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Als die Sternmagnolie blühte


 
 
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Lila Herz
Geschlecht:weiblichGänsefüßchen
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Beiträge: 16
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Beitrag26.11.2018 21:19
Als die Sternmagnolie blühte
von Lila Herz
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Als die Sternmagnolie blühte

Das gleichmäßige Ruckeln des Rollstuhls ermüdete Werner, während sein Sohn ihn durch die Gänge des Hospizes schob.
Draußen vor dem Gebäude war Werner eine Sternmagnolie aufgefallen. Ihre Knospen würden bald erblühen. Das erkannte er auf den ersten Blick, denn vor dem Schlafzimmerfenster seines früheren Zuhauses stand der gleiche Baum. Die schneeweiße Blütenpracht hatte für Werner jeden Frühling zu etwas Besonderem gemacht.

Auch im Inneren des Hospizes versuchte man offensichtlich, den Bewohnern ihren letzten Gang mithilfe der Natur ein wenig zu erleichtern. Bilder von prachtvollen Gebirgslandschaften sowie Sonnenuntergängen über dem Meer zierten die Wände. Sie riefen Erinnerungen an all die Urlaube wach, die Werner erlebt hatte.

Werners Sohn steuerte ein Zimmer an. Vor der Holztür hatte sich eine kleine Menschentraube gebildet.
Werner hatte sich immer gewünscht, dass ihn alle seine Lieben noch einmal besuchen kamen bevor er starb.
Hier waren sie: Kinder, Enkel, Urenkel.
Jeder beugte sich zu ihm herunter, umarmte ihn und küsste ihn auf die Stirn oder Wange.
Es waren sogar Menschen unter ihnen, die Werner kaum bekannt erschienen. Er kramte in seinen Erinnerungen. Hatte er diese Personen jemals zuvor gesehen? Wieder einmal wurde ihm schmerzlich bewusst, dass er sich auf sein Gedächtnis in letzter Zeit genauso wenig verlassen konnte wie auf seine Beine.
Und jetzt spielte es ihm den Streich, mit dem es ihn in letzter Zeit schon häufig geärgert hatte. Es ließ ihn vergessen, dass seine Frau vor acht Jahren verstorben war. Deshalb suchten seine Augen das bedrückte Grüppchen nach ihr ab, bis ihn wieder die Erkenntnis traf, dass dies vergebens war. Selten hatte er seine Frau so schmerzlich vermisst, wie bei diesem Abschied. Könnte sie ihn doch nur dabei stützen, wie in jeder schwierigen Situation in den Jahrzehnten ihrer Ehe.

Werner wurde in das Zimmer gerollt. Der Geruch von Desinfektionsmittel schlug ihm entgegen. Seine älteste Enkeltochter und ihr Mann wachten auf schwarzen Lederstühlen neben dem Bett. Sie erschienen Werner beide viel älter, als beim letzten Besuch. Auf ihren Gesichtern spiegelte sich bereits tiefe Trauer.
Nur zögerlich stimmten sie Werners Wunsch zu, ihn einen Augenblick alleine zu lassen. Sie schoben seinen Rollstuhl an das Bett und verließen den Raum.
Obwohl er nun so nah an dem Bett stand, vermied Werner es zunächst, dorthin zu schauen.
Wie viele Menschen hatten dort wohl bereits ihre letzten Atemzüge verbraucht?
Er ließ seinen Blick durch den Rest des Raumes schweifen.
Kuscheltiere in allen erdenklichen Größen füllten das Zimmer. Hasen, Hunde, Teddybären.
Es erinnerte Werner an den Jahrmarktstand mit den Gewinnen. Jedes Jahr hatte er dort Lose für die Kinder gekauft. Bei seinen eigenen Kindern war er noch zurückhaltend gewesen. Ein oder zwei Lose hatten genügen müssen. Aber mit den Jahren war er immer spendabler geworden. Seine Enkelkinder hatten davon profitiert und aufgrund der Menge der Lose hin und wieder das Glück gehabt ein kleines Tier oder Spielzeug zu gewinnen. Doch bei seinen Urenkeln schließlich war jede Zurückhaltung vorbei gewesen. Er hatte ihnen Hände voll Lose gekauft. Den größten Preis hatte damals seine Urenkelin Leonie errungen. Ein schweinchenfarbiges Nilpferd. Fast doppelt so groß wie Leonie damals. Sie hatte gerade das Laufen gelernt und auf dem Nachhauseweg hatte das Kuscheltier den kompletten Kinderwagen belegt. Als sie müde geworden war, hatte Leonie auf Werners Schoß im Rollstuhl mitfahren dürfen. Sie hatten sich gegenseitig gewärmt und an ihn gekuschelt war sie eingeschlafen.

Endlich traute Werner sich, den Blick von den Kuscheltieren abzuwenden und auf das Bett zu richten. Sofort erkannte er das rosa Nilpferd wieder. Es füllte einen Großteil des Bettes aus. Von Leonie selber war nur der Kopf zu sehen. Der restliche Körper war in eine weiche Wolldecke gehüllt. Ihre Augen waren geschlossen.

