18 Jahre Schriftstellerforum!
 
Suchen
Suchabfrage:
erweiterte Suche

Login

Jetzt erhältlich! Eine Anthologie von und mit unseren Usern. Jetzt bestellen! Die erste, offizielle DSFo-Anthologie! Lyrikwerkstatt Das DSFo.de DSFopedia


Deutsches Schriftstellerforum Foren-Übersicht -> Prosa -> Einstand
Schafskälte


 
 
Neues Thema eröffnen   Neue Antwort erstellen
 Vorheriges Thema anzeigen :: Nächstes Thema anzeigen  « | »  
Autor Nachricht
wunderkerze
Eselsohr
W


Beiträge: 381



W
Beitrag03.01.2019 14:39
Schafskälte
von wunderkerze
eBook pdf-Datei Antworten mit Zitat

Schafskälte
Ein sonderbares Erlebnis auf der Westküstenbahn
                                                    
                                                                 1
   „Den Krieg als haarsträubendes Erlebnis zu bezeichnen halte ich für ziemlich abwegig. Aber im übrigen gebe ich dir Recht.“
   Man saß in geselliger Runde vor dem lodernden Kamin. Jemand hatte behauptet, die Tatsache, dass so viele junge Leute nach Syrien oder Afghanistan zögen, um sich irgendwelchen Terrororganisationen anzuschließen, liege auch daran, dass in diesem Lande, wo alles geregelt und reglementiert sei, kein Raum mehr für haarsträubende Abenteuer sei. Sogar die 'freie Fahrt für freie Bürger' ende häufig allzu schnell am nächsten Stau.
   Eine Weile herrschte nachdenkliches Schweigen, dann sagte Gero Benda: „Da bin ich aber ganz anderer Meinung! Zumindest, was dieses Land betrifft!“
   „Wie meinst du das?“, fragte Gisela Loerbrock überrascht.
   „Wenn ihr wollt, erzähle ich euch ein Erlebnis, bei dem mir tatsächlich die Haare zu Berge standen. Und es geschah nicht etwa in einer fernen Krisenregion, sondern im friedlichen Nordfriesland.“
   „Erzähl´!“, kam es von allen Seiten.
   Gero nahm einen kräftigen Schluck, lehnte sich zurück, schlug die Beine übereinander und begann:
    „Das Erlebnis liegt schon einige Jahre zurück, doch sogar jetzt noch, wo ich wieder daran denke, überkommt mich das beglückende Gefühl: Du bist noch mal mit heiler Haut davon gekommen!
   Vor etwa drei Jahr machte ich mit meiner kleinen Familie einen Herbsturlaub an der Nordsee. Unsere Tochter war damals vier Jahre alt, ein quirliges Mädchen, aber leider etwas schwach auf der Brust. Der Arzt gab uns den Rat: Versuchen Sie es doch einmal mit Nordseeluft, vielleicht bekommt ihr ja das Reizklima dort. Da meine Frau aus der Gegend um Husum stammt und dort noch verwandtschaftliche Bande pflegt, überlegten wir nicht lange und mieteten uns eine  kleine Ferienwohnung in einem beschaulichen Ort an der Küste.
   An dem bewussten Tage begaben sich meine Frau und meine Tochter nach dem Mittagessen zur Ruhe. Wir hatten am Vormittag eine hoch interessante, aber anstrengende Wattwanderung mitgemacht, und Leona – unsere Tochter – war aus dem Staunen nicht herausgekommen und dementsprechend müde. Das Wetter war für diese Jahreszeit ungewöhnlich mild; die Luft war warm, ein lindes Lüftchen wehte, und die Sonne schien, als bekäme sie Feiertagszuschlag.
   Kurz, wer die Gegend kennt, weiß, wie schnell das Wetter dort umschlagen kann. Gerade erscheint der Himmel noch heiter und wolkenlos, doch schon zieht ein schmales graues Band von der See heran, ein kühler Windstoß fegt durch die Straße und wirbelt Laub und Papierfetzen auf: Eine Stunde später saust und braust es, dass einem Hören und Sehen vergeht. Mir war es jetzt, bei dem selten schönen Wetter, nicht nach Mittagsruhe zumute. Zum nutzlosen Verdösen war mir die Zeit zu kostbar und die Gegend zu verlockend. Untätig `rumhängen kannst du noch genug bei schlechtem Wetter, dachte ich mir.
   Ich sagte also zu meiner Frau: 'Ruht ihr euch mal schön aus, ich lauf´ noch ´ne Runde, in einer Stunde oder so bin ich wieder zurück.' Hätte ich da schon gewusst, dass aus der einen unbeschwerten Stunde drei entsetzliche werden sollte, hätte ich mich natürlich anders entschieden. Manchmal wäre es doch besser, man könnte in die Zukunft blicken – wenigstens für ein, zwei Stunden.
   Nun, ich zog meine Laufschuhe an und rannte los. Mein Weg führte am Bahnhof vorbei, einem Sackbahnhof, in den die Westküstenbahn im Zweistundentakt ein- und ausfährt. Und natürlich war wieder einmal die Schranke unten. Während ich darauf wartete, dass die Straße wieder frei war, erscholl plötzlich vom Bahnsteig her ein lauter Ruf: 'Hallo Gero, alter Knabe, was machst du denn hier!'
   Die Stimme kam mir bekannt vor, nur allzu bekannt. Der 'alte Knabe' drehte sich um, und da sah ich sie, wir sie mir wild gestikulierend zuwinkte. Es war meine alte Freundin Naomi, die Dampfnudel, wie ich sie insgeheim nannte: Laut, fröhlich, unbekümmert, zumindest nach außen hin. Wir kannten uns vom Studium her und hatten seinerzeit ein paar aufregende Monate miteinander verlebt. Doch allmählich war mir ihr lautes und etwas oberflächliches Wesen auf den Geist gegangen, und wir hatten uns wieder getrennt. Mir liegt diese aufgesetzte Fröhlichkeit nicht, ich bin mehr nach innen gerichtet, ich will dem Brunnen auf den Grund sehen und begnüge mich nicht mit meinem eigenen Spiegelbild. Es kann aber auch sein, dass es genau anders herum war und ihr meine trocken-mürrische Art missfiel, was weiß ich, es ist ja auch schon lange her. Wie dem auch sei: Keiner von uns beiden nahm übel. Sie fand bald wieder ein neues Opfer, und ich meine Frau.
   Die Schranke ging hoch, und Naomi kam mit ausgebreiteten Armen auf mich zu. Ihre strohblond gefärbten Haare flatterten mir entgegen. 'Gero, alter Junge', rief sie so laut, dass sich etliche Leute nach uns umdrehten, 'komm her und lass dich knuddeln!' Sie war immer noch die alte, zumindest vom Wesen her. Während sie mich 'knuddelte' – worauf ich mir allerdings nichts einbildete, denn sie knuddelte jedes ihr halbwegs ihr bekannte männliche Wesen, das in die Nähe ihres mächtigen Busens kam –  sah ich ihre Augen, und die erschienen mir keineswegs mehr so lustig wie früher, als wir über Bett und Tisch sprangen, wenn sie denn überhaupt jemals wirklich lustig gewesen waren, diese Augen. Hinter dem heiteren Augenspiel entdeckte ich eine tiefe Traurigkeit, wozu sie mir auch gleich die Erklärung lieferte: 'Gero, stell dir vor! rief sie glücklich, 'nächste Woche heirate ich wieder! Endlich habe ich den richtigen Mann gefunden!' Sie kalkulierte also das Scheitern dieser Beziehung bereits ein, sie escomptierte es, wie man an der Börse sagt.
   Ach, Naomi, die treue Seele! Wie oft hatte sie den Satz vom richtigen Mann nicht schon ausgerufen! War es zweimal, war es dreimal? Und doch war es nie der richtige gewesen! Ja, das Schicksal geht manchmal seltsame Wege. Ich hatte sie alle kennengelernt, diese richtig-falschen Männer, einer hausbackener als der andere. Den neuen kannte ich noch nicht, und ich wünschte ihr alles Gute.“
   Gero schüttelte den Kopf. „Ich weiß immer noch nicht, welcher Teufel mich damals ritt. War´s die Erinnerung an gemeinsam verlebte schöne Stunden, war´s Vaterstolz, war es einfach Unaufmerksamkeit – gleichwie: Die Bahn fuhr vor. Ein Wort gab das andere, und plaudernd stiegen wir ein. Naomi konnte nicht genug von unseren Kindern hören, denn trotz der vielen Männer war ihr der Kinderwunsch bisher unerfüllt geblieben. Ich gab bereitwillig Auskunft. Plötzlich rief sie: 'Herrje, mein Koffer!' und sprang aus dem Wagen.
   In diesem Moment schloss sich die Tür, und der Zug setzte sich in Bewegung. Ich sah Naomi, immer noch ohne Koffer, verdutzt auf den Zug starren, dann schwebte der Bahnhof vorbei, und schon war offenes Gelände erreicht.  
   Hilfesuchend blickte ich durch den Zug, der nur aus zwei Wagen bestand; er war so gut wie leer. Nur ganz vorne, hinter der Zugführerkabine, sah ich zwei Köpfe über die Sitzlehne ragen, ein völlig kahler, und einer mit braunen Locken. Die beiden Fahrgäste blickten anscheinend müde und uninteressiert aus dem Fenster. Ein Fahrkartenkontrollör war nirgends zu sehen, und ich atmete auf. Wenn sie nicht auf dem nächsten Bahnsteig stehen – und das war bei dem geringen Fahrgastaufkommen höchst unwahrscheinlich – kommst du ungeschoren davon, dachte ich. Der nächste Haltepunkt muss bald erreicht sein, und dann läufst du die vier oder fünf Kilometer nach Hause, du wolltest dich ja sowieso freijoggen.
   Der nächste Haltepunkt kam, doch der Zug hielt nicht, und am 'Bahnsteig', in diesem Falle nichts anderes als eine schmale, festgetretene Schotterpiste unter freiem Himmel, wartete auch niemand. Verdammt, schalt ich mich, du hättest rechtzeitig Signal geben müssen. Na gut, dann steigst du eben in Heide aus! Dort ist sowieso Endstation. Die fünfundzwanzig Kilometer zurück schaffst du schon, wenn auch mit heraushängender Zunge, und, dachte ich, vielleicht nimmt dich ja bald ein verständnisvoller Autofahrer mit. Nur, eines war mir klar: In einer Stunde war die Strecke so oder so nicht zu schaffen. Doch das war mein geringstes Problem, denn irgendein freundlicher Friese, kalkulierte ich, wird dir schon für eine Minute sein Handy leihen, und du kannst zu Hause Bescheid geben, bevor du dich auf den Weg machst. Einigermaßen beruhigt ließ ich mich in einen Sitz fallen und sah nach draußen.
   Über der Geest türmten sich hohe, blendend weiße Wolkenbänke auf. Darüber ein gasflammenblauer Himmel und darunter der Wald von Windkraftanlagen mit dem Gewirr der Rotorblätter, die sich hektisch drehten und der flachen Landschaft eine Unruhe verliehen, die ihr von Natur aus fremd ist. Das war übrigens die einzige Naturbeobachtung im Zug, an die ich mich erinnern kann. Von da an verschwimmt alles Draußen zu einem nebelhaft-verwaschenen Grau, denn die Vorgänge, die sich bald darauf abspielen sollten, ließen keinen Raum mehr für tiefschürfende Naturbetrachtungen.  
   Der Zug beschleunigte jetzt sein Tempo, obwohl der Bahnhof von Heide nicht mehr fern sein konnte.  Seltsamerweise blickten die beiden da vorne schon seit einiger Zeit stur in meine Richtung, und mir schien, als verfolgten sie aufmerksam jede meiner Bewegungen.
   Der Bahnhof von Heide kam heran – und flog vorbei, obwohl hier, wie schon gesagt,  eigentlich die Endstation der Westküstenbahn war. Allmählich wurde ich nervös.“
Fortsetzung folgt

