“ rief er aufgeregt, „mach jetzt bitte keinen Fehler!“
   „Schweig!“, donnerte der Kommandant, „wir beide sprechen uns noch!“ Er sah den Doktor eindringlich an. „Gut, ich gebe sie frei. Die Frau bekommt eine Wohnhöhle zugewiesen, in der sie sich aufhalten kann, aber nur dort.“
   „Bleibt noch Weber.“
   „Du pokerst hoch, Doktor! Na gut!  Weber wird Sanitätsdienste verrichten...“
   „Danke, Kommandant!“
   „... aber nur unter einer Bedingung. Sollte es im Lazarett zu viele Todesfälle geben, werdet ihr alle drei geköpft!“

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nicolailevin
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Beitrag14.02.2019 20:03

von nicolailevin
Antworten mit Zitat

Denn mal weiter im Text ... Es sind etliche Rechtschreibfehler drin, aber das war mir jetzt zu kleinklein und mühsam, ich hab mich aufs Sachlogische und grobflächig Stilistische beschränkt.

4 (Forts)

Zitat:
Nach einigen hundert Metern bog der Pfad nach rechts ab; schließlich mündete er in einer kleinen Bucht.


Bucht? Bei Bucht denk ich erstmal nur an Meer oder Wasser. Wenn du eine Gebirgsformation meinst, dann gehört das für meinen Begriff beschrieben ...

Zitat:
Der Angeredete sagte nichts. Stumpfsinnig fuhr er mit seiner Tätigkeit fort.


Einen Menschen nach Waffen abtasten dauert drei oder vier Handgriffe lang; das kann man m.E. nicht stumpfsinnig fortsetzen.

Zitat:
Obwohl sein Gesicht von Bart und Sonnenbrille fast vollständig verdeckt war, erkannte der Doktor, dass es stark entstellt war.


Welche Entstellung willst du denn da erkennen? Deformation? Brandnarben? Über denen wüchse kein Bart ...

Zitat:
Besonders beeindruckend waren die hellen blauen Augen, die in diesem Umfeld etwas fremdartig wirkten. (Die Pashtunen behaupten von sich, dass sie zur arischen Rasse gehören.)


Für diese Augen (ich denk da an dieses berühmte National-Geographic-Mädchen) findest du eine stärkere Beschreibung! 'Rasse' würde ich nicht verwenden, auch nicht, wenn die das selber sagen sollten ...

Zitat:
Bekleidet war er mit einer Art Kosakenuniform – möglicherweise ein Beutestück – deren Hosenbeine in Schaftstiefeln aus Ziegenleder steckten.


Die letzten Sowjets sind 1989 abgezogen; bisschen unwahrscheinlich, dass da nach 30 Jahren noch jemand in Beuteuniformen rumläuft. Und du siehst, dass die Stiefel aus Ziegenleder sind?

Zitat:
Er zog geräuschvoll die Nase hoch. Anscheinend war er im Begriff, vor dem Kämpfer auszuspucken. Der erhob sein Gewehr, um al-Dorhani einen heftigen Stoß vor die Brust zu versetzen ... „Wag´ es noch einmal, du dreckiger Hund, einen meiner Kämpfer zu beleidigen, und du bist ein toter Hund!“ ... Dass al-Dorhani ein Todeskandidat war, daran bestand für ihn nach dem Vorfall eben kein Zweifel.


Sie mögen ein stolzes Volk sein da hinten am Hindukusch, aber so viel Reaktion nur fürs Nasehochziehen? Todeskandidat? Für meine Begriffe ein bisschen überzogen.

Zitat:
Der kleine Trupp setzte sich in Bewegung, zwei Kämpfer vor den Gefangenen, der Rest als Nachhut. Schönberg ging hinter der jungen Frau. Trotz der fürchterlichen Situation genoss er die Anmut ihrer Bewegungen. Ihr Gewand ließ wenig von ihren  Formen erkennen, aber er kannte die Körper ähnlicher Frauen: Sie waren mädchenhaft zart und voll zugleich. Er stellte sich vor, wie sie ihr Kleid abstreift und nackt, nur mit den bunt schillernden Reifen um Hand- und Fußgelenken, vor ihm steht. Rosenduft erfüllt das Bodoir. Mit den gehauchten Worten: „Komm. Liebster, komm!“ sinkt sie in seine Arme...


Wie soll ich's sagen? Diese erotischen Phantasien kommen immer so wie mechanisch angeschaltet und nehmen mich so gar nicht mit ...

Zitat:
Außerdem benötigten die Terroristen seinen fachlichen Rat, die medizinische Gerät und die Medikamente, die hinten im Landrover lagen.


Ich als Taliban hätte die ja mitgenommen ...