Einen kurzen Moment lang hoffte Werner, dass wieder einmal sein Gehirn ihm einen Streich spielte.
Dass er es war, der mit seinen 91 Jahren in dem Sterbebett lag.
Dass seine siebenjährige Urenkelin die Besucherin war.

Doch es war kein Streich.
Die Wolldecke konnte nicht komplett verbergen, dass Leonies Körper von den Spuren der verlorenen Schlacht gezeichnet war.
Operationen, Chemotherapie, Bestrahlung und alternative Behandlungsmethoden, nichts hatte langfristige Erfolge gebracht. Vor acht Tagen hatten sie es endgültig einsehen müssen. Der Kampf war aussichtslos. Die Zeit, Abschied zu nehmen, war gekommen.
Werner hob seine zittrige Hand und streichelte sanft über Leonies Kopf. Unter seinen Fingern fühlte er weichen Flaum. Kurze, nachwachsende Härchen.
Als hätten sie noch nicht aufgegeben.
Als würden Leonie und ihre Haare wieder wachsen und gedeihen.
Als gäbe es ihn doch, den kleinen Strohhalm, den die gesamte Familie in den letzten Wochen verzweifelt gesucht hatte.
Doch den Strohhalm gab es nicht.
Sie mussten loslassen.

Leonie öffnete ihre Augen ein kleines Stück, “Uropi Werner!”
Zum Glück hatten seine Ohren Werner noch nicht im Stich gelassen und so erkannte er trotz ihrer leisen Stimme den Klang, den er so liebte. Den Klang, den er immer hörte, wenn sie sich trafen. Die Freude, ihn zu sehen.
“Meine kleine Kämpferin”, flüsterte Werner mit einem Kloß im Hals, “du hast ja dein Nilpferd dabei.”
Leonie nickte schwach, “es ist mein Schutzengel.”
Ihre Augenlider fielen wieder zu und sie flüsterte: “Meinst du, ich kann es mit dahin nehmen, wo ich hingehen muss?”
Mit ihrer abgemergelten Hand griff sie nach dem Nilpferd, als würde sie es nie mehr loslassen wollen. Doch sogar Werner, der selber nur noch einen Bruchteil seiner einstigen Kräfte besaß, hätte es ihr jederzeit mühelos entreißen können.
Werner antwortete, was wohl jeder Erwachsene in diesem Augenblick gesagt hätte: “Bestimmt kannst du es mitnehmen.”
Leonies Augen öffneten sich wieder und in ihrem Gesicht erschien für einen kurzen Moment ein Ausdruck, der Werner das Gefühl gab, als wäre doch sie die weise Alte und er ein kleines Kind. Sie sagte: “Ehrlich gesagt, glaube ich dir das nicht. Das Nilpferd wird hier bleiben. Genau wie alle, die ich kenne. Mama, Papa, Oma, Opa, ihr alle bleibt hier. Nur ich muss gehen.”
Im nächsten Moment sah sie wieder aus wie das kleine, hilflose, verlorene Mädchen: “Wenn ich nicht gesund werden kann, warum kann ich dann nicht einfach krank bei euch bleiben? Ich will nicht von euch weg. Ich habe Angst!”
Werner fiel keine Antwort auf ihre Frage ein. War es doch das, was sie alle sich wünschten, dass Leonie bei ihnen blieb. Alles, was er herausbrachte, war eine Floskel: “Du brauchst keine Angst zu haben.”
“Das sagen alle. Die Ärztin hat gesagt, da wo ich hingehe, sind Engel und die passen dann auf mich auf. Aber ich habe trotzdem Angst. Ich kenne dort ja niemanden.”
Die kindliche Logik traf Werner hart. Er selber hoffte, dass er nach dem Tod seine geliebte Frau wiedersehen würde. Doch sie war kurz vor Leonies Geburt gegangen. Niemand aus der näheren Verwandtschaft war in den letzten Jahren verstorben. Leonies erste Auseinandersetzung mit dem Tod war die mit ihrem eigenen.
Sie kannte dort niemanden.
“Du wirst nicht alleine sein”, Werners Stimme war nun fast so leise wie Leonies, “dort, wo du hingehst, wartet schon deine Uroma auf dich. Auch wenn du sie nicht kennen gelernt hast, sie weiß wer du bist und wartet auf dich.”
Leonie antwortete nicht. Sie ließ ihre Augen wieder zufallen. Doch ihre Hand klammerte sich weiterhin an das Nilpferd. Werner beobachtete einige Zeit ihren ruhigen Atem.
“Du wirst nicht allein sein”, wisperte er.

Am nächsten Tag erblühte die Sternmagnolie im Vorgarten des Hospizes.

Der Anruf kam spätabends.
Werners alter Körper schenkte ihm keine Tränen mehr, mit denen er um seine Urenkelin weinen konnte.
Schweigend ließ er sich von seinem Pfleger waschen, beim Anziehen seines Schlafanzuges helfen und ins Bett hieven.
Die Bettdecke zog er sich selber zurecht, bis er ebenso eingehüllt war wie Leonie, als er sie das letzte Mal gesehen hatte.
Am nächsten Morgen erwachte er nicht mehr.