12Wie es weitergeht »




_________________
wunderkerze
Nach oben
Benutzer-Profile anzeigen Private Nachricht senden
Orschi
Geschlecht:männlichWortedrechsler


Beiträge: 70
Wohnort: Baden (bei Karlsruhe/Rhein)


Beitrag03.01.2019 17:25

von Orschi
Antworten mit Zitat

Daumen hoch²
Nach oben
Benutzer-Profile anzeigen Private Nachricht senden
MoL
Geschlecht:weiblichQuelle


Beiträge: 1838
Wohnort: NRW
Das bronzene Stundenglas


Beitrag04.01.2019 23:15

von MoL
Antworten mit Zitat

Gibt es mehr?

_________________
NEU - NEU - NEU
gemeinsam mit Leveret Pale:
"Menschen und andere seltsame Wesen"
----------------------------------
Hexenherz-Trilogie: "Eisiger Zorn", "Glühender Hass" & "Goldener Tod", Acabus Verlag 2017, 2019, 2020.
"Die Tote in der Tränenburg", Alea Libris 2019.
"Der Zorn des Schattenkönigs", Legionarion Verlag 2021.
Nach oben
Benutzer-Profile anzeigen Private Nachricht senden Website dieses Benutzers besuchen
wunderkerze
Eselsohr
W


Beiträge: 381



W
Beitrag05.01.2019 11:27
Schafskälte 2
von wunderkerze
pdf-Datei Antworten mit Zitat

2


   Der Erzähler trank einen Schluck, um sich die Kehle anzufeuchten. Dann fuhr er fort:
   „Ich nehme mal an, dass ihr euch noch nie in einer ähnlichen Situation befunden habt wie ich damals. Du fährst und fährst, doch der Zug hält nicht. Schon liegt der Zielbahnhof weit zurück. Hilfesuchend blickst du dich um: Der Zug ist leer. Verzweifelt schaust du dich nach einer Notbremse um, doch du findest keine... Der Zug fährt und fährt... So etwas erlebt man normalerweise nur im Traum, aber nicht wirklich. Vielleicht könnt ihr trotzdem nachempfinden, welche Gedanken mir in diesen Minuten durch den Kopf schossen. Ich war wie betäubt. Eine Weile starrte ich verblüfft vor mich hin. Unheimliche Visionen von Entführung und Verschleppung tauchten auf, ich sah mich schon in einem finsteren Verlies schmachten und elend zugrunde gehen. Zu häufig zeigen sie ja im Fernsehen solche fürchterlichen Verbrechen.
  Die Situation war ja auch alles andere als alltäglich. Meist ist es doch so: Man kommt nicht in den Zug hinein, weil er einem gerade vor der Nase weggefahren oder überfüllt ist. Kein Beinbruch, denkst du, der nächste geht in zehn Minuten. Einem bekannten Ehepaar ist folgendes passiert: Sie sitzen in der Cafeteria der Flughafenhalle und trinken gemütlich eine Tasse Kaffee, das sehen sie, wie ihr Flugzeug gerade zur Startbahn rollt. Ziemlich ärgerlich, diese Situation, denn mit zehn Minuten war es jetzt nicht mehr getan. Doch so ein Erlebnis ist immerhin noch mit den Gesetzten des Alltags vereinbar. Aber dass man nicht mehr aus dem Zug hinauskommt und sich wie ein Tier in der Falle vorkommt, das ist mehr als ärgerlich: Es ist ein Albtraum.
    Nun ja, dass ich ohne Fahrschein unterwegs war, spielte jetzt schon keine Rolle mehr. Ein anderer Umstand bereitete mir mittlerweile viel größere Sorgen. Meine Frau, müsst ihr wissen, ist ein sehr ängstlicher Mensch, und am meisten plagen sie Verlustängste. Wenn ich mich einmal verspäte – was selten vorkommt, aber manchmal geht es nicht anders, denn die Kunden lieben es nicht, wenn man Eile zeigt und erst recht nicht, wenn man während eines Beratungsgesprächs privat telefoniert. Dann läuft sie nach einer Stunde händeringend in der Wohnung herum, und nach zwei Stunden bricht Panik aus. Als wir frisch verheiratet waren, meldete sie mich sogar einmal bei der Polizei als vermisst: Der Zug war wegen Stromausfall auf freier Strecke stehen geblieben – und natürlich in einem Funkloch. Seitdem habe ich es mir angewöhnt, immer Bescheid zu sagen, sollte ich mich erheblich verspäten.
   Ja, ja, ich weiß! Ich schweife ab! Entschuldigt! Dabei wollte ich nur erklären, warum mir in diesem Moment die Nerven durchgingen. Ich sah voraus, dass diese unheimliche Fahrt so bald nicht zu Ende sein würde. Und ich konnte meine Frau nicht informieren! Den beiden da vorne traute ich aus einem unerklärlichen Grund nicht über den Weg und verzichtete darauf, sie um ein Handy zu bitten.
  In meiner Verzweiflung sah ich mich nach einer Notbremse um, doch sofort war mir klar, dass einen Nothalt verursachen das Dümmste wäre, was ich machen konnte. Ohne Fahrschein unterwegs und dann noch die Notbremse ziehen! Das konnte teuer werden! Also lieber abwarten, denn endlos konnte es ja so nicht weitergehen. Noch hatte ich mir einen Rest klaren Menschenverstandes bewahrt.
   Schon seit einiger Zeit kam es mir vor, als erhebe sich der Zug in die Lüfte. Verwirrt blickte ich durchs Fenster, und tatsächlich: Die Spitzen der Telefonmasten huschten vor bei, und im Westen schimmerte die blanke See. Das Gelände vor mir sank immer weiter ab.
   Normalerweise leide ich nicht unter Höhenangst oder Akrophobie, wie es medizinisch heißt. Im Gegenteil. Es macht mir Spaß, von hohen Türmen oder spitzen Gipfeln auf Stadt und Land zu schauen. Der Blick weitet sich, und damit auch der eigene bescheidene Horizont. Auch wusste ich natürlich, dass wir uns der Hochbrücke über den Nordostsee-Kanal näherten. Der Bahndamm erhebt ich hier ziemlich weit über Geländegrund, denn schließlich müssen unter der Brücke Hochseeschiffe herfahren können.
  Trotzdem beschlich mich ein mulmiges Gefühl, denn der Höhenanstieg nahm anscheinend kein Ende. War dies vielleicht gar nicht die Westküstenbahn, in die du gedankenlos eingestiegen bist, dachte ich einen Moment bestürzt, sondern das Fahrzeug eines fremden Sterns, und du siehst diese Welt nie wieder? War Naomi vielleicht doch ein Wesen der dritten Art, wie sie mir seinerzeit manchmal vorgekommen war, und hat mich mit ihrem Geschwätz aus irgend einem Grund nur in den Zug hinein gelockt?
 Gisela, du lachst. Na ja, solche Gedanken sind normalerweise auch ziemlich hirnrissig. Normalerweise – aber du musst bedenken, meine Lage war alles andere als normal! Da kann man schon auf die absonderlichsten Ideen kommen!
   Der Zug verlangsamte jetzt sein Tempo, er begann zu rattern und zu stoßen, und schon schwebten vor dem Fenster die Eisenträger vorbei.
   In der aufgeregten Verfassung, in der ich mich mittlerweile befand, war mir alles andere als gemütlich zumute. Hatte ich eben noch befürchtet, irgendwie ins luftigen Nirwana zu entschweben, so packte mich jetzt die Angst, in die Tiefe zu stürzen und auf nimmer Wiedersehen zu verschwinden. Das war natürlich blanker Unsinn, und das wusste ich auch. Dieses gepriesene Meisterwerk der Ingenieurskunst hatte in seinem mehr als hundertjährigen Bestehen schon so manche Bahn ausgehalten, und es war zu erwarten, dass es das auch noch viele Jahre tun würde. Aber Wissen ist das eine, Fühlen das andere. Und ich fühlte mich wie ein Fallschirmspringer, der feststellt, dass sich der Schirm nicht öffnet.
     Ich war heilfroh, als wir wieder zu ebener Erde fuhren.“

