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Dunkelblau


 
 
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BaronHarkonnen
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Beiträge: 123
Wohnort: Berlin


Beitrag14.05.2018 11:41
Dunkelblau - Prolog
von BaronHarkonnen
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Hallo liebe Leute,
hier mein erstes zaghaftes Klopfen an Eure Tür: Der Prolog meines Romans 'Dunkelblau'. Ich würde mich sehr über Euer (kritisches) Feedback freuen!
@Admins: ich hoffe, es ist nicht so hart, dass es in den Redlight District gehört. Dafür bitte mal die letzten 4 Absätze checken.
Es ist keine Horrorgeschichte, sondern hat nur einen etwas härteter Einstieg sein; danach wird's ruhiger Wink
Vielen Dank!
baronHarkonnen/Tim


Der Tag, an dem Maria Gonzales‘ Leben enden sollte, war ein Dienstag.
Es war ansonsten kein besonderer Tag – der Frühling ließ weiter auf sich warten, obwohl der kalendarische Frühlingsbeginn fast 2 Wochen zurück lag, und der Winter sich hartnäckig hielt. Der Himmel über der Stadt war seit Tagen bedeckt, an Straßenrändern und auf Grünflächen lagen unansehnliche Haufen von altem Schnee, gemischt mit Rollsplitt und Erde. Die Präsidentschaftswahlen in den USA waren ein beherrschendes Thema in den Medien, es gab wieder vermehrte Drohgebärden im Mittleren Osten und einen Doping-Skandal im Handball.
Die verschwundenen Männer und Frauen waren natürlich auch ein Thema, im Netz und auch in überregionalen Zeitungen. Bislang aber fast ausschließlich in deutschsprachigen Medien, und das war vielleicht einer der Gründe für Marias Ableben: Hätte sie die Situation in der Stadt aufmerksamer verfolgt, wäre sie womöglich vorsichtiger gewesen. Aber obwohl ihre Deutschkenntnisse sich stetig verbesserten, informierte sie sich hauptsächlich über spanischsprachige Seiten. Die Filterblase in den sozialen Medien tat ihr Übriges, und so kam es, dass sie zwar über den US-Präsidentschaftswahlkampf und den Katalonien-Konflikt bestens informiert war, aber von den Vermissten in Berlin nur vage Gerüchte aufgeschnappt hatte; Gesprächsfetzen an der Uni und in ihrer WG-Küche.
Maria, deren Vorlesungen an diesem Tag etwas später begannen, blieb nach dem Aufwachen noch ein wenig liegen und ließ ihre Gedanken ziehen. Dann trieben sie das zunehmende Tageslicht – graues Winterlicht, kein Sonnenschein – und die Geräusche ihrer Mitbewohner aus dem Bett. Das Bad war von Peter besetzt, mal wieder, und in der Küche war Lin mit ihrem morgendlichen Teeritual beschäftigt. Maria lächelte ihr zu, schnappte sich Brett und Messer, und schnitt einen Apfel für ihr Müsli auf. Müsli war eine der wenigen Errungenschaften der deutschen Küche, mit der sie sich angefreundet hatte, und sie hatte vor, das auch nach ihrer Rückkehr nach Spanien beizubehalten.
Irgendwann gab Peter das Bad frei und Maria machte sich fertig, während ihr Müsli einweichte. Als sie herauskam, war Lin schon im Aufbruch, und Peter saß am Laptop, einen Grießpudding in sich hineinschaufelnd, während er sich durch seine Feeds arbeitete. Sie frühstückte also alleine, bevor sie sich auf den Weg zur Uni machte.
Der einsame Start in den Tag und das trübe Berliner Wetter sorgten für eine melancholische Grundstimmung. Normalerweise war Peter morgens etwas mitteilsamer, und die Gespräche mit Lin waren durch die Sprachbarriere zwar eingeschränkt, aber von Herzlichkeit geprägt. Jetzt fühlte sie sich jedoch isoliert, und als sie in der S-Bahn saß und in den Wintermorgen hinausblickte, spürte Maria einen unerwarteten, heftigen Schub von Heimweh. Sie vermisste die Wärme von Valencia, den Geruch des Meeres und die warmen Farben, die die Morgensonne auf die Fassaden der Altstadt zauberte. Sie vermisste ihre Geschwister, ihre Mutter, und überraschenderweise sogar ihren Vater, trotz seiner Strenge und Bitterkeit. Gefühle, die sie normalerweise nicht zuließ oder kleinzuhalten versuchte.
