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Die Typenwalze [Auszug]


 
 
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Selanna
Geschlecht:weiblichReißwolf


Beiträge: 1146
Wohnort: Süddeutschland


Beitrag12.02.2018 18:34

von Selanna
Antworten mit Zitat

Hallo Klemens,

Zitat:
Sie fühlte sich, als sei sie eingemummelt, eingewickelt in Schicht um Schicht aus dumpfem Wissen, gut geschützt

Ich sollte hier nicht auf einem kleinen Zwei-Buchstaben-Wort so lange herumreiten, ich weiß, aber ich bin wohl unverbesserlich. Sieh’s mir bitte nach.
In diesem Satz finde ich das „in“ korrekt, denn es bezieht sich mE nicht auf „Schicht um Schicht“, sondern auf das „einwickeln“, nämlich: in etwas einwickeln bzw. hier: in Wissen einwickeln.

Zitat:
aber nicht den Eindruck zu vermitteln, eine Lesart sei schlichtweg ‚falsch‘.

Keine Sorge, das hast Du nicht. Es ist auch nichts tragisch Wink Ich freue mich immer, wenn ich merke, dass meine negativen Kritikanmerkungen sich in Luft auflösen lassen.

Zitat:
ich sehe es als einen Strom – von Gedanken – der zum Strudel wird, in dem man mehr und mehr nach Fixpunkten sucht. Trotzdem hoffe ich, dass nicht der Eindruck einer ungeordneten Rede, eines Drauflosplapperns entsteht – beim letzten 10k gab es ein, zwei Texte, in denen mir diese ‚Gefahr‘ des Bewusstseinsstroms klarer wurde.

Genau, das ist gut: Ein Redefluss, Redestrom. Ein Fluss von Gedanken oder eines Monologs, der nicht abreißt. Und für Drauflosplappern wäre Deine Satzbaustruktur zu kompliziert, da sehe ich keine Gefahr.

Freut mich, wenn ich ein kleines Scherflein zum Feedback beitragen konnte. Und es freut mich auch, dass ich Dich zum Erröten gebracht habe  Wink  lol

Liebe Grüße
Selanna


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Nur ein mittelmäßiger Mensch ist immer in Hochform. - William Somerset Maugham
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Klemens_Fitte
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Wohnort: zuckerstudio waldbrunn


Beitrag12.02.2018 19:11

von Klemens_Fitte
Antworten mit Zitat

Liebe Selanna,

hallo noch mal.

Selanna hat Folgendes geschrieben:
Zitat:
Sie fühlte sich, als sei sie eingemummelt, eingewickelt in Schicht um Schicht aus dumpfem Wissen, gut geschützt


In diesem Satz finde ich das „in“ korrekt, denn es bezieht sich mE nicht auf „Schicht um Schicht“, sondern auf das „einwickeln“, nämlich: in etwas einwickeln bzw. hier: in Wissen einwickeln.


Hm … da muss ich wohl noch eine Weile drüber nachdenken. mE bezieht es sich, auch in deiner Erklärung, auf die Schicht(en). Sie ist eingewickelt in eine Schicht, in mehrere Schichten (woraus auch immer), et cetera.
Die Zeichnungen manifestieren sich analog in einem Blatt, in mehreren Blättern, in Blatt um Blatt, Version um Version … – klar, hier muss man sich das "in" ein wenig hineinbiegen, aber für mich klingt das weiterhin absolut gebräuchlich. Aber: ich kann es nicht belegen. Ich belasse es vorerst mal so, vielleicht kommt ja früher oder später jemand mit einer definitiven (Er)Klärung. Oder ich werde einfach zum Sprachpionier Cool

Selanna hat Folgendes geschrieben:
Zitat:
ich sehe es als einen Strom – von Gedanken – der zum Strudel wird, in dem man mehr und mehr nach Fixpunkten sucht. Trotzdem hoffe ich, dass nicht der Eindruck einer ungeordneten Rede, eines Drauflosplapperns entsteht – beim letzten 10k gab es ein, zwei Texte, in denen mir diese ‚Gefahr‘ des Bewusstseinsstroms klarer wurde.

Genau, das ist gut: Ein Redefluss, Redestrom. Ein Fluss von Gedanken oder eines Monologs, der nicht abreißt. Und für Drauflosplappern wäre Deine Satzbaustruktur zu kompliziert, da sehe ich keine Gefahr.


Dann bin ich erleichtert smile

*

Lieber Tlönfahrer,

wow – ein unerwarteter Besuch, aber einer, der mich ungemein freut; und ein Kommentar, den ich gar nicht weiter zerreden will, weil er dein Lesen, deine Wahrnehmung des Textes so klar in Worte fasst (und mir dabei ziemlich schmeichelt). Da sind Sätze drin, die würde ich mir gern ins imaginäre Poesiealbum kleben.

Tlönfahrer hat Folgendes geschrieben:
eine Sprache […] die sich dieser Schuld vollkommen bewusst ist.


Das hier zum Beispiel.

Danke dafür.


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100% Fitte

»Es ist illusionär, Schreiben als etwas anderes zu sehen als den Versuch zur extremen Individualisierung.« (Karl Heinz Bohrer)
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Heidi
Geschlecht:weiblichReißwolf


Beiträge: 1425
Wohnort: Hamburg
Der goldene Durchblick


Beitrag25.02.2018 01:16
Re: Die Typenwalze [Auszug]
von Heidi
Antworten mit Zitat

Hallo Klemens_Fitte,

dieser Text löst viel in mir aus; das liegt natürlich am Thema, das ich - was möglicherweise von dir ganz anders angedacht ist, von mir aber in eine bestimmte Richtung gedacht wird - recht eindeutig lese und deshalb auch recht eindeutig einiges für mich herausziehe.
Ich lese den Text durchzogen von einer zarten Melancholie. Zart deshalb, weil durch die Perspektive, aus der du erzählst, kein gänzliches Hineinsteigen von mir erwartet wird und das empfinde ich als angenehm. Ich glaube, wenn ich etwa in die Figur des Kindes vollständig hineinsteigen müsste, dann wäre das schwer zu ertragen.

Klemens_Fitte hat Folgendes geschrieben:

[…] diese zweidimensionalen Darstellungen, die sie nicht mit sich, mit ihrem Selbstbild in Übereinstimmung hätten bringen können, nicht deshalb, weil ihre Körper zu schmächtig für ihre Herzen und ihre Köpfe zu groß für ihre Gedanken gewesen seien, sondern eben aufgrund dieser Bezeichnung als »Papa« und »Mama« […]


Ich mag das Bild, das entsteht, also die Zeichnung, die ich vor mir sehe und das was dahinter steht, was die Eltern in ihrer Neugierde, die allein die Worte in ihnen auslösen, die Bezeichnungen 'Mama' und 'Papa' und als Gegenüber dieser große Kopf als Bild im Bild, mit Wissen überfüllt, vielleicht, und diese schmächtigen Körper ebenfalls als Bild im Bild, die wenig seelischen Halt bieten, möglicherweise, oder vielleicht auch ziemlich sicher. Diese Herz-und-Kopf-Thematik finde ich passend. Gelungenes Bild (um es noch mal zu wiederholen und hervorzuheben).

Klemens_Fitte hat Folgendes geschrieben:

[…] dem Kind, das bisweilen mit einem ebenso offenen wie leeren Gesicht in der Tür zum Arbeitszimmer stand, mit einem Ausdruck, in den man alle möglichen ungestellten Fragen hineinlesen konnte, denn es sprach wenig oder wenn, dann nur mit sich selbst, wenn es sich aus seinen Spielsachen oder mit Buntstiften eine eigene Wirklichkeit erschuf und dabei so ernst und verschlossen wirkte, so in sich gekehrt, als wären alle Dinge nur so weit interessant, wie sie vereinnahmt und umbenannt, in eine eigene Begrifflichkeit übersetzt werden konnten, ein Vorgang, den man zunächst amüsiert und schließlich, wenn sich die Erziehungsratschläge oder -gebote der eigenen oder befreundeter Eltern wie Moskitosummen am Ohr festsetzten, mit Sorge betrachtete, bis man mit dem Kind zum Logopäden ging, in eine Praxis im ersten Stock eines Einfamilienhauses, zu der man über eine schmale Treppe gelangte, auf der Blumentöpfe und Schuhe standen […]


Diese Stelle berührt mich sehr, weil es hier zu der Besonderheit kommt, die diesen Text für mich persönlich so dramatisch macht. Ich kann nicht anders, aber ich lese hier von einem autistischen Kind. Gut möglich, dass der Inhalt von dir anders gemeint ist, aber ich sehe hier einen Autisten oder eine Autistin, in der eigenen Welt lebend. Keine Erziehung greift, die Eltern finden schwer Zugang. Und dann der leere Ausdruck im Gesicht, in den alle Fragen reinpassen, das finde ich als Bild spannend, wenn ich es so lese, wie ich es lese. Dieses Kind, das im Inneren ausgefüllt ist von Empfindungen, Erlebnissen, die es nicht nach außen tragen bzw. kommunizieren kann bzw. seine eigene Form der Kommunikation benutzt, benutzen muss, zu der sich die Außenwelt auf irgendeine Weise Zugang verschaffen sollte, was in diesem Fall misslingt; dieses Kind, das die Welt in sich bunt gestaltet, auch mit Stift auf Papier und dann dieser Nicht-Ausdruck im Gesicht, der viel deutlicher zur Wunde werden kann, gerade weil er von außen eventuell nicht richtig gedeutet wird.

Klemens_Fitte hat Folgendes geschrieben:

[…] und wo das Kind mit einem Korken im Mund sprechen, Worte formen musste, als würde eine körperliche Ursache hinter seiner Weigerung stecken, die Dinge beim Namen zu nennen, und wo man Auskunft über Alter und Entwicklungsstand des Kindes gab, dabei sich oder dem Logopäden eingestand, noch nie zuvor so viel und so intensiv über das Kind gesprochen oder nachgedacht, es noch nie so aufmerksam oder eindringlich beobachtet zu haben […]


Die Eltern kommen nicht gut weg, was wiederum gegen Autismus spricht, weil die Eltern eines autistischen Kindes, egal ob sie wollen oder nicht, zum intensiven Beobachten gezwungen werden und der Entwicklungsstand noch vor dem Kindergarten ebenfalls intensiv im Gespräch ist und bleibt.
Aber die Realität muss sich mit dem, was ein Text ausdrücken will, nicht unbedingt decken, gerade weil durch die 'Veränderung' einer eher realistischen Betrachtung in eine spezielle, eigene, wiederum ein deutlicher Ausdruck gefunden werden kann, der sich ansonsten eventuell nicht abbilden könnte.
Ich schreibe das auch eher als Frage an mich selbst, ob ich etwas in den Text hineinlese, hineinlesen will, was möglicherweise nicht in ihm steckt. Andererseits geht es doch gerade darum, in einem Text das zu finden, was man finden muss. Insofern hast du alles richtig gemacht (und ich hoffentlich auch).