Forts. folgt

« Was vorher geschah12



_________________
wunderkerze
Nach oben
Benutzer-Profile anzeigen Private Nachricht senden
Bananenfischin
Geschlecht:weiblichShow-don't-Tellefant

Moderatorin

Beiträge: 5339
Wohnort: NRW
Goldene Feder Prosa Pokapro IV & Lezepo II
Silberne Harfe



Beitrag05.01.2019 11:54

von Bananenfischin
Antworten mit Zitat

Hallo wunderkerze,

ich habe beide Threads zusammengeführt. Poste Fortsetzungen bitte immer als Antwort im Ursprungsthread und markiere sie als Fortsetzung (anzuhakendes Feld unter dem Eingabefenster), wie ich es hier bei deinem zweiten Teil schon gemacht habe.

Liebe Grüße
Bananenfischin


_________________
Schriftstellerin, Lektorin, Hundebespaßerin – gern auch in umgekehrter Reihenfolge

Aktuelles Buch: Geliebte Orlando. Virginia Woolf und Vita Sackville-West: Eine Leidenschaft

I assure you, all my novels were first rate before they were written. (Virginia Woolf)
Nach oben
Benutzer-Profile anzeigen Private Nachricht senden Website dieses Benutzers besuchen
malu_vs
Geschlecht:weiblichWortedrechsler
M

Alter: 43
Beiträge: 72
Wohnort: Hessen


M
Beitrag06.01.2019 14:51

von malu_vs
Antworten mit Zitat

Schöner text, nach dem zweiten teil warte ich nun auch hoffnungsvoll auf mehr.

Grob gestört hat mich bisher nur das es manchmal etwas ausschweift. Die Begegnung mit der ex oder der vergleich mit dem flugzeug waren mir etwas zu lang dafür dass sie vermutlich keine rolle mehr spielen smile

Aber das ist mekern auf hohem niveau. Wie erwähnt, ich hoffe auf mehr Very Happy


_________________
Malu Volksky
Nach oben
Benutzer-Profile anzeigen Private Nachricht senden
Roman Hill
Geschlecht:männlichSchneckenpost
R


Beiträge: 6
Wohnort: Frankfurt


R
Beitrag07.01.2019 11:52

von Roman Hill
Antworten mit Zitat

Hallo wunderkerze,

ich habe deinen Text gerne gelesen. Man bleibt auf jeden Fall am Ball.

Ich fand den ersten Teil besser. De zweite Teil war mir teilweise etwa zu umgangssprachlich geschrieben. Ich stimme zudem malu_vs zu, dass die eine oder anderen Stelle noch etwas zu ausschweifend ist.

Viel Spaß beim Weiterschreiben!
Nach oben
Benutzer-Profile anzeigen Private Nachricht senden
wunderkerze
Eselsohr
W


Beiträge: 381



W
Beitrag12.01.2019 14:44
Schalskälte 3
von wunderkerze
pdf-Datei Antworten mit Zitat

sorry, ihr Lieben, aber das mit dem Anschluss hab´ich nicht kapiert





                                                        Schafskälte3

   „Nun ja, ich kann nicht behaupten, dass ich besonders enttäuscht war, als wir auch am nächsten Bahnhof nicht hielten. In einer Art perverser Lust am Untergang war ich jetzt geradezu erpicht darauf, zu erfahren, wohin die Reise ging. Allerdings schien mit meinem Zeitgefühl etwas nicht mehr zu stimmen. Als wir eben durch den Bahnhof fuhren, hatte ich einen Blick auf die Bahnsteiguhr geworfen. Danach war es kurz vor halb vier. Wie konnte das sein? Ich war doch mit Naomi um viertel nach drei in den Zug gestiegen! War ich erst eine knappe viertel Stunde unterwegs? Unmöglich, denn die Fahrt über die Hochbrücke hatte doch schon eine kleine Ewigkeit gedauert!“
  „Dann war eben eine der beiden Uhren defekt, oder sie ging aus einem anderen Grunde falsch!“, meinte jemand. „Möglicherweise zeigte die zweite Uhr schon die Winterzeit und die erste noch die Sommerzeit an, oder umgekehrt!“
   „Einspruch, Euer Ehren! Da verlangst du zu viel von mir, mein Lieber! Zugegeben, so hätte ich denken müssen, ja. Aber die Fahrt über diese verdammte Hochbrücke hatte mir den letzten Rest klaren Kalküls geraubt. Das Seil, das mich mit der Realität verband, war bereits gerissen. Der Drang, jemanden nach der richtigen Zeit zu fragen, wurde übermächtig.
 Ich blickte nach vorne, zu den beiden Fahrgästen, doch die Sitze waren leer. Dafür näherten sich jetzt zwei bullige Typen in polizeiblauen Uniformen und Dienstmützen auf den wuchtigen Schädeln. Der eine Typ – es war die Frau – hatte eine Pistole auf mich gerichtet und bellte: 'Keine Bewegung, oder ich schieße!' Etwa fünfzehn Schritte vor meinem Sitzplatz blieben sie stehen und beäugten mich argwöhnisch.
   Also doch!, schoss es mir durch den Kopf, es ist eine Entführung. In diesem Moment empfand ich sogar so etwas wie Erleichterung. Endlich wusste ich, woran ich war. Der übliche Trick: Die Entführer hatten sich als Polizisten verkleidet, um den Überraschungseffekt auszunutzen, Aber warum, in drei Teufels Namen, sollte ich überhaupt entführt werden? Nun gut, meine Frau und ich verdienen nicht schlecht, und wir haben ein hübsches Sümmchen auf der hohen Kante, wie man so sagt. Aber das Haus ist noch nicht abgezahlt, und den maroden Bauernhof, den meine Frau  irgendwann einmal erben wird, den kannst du getrost zusammenschieben. Unser Wohlstand ist also durchaus überschaubar. Es gibt viele andere potentielle Opfer, bei denen erheblich mehr zu holen ist. Also warum gerade ich? Außerdem – entführt man jemanden mit einer Lokalbahn? Noch nie gehört! Und woher wussten die Gangster, dass ich um viertel nach drei in den Zug springen würde?
  Langsam kamen die beiden Typen näher. Dabei war der Blick des Mannes seltsamerweise auf meine Hüften und die dicke Kanone nach wie vor auf meinen Kopf gerichtet.
   Wisst ihr, ich bin kein Angsthase und ziemlich gut durchtrainiert, wie ihr wahrscheinlich schon bemerkt habt. Einem Straßenräuber hätte ich die Pistole aus der Hand geschlagen und ihn anschließend durch einen Leberhaken außer Gefecht gesetzt. Aber die beiden hier? Zumindest der Dicke sah nicht so aus, als würde ihn ein Leberhaken besonders beeindrucken. Und die Pistole wirkte echt, verdammt echt!Mir brach der Schweiß aus. Ich griff nach hinten, um mein Taschentuch zu ziehen und mir die Stirn trocknen. Da schnauzte die Frau mit der Pistole: 'Keine Bewegung, bleiben Sie so, wie Sie sind! Und die Hände flach auf die Knie! Na, wird´s bald', bellte sie, als ich dem Befehl nicht sofort nachkam. Ich fügte mich. Was hätte ich auch machen sollen? Vielleicht war die Pistole ja doch eine richtige Pistole, und die beiden wirkten auf mich nicht, als könnten sie viel Spaß verstehen.
  Sie setzten sich mir gegenüber, ohne mich aus den Augen zu lassen, und ich konnte jetzt ihre Namensschildchen entziffern. Auf dem der Frau stand POM Friederike Weißkohl, auf dem des kahlköpfigen Mannes PM Karl Hausen. Also, nahm ich vorsorglich an, sind zumindest die Uniformen echt, und wahrscheinlich auch der Inhalt, denn POM bedeutet Polizeiobermeisterin, und PM Polizeimeister.
   Da saß ich nun wie ein gescholtenes Kind und durfte mich nicht bewegen. Bei der geringsten Bewegung richtete die POM Fritz ihre Knallröhre mit finsterem Blick auf mich, und das Haustier PM schnaufte wie ein angeschossener Elefant.
  Die nächsten Minuten, die mir wie Stunden vorkamen, waren so fürchterlich, dass mir noch Tage danach, als alles vorbei war, der Schweiß ausbrach, wenn ich daran dachte. Die Polizisten zwangen mich für eine gefühlt sehr langer Zeit, bewegungslos dazusitzen.
 Vielleicht versteht jemand unter euch, was in einem Bewegungsmenschen wie mir vorgeht, wenn er zur Bewegungslosigkeit verdammt ist. Nach einiger Zeit fängt es überall zu kribbeln und zu jucken an. Du entdeckst plötzlich Ecken an deinem Körper, von denen du bisher keine Ahnung hattest. Ein widerlicher Kobold umkreist dich und sticht unerwartet zu. Und ich durfte mich nicht kratzen! Wenn ich auch nur mit der Schulter zuckte, um einen qualvollen Juckreiz zu vertreiben, hatte ich sofort die Pistole vor der Nase und das Koddermaul der POM im Ohr. Schließlich gelang es mir mit äußerster Konzentration, eine Art Waffenstillstand mit meinem Nervensystem zu erreichen. Es juckte zwar noch, aber es ließ sich aushalten.
   Die Situation war über die Maßen rätselhaft. Warum das alles?, grübelte ich verzweifelt. Wenn sie mich schon für einen Schwerverbrecher hielten, warum legten sie mir nicht Handschellen an und machten mich an der nächsten Haltestange fest? Dann hätte ich mir wenigstens die Beine vertreten können! Also, wozu das perverse Theater? Und warum blickte mir der Kahlkopf ständig auf die Hose?
   Es gab nur eine halbwegs vernünftige Erklärung.“