In dieses Gefühl von Heimweh und Melancholie hinein platzte eine Kette von Nachrichten in ihrer Españoles en Berlín-Gruppe. Der heutige Stammtisch würde wegen der Grippewelle entfallen, zwei ihrer Freunde hatte es schon erwischt, eine fürchtete sich vor Ansteckung. Maria ging gedanklich die Alternativen durch, während sie in der S-Bahn saß. Sie bedachte und verwarf verschiedene Beschäftigungen. Alleine ins Kino oder Theater zu gehen, fand sie bereits als Aussicht deprimierend. Tanzen gehen war ungeeignet, weil sie am Mittwoch früh aus dem Bett musste, und für Aktivitäten im Freien war das Wetter noch zu schlecht. Schließlich kam sie auf etwas, das sie schon vor Wochen recherchiert hatte. Ein öffentliches Schwimmbad mit Solarium war ein kümmerlicher Ersatz für das Mittelmeer, aber immer noch besser als ein Abend allein im Zimmer. Also dann schwimmen gehen. Dass ihr diese Entscheidung zum Verhängnis werden sollte, konnte sie nicht ahnen.
Der Vormittag war vollgepackt mit Vorlesungen: Ethik, Moralphilosophie und, von Maria besonders gefürchtet, Formale Logik. Demnächst standen die ersten Klausuren an, und kurz überlegte sie, ihre Pläne zu ändern und den Abend mit Büffeln zu verbringen; bisher hatte sie noch zu wenig getan. Dann entschied sie sich dagegen; morgen war auch noch ein Tag.
Die Mittagspause verbrachte sie in der Mensa mit einigen Kommilitonen, was ihre Laune hob. Nachmittags quälte sie sich durch das Rousseau-Seminar, für das sie kommende Woche ein Referat ausarbeiten musste, und dann war endlich Schluss. Mit immer noch gehobener Stimmung fuhr sie nach Hause, warf ihren Rucksack aufs Bett und packte ihre Badetasche.
Auf dem Weg zum öffentlichen Schwimmbad, ein paar Stationen mit der S-Bahn und ein kleiner Fußmarsch, erwies sich das Wetter als unerwartet gnädig. Das einheitlich stumpfe Grau zeigte plötzlich Abstufungen bis hin zu weiß. Die Wolken rissen ein wenig auf und so etwas wie Sonnenschein ließ sich erkennen. Maria nahm es als gutes Zeichen und fällte eine weitere folgenschwere Entscheidung. Angesichts der unverhofften Sonnenstrahlen würde sie noch einen Umweg durch den Stadtpark machen, der neben dem Schwimmbad lag.
Der Park lag verlassen im blassen Abendlicht, als Maria ihn erreichte. Der kurze Schub schöneren Wetters hatte noch nicht ausgereicht, die Menschen herauszulocken. Außerdem würde die Sonne bald untergehen und sie beschloss, sich zu beeilen.
Ein befestigter Fußweg, von grauem Matsch und zerlaufenen Hundehaufen gesäumt, führte in den Park. Trotz der fehlenden Belaubung geriet die Straße nach wenigen Wegbiegungen außer Sicht und der Verkehrslärm ließ nach. Die Sonne verschwand zwar nach ihrem kurzen Aufleuchten wieder hinter der Wolkendecke, aber Maria genoss die klare Winterluft und die blassen Farben. Einen Moment lang war sie mit sich, dem Tag und der Stadt im Reinen.
Dann bemerkte sie, dass sie in ihrer feierlichen Stimmung nicht ganz alleine war. Ein Pärchen saß auf einer der Parkbänke am linken Wegrand, hinter sich die efeubewachsene Mauer des angrenzenden Friedhofes. Sie vermutete zunächst ein Liebespaar, das dem kühlen Wetter trotzte, aber dann sah sie, dass sie sich über einen Stadtplan beugten. Beide waren so dick eingewickelt, dass ihre Gesichter kaum zu erkennen waren.
Touristen also, in Berlin eigentlich ein gewohnter Anblick, höchstens Ort und Jahreszeit waren etwas untypisch.