Die traurige Stimmung, die der Text vermittelt, wird noch eine Weile nachwirken.

Klingtvoll

Heidi

Edit: Ich wollte ergänzen, dass ein Entgegen-Autismus, über das ich unter dem letzten Zitat schrieb, nicht am Nicht-gut-wegkommen der Eltern liegt, sondern an deren Verhalten, dem Kind gegenüber. So kurz nach Mitternacht war meine Denkkraft schon etwas angeschlagen. Embarassed
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Klemens_Fitte
Geschlecht:männlichSpreu

Alter: 41
Beiträge: 2934
Wohnort: zuckerstudio waldbrunn


Beitrag27.02.2018 12:59
Re: Die Typenwalze [Auszug]
von Klemens_Fitte
Antworten mit Zitat

Hallo Heidi,

jetzt komme ich endlich dazu, dir zu antworten. Zunächst: vielen Dank für deinen Kommentar.

Heidi hat Folgendes geschrieben:
Hallo Klemens_Fitte,

dieser Text löst viel in mir aus; das liegt natürlich am Thema, das ich - was möglicherweise von dir ganz anders angedacht ist, von mir aber in eine bestimmte Richtung gedacht wird - recht eindeutig lese und deshalb auch recht eindeutig einiges für mich herausziehe.


Das mit dem "angedacht" ist gar nicht so leicht zu beantworten, einfach aus dem Grund, weil ich in diesem Text nicht plane, kein detailliertes Konzept oder einen Plot habe, sondern beim Schreiben einfach schaue, wohin mich der nächste Gedanke, die nächste Assoziation führt. Und natürlich forme ich die Überarbeitungen mit dem Wissen um das, was ich bereits geschrieben habe, aber im Grunde geht es mir schon darum, den Text für verschiedene Lesarten offen zu halten.

Heidi hat Folgendes geschrieben:
Ich lese den Text durchzogen von einer zarten Melancholie. Zart deshalb, weil durch die Perspektive, aus der du erzählst, kein gänzliches Hineinsteigen von mir erwartet wird und das empfinde ich als angenehm. Ich glaube, wenn ich etwa in die Figur des Kindes vollständig hineinsteigen müsste, dann wäre das schwer zu ertragen.


Ich glaube auch nicht, dass es mir überhaupt möglich wäre, diese Perspektive des Kindes im Schreiben zu erreichen.

Heidi hat Folgendes geschrieben:
Klemens_Fitte hat Folgendes geschrieben:

[…] diese zweidimensionalen Darstellungen, die sie nicht mit sich, mit ihrem Selbstbild in Übereinstimmung hätten bringen können, nicht deshalb, weil ihre Körper zu schmächtig für ihre Herzen und ihre Köpfe zu groß für ihre Gedanken gewesen seien, sondern eben aufgrund dieser Bezeichnung als »Papa« und »Mama« […]


Ich mag das Bild, das entsteht, also die Zeichnung, die ich vor mir sehe und das was dahinter steht, was die Eltern in ihrer Neugierde, die allein die Worte in ihnen auslösen, die Bezeichnungen 'Mama' und 'Papa' und als Gegenüber dieser große Kopf als Bild im Bild, mit Wissen überfüllt, vielleicht, und diese schmächtigen Körper ebenfalls als Bild im Bild, die wenig seelischen Halt bieten, möglicherweise, oder vielleicht auch ziemlich sicher. Diese Herz-und-Kopf-Thematik finde ich passend. Gelungenes Bild (um es noch mal zu wiederholen und hervorzuheben).


Dankeschön.

Heidi hat Folgendes geschrieben:
Klemens_Fitte hat Folgendes geschrieben:

[…] dem Kind, das bisweilen mit einem ebenso offenen wie leeren Gesicht in der Tür zum Arbeitszimmer stand, mit einem Ausdruck, in den man alle möglichen ungestellten Fragen hineinlesen konnte, denn es sprach wenig oder wenn, dann nur mit sich selbst, wenn es sich aus seinen Spielsachen oder mit Buntstiften eine eigene Wirklichkeit erschuf und dabei so ernst und verschlossen wirkte, so in sich gekehrt, als wären alle Dinge nur so weit interessant, wie sie vereinnahmt und umbenannt, in eine eigene Begrifflichkeit übersetzt werden konnten, ein Vorgang, den man zunächst amüsiert und schließlich, wenn sich die Erziehungsratschläge oder -gebote der eigenen oder befreundeter Eltern wie Moskitosummen am Ohr festsetzten, mit Sorge betrachtete, bis man mit dem Kind zum Logopäden ging, in eine Praxis im ersten Stock eines Einfamilienhauses, zu der man über eine schmale Treppe gelangte, auf der Blumentöpfe und Schuhe standen […]


Diese Stelle berührt mich sehr, weil es hier zu der Besonderheit kommt, die diesen Text für mich persönlich so dramatisch macht. Ich kann nicht anders, aber ich lese hier von einem autistischen Kind. Gut möglich, dass der Inhalt von dir anders gemeint ist, aber ich sehe hier einen Autisten oder eine Autistin, in der eigenen Welt lebend. Keine Erziehung greift, die Eltern finden schwer Zugang. Und dann der leere Ausdruck im Gesicht, in den alle Fragen reinpassen, das finde ich als Bild spannend, wenn ich es so lese, wie ich es lese. Dieses Kind, das im Inneren ausgefüllt ist von Empfindungen, Erlebnissen, die es nicht nach außen tragen bzw. kommunizieren kann bzw. seine eigene Form der Kommunikation benutzt, benutzen muss, zu der sich die Außenwelt auf irgendeine Weise Zugang verschaffen sollte, was in diesem Fall misslingt; dieses Kind, das die Welt in sich bunt gestaltet, auch mit Stift auf Papier und dann dieser Nicht-Ausdruck im Gesicht, der viel deutlicher zur Wunde werden kann, gerade weil er von außen eventuell nicht richtig gedeutet wird.


Ob es von mir anders gemeint war … s.o. Ich würde mir zumindest nicht anmaßen, einen Text über ein autistisches Kind zu schreiben, dazu habe ich viel zu wenig Wissen und Erfahrung mit dem Thema. Für mich – beim Lesen – stellt sich auch immer noch die Frage, ob wir es hier, mit dem leeren Gesicht bspw., tatsächlich mit mehr als einem Erinnerungsbild zu tun haben, das allein dadurch, dass es ausgelöst und in eine Abfolge von Gedanken oder Betrachtungen eingebettet wird, eine Verfälschung erfährt. Ich denke auch, diese Erziehungsratschläge, das Hinterfragen der Kommunikation mit dem Kind von außen kennt jeder, der Kinder hat.

Heidi hat Folgendes geschrieben:
Klemens_Fitte hat Folgendes geschrieben:

[…] und wo das Kind mit einem Korken im Mund sprechen, Worte formen musste, als würde eine körperliche Ursache hinter seiner Weigerung stecken, die Dinge beim Namen zu nennen, und wo man Auskunft über Alter und Entwicklungsstand des Kindes gab, dabei sich oder dem Logopäden eingestand, noch nie zuvor so viel und so intensiv über das Kind gesprochen oder nachgedacht, es noch nie so aufmerksam oder eindringlich beobachtet zu haben […]


Die Eltern kommen nicht gut weg, was wiederum gegen Autismus spricht, weil die Eltern eines autistischen Kindes, egal ob sie wollen oder nicht, zum intensiven Beobachten gezwungen werden und der Entwicklungsstand noch vor dem Kindergarten ebenfalls intensiv im Gespräch ist und bleibt.


Auch da ist für mich wieder die Frage, woher diese Aussage der Eltern kommt; ob sie wirklich getroffen oder ihnen nachträglich in den Mund gelegt wurde. Ob es eine Aussage gab, die etwas anderes besagte, aber falsch verstanden wurde o.ä.

Heidi hat Folgendes geschrieben:
Aber die Realität muss sich mit dem, was ein Text ausdrücken will, nicht unbedingt decken, gerade weil durch die 'Veränderung' einer eher realistischen Betrachtung in eine spezielle, eigene, wiederum ein deutlicher Ausdruck gefunden werden kann, der sich ansonsten eventuell nicht abbilden könnte.


Das fasst meinen Standpunkt, glaube ich, sehr treffend zusammen.

Heidi hat Folgendes geschrieben:
Ich schreibe das auch eher als Frage an mich selbst, ob ich etwas in den Text hineinlese, hineinlesen will, was möglicherweise nicht in ihm steckt. Andererseits geht es doch gerade darum, in einem Text das zu finden, was man finden muss. Insofern hast du alles richtig gemacht (und ich hoffentlich auch).


Ich sehe in deiner Lesart jedenfalls keine, die ich dem Text absprechen würde. Und was kann ich mir mehr wünschen, als etwas auszulösen?