Zitat:
seinen Eid nahm er verdammt ernst, wie kaum ein Arzt dieses von Korruption und Vetternwirtschaft gebeutelten Landes.
   Nun ja, in dieser Hinsicht war er allerdings nicht der einzige.


Was denn nun? Widersprüchlich und per se schon mal problematisch. Wer weiß schon genau, wie ernst welcher Arzt seinen Eid nimmt?

Zitat:
Inzwischen war es den Gefangenen heiß geworden. Die Strahlen der tiefer stehende Sonne fielen fast senkrecht auf die schrägen Felswände und heizten sie gehörig auf.


Ich war nie gut in Physik, aber das erscheint mir irgendwie widersinnig. Es ist doch nicht der Einfallwinkel, der einen Felsen aufheizt, auch wenn die Sonne schwach und tief steht ... Sonst hieße das, du kriegst abends im Stehen eher einen Sonnenbrand als im Liegen.

                                                                5

Zitat:
Der Oberst ... ließ sich ... in den abgenutzten Fauteuil fallen, der offensichtlich noch aus der französischen Besatzungszeit übrig geblieben war ...


Ich wurde stutzig und hab nachgeschlagen. Wikipedia weiß nichts von französischer Besatzung in Afghanistan.

Zitat:
So dämlich wie sie jetzt tat, war sogar in diesem Land keine junge Frau mehr.


Ich finde ihre Aussagen naiv, kokett, was auch immer, würde aber nicht dämlich sagen. Und Dämlichkeit hat zudem wenig mit Bildung zu tun, das Urteil passt also auch nicht. Wenn du den Oberst als ignoranten Chauvi zeigen willst, würde ich woanders ansetzen ...

Zitat:
  das englische Gymnasium in Shangoran besucht.


Ich stolpere über dieses sehr deutsche Gymnasium. Das englische College?

Zitat:
Der Oberst stöhnte wollüstig auf ...


Der ganze Absatz klingt sehr unrund für mich.

Zitat:
eine geborene  Niedergesäß war


Namenswitze würde ich lassen. Ja, ich weiß, es gibt gar nicht wenige Niedergesäßens. Aber trotzdem ...

Zitat:
In Paderborn nur von vorn, sprich: In der so genannten Missionarsstellung.


Du springst hier innerhalb eines Satzes vom Herrenwitzkalauer zu Lehrbuchtext.

Zitat:
Der Oberst, vor Verlangen keuchend, sah jetzt keinen Grund mehr, den Höhepunkt noch weiter hinauszuschieben.


Ihren? Seinen?

Zitat:
Langsam öffnete sie die Beine...


Holprig. Das Gegenteil von geschlossenen Beinen sind gespreizte, oder?

Zitat:
Ein Gärtner bemühte sich, etwas Ordnung in das zugewucherte Grünzeug zu bringen.


Du bist in der Perspektive des Oberst, der gerade Sex hat! Und während er so poppt, schaut er also aus dem Fenster und sieht den Gärtner und denkt sich: "Ach guck an, der will wohl etwas Ordnung ..."  Eher nicht, oder?

Zitat:
„Fied-rick...“


Der Gedankengang des Oberst gefällt mir gar nicht. Unnötig von oben herab (es sollte ihm doch nach dem Sex gut gehen und er ihr wohlgesinnt sein) und hölzern.

Zitat:
„Fidisahib, bist du noch da?“


Der hier folgende Turteldialog ist für mich bisher der beste der Geschichte! Das liest sich flüssig und lebensnah und amüsant und nett.

Zitat:
"In Deutschland würdest du keine dauerhafte Bleibeberechtigung bekommen, denn dein Heimatland gilt bei uns immer noch als teilweise sicheres Herkunftsland."


Da fallen in dem englischen Dialog punktgenau die Fachbegriffe der deutschen Bürokratie. Ich würde einmal hinübersetzen und dann wieder zurück ...

Zitat:
Taifun sprang begeistert auf und fiel ihm um den Hals. Dabei fiel wie zufällig ihr Hemd zu Boden


Ich denke, die haben gerade gevögelt? Will er schon wieder? In seinem Alter?

Zitat:
Er nahm einen Hundert-Dollar-Schein aus seiner Jackentasche, rollte ihn zusammen und steckte ihn in den Ausschnitt ihres Hemdes zwischen die spitzen Brüste.


Liegt das Hemd nicht am Boden? Hab ich verpasst, dass sie sich wieder angezogen hat?
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nicolailevin
Geschlecht:männlichEselsohr


Beiträge: 259
Wohnort: Süddeutschland


Beitrag14.02.2019 20:07

von nicolailevin
Antworten mit Zitat

Und weiter ... wieder: Sachlogik und grobe stilistische Fehlzünder.

Zitat:
5


Wir waren doch vorher schon mitten in 6?