Die kleine Kämpferin und ihr Uropa wurden Seite an Seite beigesetzt.
Weiße Magnolienblätter wurden gestreut. Sie bedeckten die zwei Särge, den großen und den kleinen, wie eine dünne Schicht aus Schnee.

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Gast







Beitrag26.11.2018 23:17

von Gast
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So traumartig schön, Rosamunde Pilcher gleich, ist die Atmosphäre von Anfang an! (haha diese Assoziation! Habe Pilcher nie gelesen, nur im Fernseher mit der Familie früher geguckt haha)

Zitat:
Auch im Inneren des Hospizes versuchte man offensichtlich, den Bewohnern ihren letzten Gang mithilfe der Natur ein wenig zu erleichtern.


Ich weiß nicht wieso ich hier ein wenig Schwierigkeiten hatte zu verstehen, worauf das zielt. Die Betonung sollte auf "mithilfe der Natur" liegen, jedoch bin ich gestolpert, weil diese Information so beiläufig mitgeteilt wird, als wäre sie irrelevant. Evtl könnte eine Satzumstellung dies vorbeugen?

Also: beim ersten Lesen kam ich mir verloren vor
Beim zweiten Lesen fand ich alles top, hatte Gänsehaut und war sprachlos zufriedengestellt
Und beim dritten Lesen verstand ich dann auch die Zusammenhänge und erkannte, dass diese Geschichte ein wirklich schönes geschlossenes Ganzes ergibt!

Der Plottwist ist einfach genial! Ich habe ihn erst beim zweiten Lesen erfasst (wie peinlich unaufmerksam ich doch sein kann!) aber da hatte er Wirkung!

Das ist einfach so schön! Wie machst du das? haha

Der Tod ist ein großes Thema, ein schwieriges Thema, doch du hast es mMn. geschafft ihn zu besiegen mit dieser Geschichte, ihn zu überwinden und so darzustellen, dass man ihm fast gerne ins Gesicht schaut.

Der Euphemismus des Sterbens als Erblühen der Sternmagnolie ist prächtig! Ich habe immer Probleme damit Pflanzen und Tierarten zu benennen, obschon das wirklich nützlich wäre! Ich umschreibe das dann meist sehr verallgemeinert mit der Oberklasse des Lebewesens ...

Aber auf jeden Fall ein dickes Danke für diesen taktvollen Text.

MfG,
Peter
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Lila Herz
Geschlecht:weiblichGänsefüßchen
L


Beiträge: 16
Wohnort: NRW


L
Beitrag27.11.2018 18:32

von Lila Herz
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Hallo Peter,

Vielen Dank für dein Feedback smile und danke auch dafür, dass du dir die Zeit genommen hast, den Text mehrmals zu lesen.

Bedeutet die Assoziation zu Rosamunde pilcher, dass der Text irgendwie kitschig klingt? Beim erstellen des Textes hatte ich manchmal das Gefühl, dass die Gefahr besteht, dass er kitschig rüber kommen könnte.

“Auch im Inneren des Hospizes versuchte man mithilfe der Natur, den Bewohnern ihren letzten Gang etwas zu erleichtern.”
Wäre der Satz so herum besser?

Danke für deine Hilfe smile

Ich überlege noch, was ich verändern könnte, damit der Text direkt beim ersten Leser besser verständlich ist.
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Murnockerl
Geschlecht:weiblichEselsohr
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Beiträge: 340



M
Beitrag27.11.2018 19:09

von Murnockerl
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Hallo, Lila Herz!

Ein schöner Text zu einem sehr schweren Thema. Mich hat der Plottwist auch überrascht, und das wirklich im positiven Sinne smile

Ich glaube, es ist schwierig, bei einem solchen Thema NICHT an die Grenze des Kitsches zu geraten (mMn hast du dieses Problem vor allem in Bezug auf die erblühende Magnolie bzw. Blütenblätter), allerdings halte ich es bei einem solchen Thema durchaus für angebracht. Immerhin sind Beschönigungen, "kitschige" Metaphern und Co eine durchaus verbreitete und völlig normale Art für uns Menschen, mit dem Tod umzugehen und somit ist es durchaus realistisch, dass einem Beobachter wie Werner oder den anderen Angehörigen solche Dinge in den Sinn kommen.
Langer Rede kurzer Sinn: Wäre es eine Liebesgeschichte oder ein anderes, fröhlicheres Thema, wäre es vielleicht ratsam, sich etwas stärker von kitschigen Elementen zu distanzieren, hier finde ich es aber durchaus gut smile

Ein paar Dinge, die mir beim Lesen aufgefallen sind (die meisten sind keine richtigen Fehler, sondern meine subjektive Empfindung in Bezug auf Klang und Flüssigkeit des Textes - also fühl dich nicht genötigt, alles umzusetzen, sondern such dir raus, was für dich gut klingt Wink):

Den größten Preis hatte damals seine Urenkelin Leonie errungen. Ein schweinchenfarbiges Nilpferd. Fast doppelt so groß wie Leonie damals.

→ Wortwiederholung „damals“, vielleicht kann man einen der Sätze ein bisschen ummodeln, um das Wort zu vermeiden?

Einen kurzen Moment lang hoffte Werner, dass wieder einmal sein Gehirn ihm einen Streich spielte.