Liebe Grüße,
Klemens

Heidi hat Folgendes geschrieben:
Edit: Ich wollte ergänzen, dass ein Entgegen-Autismus, über das ich unter dem letzten Zitat schrieb, nicht am Nicht-gut-wegkommen der Eltern liegt, sondern an deren Verhalten, dem Kind gegenüber. So kurz nach Mitternacht war meine Denkkraft schon etwas angeschlagen. Embarassed


Sehe das Edit erst jetzt, hatte es aber schon so verstanden, wie gemeint smile


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Klemens_Fitte
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Beitrag05.06.2018 09:49

von Klemens_Fitte
Antworten mit Zitat

[…]

Ein Anfang ließe sich finden in der Mattscheibe eines alten Röhrenfernsehers, der selbst nur als Erinnerung oder als Vorstellung existierte, oder als poetisch verkürztes Bild eines Daseins, das sich nur unmerklich aus der Flachheit des Banalen herauswölbte, ein Dasein, das mit morgendlichen Zeichentrickfilmen begonnen habe und abends mit der Tagesschau in die Erkenntnis vom Schrecken und Grauen der Welt da draußen gefallen sei, in der die Wünsche und Vorstellungen eines Kindes nichts mehr galten, auf eine derart endgültige und offensichtliche Weise nichts mehr galten, dass es geradezu absurd schien, etwas anderes vorzutäuschen, und so hattest du noch Jahre später einen Knoten im Hals verspürt, eine plötzliche Enge in der Brust, wenn du auf der Straße, im Supermarkt, beim Bahnfahren ein Kind gesehen hattest, in einer mit bunten Figuren verzierten Jacke, ein Plüschtier oder eine Puppe im Arm, als wäre diese Welt, durch die sich das Kind gezwungenermaßen bewegte, vereinbar mit einer, in der es Plüschtiere gab, Einhörner, Teddybären, Feen und Elfen, lächelnde Mond- und Sonnengesichter, als wäre das Gefühl der Geborgenheit und Sorglosigkeit, das diese Figuren vorzutäuschen vermochten, von Dauer, und als wäre es nicht zum Verzweifeln und Haareraufen, ein Kind mit Teddybären und lächelnden Sonnengesichtern zu umgeben, wenn sich die Welt da draußen keinen Deut darum scherte, weder um Teddybären und Einhörner noch um das Kind, und wie grausam und herzzerreißend müsse es sein, diese Illusion aufrechtzuerhalten, schon in dem Augenblick, wenn man das Kind einkleide oder es in einen Kinderwagen setze, zwischen Herzen und Sonnen, zwischen Einhörner und Regenbögen, wenn man sich selbst damit unweigerlich zu einem Teil dieser Täuschungs- und Betrugsmaschinerie mache, denn früher oder später, hattest du dir gesagt, werde das Kind zwangsläufig allein sein, einer Welt gegenüber, für die es keine Relevanz habe, eine Welt ohne lächelnde Sonnen- und Mondgesichter, in der keine Plüschtiere mehr existierten oder die, die es noch gebe, keine Qualität einer erinnerten Berührung mehr zurückbehielten, keine Empfindung von Trost oder Schutz boten und nicht mehr waren als lieblos fabrizierte und vervielfältigte Ware, die noch in Jahrhunderten die Erde und die Ozeane verpesten würde, wenn alle damit verbundenen kurzlebigen Glücksgefühle längst vergessen wären, so dass es dem Kind geradezu hirnrissig oder beschämend scheinen würde, einst so viel Vertrauen und Liebe in sie hineingelegt zu haben, und was es in seiner Sehnsucht nach Geborgenheit und Sorglosigkeit zum Überleben brauche, das müsse es sich mühsam aus dem Gewebe einer ebenso fremdartigen wie gleichgültigen Welt herauslösen, sich daraus das trügerische Gerüst eines tragfähigen Welt- und Selbstbilds zusammenzimmern, das jederzeit ins Wanken geraten oder gänzlich in sich und über ihm zusammenbrechen könnte, und dann wäre das Kind nicht mehr, oder wenn, dann kein Kind mehr, und der einzige Trost bestünde im Nachsprechen der Lüge, es sei das Glück und die Bestimmung des Menschen, erwachsen zu werden, zu einem Individuum, das fest und sicher in der Welt stehe – während doch in Wirklichkeit mit »fest« und »sicher« nichts anderes gemeint sei als »allein«, weil jeder Prozess der Individualisierung ein Abgrenzen sei und das Kappen der Fäden, die einen einst mit dem Unsichtbaren verbunden hätten; und wenn da kein Kind mehr gewesen sei, dann sei nur folgerichtig, dass er es nie gemeint und gesehen habe, weil jede Menschwerdung von außen nicht greif-, sondern lediglich erlebbar sei, Tag für Tag, in einem Zustand, in dem es Unaufmerksamkeit gebe, Monotonie, Ernüchterung oder Langeweile – und dann saß man Tag um Tag in einem Sessel im Wohnzimmer und sah dem Kind zu, wie es griff und dachte, was in seiner Reichweite lag, und womöglich legte man in dieses träge Greifen und Begreifen des Kindes eine Melancholie hinein, die sich ebenso weit ausdehnte wie die gemeinsamen Tage, wie der Zeitraum, bis das Kind zum ersten Mal das Haus verlassen, den Kindergarten besuchen müsste, eine Spanne, die sich mit jedem Tag weiter in die Ferne zu strecken schien, bis man schließlich nicht mehr in Tagen, in Wochen und Monaten dachte, sondern im Rhythmus der Natur, von Blühen und Vergehen, von Jahreszeiten, von Pflanzen, Bäumen, die man hätte setzen und beschneiden, von Früchten, die man hätte ernten können, hätte sich das Haus nach hinten auf einen Garten geöffnet, und dann hätte man das Kind nach draußen führen und ihm den beständigen Mechanismus von Wiederholung und Auslöschung begreifbar machen können, man hätte gemeinsam mit dem Kind einen Begriff von der Welt formulieren können, aber weil man keinen Garten hatte, sondern nur dieses Zimmer, blieb die Natur etwas, an dem man nicht teilnahm, das man nicht gestaltete, sondern das man lediglich erduldete, wenn die Tage zu kurz und zu dunkel waren, zu regnerisch, zu kalt oder zu heiß, wenn die Sonne zu hell und schmerzhaft ins Zimmer stach oder wenn es unsinnig schien, zu einer verabredeten Zeit zu Bett zu gehen, weil sich auf dem Stoff der Vorhänge noch der Tag abbildete und das Verstreichen von Minuten und Stunden nichts weiter als eine Illusion schien, ein mechanisches Gaukelspiel, das immer unsinniger wurde, je weiter das Dasein mit dem Kind in eine Verlangsamung foranschritt, bis die Zeit stehenzubleiben schien, wenn man das Kind betrachtete und meinte, eine leise Melancholie ströme aus ihm, ein Aus- oder Eindruck, den man sich selbst aus der immer weiter um sich greifenden Stille und Sprachlosigkeit im Zimmer destillierte, aus der eigenen Ernüchterung darüber, dass man lediglich zu, nicht aber mit dem Kind reden konnte, dass es keinerlei Grundlage für eine Verständigung gab, keine Gemeinsamkeit, sondern lediglich die oberflächlichste Verbindung einer gleichzeitigen Anwesenheit im Raum, einer Zeit, die man teilte, in Augenblicke, Minuten, Stunden zwischen Aufwachen und Einschlafen, so oft, bis sie völlig zerstückelt war und sich nicht mehr zu einem Fortschreiten zusammensetzen ließ, wie auch jeder Eindruck, den man sich vom Wesen oder von der Menschwerdung des Kindes zu machen versuchte, ein Fragment blieb, sich nicht in das Gewebe einer Entwicklung fügen ließ, und bis alles, was die Schilderungen und Weisheiten befreundeter Eltern im eigenen Denken abgelegt hatten, gehüllt in einen Kokon aus Unwissenheit und blinder Zuversicht, sich schließlich als schöne, aber fragile Schmetterlingsideen entpuppte, die in der Schweigsamkeit und Kälte des Zimmers unweigerlich vergingen –


Teil 1 von 2

« Was vorher geschah12345678910
Wie es weitergeht »



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Aranka
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Beitrag05.06.2018 11:06

von Aranka
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Klemens, ich bin beeindruckt!

Nein, es sind nicht die Lieblingsstellen, es ist die Gesamtheit, die mich einfängt: die spärlichen Bilder, die aufblitzen und bei mir anknüpfen, die Wiederholungen in ihrer Eindringlichkeit, die ineinandergreifenden Gedanken in ihrer Endlosbewegung, die wunderbare Sprache und Rhythmik, die mich ohne Punkt immer weiter und tiefer mitnimmt, ohne mich zu treiben, die mir Halte- und Atempunkte lässt und Rückgriffe setzt, um mich neu zu verankern.
Ein Text, der mich beim ersten Lesen nicht innehalten ließ, sondern weiter und weiter mitnahm in seine Gedankenschleifen, der mich hinausschickte und gleichzeitig in einem Zimmer blieb, indem Zeit und Verlangsamung, Stille und Sprachlosigkeit spürbar wurde. Er führte mich bis ins letzte Wort, um mich wieder neu beginnen zu lassen.

Jetzt, nach mehrfachem Lesen beginnen meine Gedanken zu treiben, sich aus dem Zimmer wegzubewegen in eigene Räume, kleine Fundstücke dorthin mitnehmend.

So sollte Literatur sein! Danke für die gute Lesestunde. Aranka


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Klemens_Fitte
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Beitrag05.06.2018 17:08

von Klemens_Fitte
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Oh. Hallo Aranka.

Mit einer derart prompten Reaktion hatte ich gar nicht gerechnet; schließlich wirkt die Präsentation des Textes trotz aller Formatierungsbemühungen im Forum immer noch sehr abschreckend.

Umso mehr freut mich deine Rückmeldung und das darin enthaltene Lob. Vielen Dank.

Einen Aspekt würde ich gerne herausgreifen:

Aranka hat Folgendes geschrieben:
Nein, es sind nicht die Lieblingsstellen, es ist die Gesamtheit, die mich einfängt


Das ist etwas, das mich beschäftigt, seit ich mit dieser Erzählung begonnen habe. Zuvor hatte ich in meinem Blogprojekt Ekel und Ekstase ja mit kurzen, skizzenhaften Texten gearbeitet, Fragmente, die zumeist von ihren sehr direkten, teilweise schroff aneinander gesetzten Bildern lebten. Die Typenwalze funktioniert da auch in meiner Wahrnehmung anders, es ist ein Lesen, das vom einen zum anderen fließt, was immer die Gefahr einer Eintönigkeit oder Gleichförmigkeit birgt, oder dass einzelne Stellen im Lesen untergehen; zumindest habe ich oft diese Befürchtung, wenn ich Prosa von anderen Autoren lese und deren Fähigkeit zu knappen, aussagekräftigen Bildern bewundere.

Schön aber, wenn du aus der Lektüre etwas mitnehmen konntest.

Ich denke, ich werde morgen früh den zweiten Teil einstellen.