                                                                4
   Gero schwieg und griff erneut zum Glas, um sich zu stärken. Dann fuhr er mit erhöhter Stimmlage fort:
   „Sagt, Freunde, sehe ich aus wie der Bruder Bin Ladens?“
  „Doch ja, das kann ich mir durchaus vorstellen“, sagte Monika mit verschmitztem Lächeln.“
   „Nein, nein, meine Liebe, du brauchst dich nicht zu entschuldigen. Eine ehrliche Antwort kann ja nicht beleidigend sein. Außerdem stimmt´s doch! Und du ihr mich damals im Zug gesehen hättest, wären dir wahrscheinlich noch ganz andere Parallelen in den Sinn gekommen. Meine Kleidung bestand nur aus leichtem Sportzeug, dessen Beschreibung ich mir verkneife, schließlich will ich eure Geduld nicht unnötig strapazieren. Dass sie trotzdem eine bedeutsame Rolle spielte, davon später. Viel wichtiger war, dass Kinn und Wangen von einem dichten Siebentagebart überwuchert waren, denn im Urlaub rasiere ich mich nicht – eine kleine Marscherleichterung, haha, die ich mir zweimal im Jahr gönne. Meine Visage und meine etwas gedrungene Figur passten also in das Klischee, das sich die beiden wackeren Polizeibeamten offenbar von einem Terroristen machten. Es ist ein Klischee, natürlich, aber manchmal kann eine Wahnvorstellung prägender als die Wirklichkeit sein.
   Ich war jetzt überzeugt, dass sie mich für einen gefährlichen Terroristen hielten, für einen gewaltbereiten Gefährder, wie es heute neudeutsch heißt. Jetzt war mir auch klar, warum der Polizeimeister immer sehr aufmerksam auf meine Hose schaute: Er suchte das Sprengstoffpaket oder die Bombe, denn nur da konnte ich diese furchtbaren Dinge verborgen haben, meine spärliche Bekleidung ließ kein anderes Versteck zu. Und damit ich die Bombe nicht unbeobachtet zünden konnte, durfte ich mich nicht bewegen.  
   Natürlich, einem  aufmerksamer Beobachter wäre aufgefallen, dass da einiges nicht zusammenpasste. Zum Beispiel das kleine vergoldete Kreuz, das ich an einem Kettchen um den Hals trage. Es ist ein Andenken an meine Großmutter, die es mir kurz vor ihrem Tode um den Hals legte. Dann: Begibt sich ein Mann, der etwas sehr Böses im Schilde führt, in eine Lokalbahn, die an jeder Milchkanne hält? Und, wenn sie mich schon für einen getarnten Terroristen hielten, warum kamen sie nicht auf die Idee, dass ein getarnter Konspirant nicht mit einem Bart wie Bin Ladens Bruder herumläuft? Aber zu solchen Geistesblitzen waren die beiden Recken da vor mir anscheinend zu blöd.
  Hätte ich da schon gewusst, was ich später beim Verhör erfuhr, wäre mir das Gehabe der beiden Ordnungshüter nicht mehr so hirnrissig vorgekommen.
   Wie dem auch sei, ich saß wie auf glühenden Kohlen. Ich sah meine Frau in voller Verzweiflung durch die Wohnung rennen, den schreienden Kleinen in einem, die jammernde Tochter am anderen Arm. Mir war nicht bewusst, dass ich erst eine gute Stunde unterwegs war und zur Verzweiflung objektiv noch kein Grund bestand. Meine Fantasie schlug Purzelbäume, ich sah mich mit den Augen meiner Frau: Aus klaffender Kopfwunde blutend im Straßengraben oder zuschanden gelaufen röchelnd an einen Baumstamm gelehnt. Ich befand mich an der Schwelle zum Wahnsinn, und irgendetwas musste jetzt geschehen.
   Vielleicht lassen sie sich ja doch zu einem Handyanruf überreden, dachte ich verzweifelt, denn auch im stursten Polizistenschädel muss doch noch ein Funken Mitleid stecken. Dachte ich. Aber Dachte sind keine Lichte, wie meine Oma immer sagte. 'Hören Sie', begann ich versuchsweise, 'hier liegt anscheinend eine Verwechselung vor! Ich bin nicht der, für den Sie mich offenbar halten! Möglicherweise sehe ich im Moment tatsächlich wie ein Terrorist aus, aber Sie sollten mich mal frisch rasiert und im Smoking sehen!' In meinem Wahn war ich noch der Meinung, ich könnte diese hoffnungslosen Betonköpfe durch einen jovialen Ton erweichen. Ich nannte bereitwillig Namen und Heimatadresse, verbunden mit der Bitte, diese Angaben sofort nachzuprüfen.
   Keine Reaktion. Die beiden blieben stocksteif und stumm wie Besenstiele.
   Kaum hatte ich den Mund geöffnet, um weiterzureden, da sagte die Frau: 'Seien Sie still, kein Wort mehr! Sie können noch genug reden, wenn Sie verhört werden. Und die Hände flach auf die Knie!'
   Was blieb mir anderes übrig, als zu schweigen und zu gehorchen?
   Mir lief es plötzlich eiskalt den Rücken herunter. Obwohl es in der Bahn alles andere als kalt war, fror ich. Ich kam mir vor wie ein Schaf nach der Schur, wenn es nackt und bloß...“
   „Schafskälte!“
   „Wie?“
   „Das nennt man Schafskälte“, erklärte Monika Hochbohm, „die metaphysische Kälte, die das geschorene Schaf überfällt.“ Sie musste er schließlich wissen, denn sie und ihr Mann besaßen eine der letzten Schnuckenherden in der Lüneburger Heide.
   „Wie dem auch sei“, nahm Gero den Faden seiner Erzählung wieder auf, „die Bahn verlangsamte ihre Fahrt, und bald fuhr sie nur noch im Schritttempo. Ich blickte frustriert aus dem Fenster. Ein Schild mit der Aufschrift: PINNEBERG zog langsam vorbei. Irgendetwas Schreckliches musste passiert sein, denn der Bahnhof war menschenleer, und es wimmelte von Polizei.
 Die Obermeisterin sagte: 'Nehmen Sie die Hände hoch und stehen Sie ganz langsam auf.' Dann klickten die Handschellen. 'Lassen Sie die Hände oben', befahl sie. 'Gehen Sie zur hinteren Wagentür, die Hände bleiben oben!' Der Zug stand jetzt. Ich hörte, wie der Polizist hinter mir in sein Handy sagte: 'Wir stehen jetzt hinter der Tür.' Die Tür öffnete sich, und ich sah mich einer Phalanx schwer vermummter kniender Gestalten gegenüber, die ihren Schusswaffen auf mich gerichtet hielten. 'Keine falsche Bewegung', warnte die Frau, 'es würde Ihre letzte sein!'
   Es gibt einen Punkt, an dem einem die Realität so ungeheuerlich verzerrt vorkommt, dass man sie für eine übertrieben alberne Satire hält. Dieser Punkt war jetzt bei mir erreicht, und ich brach in ein wüstes Gelächter aus. Keine Sekunde zweifelte ich daran, dass der ganze Zirkus mit galt. Es war der Witz des Jahrhunderts!Ein harmloser Jogger wird mit einem Polizeiaufgebot empfangen, das einem Al Kaida-Chef zur Ehre gereicht hätte.
   Die Obermeisterin stellte sich mit hochrotem Kopf und vernichtenden Blicken vor mich hin. Sie war wütend, ihre Mundwinkel zitterten. Ich lachte ihr höhnisch ins Gesicht, denn sie konnte mir zwar das Reden, nicht aber das Lachen verbieten. Ein paarmal klappte sie den Mund auf und zu, dann drehte sie dich um und ging weg.
   Inzwischen hatten mich zwei bullige und schwarz vermummte Typen in die Mitte genommen und führten mich zu einem Polizeifahrzeug mit vergitterten Fenstern und dicken Wänden. Davor lümmelten zwei Figuren in Zivil. 'Das ist er, Herr Hauptkommissar', sagte einer meiner Begleiter. Der Hauptkommissar betrachtete mich eine Weile verblüfft. 'Na dann rein mit ihm', sagte er. Sie bugsierten mich in den Wagen, der auch gut und gerne einen gepanzerten Geldtransporter abgegeben hätte, und der Hauptkommissar und der andere Typ sowie zwei schwer bewaffnete Gestalten nahmen mir gegenüber Platz. Kurz darauf setzte sich der Wagen in Bewegung.
   In weiser Voraussicht verzichtete ich darauf, Fragen zu stellen. Ich hätte doch nur eisiges Schweigen geerntet. Was mich allerdings langsam zur Weißglut trieb, war die Tatsache, dass sie mir auch hier wieder stumpfsinnig auf die Hose starrten. Ich blickte an mir herunter und konnte nichts Absonderliches erkennen. Mittlerweile war mir alles egal. Mich interessante auch nicht mehr, was sie von mir wollten. Aber dieses Starren war ekelhaft. Ich blickte den Hauptkommissar, anscheinend der Anführer der lüsternen Meute, spöttisch an. 'Soll ich sie ausziehen?'
   Eisiges Schweigen.
   Dieses Schweigen war das Schlimmste, das Allerschlimmste.
   Die menschliche Natur ist auf Kommunikation, auf Verständigung eingerichtet. Wenn Ihre Fragen ständig ins Leere laufen, fühlen Sie sich verraten und verkauft, Sie kommen sich wie ausgestoßen vor. Sogar in einem verwinkelten Höhlensystem oder eingesperrt in einem unterirdischen Gewölbe antwortet Ihnen auf Ihre Schreie zumindest das Echo, und Sie können sich wenigstens für den Moment einbilden, Sie seien nicht allein. Aber diese da zuckten noch nicht einmal mit der Wimper. Sie saßen da mit reglosen Gesichtern, wie aus Stein gemeißelt, und starrten mich an. Auch die Polizisten im Zug hatten mich angestarrt und geschwiegen. Aber die Frau hatte mich immerhin angebrüllt und mir damit zu erkennen gegeben, dass ich existierte. Doch  diese Leute hier hatten sich anscheinend vorgenommen, mich geistig und körperlich auszulöschen. Auch hier wieder das gleiche Spiel wie im Zug: Bei der geringsten Bewegung hatte ich die Maschinenpistolen vor der Nase.
  So muss es jemandem gehen, der lange in Einzelhaft sitzt: Er verliert allmählich den Glauben an seine eigene Existenz.
   Nun ja, in Wirklichkeit war es so: Sie hatten einfach Angst, Todesangst. Sie hielten mich für eine tickende Zeitbombe, die jeden Augenblick hochgehen konnte. Nur, woher sollte ich das damals wissen? Ich war doch völlig harmlos! Auch, als sich der Mann neben dem Hauptkommissar die schweißnasse Stirn wischte, war Angst das Letzte, woran ich gedacht hätte, wenn ich in diesem Moment überhaupt an etwas zu denken fähig gewesen wäre! Ich war nämlich gerade voll damit beschäftigt, das namenlose Gefühl abgrundtiefer Verlassenheit, das über mir zusammenschlug wie ein Tsunami, in den Griff zu bekommen.
   Der Wagen hielt jetzt, uns sie brachten mich in einen fensterlosen Kellerraum, in dem nur zwei Stühle und ein Tisch mit allerlei medizinischem Gerät standen. An der Decke brutales Neonlicht. Ich musste mich mit dem Rücken an die Wand stellen. Einer der beiden Vermummten nahm neben der Tür Aufstellung, die Pistole im Anschlag. Der Hauptkommissar sagte: 'Bei der geringsten Bewegung werden Sie erschossen'. Dann verschwand er. Ich war jetzt mit meinem Bewacher allein.
   Auch jetzt noch, nach so langer Zeit, kann ich mich an jede Einzelheit des Raums erinnern. Das starke Neonlicht hat gleichsam die Erinnerung in mein Gedächtnis eingebrannt. Da war zunächst dieser unangenehme Geruch. Es roch, als habe sich jemand in einer Arztpraxis übergeben. Es war ein Gemisch aus Buttersäuregestank und Ätherdünsten. Dann der fleckige, mit grauer Betonfarbe gestrichenen Boden, die weißen Wände mit Feuchtigkeitsspuren und abblätternder Farbe, die harten, ungepolsterten Stühle, der mit seltsamen Geräten beladene Tisch. Besonders ein länglicher, an einer Seite spitz zulaufender Gegenstand, der entfernt an eine kleine Klistierspritze erinnerte, fiel mir auf. Er war über ein Kabel an ein Elektrogerät angeschlossen. An einer Wand, ganz oben, ein kleines vergittertes Fenster.
   Und dann die Akustik. Als der Kommissar eben sprach, knallten mir seine Worte um die Ohren wie Granatsplitter. Es war die Akustik eines Betonbunkers.
  Eine Frau im weißen Arztkittel und mit dem Gesicht einer gerade vergewaltigten Nonne kam herein und verschloss sorgfältig die gepanzerte Tür. Sie stellte sich seitlich, um nicht ins Schussfeld zu geraten, vor mich hin, und ich konnte ihrem Namensschildchen entnehmen, dass sie Mathilde … hieß und Amtsärztin war. Sie hatte blonde Haare und eine Warze neben der Nase. Ihr Atem roch schlecht. Außerdem...
   Gut, ihr wollt wissen, wie es weiterging. Bin schon dabei.
  Die Frau schnauzte: 'Keine Bewegen, hören Sie!' und schnitt mir mit einer Schere das Polohemd vom Leib. Dann beäugte sie aufmerksam meine Schultern, die Oberarme und meine Hände. Nachdem sie anscheinend genug gesehen hatte, nahm sie die Klistierspritze und fuhr damit meine Arme und Beine ab. Dann befahl sie: 'Beugen Sie sich über den Tisch, die Hände vorgestreckt, die Finger gerade und ohne Bewegung!' Ich hörte, wie sie sich Gummihandschuhe überzog, und kurz darauf streifte sie mir die Hosen ab. Ihr Finger fuhr in meinen Hintern und wühlte darin herum. Plötzlich rief sie: 'Negativ!' In den schwarzen Mann mit der Maschinenpistole kam Bewegung. Hastig entriegelte er die Tür und verschwand wie der Blitz. Die Amtsärztin zog den Finger wieder heraus und streifte sich die Sanitärhandschuhe ab. Ein Polizeibeamter kam herein und nahm mir die Handschellen ab. 'Sie sind frei', sagte er, 'Hauptkommissar Brockmann wird Ihnen alles erklären.'
   Kaum hatte ich die Hosen hoch gezogen, schon stand der Hauptkommissar in der Tür. 'Es tut mir furchtbar leid!' rief er, 'aber die gegenwärtige Bedrohungslage ließ uns keine andere Wahl! Kommen Sie, Herr... Herr...'
   Ich war so verdattert, dass ich ihm Vor- und Nachnamen nannte.
   'Kommen Sie mit in mein Büro, Herr Gero Benda, ich lade Sie zu einer Tasse Kaffee ein! Und dabei bereden wir alles!'“