Zitat:
ein Tropfen löste sich und verfehlte nur um Haaresbreite Webers rechtes Auge.


Um Haaresbreite entkommt man dem Blitz oder einem Auto, aber doch nicht so einem harmlosen Tropfen. 'Knapp' reicht.

Zitat:
  ... zwei kleine Fladenbrote aus Maismehl vor die Gefangenen hin.


Du siehst, aus welchem Mehl die gebacken sind?

Zitat:
Weber griff augenblicklich zu, denn er hatte einen Bärenhunger. Seinem robusten Naturell konnte eine Kleinigkeit wie eine Entführung den Appetit nicht verderben.


Und weiter hinten schilderst du ihn als sensibles Missbrauchsopfer mit Schuldkomplex ... Inkonsistenter Charakter.

Zitat:
Der wild aussehende Kämpfer runzelte die Stirn. Sie sah aus, als sei sie in zwei Hälften gespalten.


Längs? Quer? Mir ist das noch nie bei einem Menschen aufgefallen, und ich kann mir nichts darunter vorstellen.

Zitat:
Die Terrororganisationen benötigten ständig Ärzte und Medikamente, gerade jetzt, wo Raubzüge immer schwieriger wurden.


Das würde ich hier nicht auf die Terrorgruppen beschränken. Jede kämpfende Partei, wie legitim auch immer, braucht medizinische Versorgung.

Zitat:
Er grinste unverschämt.


Was macht bei einem Grinsen das Unverschämte aus?

Zitat:
Weber beobachtete die beiden angewidert. Nur mit Mühe vermied er es, aufzuspringen und ihnen die Leviten zu lesen.


Diese ebenso unerwartete wie heftige emotionale Reaktion von so einem robusten Kämpen hätte ich gern konkreter und plausibler.

Zitat:
Sie sah voraus, was ihr blühte.


Das weiß Weber? Das sieht Weber? Oder vermutet er das nur?

Zitat:
Der eine hielt den obligatorischen Karabiner in der Hand – Weber erkannte eine russische Kalaschnikow älterer Bauart –,


Ist eine Kalaschnikow ein Karabiner? Gibt es bei Kalaschnikows auf den ersten Blick ersichtliche Bauartunterschiede?

Zitat:
Er gab al-Dorhani einen derben Fußtritt und befahl: „Lass die Frau los!“


Hier exemplarisch so ein Dialog, wo mir völlig schleierhaft ist, in welcher Sprache sie sprechen.

Zitat:
„Mein Mann verblutet!“ schrie sie aus Leibeskräften, „wollt ihr, dass er stirbt?“


Unplausibel. Kopfwunden bluten lang und zäh, aber mengenmäßig verliert man da nicht übermäßig viel Blut.

Zitat:
Sie verstummte und sackte zusammen wie eine zerbrochene Puppe.


Schiefer Vergleich, jedenfalls keiner, der mich mit ihr mitfühlen lässt.

Zitat:
Ein Kämpfer nahm die junge Frau widerlich grinsend über die Schulter. Unter dem rohen Gelächter der Meute trug er sie ebenfalls weg.


Schiefe Satzstellung im ersten Satz (wer grinst?) - und mir ist nicht klar, wessen Wertung hier reinspielt. Die von Weber? Oder deine?

Zitat:
Was kann ein einzelner Hase schon gegen ein Rudel gefräßiger Wölfe ausrichten?


Würde sich ein erwachsener Mann selbst als Hase charakterisieren?

Zitat:
Nach dem Erstkommunionsunterricht ... begann er, ihn auszufragen, ... , ob Weber öfter Hand an sich lege. Weber stand da, mit Tränen in den Augen. Was bisher ein streng gehütetes Geheimnis gewesen war, sollte nun offen gelegt werden.


Erstkommunion ist zum Ende der dritten Klasse. Da sind die Jungs neun Jahre alt. Die begehen allerlei Sünden, aber Masturbation? In dem Alter? Lang vor Eintritt der Geschlechtsreife?

Zitat:
„Ziemlich schlecht ausgegangen, eure Spritztour“, sagte er auf Deutsch.


Dem würde ich an dieser Stelle schon einen hörbaren regional passenden Akzent geben.

Zitat:
„Du meinst als Sexsklavin“, versetzte Weber. „Verträgt sich denn so etwas mit den Lehren des Propheten?“


1. Sexsklavin: Captain Obvious - kannst du dir schenken
2. dieses ewige Nachbohren deiner Helden nach der religiösen Zulässigkeit von allem und jedem wird zunehmend lästig.

Zitat:
Er brachte diesen hirnverbrannten Unsinn, der sich weit unterhalb des geistigen Existenzminimums eines Kanarienvogels befand,


Befindet wer? Und warum auf einmal so heftig? Dass in Afghanistan Frauen unterdrückt werden, sollte keinen überraschen.