Als Maria sich näherte, blickten beide auf, und die Frau erhob sich. Sie sprach Maria auf Englisch an und hielt ihr den Stadtplan unter die Nase. Offenbar wollten beide zum Südkreuz und hatten sich verlaufen.
Maria, wenig stolz auf ihren Orientierungssinn, überlegte. Es war grundsätzlich die richtige Ecke von Berlin, aber bis zu dem Bahnhof war es ein ganzes Stück. Sie beugte sich über die Karte, die im schwindenden Tageslicht schlecht zu erkennen war. Um etwas mehr Licht in die Sache zu bringen, fischte sie ihr Handy aus der Tasche.
Während sie mit ihrem Telefon hantierte und die Taschenlampen-Funktion suchte, redete die Frau weiter. Ihre Worte lösten bei Maria etwas aus, ein leichtes Ziepen im Hinterkopf, etwas, das nicht ins Bild passte. Sie kam nicht gleich darauf, was es war, weil ihre Aufmerksamkeit auf Karte und Telefon gerichtet war.
Erst als der Mann, der unbemerkt aufgestanden war und sich hinter Marias linke Schulter gestellt hatte, eine Bemerkung machte, wurde ihr klar, was sie störte. Als ausländische Studentin in Berlin hatte sie seit fast 2 Jahren mit Menschen aller möglicher Nationalitäten gesprochen, überwiegend auf Englisch. Und das Englisch der beiden hatte einen deutschen Akzent.
Wenn das Deutsche sind, warum sprechen sie mich dann auf Englisch an? – das war die irritierende Frage, die ihr durch den Kopf fuhr. Sie blickte auf und versuchte, der Frau ins Gesicht zu sehen, aber das wurde durch die pelzgefütterte Kapuze verhindert. Bevor sie weiter über die Merkwürdigkeit der Situation nachdenken oder ernsthaft misstrauisch werden konnte, war es zu spät.
In ihrem Nacken gab es plötzlich einen unerwarteten scharfen Stich, wie von einer Wespe. Gleichzeitig packte eine Männerhand ihren linken Arm mit eisernem Griff. Die Frau, die eben noch die Karte gehalten hatte, griff ihr ins Gesicht und hielt ihr Mund und Nase zu. Maria versuchte, sich dem Griff zu entwinden, aber nun packte die Frau auch von der rechten Seite zu.
Sie rang um Luft. Das Stechen im Nacken verwandelte sich in ein Brennen, das sich ausbreitete. Sie hätte gerne geschrien, aber das verhinderte die Hand in ihrem Gesicht, und so blieb ihr nur übrig, zu zucken und sich zu winden. Von links und rechts festgehalten, führte das zu einem merkwürdig lautlosen Tanz zu dritt. Vielleicht hätte sie versuchen sollen nach hinten auszutreten und die Schienbeine ihrer Angreifer zu erwischen, aber zunehmende Panik und Luftnot verhinderten ein überlegtes Vorgehen. Obwohl sie die Augen weit aufgerissen hatte, wurde die Welt zunehmend grauer, während sich blutig-rote Muster in ihrem Sichtfeld ausbreiteten.
Dann ließ der unbarmherzige Griff in ihrem Gesicht plötzlich nach, und sie konnte wieder atmen; wenigstens das. Es war aber nur ein schwacher Trost. Die Hände hielten sie weiter gepackt, und ausgehend vom Nacken breitete sich eine lähmende Taubheit in ihr aus. Eigentlich wollte sie immer noch schreien, aber ihre Zunge war plötzlich dick und nutzlos, und auch die Stimmbänder spielten nicht mehr mit. Das einzig Positive daran war eine zunehmende Entrücktheit. Wie durch einen Schleier beobachtete der schwindende Teil ihres Verstandes, wie ihr Körper hochgehoben und über die Backsteinmauer des Friedhofs gezerrt wurde. Auf der anderen Seite sah sie Hände, die sich ihr entgegenstreckten.
Jemand musste sich wohl ungeschickt angestellt haben, denn sie wurde nicht richtig aufgefangen, sondern schlug auf dem gefrorenen Boden auf und brach sich das Schlüsselbein. Der grelle Schmerz, der folgte, war die letzte deutliche Empfindung, bevor auch er, zusammen mit ihrem Bewusstsein, in der Dunkelheit versank.