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Aranka
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A
Beitrag05.06.2018 19:08

von Aranka
Antworten mit Zitat

Klemens, noch mal ganz kurz:

Zitat:
Die Typenwalze funktioniert da auch in meiner Wahrnehmung anders, es ist ein Lesen, das vom einen zum anderen fließt, was immer die Gefahr einer Eintönigkeit oder Gleichförmigkeit birgt, oder dass einzelne Stellen im Lesen untergehen; zumindest habe ich oft diese Befürchtung, wenn ich Prosa von anderen Autoren lese und deren Fähigkeit zu knappen, aussagekräftigen Bildern bewundere.


Form, Stil und Inhalt müssen immer passen: wenn hier kräftige Bilder notwendig wären, hättest du sie gefunden und gesetzt.

Die "knappen" Bilder oder besser die wenigen Konkretheiten und Bilder, die notwendig sind, um mit den Gedanken anzudocken, die Bilder, die sich um das Kind gruppieren, die hast du einfließen lassen. Das Kind mit seinen Tieren, das Entkleiden des Kindes, das Zuschauen wenn es greift und begreift, seine ersten Schritte aus dem Haus: all das reicht, um mit dem Text mitzugehen.

Ich kann nur meine Sicht weitergeben und für mich läuft der Text keine Gefahr eintönig zu werden. Er hat ein wunderbares ruhiges Erzählen gefunden. Er lässt sich Zeit, bei den einzelnen Gedanken zu verweilen, sie Stück für Stück zu erweitern und zu ergänzen. Ich mag so ein "Erzählen" gern.

Zitat:
ein Dasein, das mit morgendlichen Zeichentrickfilmen begonnen habe und abends mit der Tagesschau in die Erkenntnis vom Schrecken und Grauen der Welt da draußen gefallen sei, in der die Wünsche und Vorstellungen eines Kindes nichts mehr galten, auf eine derart endgültige und offensichtliche Weise nichts mehr galten, dass es geradezu absurd schien, etwas anderes vorzutäuschen, und so hattest du noch Jahre später einen Knoten im Hals verspürt, eine plötzliche Enge in der Brust, wenn du auf der Straße, im Supermarkt, beim Bahnfahren ein Kind gesehen hattest, in einer mit bunten Figuren verzierten Jacke, ein Plüschtier oder eine Puppe im Arm, als wäre diese Welt, durch die sich das Kind gezwungenermaßen bewegte, vereinbar mit einer, in der es Plüschtiere gab, Einhörner, Teddybären, Feen und Elfen,


Ich habe mal eine Stelle herausgegriffen, könnte aber jede andere auch nehmen: habe mal blau gemacht, wo für mich der Text stehen bleibt und bereits Gesagtes verstärkt oder weitet. Die Wiederholungen und das Aufgreifen der "Tiere" um das Kind, hat etwas sehr Dichtes und Wirkungsvolles und bremst den Leser etwas aus, was ich gut finde.

Das etwas überlesen wird, das kann schon sein, da hier ein Gedanke den anderen ablöst und der Text mich in seiner Intensität schon mitnimmt und nicht von der Leine lässt. Aber ich musste den Text gleich ein zweites Mal lesen, da er, verzeih in diesem Text das Wort, "spannend" war. Und beim zweiten Lesen habe ich dann meine Pausen gesetzt.

Ich kann eine Menge Gedanken mitnehmen, habe ich doch nicht nur drei eigenen Kindern und jetzt zwei Enkelkindern beim Wachsen und "Welterobern" zuschauen dürfen und auch bei den wohl damit verbundenen Verlusten.


Zitat:
oder wenn, dann kein Kind mehr, und der einzige Trost bestünde im Nachsprechen der Lüge, es sei das Glück und die Bestimmung des Menschen, erwachsen zu werden, zu einem Individuum, das fest und sicher in der Welt stehe – während doch in Wirklichkeit mit »fest« und »sicher« nichts anderes gemeint sei als »allein«, weil jeder Prozess der Individualisierung ein Abgrenzen sei und das Kappen der Fäden, die einen einst mit dem Unsichtbaren verbunden hätten;


Ich fühle mich keineswegs fremd in den Textgedanken.

Bis dann. Aranka


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Klemens_Fitte
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Beitrag05.06.2018 21:38

von Klemens_Fitte
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Und ein erneutes Danke für deinen erneuten Besuch.

Hier

Aranka hat Folgendes geschrieben:
Form, Stil und Inhalt müssen immer passen


stimme ich dir absolut zu. Ich würde sogar sagen: eine bestimmte Form oder ein bestimmter Stil bedingen den Inhalt, denn eine Entscheidung dafür, wie man etwas sagt, legt auch fest, was man überhaupt sagen kann – und umgekehrt. Wenn das, was ich erzählen wollte, diese Form und diesen Stil gefunden hat, dann finden sich Form und Stil auch ihre Inhalte. Und wenn diese Verbindung hier für dich passt, ist das doch schon mal eine erfreuliche Rückmeldung.

Aranka hat Folgendes geschrieben:
Die "knappen" Bilder oder besser die wenigen Konkretheiten und Bilder, die notwendig sind, um mit den Gedanken anzudocken, die Bilder, die sich um das Kind gruppieren, die hast du einfließen lassen. Das Kind mit seinen Tieren, das Entkleiden des Kindes, das Zuschauen wenn es greift und begreift, seine ersten Schritte aus dem Haus: all das reicht, um mit dem Text mitzugehen.


Das "Entkleiden" ist ein gutes Stichwort; auf die gesamte Erzählung bezogen, geht es mir schon darum, nicht nur den Gegenstand, sondern auch das Erzählen weitgehend zu entkleiden, bis nur das Notwendigste an Konkretheit zurückbleibt, weil alles darüber hinaus – aus der Argumentation des Textes gesehen – eine Fiktionalisierung wäre, die der Text sich bewusst, wenn auch vergeblich, versagt.

Aranka hat Folgendes geschrieben:
Aber ich musste den Text gleich ein zweites Mal lesen, da er, verzeih in diesem Text das Wort, "spannend" war. Und beim zweiten Lesen habe ich dann meine Pausen gesetzt.


Ich habe kein Problem mit "spannend", im Gegenteil, ich freue mich darüber.

Aranka hat Folgendes geschrieben:
Ich kann eine Menge Gedanken mitnehmen, habe ich doch nicht nur drei eigenen Kindern und jetzt zwei Enkelkindern beim Wachsen und "Welterobern" zuschauen dürfen und auch bei den wohl damit verbundenen Verlusten.


Zitat:
oder wenn, dann kein Kind mehr, und der einzige Trost bestünde im Nachsprechen der Lüge, es sei das Glück und die Bestimmung des Menschen, erwachsen zu werden, zu einem Individuum, das fest und sicher in der Welt stehe – während doch in Wirklichkeit mit »fest« und »sicher« nichts anderes gemeint sei als »allein«, weil jeder Prozess der Individualisierung ein Abgrenzen sei und das Kappen der Fäden, die einen einst mit dem Unsichtbaren verbunden hätten;


Ich fühle mich keineswegs fremd in den Textgedanken.


Auch das freut mich, andererseits bin ich jetzt durchaus gespannt, wie sich das beim folgenden zweiten Teil verhalten, der mE eher zum Widerspruch und zur Abgrenzung auffordert; zumindest würde ich mir das wünschen.


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Klemens_Fitte
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Beitrag06.06.2018 09:31

von Klemens_Fitte
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Teil 2 von 2

[…]