→ Ich würde schreiben: „dass sein Gehirn ihm wieder einmal“ bzw. „dass ihm sein Gehirn wieder einmal“

Dass er es war, der mit seinen 91 Jahren in dem Sterbebett lag.
Dass seine siebenjährige Urenkelin die Besucherin war.

→ Hier fand ich beim ersten Lesen etwas schwer nachvollziehbar, was gemeint ist. Vielleicht stattdessen: „War er es nicht, der mit seinen 91 Jahren am Sterbebett lag? Und seine siebenjährige Urenkelin diejenige, die ihn besuchte?“

Leonie nickte schwach, “es ist mein Schutzengel.”

→ Ich würde der Optik wegen zwei Sätze draus machen: Leonie nickte schwach. „Es ist mein Schutzengel.“

Mit ihrer abgemergelten Hand griff sie nach dem Nilpferd […]

ausgemergelten Hand

“Du wirst nicht alleine sein”, Werners Stimme war nun fast so leise wie Leonies, “dort, wo du hingehst, wartet schon deine Uroma auf dich.

→ Hier würde ich den ersten Teil der direkten Rede auch wieder als eigenen Satz abtrennen.

Allgemein ist mir aufgefallen, dass du sehr oft "Werner" schreibst statt "er" und ich kann mich nicht recht entscheiden, ob das stilistische Absicht ist oder nicht. Ich würde aber der Flüssigkeit halber versuchen, länger beim "er" zu bleiben und erst nach einigen Sätzen oder im nächsten Absatz wieder zu "Werner" zu wechseln.

Ich hoffe, ich konnte dir ein bisschen weiterhelfen. Daumen hoch für die berührende Geschichte und den Plottwist Daumen hoch²
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Lila Herz
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Beitrag27.11.2018 22:11

von Lila Herz
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Hallo murnockerl smile,

Vielen Dank für dein Feedback und deine Meinung smile

Deine Tipps sind sehr hilfreich, ich werde versuchen, sie so umzusetzen. Zum Beispiel die Wiederholung von “damals” ist mir, obwohl ich selber mehrfach gegenlesen habe, nicht aufgefallen.

Dass ich häufig den Namen geschrieben habe, war ehrlich gesagt keine stilistische Absicht,das werde ich auch noch anpassen
Absicht war nur, dass nur Werner und Leonie mit Namen genannt wurden und ansonsten keine Namen auftraten.

Es freut mich, dass der plottwist überraschend ankommt, denn er soll auch den Schock und die Unfairness darstellen, wenn man erfährt, dass eine schwere Krankheit auf einmal ein Kind getroffen hat und nicht, wie man eher erwartet hätte, die älteren Verwandten (was natürlich auch schlimm ist, Krankheit ist immer schlimm).

Danke nochmal für deine Mühen.
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Mann wie ein Turm
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Beitrag27.11.2018 23:05

von Mann wie ein Turm
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Hallo, Lila Herz!

Eine berührende Geschichte allerdings. In vielen Punkten stimme ich den vorangegangenen Kommentaren zu. Nicht aber, was den Kitsch angeht. So fand ich auch die stärkste Stelle der Geschichte nicht den plottwist, obwohl er schon sehr zur Dramatik der Situation beiträgt, sondern die Stelle, als Leonie Werner der Lüge überführt. Das empfinde ich als die Stelle, wo Du den Kitsch auch hinter Dir lassen solltest. Weil hier das Kind die harte Wahrheit hinter all dem Plüschgetier benennt: Alles wird weg sein. Und all das Fliehen Werners, dass er im Jenseits seine Frau wiedersehen wird, und auch der Schluss mit Werners Tod erscheint so ein bisschen disney-mäßig kitschig. Wenn Du so was willst, hast Du genau den Ton getroffen, aber ich glaube, da steckt eigentlich mehr drin: die Perversität der zeitlichen Vertauschung der natürlichen Reihenfolge des Sterbens klar gesehen von dem sterbenden Kind. Das ist ein starkes Bild.

Meine Meinung.

Auf jeden Fall aber ein ziemlich beeindruckender Auftakt, alle Achtung!

Schöne Grüße, Turm
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Lila Herz
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Beitrag28.11.2018 20:42

von Lila Herz
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Hallo Mann wie ein Turm,

Danke für deine Rückmeldung.
Ich werde noch einmal in mich gehen und den Text überarbeiten und am Ende versuchen, den Disney Kitsch etwas zu entschärfen smile

Allerdings sind es eigentlich zwei Punkte, die ich mit dem Text verfolgen wollte: einerseits, genau die Verdrehung, dass ein Kind vor seinen Eltern / Großeltern / Urgroßeltern sterben muss. Aber andererseits auch die leise Hoffnung und den Trost, dass man sich vielleicht nach dem Tod wiedersieht.
Ich werde also noch einmal überlegen, wie ich den zweiten Punkt einbinden kann mit (zumindest etwas smile extra weniger Kitsch.