Zitat:
Auf einmal überkam Weber eine heiße Welle unbändigen Zorns. Von nun an hatte er keine Gewalt mehr über sich ... Weber sah das Weiße in seinen lang bewimperten Augen, und eine maßlose Wut ergriff ihn.


Nur weil ein Taliban erzählt, dass Frauen dem Manne untertan sind, rastet der auf einmal völlig aus und wird zum Femi-Hulk? Kauf ich dir nicht ab.

Zitat:
Bevor er die Besinnung verlor, dachte er noch: Sieg! Sieg! Sieg!


Weil er sich endlich einmal gewehrt hat? Diese Einsicht kommt ihm sofort und schlagartig? Würde ich eher tiefer im Unterbewusstsein verorten ...

                                                               6

Zitat:
Die große Höhle war durch bunte Glühbirnen in freundliche Kirmesbeleuchtung getaucht.


Schon mal erwähnt: Die werden nicht mühsam hergeschleppten Diesel für so einen Blödsinn verbrennen.

Zitat:
Der Boden der geräumigen Höhle war mit Brettern ausgelegt.


Auch hier wäre ich sparsamer mit Holz.

Zitat:
An den Wänden standen verschiedene Metallschränke. Die Mitte des Raums nahm ein moderner Operationstisch ein, der in dieser Steinzeithöhle ziemlich überraschend wirkte. Schönberg dachte: Raubgut. Er trat näher heran. Über dem Tisch baumelten zwei Glühbirnen, die jetzt ausgeschaltet waren. Das Licht in der Höhle stammte von einer kleinen Lampe über dem Waschbecken.


Was macht das Moderne an einem OP-Tisch aus? Zudem unplausibel: Was man dringender braucht als einen "modernen" OP-Tisch, wäre richtig starkes Licht, damit die Ärzte sehen, was sie operieren. Was ist mit Anästhesie- und Überwachungsgeräten? So etwas macht für meine Begriffe den Eindruck eines "modernen" Operationsraumes aus. Was ist mit Wasseranschluss?

Zitat:
Schönberg erblickte erstaunt einen Röntgenapparat, einen Computertomografen sowie weiteres hochwertiges medizinisches Gerät.


CT scheint mir over the top. Und bei Röntgen frag ich mich, was die mit den Aufnahmen machen? Haben die diese Lichtkästen zum Betrachten der Aufnahmen?

Zitat:
Da sie von Psychologie und dem Rest der Welt null Ahnung hatten, wussten sie nicht, dass dieser Stellvertreter dem Typ des Massenmörders mit gestörter Sexualität entsprach. Nur die Begrenztheit seiner Macht hielt ihn im Zaum, und zum Hitler oder Stalin fehlte ihm natürlich das Format.


Analysiert wer? Du bist doch in der Perspektive der Sanitätsknechte ...

Zitat:
Der Mann zitterte wie Espenlaub.


5 Euro in die Hohle-Phrasen-Kasse

Zitat:
Na klar! Kein Moslem zeigt sich gerne nackt vor einem Ungläubigen.


Der Kranke liegt da halbtot und zitternd im Delirium, kurz vorm Exitus, aber sieht auf den ersten Blick die Religion des Arztes, der ihn untersuchen will?

Zitat:
Diabeteskrampf, erkannte er, totale Unterzuckerung.


Wie plausibel ist das, dass einen Kämpfer die Diabetes ganz plötzlich im Kampf ereilt? Wäre ein Diabetiker nicht von Anfang an kampfuntauglich? Oder wäre durch Ausfälle schon vorher aufgefallen?

Zitat:
„Das hat Zeit bis morgen. Er schläft tief und fest in Morpheus Armen.“


Was heißt denn 'Morpheus' Arme' auf Dari / Pashtu? Wieder so ein Sprachschlamperer.

                                                                 7
   
Zitat:
er versank in einer Art somnambuler Bewusstseinstrübung.


Du bist in Webers Perspektive. Die Bezeichnung ist viel zu technisch-akademisch!  

Zitat:
Weber machte ein paar verzweifelt-tiefe Züge. „Na was schon! Ich wollte einmal im Leben mutig sein! Dabei hab´ einem dieser idiotischen Kämpfer die Fresse poliert, und daraufhin sind sie über mich hergefallen. Den Erfolg dieser Kur hast du ja eben abgeleuchtet.“


Der ganze Absatz ab hier passt nicht vom Sprachstil: Weber hat eine schwere Gehirnerschütterung, der Schädel tut ihm weh, ihm ist schlecht; Opium dämpft seine Sinne und den Schmerz. Er ist rammdösig und fertig. Und du lässt ihn munter und pfiffig daherreden wie einen Fernsehdetektiv aus den 1970-ern!
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