– und dann befand man sich allein mit dem Kind in diesem Zimmer und stellte fest, dass man nicht auf die Entzauberung des Alltags gefasst gewesen war, auf das allmähliche Austrocknen und Ausbleichen der eigenen Lebenswirklichkeit, in der alles immer mehr auf der Stelle trat, die das Kind einnahm, sich alles immer mehr auf den Wortschatz und den Horizont des Kindes verengte, als wäre das Kind nichts weiter als ein Ding, das in dem Moment, in dem es die ihm zugewiesene Stelle besetzt hatte, das Maß seiner Möglichkeiten und Potentiale ausgeschöpft hatte, weil es für eine Menschwerdung nichts weiter brauchte als eine Geburt, und je länger man das Kind betrachtete, desto weiter rundete sich das Bild ab, das man sich von ihm und seiner Existenz machte, bis es so glatt geworden war, dass man daran abrutschte – die existenzielle Furcht, die das Dasein mit diesem Kind in einem auslöste und die immer weiter um sich griff, je mehr die Tage auf der Stelle traten; die immer dichter wurde, wie die gespannte Stille vor dem Sturm oder wie in der Ankündigung eines unausweichlichen Unglücks, auf das dieses Dasein mit dem Kind zusteuerte, und womöglich nahm es ähnliches wahr, wenn es mit unverrückbarem Blick ins Zimmer starrte oder auf die Fenster hin, wenn es reglos auf dem Boden saß oder unvermittelt im Türrahmen stand, einen anblickte, als wüsste es um etwas und fände keine Worte, es auszusprechen, oder nicht den Mut dazu, und dann verging dieser Augenblick wie all die anderen zuvor und hinterließ nichts weiter als die Gewissheit, in einer schicksalhaften Verbindung zu leben, die aufzulösen dem Kind vorbehalten sei, an dem Tag, an dem es aus der Haustür treten und einen mit den Überresten seines gelebten Lebens zurücklassen, in ein Dasein übergehen würde, von dem man sich noch keine Vorstellung machte, wie man sich von nichts eine Vorstellung machte: von dem, was das Kind an diesem Tag in die Welt hinaustragen würde, in ein Leben, in dem dieses Zimmer nichts weiter wäre als die Dunkelkammer, in der sich sein Selbstbild entwickelt hatte, oder nicht einmal das, lediglich noch der Fundort längst vergessener oder unbedeutend gewordener Erinnerungsbilder, mit denen es nichts mehr anzufangen wusste und die man dennoch gewissenhaft aufbewahrte, in der Hoffnung, sie später einmal mit dem Kind teilen, daraus das Fundament eines Verständnisses schaffen zu können, einer Sprache, in der sich in diesem fremden Menschen, der aus der Welt zurückgekehrt wäre, das Kind offenbaren könnte, unter Schicht um Schicht von Veränderung und Entwöhnung, in einzelnen Wörtern oder Flexionen der Aussprache, in kaum merklichen Eigenarten der Gestik und Mimik, an die man seine eigene Ausdrucksweise in der einstmals vertrauten Berührung legen könnte, und noch während man sich diesen Moment der Rückkehr vorstellte, betrachtete man das Kind und sagte sich, es gebe nichts an ihm, das man wiedererkennen würde – eine Aussage, die gedacht, getroffen war, noch ehe man realisierte, dass man dem Kind damit die Identität absprach; aber was sollte das Kind auch anfangen mit einer Identität, mit etwas, das einem selbst zumeist unbegreiflich und erschreckend schien, weil es absurder- und grausamerweise weit über das Maß der eigenen Möglichkeiten und Vorstellungen hinausging, diese himmelschreiend tragische Situation, dass man selbst weit über das hinausreichte, was man erfassen konnte, und wie tröstlich, dachte man sich, müsse es sein, nur das zu greifen und für wirklich zu halten, was innerhalb der eigenen Reichweite liege, sich in einer Welt zu bewegen, die sich ganz von selbst auf die Grenzen der eigenen Wahrnehmung verengte, und als wäre mit diesem Gedanken ein Spreißel ins Gewebe des eigenen Herzens geraten, zog es sich beim Anblick des Kindes bisweilen schmerzhaft zusammen, verhärtete sich kurzzeitig in einen Klumpen aus Neid und löste sich gleich darauf wieder in einen Ausdruck der Scham, ein Vorgang, der sich mehrmals am Tag wiederholen konnte, so dass man sich früher oder später für einen ganz und gar unmöglichen Menschen hielt, untauglich, ein Kind anvertraut zu bekommen, wie man sich sagte, denn was meinte dieses Anvertrauen anderes als: die Last einer menschlichen Liebe aufgebürdet zu bekommen, der man nicht entsprach, weil das Kind eben liebte, was innerhalb seiner Reichweite lag, weil es nicht wissen konnte, ob der Mensch, den es liebte, es wert war oder es überhaupt ertrug, geliebt zu werden, weil aus der bedingungslosen Liebe des Kindes Bedingungen folgten, zumindest die, dieser Liebe gerecht zu werden, indem man sich vergaß, die eigenen Mängel und somit die eigene Identität leugnete, so lange und gründlich, bis man zu einem Menschen wurde, der fähig war zu lieben, und sei es auch nur in den Rissen und Spalten, die man nach und nach in der schützenden Hülle des eigenen Selbstverständnisses öffnete, wenn man sich an den Ecken und Kanten der täglichen Pflichten leckschlug, in der Hoffnung, es könnte genug an Empfindungen, an Fürsorge und Wärme aus einem fließen, um ein Bedürfnis des Kindes zu stillen, hinter dem nichts weiter lag, keine Ambitionen, keine Träume, keine Welt, keine zu gehenden Wege, kurz: keine Zukunft, die man dem Kind schuldig wäre oder die man ihm ermöglichen müsste, indem man sie sich selbst versagte, wie das Kind in jedem dieser Szenarien, die man in seine Zukunft hineindachte, allein war, auf sich gestellt, womöglich, weil man sich selbst lediglich als den Anker zu denken vermochte, der es am Fortkommen hinderte – und so blieb einem nichts anderes, als die Zukunft des Kindes an einen fernen Horizont zu setzen, dorthin, wo sich Himmel und Wasser berührten und kein fester Punkt mehr auszumachen war, und wenn man kein Teil dieser Zukunft war, dann konnte man sich auch keine Vorstellung davon machen, und weil man sich keine Vorstellung davon machen konnte, schien jede Erziehung unsinnig oder war, im besten Fall, eine Ansammlung von fragwürdigen Entscheidungen, und während man sich dessen mehr und mehr bewusst wurde, wurde einem das ungestörte Zusammensein mit dem Kind unerträglich, die Aufmerksamkeit, die man ihm widmete und die letztendlich nichts weiter war als eine beständige nervöse Anspannung, die sich bisweilen in einem Erschrecken darüber entlud, dass sich das Kind erneut verändert hatte, dass sich die Einkerbungen neuer Ideen und Empfindungen an ihm zeigten, deren Ursprung einem unerklärlich war und dennoch als das Resultat der eigenen Entscheidungen und Einflussnahmen erschien, als ließe sich die Erziehung und das Formen eines Menschen lediglich in dem Gedanken fassen: dass man ein Holz mit Schnitzeisen und Klüpfel bearbeitete, während es noch wuchs und ohne dass man sah, wie seine Struktur beschaffen war, oder wenn man es sah, dann war es bereits zu spät, weil der Schlag schon ausgeführt und das Eisen schon zwischen die Fasern getrieben war, weil man das Formen eines Menschen nicht als das Hinzufügen, sondern lediglich als das Abspalten von Material zu denken vermochte, weil jede Menschwerdung die Geschichte eines Verlusts erzählte, in der Schlag um Schlag aus dem Körper unbegrenzter Möglichkeiten ein vermeintlicher Kern geformt wurde, ein Gebilde, das ebenso einzigartig wie ungenügend war, weil es für den, der sich fremd fühlte, kein Trost war, sich selbst zu genügen, und all diese Unzulänglichkeiten wären das, was man an der sogenannten Menschwerdung des Kindes verbrochen oder ihm schon mit seiner Geburt als Erbe eigener Mängel aufgelastet hätte, als dasjenige, das einen untauglich dafür machte, ein Kind zu zeugen oder aufzuziehen, und so war es wenig verwunderlich, dass man das Kind mit einer steten Anspannung und wachsendem Argwohn betrachtete, nur auf den Moment wartete, in dem sich das nächste Symptom einer Lebensuntauglichkeit an ihm zeigen würde, und stattdessen zeigte sich nichts an diesem Kind, blieb es stumm und kühl wie das Zimmer, in dem man sich befand, so dass man sich bisweilen vorstellte, wie man das Kind packte und zur Haustür zog, nach draußen, auf die Gasse, zum Dorf- oder Spielplatz, zwischen andere Kinder, unter andere Eltern, und es damit konfrontierte, dass es hinter der Haustür eine Welt gab, die sein Schweigen und seine Apathie, seinen Gleichmut nicht tolerieren würde, die auf das Gefüge seines inerten Wesens einschlagen würde, und womöglich würde man sich in diesem Augenblick wünschen, das Kind könnte daran verletzt werden, weil es menschlich wäre, daran verletzt zu werden und weil ansonsten so wenig Menschliches an diesem Kind war, und weil man das Kind danach in die Arme schließen und trösten könnte, beruhigt durch die Gewissheit, endlich eine Erfahrung mit ihm zu teilen, und dann, sagte man sich, wäre das Zusammensein mit dem Kind kein oberflächliches mehr, sondern echt und wahr und unleugbar, und man selbst wäre nicht mehr untauglich, sondern der einzige Mensch, der das Kind verstehen würde.

« Was vorher geschah12345678910
Wie es weitergeht »



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Seraiya
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Beitrag06.06.2018 09:53

von Seraiya
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Hey du smile


Puh.
Ich hab den Text schon gestern gelesen (den ersten Teil) und vorhin noch einmal und was soll ich sagen ... Zwischenzeitlich hatte ich das Bedürfnis den Text/Satz und die ganze Welt zu umarmen und ich raufe mir die Haare, weil ich keine Worte habe, um die Einprägsamkeit und ja, traurige Schönheit des Textes zu beschreiben. Aranka kann das sehr viel besser als ich.

Aber ich möchte dir hier lassen, dass sich der Text an mich gekrallt und mich lange festgehalten hat. Ich lese ihn einfach gerne, auch wenn ich mal in der Zeile verrutsche, weil die Worte und die ganze Art für mich melodisch klingt und sich für mich trotz der Traurigkeit etwas Beschwingtes einstellt, was allein deiner Art zu schreiben zu verdanken ist. Ich gleite von einem Bild zum nächsten, von einer Erinnerung zur anderen, die Bilder blitzen nicht nur auf, sondern wirken nach, erwischen und treffen mich sofort. Wirklich einfach nur schön.

Hier drei meiner liebsten Stellen:
Zitat:
   ein Kind gesehen hattest, in einer mit bunten Figuren verzierten Jacke, ein Plüschtier oder eine Puppe im Arm, als wäre diese Welt, durch die sich das Kind gezwungenermaßen bewegte, vereinbar mit einer, in der es Plüschtiere gab, Einhörner, Teddybären, Feen und Elfen, lächelnde Mond- und Sonnengesichter, als wäre das Gefühl der Geborgenheit und Sorglosigkeit, das diese Figuren vorzutäuschen vermochten, von Dauer,  


Zitat:
keine Plüschtiere mehr existierten oder die, die es noch gebe, keine Qualität einer erinnerten Berührung mehr zurückbehielten, keine Empfindung von Trost oder Schutz boten und nicht mehr waren als lieblos fabrizierte und vervielfältigte Ware, die noch in Jahrhunderten die Erde und die Ozeane verpesten würde    


Zitat:
es sei das Glück und die Bestimmung des Menschen, erwachsen zu werden, zu einem Individuum, das fest und sicher in der Welt stehe – während doch in Wirklichkeit mit »fest« und »sicher« nichts anderes gemeint sei als »allein«, weil jeder Prozess der Individualisierung ein Abgrenzen sei     



Liebe Grüße,
Seraiya


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Klemens_Fitte
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Beitrag07.06.2018 08:39

von Klemens_Fitte
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Hey smile

Tut mir leid, dass ich mich erst heute melde, aber ich war gestern den ganzen Tag unterwegs und kam erst nachts zurück; hatte deinen Kommentar aber bereits gesehen und mich sehr darüber gefreut.

"Traurige Schönheit" nehme ich sehr gerne mit, und auch, dass du den Text gerne liest, trotz seiner ganzen Sperrigkeit oder Sprödheit, die man ihm sicher auch zuschreiben kann, oder der vordergründigen Ereignislosigkeit; Lesen sollte im besten Fall ja Vergnügen sein, denke ich, und nicht Anstrengung um der Anstrengung willen.

Vielen Dank jedenfalls für deine Rückmeldung, die mich darin bestärkt, dass der Text vielleicht doch nicht so unmöglich ist, wie er mir manchmal vorkommt.