                                                                5
     „Es  lässt sich nicht leugnen, diese Wendung kam ziemlich überraschend. Ich kniff mich in die Wange, um sicher zu sein, dass der ganze Mummenschanz vielleicht nicht doch nur ein böser Albtraum war. Richtig glauben konnte ich es dann immer noch nicht. Sollte der Spuk von einer Sekunde auf die andere vorbei sein? Höchst unwahrscheinlich. Eher dachte ich an einen weiteren üblen Polizeitrick. Sie hatten mich eine entsetzlich lange Zeit gequält und nichts aus mir herausbekommen. Jetzt versuchten sie es auf die sanfte Tour. Kennt man doch! Wird doch immer wieder in Kriminalfilmen gezeigt. Sie lullen ihr Opfer ein, so dass es sich in Sicherheit wiegt und unaufmerksam wird, schon ist ein verräterisches Wort gefallen, und die Rundeisen klicken. Aber nicht mit mir, meine Herren, nicht mit mir!
   Ich nahm mir vor, ausgesprochen wachsam zu sein und nur das Nötigste zu reden, wenn überhaupt. Bisher hatten sie geschwiegen, jetzt würde ich schweigen.
   Der Hauptkommissar führte mich in einen in überraschend angenehmen Farbtönen gehaltenen Raum und bat mich höflich Platz zu nehmen. Bevor ich mich jedoch setzen konnte, trat sein Begleiter von vorhin auf mich zu, schüttelte mir die Hand und stellte sich als Kriminaloberkommissar Schröder vor.
   Zufällig fiel mein Blick auf die Uhr an der Wand über dem Fenster. Herrje, halb sechs! Ich war bereits seit drei Stunden unterwegs, und meine Frau war immer noch ohne Nachricht von mir! Wie Märzschnee in der Mittagssonne schmolz mein Vorsatz zu schweigen dahin. 'Herr Hauptkommissar Brockmann', fragte ich vorsichtig, 'dürfte ich wohl eben kurz mit meiner Frau telefonieren? Sie macht sich Sorgen, denn ich wollte schon vor zwei Stunden wieder zurück sein.'
   „Aber natürlich, Herr Benda!“, kam es jovial zurück. Der Mann triefte vor Wohlwollen. 'Telefonieren Sie, so lange es Ihnen beliebt!' Er schob mir bereitwillig das Diensttelefon hin, aber weder meine Frau noch Leona  nahmen ab. Meine Unruhe wuchs. Jetzt war ich es, der die Nerven verlor. Ich sah meine Frau mit wirren Haaren, Leona hinter sich her ziehend und den schreienden Jorin auf dem Arm, durch das Städtchen irren und die Leute fragen: 'Haben Sie meinen Mann gesehen?'  Von den paar angegrauten Haaren, die ich inzwischen entdeckt habe, stammt mindestens eines aus dieser entsetzlichen Minute.
   (Als ich wieder glücklich zuhause war und meine Frau in die Arme schloss, gestand sie mir, dass sie es nach drei Stunden ohne Nachricht von mir nicht mehr ausgehalten hatte. Als der Kleine schlief, war sie mit Leona zu Gisela, der Vermieterin, gerannt und hatte sich an ihrer Brust ausgeheult. Gisela habe ihr einen ordentlichen Kognak eingeschenkt und gesagt: 'Keine Angst, mein Täubchen, der kommt schon wieder. Meiner ist auch immer wiedergekommen.' Das war, als ich sie das erste mal anrief.)
   Der Oberkommissar stellte eine dampfende Kaffeetasse vor mich hin und sagte: 'So, Herr Benda, nun stärken Sie sich erst einmal!'
   Nervlich völlig am Ende, griff ich mechanisch zu.
  Während ich trank, blickten mich die beiden Kommissare freundlich an. Besonders das Gesicht des Oberkommissars habe ich wieder deutlich vor mir. Auffällig waren seine dicken, von buschigen Augenbrauen überwucherten Überaugenwülste. Seine linke Wange zeigte eine tiefe Narbe, und die Nase war ziemlich stark eingedrückt, wohl infolge eines Verkehrsunfalls. All das verlieh seinem Gesicht etwas Äffisches. Ich hätte mich nicht gewundert, wenn er sich nicht mit 'Schröder', sondern  mit 'Neandertaler' vorgestellt hätte. Der Mund zeigte eine eigenwillige Kurve, es sah aus, als ob er unentwegt zynisch lächle. Seine Augen jedoch waren groß und klar, mit leicht geröteten Lidern. Also ein Gesicht, das man schwerlich vergisst. Vom Hauptkommissar ist mir noch sein fast leerer Schreibtisch in Erinnerung, sein kahler Schädel gab nichts her. Ich erinnere mich nur noch, dass er keine Augenbrauen besaß. Sein Gesicht wirkte auf eine unanständige Art nackt. Da stand der PC, da lag ein Schreibblock, parallel dazu zwei Kugelschreiber – sonst nichts. Na ja, das Telefon. Er triefte vor Freundlichkeit. Doch diese Freundlichkeit machte mir Angst. Ich konnte mir nach dem, wie ich behandelt worden war, nicht vorstellen, dass sie ernst gemeint war.
   Übrigens, auch an das Gesicht der Obermeisterin erinnere ich mich nicht mehr, obwohl ich ja allen Grund dazu hätte. Es ist wie weggeblasen. Wenn ich versuche, es mir vorzustellen, sehe ich die braunen Haare und die Dienstmütze, aber darunter herrscht absolute Leere. Nur ihre kehlige Stimme ist mir noch im Ohr, und ich fürchte, sie wird dort auch noch einige Zeit bleiben.
   
