Fremde Körper und andere Fehleinschätzungen

[Cholyrika]

Fremde Körper und andere Fehleinschätzungen

I.
Hilde war sich sicher,
dass Aufzüge Stätten der Erinnerung sind.
Sie trug nichts drunter.
Sie folgte dem Bedürfnis der Hoffnung.
Den siebzehnten Sock befand sie als geeignet
sich dem Mann zu zeigen.
Er ignorierte die Lust mit einem Ausdruck gespielter Empathie.
Pay-TV prägt Generationen.
Keine offensichtlich realen Berührungen möglich.

II.
Winterbedürfnisse im Sommerschlussverkauf.
Ein Indianer aus Offenbach verschluckte
die Geschichte seiner Vorfahren,
während die Bücher um einen Euro reduziert wurden.
Keine Kriegsbemalung, kein Zelt,
keine weiten Landschaften.
Es war die Zeit der Befindlichkeiten.
Jesus war Thema.
Wer soll das verstehen.

III.
Paarungsversuche in alten Autos.
Sommer in Duisburg.
Nostalgische Geräusche inmitten
johlender extrovertierter Dilettanten.
Ein Kirchturm erbricht sich über die Ungläubigen
und strenger Wind mit einer leichten Brise von Verfall
durchlüftet meine Angst vor Identität.
Die Nachrichten werden abgesetzt.
Ist mir egal.

IV.
Die Gesellschaft erfährt von Realität.
Überrascht bildet sie Gremien und Ausschüsse.
Man fragt einen Indianer nach Werten
und verzichtet auf Antworten.
Zitate sind ungeeignet.
Eigene Programme werden veröffentlicht.
Hilde setzt sich auf einen fremden Körper
und versucht sich an Leben.
Scheitern kann befriedigend sein.

[Tula]

Hallo Cholyrika

interessanter Text! Den Vergleich der gesellschaftlichen Entwurzelung mit dem Indianer finde ich ausgesprochen originell. Das Fazit am Ende durchaus witzig und im Sinne einer Lebensphilosophie, die am Ende noch einen Sinn erbringt.

LG
Tula

[wortklang]

Grüß Dich Cholyrika,


schon der Name - cholerischer Lyriker, lyrischer Choleriker... - tut gut.

Der Text spielt mit den Rändern unserer Denkgewohnheiten, hat poetische Kraft.

Harter moderner Realismus der Desillusionierung über unsere Entfremdung, Entwurzelung, Identitäts-Angst bis zu "Scheitern kann befriedigend sein.", also not-wendige Ernüchterung ... - und gleichzeitig eine zarte Art, ganz nah am Erleben des anderen dran zu sein. In Deiner Art zu schreiben ist eine feine Menschlichkeit spürbar, die einlädt, sich der Realität zu stellen. Und die dadurch genau anders ist als das Beschriebene.

Herzlichen Gruß,
wortklang

[Cholyrika]

Ich liebe solche Texte, die mit den verschiedenen Befindlichkeiten/Menschen/Orten spielen und sich doch nicht trennen lassen vom Protagonisten.
Manchmal verirre ich mich selbst in der Aufzeichnung.
Und das komische daran ist es, dass ich einen Text DANN besser finde.


Lieben Dank fürs Lesen
und Kommentieren