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firstoffertio
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Beitrag07.06.2018 21:42

von firstoffertio
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Ich habe nun die weiteren Teile gelesen, ein wenig schnell, weil ich hinterher bin, und die Gedanken finde ich gerade aus verschiedenen persönlichen Gründen ziemlich interessant. Du fasst da etwas in erstaunliche Worte, was ich so noch nirgendwo vorher fand.

Es geht nicht um ein besonderes Kind für mich. Es geht um Eltern und Kinder. Hier eines. Ich lese aus Kind-Sicht. Die andere habe ich nicht erlebt. Du lässt mich aber mich in sie rein versetzen. Allerdings vermute ich, dass dies alles im Grunde aus Kind-Sicht rekonstruiert ist. Kann diesen Eindruck nicht besser beschreiben gerade.
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Klemens_Fitte
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Beitrag08.06.2018 22:50

von Klemens_Fitte
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Auch dir ein Dankeschön fürs Vorbeischauen, firstoffertio. Und dafür natürlich besonders:

firstoffertio hat Folgendes geschrieben:
Du fasst da etwas in erstaunliche Worte, was ich so noch nirgendwo vorher fand.


Es ist natürlich ein seltsames Erzählen, weil es, wie du richtig sagst, nicht um ein Kind geht, um die Beschreibung einer Kindheit oder einer Beziehung von Kind und Erwachsenem, sondern um den Versuch, zu grundlegenden Aussagen zu finden – die natürlich nicht richtig oder wahr sein müssen und oft auch zum Widerspruch anregen sollen.

firstoffertio hat Folgendes geschrieben:
Es geht nicht um ein besonderes Kind für mich. Es geht um Eltern und Kinder. Hier eines. Ich lese aus Kind-Sicht. Die andere habe ich nicht erlebt. Du lässt mich aber mich in sie rein versetzen. Allerdings vermute ich, dass dies alles im Grunde aus Kind-Sicht rekonstruiert ist. Kann diesen Eindruck nicht besser beschreiben gerade.


Die Frage der Perspektive ist nicht so einfach zu klären, dazu müsste man diesen Ausschnitt in den Kontext des restlichen Textes setzen. Nur so viel: das geschilderte Zusammensein mit dem Kind ist an dieser Stelle eher eine Konstruktion als eine Rekonstruktion, und obwohl man die Perspektive wohl als die kindliche fassen müsste, ist es ja paradoxerweise der Erwachsene, in den die Gedanken und Empfindungen hineinprojiziert werden, während das Kind nicht einsehbar bleibt.


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Aranka
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Beitrag09.06.2018 07:05

von Aranka
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Hallo Klemens,

der Text treibt Gedanken weiter und weiter, als wolle er damit an ein Ende, an eine Erkenntnis, an eine Erklärung, an ein Fazit kommen, ich bin fast geneigt zu sagen, er denkt sie bis an ein „bitteres“ Ende.

In diesem 2. Text-Teil empfinde ich eine Konfrontation, die mich zur Reaktion wie Widerspruch herausfordert.
 
Liegt es am „man“, was hier von Beginn an und durchgängig die Distanz bestimmt? Es gibt kein DU mehr, dass den „Erzähler/Denker“ ab und an einmal deutlicher als Person vor den Leser holt und ihn einen Moment glauben lässt, es gäbe eine reale Begebenheit; hier taucht der Erzähler im verallgemeinernden „man“, oder besser in „man-Gedanken“, unter, das Kind, kein „einzelnes, nur ein Stellvertreter für „Kind“ im allgemeinen.

Für mich ist der Erzähler ein reflektierender Erwachsener und noch bleibt mir verborgen, ob er das Kind- und ElternSein aus der Sicht seiner eigenen Kindererinnerung und der Begegnung mit dem ElternSein anderer reflektiert und das „Sich-einbeziehende-Man“ nur ein Vorstellungsakt ist , ein theoretisches Durchspielen von Denkansätzen/Möglichkeiten/ Gegebenheiten/Konsequenzen ist.  Das Kind und das Zusammensein des Erwachsenen mit dem Kind tritt mir von Beginn an deutlich als Denk- und Vorstellungsprozess entgegen, oft konjunktivisch, und nie als direkte Begebenheit, was mir in diesem Teil jedoch viel „lastiger/belastender/lästiger“ entgegenkommt als im ersten.

Die Sicht auf das „Eltern-Kind-Sein“ des Erzählers wird mir hier bedrückend, der Blick erscheint mir ein grau-getunnelter, der mir jedoch gleich zu Beginn schon offengelegt wurde:

Zitat:
Ein Anfang ließe sich finden in der Mattscheibe eines alten Röhrenfernsehers, der selbst nur als Erinnerung oder als Vorstellung existierte, oder als poetisch verkürztes Bild eines Daseins, das sich nur unmerklich aus der Flachheit des Banalen herauswölbte, ein Dasein, das mit morgendlichen Zeichentrickfilmen begonnen habe und abends mit der Tagesschau in die Erkenntnis vom Schrecken und Grauen der Welt da draußen gefallen sei.


Dieser Blick aufs Dasein wird in einer „brutalen“ Konsequenz an ein Ende gedacht, die Dinge ebenso konsequent formuliert und damit werden sicherlich Grenzbereiche betreten, die schwer auszuhalten sind.

Zitat:
desto weiter rundete sich das Bild ab, das man sich von ihm und seiner Existenz machte, bis es so glatt geworden war, dass man daran abrutschte – die existenzielle Furcht, die das Dasein mit diesem Kind in einem auslöste und die immer weiter um sich griff, je mehr die Tage auf der Stelle traten;


Da es ein Text-Teil eines größeren Zusammenhangs ist, kann ich hier erst einmal nur momentane Leseempfindungen festhalten, die sich bei jedem Lesen deutlicher aufblenden. Ich finde hier Gedanken, an denen ich mich reiben kann.

Auch in diesem Teil überzeugt und fasziniert mich die sprachliche Umsetzung.

Liebe Grüße Aranka


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Klemens_Fitte
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Beitrag10.06.2018 14:46

von Klemens_Fitte
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Hallo Aranka,

wenn dieser zweite Teil zu Reaktion wie Widerspruch auffordert, bin ich schon zufrieden, schließlich meint das ja ein Sich-Positionieren gegenüber den Gedanken, die der Text formuliert oder den Aussagen, zu denen er findet, und letztendlich ist es eben auch eine Auseinandersetzung mit der Perspektive – beziehe ich mich in ein "man" ein, lasse ich mich davon vereinnahmen, oder grenze ich mich dagegen ab, in einer Deutlichkeit, die vielleicht nicht nötig wäre, wenn der Text nicht von "man", sondern von "du" oder "er" oder "sie" sprechen würde. Weil ein "man" eben nicht nur eine Distanz zu den Figuren schafft, sondern einer Aussage gleichzeitig eine andere Relevanz verleiht oder zumindest zu verleihen scheint.

Ich wechsle im Manuskript des Öfteren ins "man", tue das jedoch meist rein intuitiv oder da, wo ich der Meinung bin, der Satz erfordere es.

Wenn die Sicht in diesem zweiten Teil "bedrückend" erscheint, die Konsequenz "brutal", bin ich zufrieden; es ist andererseits, wie du schreibst, eine (unter vielen) logischen Fortsetzungen dessen, was bereits im ersten Teil anklingt, und es wäre schön, wenn es mir gelänge, ein paar Sätze in diesen Grenzbereich zu führen.

Vielen Dank für die Rückmeldung, auch das, was du zur sprachlichen Umsetzung schreibst.


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Aneurysm
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Beitrag10.06.2018 19:18

von Aneurysm
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Vielleicht liegt es an meiner Voreingenommenheit gegenüber der Typenwalze, daran, dass ich einen Großteil des Manuskripts kenne; aber ich sehe hier eine weitere Ebene neben derjenigen, die die anderen vor mir beschrieben haben. Wenn ich diese Gedanken lese, die einem Elternteil mit dem anonymen man in den Mund oder den Kopf gelegt werden, dann frage ich mich nicht nur, ob diese Gedanken richtig sind. Ich frage mich auch, was das eigentlich über das Du aussagt, wenn es dem Elternteil diese Gedanken zuschreibt, wenn es eine so radikal negative Sicht auf die Eltern-Kind-Beziehung hat. Deshalb sehe ich dieses Gedankenexperinent als einen Weg für das Du, seine eigene Kindheit zu verarbeiten, ohne konkret zu werden.

Abgesehen davon ist der Wechsel von einem konkreten Erlebnis – das Du sieht in der Bahn ein Kind mit einem Plüschtier – zu den allgemeinen Aussagen gelungen; ich kann mir gut vorstellen, wie sich das Du an einen Moment in der Bahn erinnert und davon ausgehend in Rage denkt. Und ich finde es beeindruckend, wie nahe mir dieser Ausschnitt geht, trotz seiner Sperrigkeit, trotz der Widerstände, die er bei mir auslöst, obwohl ich mich in deinen Texten immer besser zurechtfinde. Das mag unter anderem an der Sprache liegen, die mir auch hier sehr gut gefällt: Da sitzt wirklich jedes Wort, denke ich mir, da weiß jemand ganz genau, wie er den Leser durch seine Erzählung führt.

Vielen Dank fürs Einstellen.
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Klemens_Fitte
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Beitrag10.06.2018 21:21

von Klemens_Fitte
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Ich denke schon, dass eine Kenntnis des restlichen Manuskripts zu anderen Fragen führt, weil man ja weiß, wie dieses Du im Lauf des Manuskripts über die reine Frage der Perspektive, der Ansprache hinaus zu einer Figur geführt wird. Wenn ich jemanden beim Denken beobachte, begleite, dann formt sich automatisch ein Bild dieser Person in mir, und dann ist jeder Gedanke dazu geeignet, dieses Bild zu präzisieren oder zu hinterfragen.

Ich weiß nicht, ob es hier schon um ein Verarbeiten geht, vielleicht eher eine Auseinandersetzung, als ersten Schritt, aber wenn dir dieser Ausschnitt nahe geht, obwohl die Auseinandersetzung auf einer eher abstrakten Ebene bleibt, freut mich das sehr. Danke dafür.