  Nun gut. Um sie aus der Reserve zu locken gab ich meine Absicht zu schweigen auf und sagte so unfreundlich wie eben möglich: 'Was sollte das ganze Theater in der Bahn und besonders diese entwürdigende Behandlung vorhin in Ihrem Folterkeller? Sie glauben doch nicht im Ernst, das das alles ohne Konsequenzen für Sie bleiben wird!'
   Das nackte Gesicht des Hauptkommissars zerfiel plötzlich in tausend Falten, und der Neandertaler seufzte bekümmert.
   'Ich habe gute Beziehungen zur örtlichen Presse', log ich, 'Sie sollten demnächst aufmerksam die Leserbriefseite des Hamburger Abendkuriers studieren! Über weiterführende Schritte muss ich erst noch nachdenken.' Das war fies, denn die hamburger Polizei stand schon wegen des angeblich brutalen Vorgehens gegen die linksautonome Szene mächtig unter Druck. Aber das war mir jetzt egal. Ich wollte meinen Ärger loswerden.
   'Lieber Herr Benda', sagte der Hauptkommissar dann auch sichtlich betrübt, 'wir verstehen Ihren Ärger vollkommen und können uns nur noch einmal entschuldigen. Aber ehe Sie die falschen Schritte unternehmen, sollten Sie sich wirklich sine ira et studio anhören, wie es zu dieser bedauerlichen Verwechselung kommen konnte.'“
                                                                 
  Der Erzähler unterbrach sich und fragte launig: „Sah ich da eben ein unterdrücktes Gähnen?“
   „Wie? Nein, im Gegenteil, wir sind gespannt darauf, wie sich die Beamten herausreden“, sagte jemand
   „Na gut. Was denkst du?“
   „Hm... nun ja... schwer zu sagen... Sie werden nicht so einfallslos gewesen sein, zu behaupten, sie hätten dich für einen gewaltbereiten Terroristen gehalten, der mit einer Bombe auf dem Weg zum Hamburger Dom war. Denn wo solltest du den Sprengsatz versteckt haben? Doch nicht etwa in deiner Sporthose, hahaha!“
   „Aber genau das taten sie!“
   „Was taten sie?“
   „Sie hatten angenommen, ich sei mit einer gar nicht netten Bombe unterwegs zum Hamburger Dom.“
   „Und wo solltest du die Bombe versteckt haben?“
   „Na überleg´  mal!“
   „Soll das ein Witz sein?“
   „Keineswegs! Mit solchen Dingen scherze ich nicht.“
   „Du meinst?“ rief Gisela aufgeregt.
   „Genau!“
   „In deiner Hose?“
   „Nicht ganz, aber fast!“
   „Ist mir zu hoch! Also, ich bin gespannt! Erzähl´ weiter!“