Also danke nochmal für deine Anregung smile





Allgemein würde ich gerne noch kurz erklären, warum ich als Baum die Sternmagnolie gewählt habe smile
1. weil diese weiße Blütenblätter hat, die wenn sie herunterfallen farblich an Schnee erinnern und Schnee gehört ja an das Ende des Jahreskreises und nicht an den Anfang, wenn alles erst erblühen sollte (so wie der Tod nicht ins Kindesalter gehören sollte, sondern das aufwachsen).
2. Wegen dem Namensbestandteil “Stern”, der an die Vorstellung erinnert, dass verstorbene Kinder zu Sternen werden oder zu den Sternen gehen.

Jetzt bin ich unschlüssig ob diese Metapher tatsächlich zu kitschig ist und außerdem vielleicht zu konkret, die meisten kennen diesen Baum vielleicht gar nicht oder können damit nichts verknüpfen?
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Mann wie ein Turm
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Beitrag28.11.2018 21:19

von Mann wie ein Turm
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Liebes Lila Herz!

Leider muss ich feststellen, dass ich Deinen Text, je mehr ich darüber nachdenke, umso problematischer finde. Das Thema ist ein schweres, das ist völlig klar, aber ich zweifle zunehmend, dass der Text dem Thema gerecht wird.
Dass Deine Schreibe flüssig und ziemlich effektsicher daherkommt, verschärft meines Erachtens das Problem sogar eher noch, weil es schwieriger ist, den problematischen Punkt zu finden. Ich meine, er liegt in der Lösung am Ende. Wie Peter Sipos geschrieben hat, und das hat mich gleich irgendwie erschüttert, geht man am Ende fast gern mit dem Tod um. Auch der Begriff Euphemismus hat mich getroffen. Ich glaube, der Tod eines Kindes darf nicht beschönigt werden! Kein im Jenseits sehen wir uns wieder und dergleichen! Das Ende Deiner Geschichte bietet aber genau diese Lösung an. Das ist für die Bedeutung, die in der Situation angelegt ist, viel zu dünn. Wenn im Jenseits wer wartet, ist alles in Ordnung, wenn ein Kind stirbt, oder was? Nein. Und stelle ich mir eine Familie vor, der genau so etwas passiert, kommt es mir irgendwie höhnisch vor. Als wäre mit ein paar Worten all das Leid und die Trauer wegzuwischen.
Interessanterweise versteht das Kind das schon, wenn es nach dem Bären fragt. Der Erzähler aber begreift nicht, dass auch die Uroma oder der Uropa im Grunde nichts anderes sind, als der Bär. Wenn Du also die Lösung Jenseits anbietest, müsstest Du Dich entscheiden: Ist es die Lösung, die sich die Hinterbliebenen schönreden oder bietest Du eine Art methaphysischer Lösung an, dann müsstest Du vielleicht das Jenseits irgendwie schildern (eine eher nicht so günstige Variante, scheint mir)

Schöne Grüße, Turm
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Lila Herz
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Beitrag28.11.2018 22:08

von Lila Herz
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Hallo Mann wie ein Turm,

Danke für die Einschätzung.
Ich stimme dir darin zu, dass man den Tod eines Kindes niemals beschönigen kann/ sollte. Aber es ist nun Mal wieder eine Realität, die grausamerweise vorkommt und ohne in irgendeiner Vorstellung Trost zu suchen, wird man einen solchen Schicksalsschlag nicht überstehen können.

Meine Erfahrung ist, dass es nur wenige Möglichkeiten gibt, damit fertig zu werden. Und einer davon ist halt die Vorstellung an ein Wiedersehen irgendwann, vielleicht an ein Leben nach dem Tod oder auch nur daran, nebeneinander im Grab zu liegen. Das habe ich auch bewusst versucht, allgemein zu halten und nicht einen konkreten religiösen Aspekt hinein zu bringen.

Ich war eigentlich nicht der Meinung, dass ich den Tod eines Kindes beschönige. Es geht mir eher um den Funken Hoffnung.
Möglicherweise ist das Problem des Textes dann eher, dass er zu persönlich darauf ausgerichtet ist, worin ICH in dieser Situation Trost (wenn es den denn gibt) finden würde. Durch eine schwere Erkrankung meines eigenen Kindes, habe ich mich mit der Vorstellung, dass ein Kind sterben könnte, stark gedanklich auseinander gesetzt (wir haben zum Glück die Möglichkeit, mit vergleichsweise guten Prognosen zu kämpfen und doch beschäftigt man sich natürlich dann mit dem Fall des Falles).
Der Text ist möglicherweise zu einem Teil auch eine Verarbeitung bzw Bearbeitung dessen, was mich umtreibt.

Ich habe versucht, ihn dennoch von mir abzugrenzen, die Charaktere und auch die Situation ist anders, als meine Realität. Aber was ich möglicherweise nicht bedacht habe, ist, dass dies nur mein eigener Trost ist (und auch teilweise von bekannten Familien, die leider ihr Kind gehen lassen mussten) und andere es vielleicht wie du beschreibst, als höhnisch erachten würden.


Puh, du hast mir einiges zum Nachdenken an die Hand gegeben wink
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findling
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Beitrag28.11.2018 23:03

von findling
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Liebes Lila Herz,

Du hast eine wunderschöne Geschicht über Uropa und Urenkelin erzählt, die beide gleichzeitig, bewusst einem vermeintlichen getrennt werden von a l l e m entgegensehen und dabei in einer berührenden Sprache, das faltenreiche Gesicht des Todes menschlich aufscheinen lassen.