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Klemens_Fitte
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Beitrag08.08.2018 18:18

von Klemens_Fitte
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[…]

und tatsächlich hielt der junge Mann, der sich ihm als Daniel vorgestellt hatte, in diesem Moment inne und sagte, mehr in den Raum als an ihn gerichtet, die Nacht habe jenen Punkt überschritten, an dem, einer landesweiten Anordnung zufolge, die Straßenbeleuchtung gelöscht werde und elektrisches Licht in den Häusern untersagt sei, und so herrsche von jetzt an bis zum Morgengrauen ein lichtloses Dunkel in den Straßen und Gassen der Stadt, eine Schwärze, die sich Nacht für Nacht um die Mauern der Häuser lege, an die Türen und Fenster, die man trotz der tagsüber angestauten Hitze geschlossen halte, um die Nacht auszusperren, und so bleibe ihm, dem zufälligen Gast, nichts anderes, als bis zum Ende der Nacht auszuharren, wie es all die Bewohner dieser Stadt tun würden, die Nacht für Nacht so vollständig und spurlos im Dunkel versinke, dass man sich unweigerlich frage, ob sie am nächsten Tag ebenso vollständig wieder auftauchen würde, oder ob nicht jedes nächtliche Vergessen, dem sie anheimfalle, Teile von ihr zurückbehalte, in einem ebenso unmerklichen wie unaufhaltsamen Zerfall, der sich bisweilen an ihr zu offenbaren scheine, im abgeblätterten Putz der Fassaden, in der aufgeplatzten und abgesprungenen Farbe morscher Fensterrahmen, und am deutlichsten dann, wenn man durch die Straßen und Gassen eines Viertels gehe, das man lange nicht betreten habe, und dann feststelle, dass das Vergessen, diese Nacht für Nacht erneuerte Schwärze die Türen und Fenster der Häuser verschluckt und nichts als leere Öffnungen hinterlassen habe, Löcher, durch die man in Räume blicke, aus denen jegliche Spur ihrer einstigen Bewohner getilgt worden sei, und beim Versuch, sich ihre Namen, ihre Gesichter ins Gedächtnis zu rufen, werde einem deutlich, dass man längst vom selben Prozess der Austilgung befallen sei, dass nicht nur die äußere Stadt Nacht für Nacht im Nichts versinke, sondern auch die, die man in seinem Inneren mit sich trage, diejenige, die aus den Namen von Straßen und Plätzen bestehe, den Namen von Kirchen, Cafés, Restaurants oder Lebensmittelgeschäften, die man nie aufgeschrieben habe, ebenso wenig wie die Namen ihrer Besitzer oder Bewohner, weil es einem undenkbar gewesen sei, sie vergessen zu können, weil sie zu eng mit der eigenen Biografie, der eigenen Identität verwoben schienen, und dann breche jedes spurlose Verschwinden ein Stück aus der eigenen Identität, dem eigenen Selbstbild heraus, bis man sich ebenso porös und brüchig erlebe wie die Substanz der Stadt, und so sei es doch nur allzu verständlich, fuhr er fort, wenn die Bewohner dieser Stadt geradezu davon besessen seien, ihre Häuser mit den Zeugnissen und Spuren ihres Lebens anzufüllen, in Schicht um Schicht, um sie vor der Nacht und dem Vergessen zu bewahren, all die gerahmten, die vergilbten Fotografien, die Urkunden, die Briefe und die Tagebücher, jedes noch so unbedeutende Schriftstück, jede Notiz, jeden Schmierzettel, die Uhren und Kerzenhalter, die Schmuckschatullen, all die Krüge und Ziergläser, die Bücher und die Möbelstücke, bis jedes Zimmer, jedes Haus ein einziger monströser Schrein der Menschen sei, die es bewohnten, die sich Tag für Tag in immer enger geführten Bahnen zwischen all diesen Zeugnissen ihrer Menschwerdung bewegten, in einem Raum, in dem die Schichten ihres gestrigen Lebens ihre heutigen Schritte bestimmten, und es sei auch verständlich, wenn sich die Menschen, die noch dazu fähig seien, tagsüber in den Straßen und Gassen, auf den Plätzen der Stadt aufhielten, oder dass man, wenn man jemanden treffen wollte, in der Straße oder Gasse vor seinem Haus auf und ab gehe, anstatt es zu betreten, weil all der Ballast, der hinter jeder Tür und jedem Fenster warte, längst niemand anderem mehr zuzumuten sei außer denen, die ihn angesammelt hätten, oder nicht einmal ihnen, denn wer könne schon zugleich Mensch sein und die Last des eigenen Menschseins tragen, die Last der eigenen Vergangenheit, dieser sogenannten Menschwerdung, die einem Schicht um Schicht über den Kopf wachse und längst schon größer und mächtiger scheine, als man selbst je gewesen sei, und dann blicke man in eine Kammer, in einen Flur, auf Kartons und Kisten, auf Regale oder in Schubladen und Truhen und finde darin nichts als die Unbegreiflichkeit und Endgültigkeit der eigenen Existenz, ein Anblick, der so überwältigend sei, dass es einem unmöglich scheine, sich jemals wieder davon zu lösen, weil man in diesem Moment nichts weiter sei als eine winzige Gestalt, die vor einem weißen Bergmassiv stehe, vor einer immensen Wand aus Eis, Schnee und Felsgestein, die sich in Schicht um Schicht des Menschen auftürmte, der man einmal gewesen sei, als den man sich selbst gesehen und verstanden habe oder als der man gesehen und begriffen, geliebt oder verachtet worden sei, und das Einzige, das in diesem Anblick noch lebe, sei man selbst, nicht das gewesene, sondern das momentane Selbst, das so verschwindend gering wirke, als wäre man nur ein Riss im Fels oder der letzte kahle Überrest einer verlorenen Vegetation, und bei diesen Worten, die der junge Mann gänzlich ungerührt und tonlos aussprach, sprang er tatsächlich von der Truhe auf, als hätte ihn eine Erkenntnis getroffen, blickte in der Kammer umher, von der Couch zum Tisch zur Truhe und schließlich zur Kommode, wo er die Schwarzweißaufnahme des Bergmassivs vermutete, die ihm in diesem Moment in aller Deutlichkeit vor Augen stand, ohne dass er hätte sagen können, ob und, falls ja, wo er sie schon einmal gesehen hatte, ob es sich dabei um ein Relikt seines eigenen Lebens handelte oder um etwas, das von irgendjemandem auf ihn übergegangen sei, und als er bemerkte, dass der junge Mann sich ihm zugewandt hatte und ihn ebenso aufmerksam wie ungerührt betrachtete, fragte er ihn mit belegter Stimme, wie er sein eigenes Tun und Dasein erkläre; wenn es sei, wie er sage, dass die Bewohner dieser Stadt ihre Häuser mit den Zeugnissen ihres Lebens füllten, mit Schicht um Schicht ihrer sogenannten Menschwerdung, warum tue er es ihnen nicht gleich, sondern habe sich gewissermaßen zum Archivar einer fremden Existenz gemacht, einer Menschwerdung, deren Zeugnisse und Relikte ihn nicht enthalten oder betreffen würden und die er sich in womöglich nicht unrechtmäßiger, aber doch in moralisch zweifelhafter Weise angeeignet habe – woraufhin der junge Mann ihn anblickte, als hätte er eine Selbstverständlichkeit nicht begriffen, und erwiderte, er sei ja ebenfalls nur ein Gast in diesem Haus, jemand, der hier bis zum Morgengrauen ausharre, und was an dieser Situation, diesem wie zufälligen Zusammentreffen fragwürdig sei, das könne sich notwendigerweise nur im Beisein ihrer Gastgeberin auflösen lassen; und womöglich, fügte er hinzu, liege in diesem ebenso unvorhersehbaren wie unvermeidlichen Auflösen die einzige Begrenzung, der tatsächliche Grund ihres Eingeschlossenseins, oder nicht nur ihres momentanen Eingeschlossenseins, sondern vielmehr der Grund für den schicksalhaften Zustand dieser Stadt, dieses unwirklichen Ortes, der Tatsache, dass er so herausgelöst scheine aus den Zusammenhängen von Raum und Zeit, weil es in seinem Kern etwas Ungesagtes gebe, etwas Versäumtes oder Verleugnetes, das sich viel dichter an die Mauern der Häuser dränge als jedes nächtliche Dunkel, und weil in diesem Ungesagten ein Zweifel liege, der so grundsätzlich sei, dass ihm keine angesammelten und aufgeschichteten Worte und Bilder etwas entgegenzusetzen vermochten – und in diesem Augenblick fühlte er eine Erschütterung, als würde ihm der Boden unter den Füßen entzogen, und was blieb, war die gähnende Grube einer Schuld, die er sich nie eingestanden, die er in Wort um Wort und Satz um Satz von sich weggeschrieben hatte und in deren Wortlosigkeit er nun zu stürzen begann, ruckartig, in einer Bewegung, der ein ebenso ruckartiges Aufwachen hätte folgen müssen, aber statt aufzuwachen, fühlte er sich unvermittelt nach oben gezogen, blickte auf sich herab, wie er da in der Kammer zwischen all den Überresten seines Lebens stand, vor einer hölzernen Truhe, die das Unbegreifliche und Endgültige seiner Existenz enthielt, und während er diese Gestalt betrachtete, die er selbst war, entfernte sie sich immer weiter, wurde kleiner und kleiner, bis er sich fragte, aus wessen Augen er auf sich blickte, und in dieser Frage lag ein derart unvermitteltes und heftiges Grauen, dass du aus deinem Traum aufschreckst und ins Dunkel greifst, nach den letzten Bildern dieses Traums, den du womöglich nie geträumt hast, den du dir erst mit dem ruckartigen Aufwachen zusammenfügst, in den blinden Minuten, in denen du deine Finger über den Stoff der Couch führst, bis sich dein Herzschlag wieder beruhigt.

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firstoffertio
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Beitrag09.08.2018 00:24

von firstoffertio
Antworten mit Zitat

Das ist wieder beeindruckend geschrieben, und ich fühle mich ertappt bei der Beschreibung von all dem Zeugs, das aufbewahrt wird.

Da es wieder ein Auszug ist, kann ich nicht viel dazu sagen, welche Rolle das fürs Ganze spielt.
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Klemens_Fitte
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Beitrag09.08.2018 09:45

von Klemens_Fitte
Antworten mit Zitat

firstoffertio hat Folgendes geschrieben:
Das ist wieder beeindruckend geschrieben, und ich fühle mich ertappt bei der Beschreibung von all dem Zeugs, das aufbewahrt wird.