                                                                6    

   „Allmählich stellte mich der Kaffee mental wieder auf die Beine. Doch mir war auch klar, dass ich noch keineswegs aus dem Schneider war. Zum einen hatte ich keine Papiere bei mir und war ohne Fahrkarte in den Zug gestiegen. So etwas kostet mindestens sechzig Euro, ganz abgesehen von den dummen Fragen, die mir sicherlich blühten. Unangenehm, aber es ließ sich verschmerzen.
   Das andere Problem wog schwerer: Ich war ohne Handy unterwegs. Kennt ihr jemanden, der sich auch nur eine Sekunde freiwillig von seinem Handy trennt? Ich jedenfalls kenne keinen. Man will ständig erreichbar sein, sogar – Pardon – beim Toilettengang, mit der Folge, dass es beim Hoserunterlassen ins Klo fällt. Muss nicht jemand, der ohne Kommunikationselektronik unterwegs ist und dazu noch ohne Fahrkarte mit dem Zug fährt, wie ich damals, im hohen Maße verdächtig erscheinen und erneut Anlass zu weiteren Ermittlungen geben?
 Während er Hauptkommissar ein Telefonat entgegennahm, versuchte ich, mich in die Gedankenwelt dieser wackeren Kriminalbeamten hineinzuversetzen. Mir war bekannt – und der Polizei sicherlich erst recht – dass die großen Terrororganisationen neuerdings nicht mehr auf kriminelle Banden, sondern auf Einzeltäter setzten, die keinerlei Kontakt mehr zu Führung oder wie man es nennen will haben. Diese Leute sind völlig auf sich gestellt. Noch nicht einmal das Handy dürfen sie benutzen, etwa, um Helfer anzuwerben, denn durch die Auswertung von Kommunikationsdaten konnten schon mehrere Anschläge vereitelt werden. In den Augen der Polizei muss also jeder, der ohne Handy erwischt wird, ein potentieller Gefährder sein. Hatte ich gedacht, doch es war falsch gedacht, wie ich wenig später erfuhr. Außerdem war ich schon ein klein wenig verwundert, dass sie mich noch nicht nach meinem Handy gefragt hatten.
  Ihr seht: Mein Misstrauen  war noch nicht besiegt, es wucherte weiter wie Schimmel hinter der Tapete.
   Brockmann knallte den Hörer auf die Gabel und rief triumphierend: 'Wir haben ihn!'
   'Wo haben sie ihn denn aufgegriffen?', fragte Schröder interessiert.
   'Im Zug von Sylt nach Hamburg Altona.' Der Hauptkommissar blickte mich fröhlich an. 'Und nicht auf der Westküstenbahn. Damit hatte ich, ehrlich gesagt, auch nicht gerechnet. Er sitzt bereits in U-Haft'!
   'War er geladen?', fragte Schröder.
   'Nein.'
  'Sie wollten mir ein Erklärung abgeben', unterbrach ich die beiden.
   'Schon dabei!', sagte Brockmann äußerst gut gelaunt. Woher der plötzliche Stimmungsumschwung kam, sollte ich sofort erfahren. 'Wie ich soeben höre, konnten die Kollegen den Gefährder, nach dem wir seit Wochen landesweit fahnden, im Regionalexpress nach Altona fassen. Uns allen fällt ein Stein vom Herzen. Es gibt nämlich sichere Hinweise, dass er einen Anschlag auf den Hamburger Herbstdom, der übermorgen beginnt, geplant hat oder zumindest an den Vorbereitungen zu einem Sprengstoffattentat mit dem Ziel, möglichst viele Zivilisten zu töten, beteiligt ist. Jetzt besteht die gute Aussicht, dass das Vorhaben vereitelt werden kann und der Dom nicht abgesagt werden muss.' Der Hauptkommissar schüttelte sich. 'Brrr, nicht auszudenken, ein Bombenanschlag auf dem Dom, wo die Leute dicht an dicht stehen!'   
   'Gratuliere!', sagte ich. 'Glauben Sie mir, auch ich bin erleichtert! Doch was hat das alles mit mir zu tun? Welche sicheren Hinweise lagen in meinem Fall vor?' Ein Quäntchen Ironie konnte ich mir nicht verkneifen.
   'Schau´n Sie mal dahin', sagte der Oberkommissar und wies auf eine Tafel mit Fahndungsfotos, die ich bisher übersehen hatte. 'Erkennen Sie den Mann?'
   Ich stand auf, trat näher und prallte zurück.
   Da hing ich, beziehungsweise mein Spiegelbild.
  Die Ähnlichkeit war verblüffend. Die gleiche Kopfform, der gleiche Gesichtsschnitt,
die gleiche Augenpartie, das gleiche ungepflegte Outfit.
  'Mein Doppelgänger', stammelte ich.
 'Wahrscheinlich hat jeder Mensch irgendwo auf der weiten Welt einen Doppelgänger', philosophierte der Hauptkommissar, 'nur meistens ist es ohne tiefere Bedeutung.'
 'Ja aber... Nicht jeder, der aussieht wie Bin Ladens Bruder, ist gleich ein gewaltbereiter Gefährder', wandte ich ein und setzte mich wieder.
 'Sicherlich nicht. Aber in dieser besonderen Situation konnte wir uns keine Nachlässigkeit erlauben. Erinnern Sie sich noch an das Attentat auf den Berliner Weihnachtsmarkt Zweitausendsechzehn? Dieses Unglück konnte nur geschehen, weil die Behörden ernstzunehmende Hinweise übersehen hatten oder nicht sehen wollten. Der Mann war als Drogendealer bekannt und hätte schon lange vorher in Gewahrsam genommen werden müssen. Seitdem handle ich nach der Devise: Lieber einen Verdächtigen zu viel verhören als einen zu wenig. Außerdem will ich nicht bei der Verkehrspolizei landen.'
   'Aber Ihre Leute im Zug mussten doch sehen, dass ich unbewaffnet war und weder einen Sprengstoffgürtel umgeschnallt hatte noch dass Handgranaten an meinem Hosenbund baumelten', rief ich entrüstet. 'Wie blind kann man bei der Kripo denn überhaupt sein, ohne dass es auffällt! Nicht einmal ein Handy habe ich dabei! Ihr Kollege Oberhausen...'
   'Sie meinen Obermeister Hausen!'
   '… der mir immer auf die Hose starrte...'
   'Nicht auf die Hose!'
   'Sondern?'
   'Auf Ihren Unterleib!'
   'Das wird ja immer schöner!'
   'Lieber Herr Benda!'
   Brockmann stand auf und ging einige Schritte auf und ab. Schließlich blieb er vor mir stehen und beugte sich zu mir herab. Er seufzte herzerweichend, und sein Gesicht war wieder von Falten übersät. Ich sah jetzt, dass er leicht schielte. 'Die Selbstmordattentäter hecken immer raffiniertere Methoden aus, um ihre perversen Ziele trotz verbesserter Fahndungsmethoden zu erreichen', sagte er mit belegter Stimme. 'Die Zeiten des guten alten Sprengstoffgürtels oder der Bombe in der Aktentasche sind mittlerweile vorbei. Sie wissen, dass unsere Spürhunde in der Lage sind, größere Mengen Sprengstoff unter der Kleidung oder in einer Tasche zu erriechen. Und unsere Spürhunde arbeiten auch am Hindukusch.' Er sah mich verbittert an. 'Deshalb transportieren sie neuerdings die tödliche Fracht samt Zünder im Mastdarm.'
 Brockmann richtete sich auf, und sein Gesicht war zu einer hässlichen Fratze verzogen. 'Wissen Sie', rief er außer sich, 'wie viel hochbrisanter Plastiksprengstoff durch so ein verdammtes Terroristenarschloch geht? Ich werd´ es Ihnen sagen: Über ein Kilogramm. Damit könnten Sie den halben Dom in die Luft sprengen!' Man sah deutlich, dass ihm diese Aussicht schwer an die Nieren ging. 'Und da sind unsere Hunde natürlich aufgeschmissen.'
   'Ich verstehe', sagte ich, 'deshalb die Rektaluntersuchung vorhin. Sie wollten wissen, ob ich geladen bin.'
   'Richtig! Natürlich vermuteten auch den Kollegen im Zug, dass Sie kaum zu dieser Tätergruppe gehören. Ein bisschen Menschenkenntnis müssen Sie der Polizei schon zutrauen. Doch wie sagte schon der olle Lenin: Vertrauen ist gut, Kontrolle ist besser, und sicher sein kann man trotzdem nie. Und ich hatte Anweisung gegeben, jeden, der mit der Bahn nach Hamburg fährt und dem Fahndungsfoto ähnlich sieht, vorzuführen. Wir wussten, dass der Gefährder häufig mit der Bahn fährt.'
   'Bingo! Doch warum durfte ich meine Hände nicht bewegen?'
   Der Hauptkommissar zögerte etwas mit der Antwort und strich sich über das Kinn. Dann sagte er: 'Wissen Sie, Herr Benda, wenn ich abends nach Hause gehe, weiß ich manchmal nicht, ob ich wirklich im Büro war, oder ob ich alles nur geträumt habe. Die Verbrecher ersinnen immer albtraumhaftere Methoden, um die Polizei an der Nase herumzuführen. Wie froh waren wir, als wir entdeckten, das die Sprengsätze mittels eines bestimmten Codewortes auf dem Handy gezündet wurden. Technisch ist das alles machbar. Sogar mein Sohn behauptet, er könne eine solche Schaltung herstellen. Bis wir feststellten, dass etliche gewaltbereite Gefährder gar kein Handy benutzten. Wir nahmen einen dieser Leute bei passender Gelegenheit ins Verhör, und war kam heraus? Handy ist Steinzeit, Nanotechnologie ist angesagt! Sie lassen sich Mikrochips in die Handballen oder in den Schulterbereich einpflanzen, und wenn sie in die Hände klatschen oder sich auf die Schulter klopfen, wird ein Impuls ausgelöst, der den Sprengsatz zündet. Natürlich trifft das nur auf Selbstmordattentäter zu. Aber woher sollten meine Leute wissen, dass Sie keiner sind?'
   Der Hauptkommissar schwieg bedrückt.
   Schließlich fuhr er fort: 'Das Schlimmste ist, Sie können niemandem mehr vertrauen. Immer wieder entpuppt sich der gute, unauffällige Junge von nebenan als perfider Massenmörder. Auf die Dauer zerfressen Angst und Argwohn die menschliche Gesellschaft wie Scheidewasser.'“
 