Wenn die ausgewachsene Sternmagnolie vor meinem Küchenfenster, im Frühjahr voll erblüht ihre reine Freude in den grenzenlosen Himmel singt, bleiben die meisten Menschen die vorübergehen ergriffen stehen. Ich kann mir keinen liebevolleren Abschiedsgruss vorstellen, als ihre Särge mit diesen schneeweißen Blütenblättern zu bedecken.

In unseren Seelen wissen wir um das Geheimnis jenseits den Grenzen der sinnlichen Wahrnehmung und wissenschaflicher Zugänglichkeit. In einem liebevollen Umgang miteinander, wird unsere untrennbare Verbundenheit über alle Vorstellungen hinaus erlebbar. Die Bilder die Du benutzt, sind der Wahrheit näher als deren Ablehnung.
Je mehr Liebe, umso mehr Wahrheit. Trauer mit Angst, Wut, und Vorwürfen wird von egoistischen Impulsen gelenkt und am besten mit liebevollem Beistand und herzlichen Gesten beantwortet. So wie Du es tust.
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Beitrag29.11.2018 13:50

von Lila Herz
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Hallo Findling,

Vielen Dank für dein Feedback, die schönen Worte, die du gewählt hast, freuen mich smile
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findling
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Beitrag29.11.2018 22:01

von findling
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Noch ein leises Bild, das sehr nah dran ist...

https://m.youtube.com/watch?v=WSXWcLxH1_g
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Beitrag30.11.2018 21:31

von Lila Herz
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Danke für den Link, Findling Daumen hoch²
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findling
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Beitrag01.12.2018 10:44

von findling
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Das Ende des Todes, die Freude des Erwachens

https://m.youtube.com/watch?v=aMMZh5_IFxY
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Beitrag04.12.2018 00:16

von Lila Herz
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Als die Sternmagnolie blühte

Das gleichmäßige Ruckeln des Rollstuhls ermüdete Werner, während sein Sohn ihn durch die Gänge des Hospizes schob.
Draußen vor dem Gebäude war Werner eine Sternmagnolie aufgefallen. Ihre Knospen würden bald erblühen. Das erkannte er auf den ersten Blick, denn vor dem Schlafzimmerfenster seines früheren Zuhauses stand der gleiche Baum. Die schneeweiße Blütenpracht hatte für Werner jeden Frühling zu etwas Besonderem gemacht.

Auch im Inneren des Hospizes versuchte man mithilfe der Natur offensichtlich, den Bewohnern ihren letzten Gang ein wenig zu erleichtern. Bilder von prachtvollen Gebirgslandschaften sowie Sonnenuntergängen über dem Meer zierten die Wände. Sie riefen Erinnerungen an all die Urlaube wach, die Werner erlebt hatte.

Werners Sohn steuerte ein Zimmer an. Vor der Holztür hatte sich eine kleine Menschentraube gebildet.
Werner hatte sich immer gewünscht, dass ihn alle seine Lieben noch einmal besuchen kamen bevor er starb.
Hier waren sie: Kinder, Enkel, Urenkel.
Jeder beugte sich zu ihm herunter, umarmte ihn und küsste ihn auf die Stirn oder Wange.
Es waren sogar Menschen unter ihnen, die Werner kaum bekannt erschienen. Er kramte in seinen Erinnerungen. Hatte er diese Personen jemals zuvor gesehen? Wieder einmal wurde ihm schmerzlich bewusst, dass er sich auf sein Gedächtnis in letzter Zeit genauso wenig verlassen konnte wie auf seine Beine.
Und jetzt spielte es ihm den Streich, mit dem es ihn in letzter Zeit schon häufig geärgert hatte. Es ließ ihn vergessen, dass seine Frau vor acht Jahren verstorben war. Deshalb suchten seine Augen das bedrückte Grüppchen nach ihr ab, bis ihn wieder die Erkenntnis traf, dass dies vergebens war. Selten hatte er seine Frau so schmerzlich vermisst, wie bei diesem Abschied. Könnte sie ihn doch nur dabei stützen, wie in jeder schwierigen Situation in den Jahrzehnten ihrer Ehe.