Das Aufwachen verlief anders. Als erstes kehrte ein Kern von Marias Wesen zurück, noch ohne Erinnerungen und klare Gedanken, ohne Angst. Sie existierte einfach nur; fast schon ein pränataler Zustand.
Das hätte, was Maria anging, ruhig noch eine Weile so bleiben können, aber dann folgten nach und nach weitere Sinneseindrücke. Ein dumpfer pochender Schmerz in der Schulter, Stimmen in rhythmischen Variationen – Gesänge? - mit einem gelegentlichen tiefen Trommelschlag. Der Geruch von nassem, kühlen Gemäuer. Hände und Füße ließen sich nicht bewegen; offenbar war sie auf einer schräg stehenden Fläche festgebunden.
Dann folgten die Erinnerungen in kleinen Schüben, und mit ihnen auch die Furcht. Ihr wiederkehrendes Denkvermögen versuchte einzuordnen, was ihr zugestoßen war und was ihr möglicherweise bevorstand. Dafür ließ sie sich ein wenig Zeit und versuchte sich weiterhin schlafend zu stellen. Immerhin hatte sie fast zwei Semester Logik gehört; das musste doch zu etwas zu gebrauchen sein.
Schließlich filterte ihr Verstand drei gleichermaßen erschreckende Szenarien heraus: Islamisten, Neonazis oder Vergewaltiger. Alles nicht wirklich plausibel, aber die Alternativen, die ihr einfielen, wirkten noch mehr an den Haaren herbeigezogen. Die Geräuschkulisse um sie herum bestand aus murmelndem Singsang, der allerdings weder deutsch noch arabisch klang, mit einem hallenden Klang wie in einer Kathedrale. Dahinter ein fernes Rauschen von Wasser, was auch den feuchten, kühlen Beigeschmack in der Luft erklärte. Die Kühle spürte sie nicht nur beim Einatmen, sondern auch auf der Haut: mit Verspätung bemerkte sie, dass ihr Oberkörper freigelegt worden war.
Dann, als nichts weiter geschah, öffnete sie ihre Augen vorsichtig zu Schlitzen. Es war nicht allzu hell, aber das Licht genügte, um etwas zu erkennen. Maria wusste nicht, was sie erwartet hatte, aber sicher nicht das, was sie sah.
Sie befand sich in einer großen fensterlosen Halle mit roh gemauerten Wänden und massiven Säulen, beleuchtet von Kerzen und Gaslaternen. Im Moment beachtete sie niemand, obwohl sie sich unzweifelhaft im Zentrum des Geschehens befand.
Sie hatte halb damit gerechnet, von einer Gruppe von Männern umringt zu sein, von denen einer etwas sagte wie sie ist wach, so wie im Film.
Stattdessen lag sie auf einer schrägen Holzfläche, die scheinbar auf einem Podest befestigt war, und blickte auf eine fast schon religiös erscheinende Szenerie. Links und rechts vor ihr standen Reihen von Menschen, bestimmt 20 auf jeder Seite, und wandten ihr die Gesichter zu, ohne sie direkt anzublicken.
Ein weiterer, ihr näherstehender Mann - sie konnte deutlich seinen schütteren Haarkranz erkennen – stand mit dem Rücken zu ihr und blickte auf die weiter untenstehende Gemeinde (ihr fiel kein passenderer Begriff dafür ein).
Der archaische Eindruck wurde noch verstärkt durch die Kleidung; alle Anwesenden trugen mittelalterlich wirkende Kutten aus tiefblauem, im Kerzenlicht fast schwarz erscheinenden Stoff. Die Gesichter, die aus den Kutten ragten, wirkten im Kontrast dazu allerdings reichlich modern. Maria sah praktische Kurzhaarschnitte, die eine oder andere Hornbrille und sogar einen Sidecut bei einer blonden Frau, die nicht viel älter sein konnte als Maria selbst.