Vielen Dank! Und ja, ich glaube, in der Beschreibung dürften sich die meisten wiederfinden, entweder, weil es ihnen genauso geht oder weil sie sich diesem Aufbewahren bewusst verweigern, letztendlich bleibt es nicht aus, dass man im Lauf der Zeit einen Standpunkt dazu finden muss.
Bei meiner 40-qm²-Wohnung komme ich nicht darum herum, von Zeit zu Zeit auszumisten, aber selbst da gibt es Dinge, von denen ich mich nicht trennen würde, weil sie einen Teil meiner Identität zu repräsentieren scheinen.

firstoffertio hat Folgendes geschrieben:
Da es wieder ein Auszug ist, kann ich nicht viel dazu sagen, welche Rolle das fürs Ganze spielt.


Das würde ich auch nicht erwarten, wäre im Rahmen dieses Fadens auch nicht zu leisten, allein wenn man bedenkt, dass zwischen diesem Auszug und dem zuvor geposteten etwa 170 Seiten liegen; ich versuche halt Passagen auszuwählen, die auch halbwegs "für sich" stehen können.

Danke fürs Rückmelden.


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d.frank
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Beitrag09.08.2018 12:52

von d.frank
Antworten mit Zitat

Zitat:
Das würde ich auch nicht erwarten, wäre im Rahmen dieses Fadens auch nicht zu leisten, allein wenn man bedenkt, dass zwischen diesem Auszug und dem zuvor geposteten etwa 170 Seiten liegen; ich versuche halt Passagen auszuwählen, die auch halbwegs "für sich" stehen können.


Alles klar! Ich konnte nämlich mit der Gastgeberin nichts anfangen und auch sonst habe ich, was die Figuren und das Setting angeht, nur schwer hineingefunden. Dass ich trotzdem und dieses Mal gaaanz langsam Wink  zu Ende gelesen habe, spricht für den Text. Ich weiß nicht, ob er gewinnen würde, wenn man ihn an manchen Stellen doch kürzen würde?
Natürlich sind die Wiederholungen, die Spiralen von dir mit Absicht gesetzt, aber ich finde, es gibt schon Stellen, an denen es sie nicht unbedingt bräuchte, an denen sie eher ablenkend wirken. Aber das ist wahrscheinlich eher Geschmack.
Die Vorstellung einer völlig lichtlosen Stadt ist interessant. Ich habe darüber mal mit Bekannten gesprochen, die auf dem Dorf groß geworden sind, die sagten, dass es dort irgendwann eben stockdunkel wäre und man sich das als Stadtbewohner kaum vorstellen kann.  Diese Ruhe, das völlige Fehlen von irgendetwas, das der gestresste Städter sich manchmal als Ausweg vorstellt, wenn ihm die Hektik und das Treiben an den Nerven zerren, kann sich also spätestens in der Dunkelheit in einen Alptraum verwandeln. Das städtische Nachtleben, das niemals schläft, zwingst du hier dazu, sich mit sich selbst zu befassen. Das ist ja nur ein Ausschnitt und der macht natürlich neugierig darauf, wie du zum Beispiel das Pendant dazu angehst.

Zitat:
diese Nacht für Nacht erneuerte Schwärze die Türen und Fenster der Häuser verschluckt und nichts als leere Öffnungen hinterlassen habe, Löcher, durch die man in Räume blicke, aus denen jegliche Spur ihrer einstigen Bewohner getilgt worden sei,


Das ist ein starkes Bild! Auch, wenn ich mich frage, ob es ohne die Bewohner stärker sei. Dass du die Schwärze Türen und Fenster verschlucken lässt, anstatt einfach nur Löcher zu hinterlassen, das muss man erst mal wirken lassen. Die angehängten Bewohner zerstören es irgendwie, weil dieses Bild viel üblicher ist. Überhaupt würde ich mir an einigen Stellen vielleicht doch ein Satzzeichen wünschen, einfach, um etwas zu gewichten in diesem Strom.

Zitat:
dass man längst vom selben Prozess der Austilgung befallen sei,


Ich weiß nicht, ob mir dieses Wort hier gefällt. Es klingt so berechnend und für mich steht die Schwärze an dieser Stelle eher für etwas Gegebenes.


Hier zum Beispiel würde ich kürzen:
Zitat:
die aus den Namen von Straßen und Plätzen bestehe, den Namen von Kirchen, Cafés, Restaurants oder Lebensmittelgeschäften, die man nie aufgeschrieben habe, ebenso wenig wie die Namen ihrer Besitzer oder Bewohner,


Ok ein Besitzer ist etwas anderes als ein Bewohner, aber, ich weiß nicht, braucht es das? An dieser Stelle jedenfalls?


Auch hier:
Zitat:
all die gerahmten, die vergilbten Fotografien, die Urkunden, die Briefe und die Tagebücher, jedes noch so unbedeutende Schriftstück, jede Notiz, jeden Schmierzettel, die Uhren und Kerzenhalter, die Schmuckschatullen, all die Krüge und Ziergläser, die Bücher und die Möbelstücke,


Ich finde auch, durch die Wahl der Gegenstände bekommt man hier ein sehr altes Bild - ist das beabsichtigt?

Zitat:
oder nicht einmal ihnen, denn wer könne schon zugleich Mensch sein und die Last des eigenen Menschseins tragen, die Last der eigenen Vergangenheit, dieser sogenannten Menschwerdung, die einem Schicht um Schicht über den Kopf wachse und längst schon größer und mächtiger scheine, als man selbst je gewesen sei,


Hier finde ich einen Widerspruch. Einerseits legen die Bewohner ihre Vergangenheit an, andererseits lassen sie zu, davon dann erstickt zu werden. Da fehlt mir das Verdrängen in dieser Betrachtung. Oder ist es die Schwärze und weil das nur ein Ausschnitt ist, habe ich sie noch nicht als solche erkennen können?

Zitat:
dann blicke man in eine Kammer, in einen Flur, auf Kartons und Kisten, auf Regale oder in Schubladen und Truhen und finde darin nichts als die Unbegreiflichkeit und Endgültigkeit der eigenen Existenz, ein Anblick, der so überwältigend sei, dass es einem unmöglich scheine, sich jemals wieder davon zu lösen, weil man in diesem Moment nichts weiter sei als eine winzige Gestalt, die vor einem weißen Bergmassiv stehe, vor einer immensen Wand aus Eis, Schnee und Felsgestein, die sich in Schicht um Schicht des Menschen auftürmte, der man einmal gewesen sei, als den man sich selbst gesehen und verstanden habe


Ich weiß nicht, ob ich diesen Sprung so unbedingt mitgehen kann: Von den Truhen den Kisten zum Bergmassiv. Das bekommt für mich hier etwas zu Fantastisches, nicht in dem Sinne, dass das Fantastische hier keinen Platz hätte, sondern eher, dass die abrupte Assoziation so sprichwörtlich groß ist.

Vielleicht, wenn das hier ein bisschen früher kommt?

Zitat:
und schließlich zur Kommode, wo er die Schwarzweißaufnahme des Bergmassivs vermutete, die ihm in diesem Moment in aller Deutlichkeit vor Augen stand, ohne dass er hätte sagen können, ob und, falls ja, wo er sie schon einmal gesehen hatte,


Aber das passt wohl gar nicht anders in den Fluss.

Ich habe im Folgenden auch Probleme, die Sprecher zuzuordnen, aber da habe ich wahrscheinlich nur den Faden verloren. wink

Zitat:
womöglich nicht unrechtmäßiger, aber doch in moralisch zweifelhafter Weise angeeignet habe


womöglich - das kleine Wort zusammen mit dem Wort nicht und dem Adjektiv überbläht hier die Aussage, auch wenn das natürlich so richtig ist. Hmm, schwierig, wahrscheinlich nicht anders zu lösen.

Zitat:
in diesem ebenso unvorhersehbaren wie unvermeidlichen Auflösen die einzige Begrenzung, der tatsächliche Grund ihres Eingeschlossenseins, oder nicht nur ihres momentanen Eingeschlossenseins, sondern vielmehr


Ich hatte bisher nicht den Eindruck, dass dieses Auflösen wirklich unvorhersehbar sein. Oder meinst du hier die Bewohner? Ist es letztendlich nur der Archivar, der diese Schwärze sieht? Das Fette ist die erste Stelle im Text, die auf mich unbeholfen wirkt.

Zitat:
eine Erschütterung, als würde ihm der Boden unter den Füßen entzogen,


Das mag ich auch nicht so. Es ist zwar bezeichnend, aber eben auch abgenutzt.

Zitat:
nun zu stürzen begann, ruckartig,


Das beißt sich so ein bisschen. Erst das Sehen und Nachdenken, dann das ruckartige Stürzen. Vielleicht, wenn du das noch irgendwie trennst, bekommt es die Wirkung, die du beabsichtigt hast?

Zitat:
bis er sich fragte, aus wessen Augen er auf sich blickte, und in dieser Frage lag ein derart unvermitteltes und heftiges Grauen, dass du aus deinem Traum aufschreckst und ins Dunkel greifst,


Das ist unheimlich stark! Unheimlich im Wortsinn, dass es beängstigend ist, wie hier etwas dargestellt wird, das man gerne vergisst oder nicht wahrhaben will, und wie es sich dabei aufhebt und dann dieser Moment, wo man es ganz direkt spürt, und dann wechselst du in die direkte Ansprache. Das wirkt auf mich wie Hilferuf und Anklage gleichzeitig, auch wie ein Draufblicken, das das vorherige Draufblicken verstärkt. Ob der Traum das dann aber trägt, das weiß ich an dieser Stelle noch nicht, auch wenn er natürlich auch hier folgerichtig ist.




Abschließend ist dieses Buch bestimmt keine Abendunterhaltung. Es wird schmerzlich sein, sich mit all diesen Dingen zu beschäftigen.
Es ist dir anzurechnen, dass du es tust.

Und dass ich mich hier so ausgelassen habe, geht aus dem Vertrauen hervor, dass du ja doch noch Einschätzungen willst, selbst, wenn sie von mir kommen, hoffe ich jedenfalls? Embarassed


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Die Wahrheit ist keine Hure, die sich denen an den Hals wirft, welche ihrer nicht begehren: Vielmehr ist sie eine so spröde Schöne, daß selbst wer ihr alles opfert noch nicht ihrer Gunst gewiß sein darf.
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