                                                                  7

  Der Erzähler schwieg. Eine Weile herrschte nachdenkliche Stille.
   „Bizarr!“, sagte einer seiner Zuhörer nach einer Weile.
   „Das kannst du zweimal sagen! Es brauchte eine paar Tage, bis ich das Erlebnis verdaut hatte.“
   „Na schön! Und wie kamst du nun nach Hause“, wollte Gisela wissen, „ du warst ja ohne Geld und Fahrschein unterwegs.“
   „Frau und Tochter holten mich vom Polizeipräsidium ab.“
   „Hm... Wie reagierten den die Kommissare, als du ihnen gestehen mussten, dass du keine Fahrkarte hattest?“, fragte Heinrich Ewigleben. Er war bei der Stadt und schrieb Falschparker auf.
  Gero schmunzelte. „'Aha!', schnappte der Hauptkommissar, 'da haben wir ja einen Falschfahrer erwischt!' Als er meine entsetzte Miene sah, lachte er brüllend. 'Herr Benda', prustete er und schob mir das Telefon herüber, 'beruhigen Sie sich! Wir sind die Kriminal- und nicht die Bahnpolizei!'“
   „Sehr schön! Nur eines möchte ich noch gerne wissen“, meinte  Mirko Anders, der Feuerwehrmann, „warum ist deine Bekannte so plötzlich aus dem Zug gerannt? Wenn ich mich recht erinnere, sagtest du doch, du hättest keinen Koffer gesehen.“
   „Das habe ich mich auch immer wieder gefragt. Da ich weder Naomis Handynummer noch ihre gegenwärtige Adresse kannte – sie war wieder einmal umgezogen – musste ich auf die Erklärung warten, bis ich sie eines Tages zufällig in der Stadt traf. Der Grund ist zu trivial, um nicht wahr zu sein.“
   „Und?“
   „Sie besaß auch keine Fahrkarte.“
   „Ach nee!“
   „Ja. Sie sah die beiden Kriminalbeamten einsteigen – was mir entgangen war – und hielt sie für Bahnpolizei. Da wurde es ihr dann doch zu heiß, und sie lief schnell aus dem Zug.“
   „Eine schöne Freundin ist das!“ rief Gisela in einem Anflug von Eifersucht, „sie rennt einfach ´raus und überlässt dich den Wölfen zum Fraß!“
    Gero schüttelte den Kopf. „Gisela, da urteilst du zu hart. Laut Bahnhofsuhr waren es noch fünf Minuten bis zur Abfahrt des Zuges. Dass er sich so schnell in Bewegung setzen würde, konnte niemand ahnen.“
   „Und warum? Ich meine, hatte sie denn kein Geld, sich eine Fahrkarte zu kaufen?“, fragte Heinrich.
   „Doch, doch!“ Gero lachte herzhaft. „Geldmangel war es nicht! Außerdem ist es völlig unsinnig, eine Lokalbahn um ein paar lausige Euro zu prellen, und Naomi ist nicht so dumm, das zu übersehen. Nein, nein, der Grund liegt tief verborgen in ihrer Seele. Naomi lebt ganz auf Risiko, sie liebt den Nervenkitzel! Es grenzt an ein Wunder, dass sie sich mit ihrem Motorrad noch nicht den Hals abgefahren hat. Er ist für sie eine Art Droge, und diese Droge hält die Nudel Naomi immer unter Dampf. Ich weiß, was ich sage, denn ich habe ja mehrere Monate mit ihr zusammengelebt. Aber das steht auf einem anderen Blatt.“
   „Jetzt wirst du wahrscheinlich nie wieder ohne Papiere losrennen“, vermutete Gisela.
   „Darauf kannst du Gift nehmen! Allerdings – damals hätte es mir nichts genutzt. Niemand hat mich nach Fahrschein oder Ausweis gefragt!“


_________________
wunderkerze
Nach oben
Benutzer-Profile anzeigen Private Nachricht senden
Bananenfischin
Geschlecht:weiblichShow-don't-Tellefant

Moderatorin

Beiträge: 5339
Wohnort: NRW
Goldene Feder Prosa Pokapro IV & Lezepo II
Silberne Harfe



Beitrag12.01.2019 16:53

von Bananenfischin
Antworten mit Zitat

Erneut zusammengeführt.

_________________
Schriftstellerin, Lektorin, Hundebespaßerin – gern auch in umgekehrter Reihenfolge

Aktuelles Buch: Geliebte Orlando. Virginia Woolf und Vita Sackville-West: Eine Leidenschaft

I assure you, all my novels were first rate before they were written. (Virginia Woolf)
Nach oben
Benutzer-Profile anzeigen Private Nachricht senden Website dieses Benutzers besuchen
wunderkerze
Eselsohr
W


Beiträge: 381



W
Beitrag12.01.2019 17:25
Antwort
von wunderkerze
pdf-Datei Antworten mit Zitat

liebe Bananenfischerin, danke

_________________
wunderkerze
Nach oben
Benutzer-Profile anzeigen Private Nachricht senden
SannyB
Geschlecht:weiblichLeseratte
S


Beiträge: 174
Wohnort: BaWü


S
Beitrag12.01.2019 19:50

von SannyB
Antworten mit Zitat

Hallo wunderkerze,

Deine Geschichte erinnert mich (zumindest in den ersten Teilen) an meine Jugendurlaube und die Gespenstergeschichten, die dort erzählt wurden. Die habe ich immer gerne gehört.

Einige Stellen sind etwas ausschweifend, aber es ist sehr flüssig geschrieben, und mir sind auch keine Fehler ins Auge gesprungen wink

Viele Grüße,
Sanny
Nach oben
Benutzer-Profile anzeigen Private Nachricht senden
malu_vs
Geschlecht:weiblichWortedrechsler
M

Alter: 43
Beiträge: 72
Wohnort: Hessen


M
Beitrag13.01.2019 22:39

von malu_vs
Antworten mit Zitat

Habe mich sehr über die Fortsetzung gefreut. Viele Vergleiche finde ich sehr gut.
Die Auflösung an sich finde ich auch okay. Allerdings hat es mich ein wenig gestört dass Gero nicht öfter den Dialog gesucht hat anstatt einfach alles mögliche anzunehmen und herumzuspinnen. Nachdem die Ärztin dann die Rektal Untersuchung durchführte, war ja ziemlich klar dass man wohl davon ausging dass man dort Sprengstoff vermutete und daher stört es mich auch, dass die Zuhörer sich dann irgendwie dumm stellen. Und auch Gero hätte es damals klar sein können, da er ja eh schon so viel nachdenkt und grübelt. Er könnte also direkt im Gespräch damit rausrücken "dachten sie wirklich ich tranksportiere eine Bombe in meinem Hintern? . und dann kann die Polizei das gerne aufklären.
Bei der Untersuchung hätte ich mir auch etwas mehr Protest gewünscht, zumindest gedanklich. Wär lässt sich denn so einfach im Arsch rum wühlen? Da könnte man ja schon rechtliche Konsequenzen androhen.
Und zu guter letzt, sollten die Beschreibungen der Leute nach der Untersuchung vielelicht etwas kürzer ausfallen. Die Spannung ist da ziemlich raus und dann kommt so viel "blabla" meiner Meinung nach nicht gut.

Und nun genug gemeckert. Ich hatte sehr viel Spaß beim Lesen, wollte DRINGEND wissen wie es ausgeht und deine Beschreigungen finde ich sher gelungen (auch wenn sie manchmal zu ausfühlich sind)

Vielen Dank für diese Geschichte smile


_________________
Malu Volksky
Nach oben
Benutzer-Profile anzeigen Private Nachricht senden
Beiträge der letzten Zeit anzeigen:   
Neues Thema eröffnen   Neue Antwort erstellen
Seite 1 von 1

Deutsches Schriftstellerforum Foren-Übersicht -> Prosa -> Einstand
Du kannst keine Beiträge in dieses Forum schreiben.
Du kannst auf Beiträge in diesem Forum nicht antworten.
Du kannst Deine Beiträge in diesem Forum nicht bearbeiten.
Du kannst Deine Beiträge in diesem Forum nicht löschen.
Du kannst an Umfragen in diesem Forum nicht teilnehmen.
In diesem Forum darfst Du keine Ereignisse posten
Du kannst Dateien in diesem Forum nicht posten
Du kannst Dateien in diesem Forum nicht herunterladen
 Foren-Übersicht Gehe zu:  

BuchBuchEmpfehlungBuchEmpfehlungBuchEmpfehlungEmpfehlungBuchBuch

von hexsaa

von fancy

von Nicki

von Raven1303

von MoL

von Ruth

von Epiker

von Mogmeier

von Nina C

von fancy

Impressum Datenschutz Marketing AGBs Links
Du hast noch keinen Account? Klicke hier um Dich jetzt kostenlos zu registrieren!