Vielleicht war das alles nur ein monströser Scherz? Irgendeine Show im Privatfernsehen, oder ein bizarres Studenten-Ritual?
Ihre Angst bekam unerwartet eine Beimischung von Wut. Man hatte sie entführt, ihr das Schlüsselbein gebrochen und sie halbnackt zur Schau gestellt – für einen Scherz?
Die Wut schwoll an, verdrängte kurzzeitig sogar die Angst, und sie ignorierte den Schmerz in ihrer Brust. Eigentlich hatte sie vor, laut und vernehmlich zu protestieren und das sofortige Ende dieser Groteske zu fordern. Heraus kam dann aber ein durchdringender Schrei, ein wütendes, sich steigerndes Kreischen.
Damit hatte sie zunächst einmal Erfolg. Sie übertönte den murmelnden Singsang und füllte die ganze Halle mit ihrer Stimme.
Jetzt waren tatsächlich alle Blicke auf sie gerichtet und auch der Mann mit der Halbglatze drehte sich um. Obwohl er das rundliche Gesicht eines deutschen Verwaltungsbeamten hatte, lag in seinen Augen ein Ausdruck, der die Furcht zurück in Marias Brust kriechen ließ.
Noch aber hatte die Wut die Vorherrschaft. Sie deckte ihn mit einem Schwall spanischer Flüche ein und zerrte an ihren Fesseln. Er kam mit gemessenem Schritt zu ihr herüber und blickte kurz auf sie herab. Und dann tat er etwas, das jede Illusion über einen harmlosen Ausgang der Sache zertrümmerte.
Er hob die linke Hand und schlug ihr mit dem Handrücken ins Gesicht. Nicht mit voller Kraft, sondern eher verächtlich, aber es reichte aus, um Marias Kopf zur Seite zu werfen und ihren Protest abzuschneiden. Dann trat er nach hinten und aus Marias Sichtfeld. Die Gemeinde nahm ihren Singsang wieder auf.
Marias Angst und Zorn wichen einem tieferen, umfassenderen Grauen. Ihre Brustwarzen zogen sich zu harten Knoten zusammen. Sie schluchzte und reckte gleichzeitig den Hals, um den Mann im Blick zu behalten.
Dabei entdeckte sie hinter sich an der feuchten Backsteinwand eine große Stoffbahn, wie ein Banner. Sie ragte bis zur Decke und war tiefblau, wie die Kutten ihrer Peiniger. In knochenweißer Farbe war etwas darauf gedruckt, ein verschlungenes Motiv, aber der Winkel war zu ungünstig, um alles zu sehen. Lediglich am unteren Rand konnte sie etwas erkennen, das sich nach unten ringelte wie eine Girlande. Ein – Tentakel?
Dann war der Mann wieder an ihrer Seite, und sie hatte keine Zeit mehr für Bildbetrachtungen. Er blickte ihr kurz in die Augen und wirkte dabei fast missbilligend, wie gegenüber einem aufsässigen Gast, der eine Geburtstagsrede gestört hat.
Maria versuchte, ihre Panik im Zaum zu halten und sprach ihn leise und auf Deutsch an; bat ihn, sie doch loszumachen und gehen zu lassen. Das brachte ihr zwar keinen weiteren Schlag ein, aber auch keine sonstige Reaktion, und er begann sich an ihrem linken Arm zu schaffen zu machen.
Plötzliche Todesangst flutete in ihr hoch. Sie versuchte sich wegzudrehen, und ihr Oberkörper überzog sich mit kühlem Schweiß. Als sie einen Stich im Arm spürte, schrie sie auf, überzeugt davon, dass dies ihr Ende sei.