Werner wurde in das Zimmer gerollt. Der Geruch von Desinfektionsmittel schlug ihm entgegen. Seine älteste Enkeltochter und ihr Mann wachten auf schwarzen Lederstühlen neben dem Bett. Sie erschienen Werner beide viel älter, als beim letzten Besuch. Auf ihren Gesichtern spiegelte sich bereits tiefe Trauer.
Nur zögerlich stimmten sie Werners Wunsch zu, ihn einen Augenblick alleine zu lassen. Sie schoben seinen Rollstuhl an das Bett und verließen den Raum.
Obwohl er nun so nah an dem Bett stand, vermied Werner es zunächst, dorthin zu schauen.
Wie viele Menschen hatten dort wohl bereits ihre letzten Atemzüge verbraucht?
Er ließ seinen Blick durch den Rest des Raumes schweifen.
Kuscheltiere in allen erdenklichen Größen füllten das Zimmer. Hasen, Hunde, Teddybären.
Es erinnerte Werner an den Jahrmarktstand mit den Gewinnen. Jedes Jahr hatte er dort Lose für die Kinder gekauft. Bei seinen eigenen Kindern war er noch zurückhaltend gewesen. Ein oder zwei Lose hatten genügen müssen. Aber mit den Jahren war er immer spendabler geworden. Seine Enkelkinder hatten davon profitiert und aufgrund der Menge der Lose hin und wieder das Glück gehabt ein kleines Tier oder Spielzeug zu gewinnen. Doch bei seinen Urenkeln schließlich war jede Zurückhaltung vorbei gewesen. Er hatte ihnen Hände voll Lose gekauft. Den größten Preis hatte seine Urenkelin Leonie errungen. Ein schweinchenfarbiges Nilpferd. Fast doppelt so groß wie Leonie damals. Sie hatte gerade das Laufen gelernt und auf dem Nachhauseweg hatte das Kuscheltier den kompletten Kinderwagen belegt. Als sie müde geworden war, hatte Leonie auf Werners Schoß im Rollstuhl mitfahren dürfen. Sie hatten sich gegenseitig gewärmt und an ihn gekuschelt war sie eingeschlafen.

Endlich traute Werner sich, den Blick von den Kuscheltieren abzuwenden und auf das Bett zu richten. Sofort erkannte er das rosa Nilpferd wieder. Es füllte einen Großteil des Bettes aus. Von Leonie selber war nur der Kopf zu sehen. Der restliche Körper war in eine weiche Wolldecke gehüllt. Ihre Augen waren geschlossen.

Einen kurzen Moment lang hoffte Werner, dass sein Gehirn ihm wieder einmal einen Streich spielte.
Sollte nicht eigentlich er, der 91jährige, in dem Sterbebett liegen und seine siebenjährige Urenkelin die Besucherin sein?

Doch es war kein Streich.
Die Wolldecke konnte nicht komplett verbergen, dass Leonies Körper von den Spuren der verlorenen Schlacht gezeichnet war.
Operationen, Chemotherapie, Bestrahlung und alternative Behandlungsmethoden, nichts hatte langfristige Erfolge gebracht. Vor acht Tagen hatten sie es endgültig einsehen müssen. Der Kampf war aussichtslos. Die Zeit, Abschied zu nehmen, war gekommen.
Werner hob seine zittrige Hand und streichelte sanft über Leonies Kopf. Unter seinen Fingern fühlte er weichen Flaum. Kurze, nachwachsende Härchen.
Als hätten sie noch nicht aufgegeben.
Als würden Leonie und ihre Haare wieder wachsen und gedeihen.
Als gäbe es ihn doch, den kleinen Strohhalm, den die gesamte Familie in den letzten Wochen verzweifelt gesucht hatte.
Doch den Strohhalm gab es nicht.
Sie mussten loslassen.

Leonie öffnete ihre Augen ein kleines Stück, “Uropi Werner!”
Zum Glück hatten seine Ohren Werner noch nicht im Stich gelassen und so erkannte er trotz ihrer leisen Stimme den Klang, den er so liebte. Den Klang, den er immer hörte, wenn sie sich trafen. Die Freude, ihn zu sehen.
“Meine kleine Kämpferin”, flüsterte Werner mit einem Kloß im Hals, “du hast ja dein Nilpferd dabei.”
Leonie nickte schwach. “Es ist mein Schutzengel.”
Ihre Augenlider fielen wieder zu und sie flüsterte: “Meinst du, ich kann es mit dahin nehmen, wo ich hingehen muss?”
Mit ihrer ausgemergelten Hand griff sie nach dem Nilpferd, als würde sie es nie mehr loslassen wollen. Doch sogar Werner, der selber nur noch einen Bruchteil seiner einstigen Kräfte besaß, hätte es ihr jederzeit mühelos entreißen können.
Werner antwortete, was wohl jeder Erwachsene in diesem Augenblick gesagt hätte: “Bestimmt kannst du es mitnehmen.”
Leonies Augen öffneten sich wieder und in ihrem Gesicht erschien für einen kurzen Moment ein Ausdruck, der Werner das Gefühl gab, als wäre doch sie die weise Alte und er ein kleines Kind. Sie sagte: “Ehrlich gesagt, glaube ich dir das nicht. Das Nilpferd wird hier bleiben. Genau wie alle, die ich kenne. Mama, Papa, Oma, Opa, ihr alle bleibt hier. Nur ich muss gehen.”
Im nächsten Moment sah sie wieder aus wie das kleine, hilflose, verlorene Mädchen: “Wenn ich nicht gesund werden kann, warum kann ich dann nicht einfach krank bei euch bleiben? Ich will nicht von euch weg. Ich habe Angst!”
Werner fiel keine Antwort auf ihre Frage ein. War es doch, was sie alle sich wünschten, dass Leonie bei ihnen blieb. Alles, was er herausbrachte, war eine Floskel: “Du brauchst keine Angst zu haben.”
“Das sagen alle. Die Ärztin hat gesagt, da wo ich hingehe, sind Engel und die passen dann auf mich auf. Aber ich habe trotzdem Angst. Ich kenne dort ja niemanden.”
Die kindliche Logik traf Werner hart. Er selber hoffte, dass er nach dem Tod seine geliebte Frau wiedersehen würde. Doch sie war kurz vor Leonies Geburt gegangen. Niemand aus der näheren Verwandtschaft war in den letzten Jahren verstorben. Leonies erste Auseinandersetzung mit dem Tod war die mit ihrem eigenen.
Sie kannte dort niemanden.
“Du wirst nicht alleine sein”, Werners Stimme war nun fast so leise wie Leonies. “Dort, wo du hingehst, wartet schon deine Uroma auf dich. Auch wenn du sie nicht kennen gelernt hast, sie weiß wer du bist und wartet auf dich.”
Leonie antwortete nicht. Sie ließ ihre Augen wieder zufallen. Doch ihre Hand klammerte sich weiterhin an das Nilpferd. Werner beobachtete einige Zeit ihren ruhigen Atem.
“Du wirst nicht allein sein”, flüsterte er.

Am nächsten Tag erblühte die Sternmagnolie im Vorgarten des Hospizes.

Der Anruf kam spätabends.
Werners alter Körper schenkte ihm keine Tränen mehr, mit denen er um seine Urenkelin weinen konnte.
Schweigend ließ er sich von seinem Pfleger waschen, beim Anziehen seines Schlafanzuges helfen und ins Bett hieven.
Die Bettdecke zog er sich selber zurecht, bis er ebenso eingehüllt war wie Leonie, als er sie das letzte Mal gesehen hatte.
Am nächsten Morgen erwachte er nicht mehr.

Die kleine Kämpferin und ihr Uropa wurden Seite an Seite beigesetzt.
Die Trauergäste streuten weiße Magnolienblätter. Diese bedeckten die zwei Särge, den großen und den kleinen, wie eine dünne Schneeschicht.
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Lila Herz
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Beiträge: 16
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Beitrag04.12.2018 00:17

von Lila Herz
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Hallo smile, ich habe viel darüber nachgedacht und den Text überarbeitet. Allerdings habe ich mich nicht von der symbolik getrennt, die dem Text möglicherweise einen kitschigen Touch gibt.
Allerdings habe ich im letzten Abschnitt die “Trauer”gäste noch mit eingebracht um zu zeigen, dass es nicht um eine Lösung des Problems Tod geht.
Es geht um die Verarbeitung eines Wunsches, den sicher viele Eltern / Angehörige haben, wenn ein Kind stirbt, nämlich dass sie es nicht alleine gehen lassen wollen. Schlimmste Trauer und Verzweiflung werden die Angehörigen dennoch empfinden.
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SannyB
Geschlecht:weiblichLeseratte
S


Beiträge: 174
Wohnort: BaWü


S
Beitrag04.12.2018 00:56

von SannyB
Antworten mit Zitat

Hallo Lila Herz,

Deine Geschichte geht einem wirklich ans Herz, so traurig, mir kamen die Tränen.
Diese Wendung, als man denkt, der alte Mann will allein im Raum sein, um sich auf seinen Tod vorzubereiten, mit der feinen Überleitung zu seiner Enkelin, die (für den Leser) 'plötzlich' dort liegt, trifft wie ein Schlag.

Die Geschichte ist schön und flüssig geschrieben (ich habe nur die letzte Version gelesen), und ich finde nichts, was ich daran ändern würde.

Viele Grüße,
Sanny
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Lila Herz
Geschlecht:weiblichGänsefüßchen
L


Beiträge: 16
Wohnort: NRW


L
Beitrag04.12.2018 10:48

von Lila Herz
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Hallo SannyB,

Dankeschön smile
Es freut mich sehr, dass dir der Text gefällt.

Liebe Grüße, Lila Herz
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Winterfeld
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Alter: 42
Beiträge: 25
Wohnort: Pfalz


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Beitrag04.12.2018 12:01

von Winterfeld
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Hallo Lila Herz,

insgesamt schöner Text, mit einem denkbar schwierigen Thema. Es gibt da allerdings eine Textpassage, die mir bereits im ersten Entwurf aufgefallen ist.

"Ehrlich gesagt, glaube ich dir das nicht"

Gerade dieses "Ehrlich gesagt" klingt für mich ziemlich altklug. Ich bezweifle, dass eine Siebenjährige diese Formulierung verwenden würde. Wäre hier nicht eher ein simples "Das glaube ich dir nicht" angebracht?

Ich weiß, dass mag haarspalterisch klingen, aber ich habe den Text jetzt mehrfach gelesen. Und die die Passage stört mich jedes Mal aufs Neue in meinem Lesefluss.

Nur als Vorschlag.

LG Dominik
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Lila Herz
Geschlecht:weiblichGänsefüßchen
L


Beiträge: 16
Wohnort: NRW


L
Beitrag09.12.2018 00:25

von Lila Herz
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Hallo Dominik,

Danke für deine Rückmeldung und sorry dass ich erst jetzt antworte.
Du hast Recht und ich werde die Formulierung so abändern, damit sie sich mehr nach einem Kind anhört, das spricht.
Danke für den Tipp, ich finde es nicht Haarspalterei, sondern finde es einen guten Hinweis smile

LG, lila Herz
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