Aber so war es nicht. Stattdessen breitete sich binnen Sekunden eine warme, rote Glut in ihr aus, die die Angst mit einer wohligen, fast schon erotischen Welle fortspülte. Ihre Notlage löste sich zwar nicht auf, aber rückte in den Hintergrund wie ein lästiges Problem, mit der man sich beizeiten befassen muss. Erstmal wollte sie nichts tun, als sich auf diesem sich ausbreitenden See der Wollust treiben zu lassen.
Maria hatte nie mit Drogen experimentiert, wenn man von einem gelegentlichen Joint absah. Anderenfalls hätte sie die Wirkung von hochwertigem Heroin wahrscheinlich erkannt.
So verbrachte sie halb von Sinnen die nächste Dreiviertelstunde unbehelligt, ohne weiteren Widerstand und, darauf kam es an, ruhig. Offenbar wurde ihre Aufmerksamkeit bei dem Ritual, in dessen Mittelpunkt sie stand, nicht benötigt.
Und das war ein Segen, als schließlich das Ende kam. Sie bekam nicht mit, dass ihre Brust mit Meerwasser gewaschen wurde und sah nicht das Messer, das der Mann andächtig auswickelte.
Als es sich in ihre Brust senkte, gab es natürlich ein grelles Aufflammen, und der See der Wollust durchzog sich mit Feuer. Aber es lässt sich unmöglich sagen, wie viel davon Maria noch bewusst mitbekam.
Der letzte Schlag ihres Herzens fand schon außerhalb ihres Körpers statt und war nicht viel mehr als ein Reflex. Das Herz gab noch einen kleinen Schwall Blut von sich, konnte aber keines mehr ansaugen, da die Zufuhr bereits gekappt war.
Dann stand es für den Zeitraum mehrerer Minuten im Zentrum der Aufmerksamkeit, wurde hochgehoben, in einer Schale abgelegt und dargeboten. Ihr Körper, eine wertlos gewordene Hülle, wurde zerlegt, in Säcken verstaut und abtransportiert. Er tauchte nie wieder auf.
Das Herz aber wurde, nachdem es einen Tag und eine Nacht am Fuße des dunkelblauen Banners gelegen hatte, sorgfältig eingewickelt und in einem geheimen Ritual im Freien verbrannt.
Der Rauch stieg über dem nächtlichen Berlin auf, wurde vom Wind über eine beträchtliche Fläche verteilt und von einem frühmorgendlichen Regenschauer wieder aus der Luft gewaschen. So blieben die Teile, die einmal das Herz von Maria Gonzales aus Valencia gebildet hatten, noch lange Zeit mit Berlin verbunden; jener Stadt, in die sie gegen den Willen ihrer Eltern gegangen war.

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lindaa
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Beiträge: 27



Beitrag14.05.2018 15:21

von lindaa
Antworten mit Zitat

Hallo BaronHarkonnen!

Erst eine kleine Anmerkung:

Zitat:
Es war ansonsten kein besonderer Tag – der Frühling ließ weiter auf sich warten, obwohl der kalendarische Frühlingsbeginn fast 2 Wochen zurück lag, und der Winter sich hartnäckig hielt.


Das "Obwohl" macht für mich im Zusammenhang mit dem Winter nicht so viel Sinn. Dass der Frühling auf sich warten lässt und der Winter sich hartnäckig hält, ist ja kein Widerspruch.

Mir gefällt deine Ausdrucksweise sehr gut, der Text liest sich flüssig und ist spannend. Ein bisschen flüssiger wäre es aber wahrscheinlich noch, wenn du weniger Gedankenstriche und Strichpunkte verwenden würdest.

Generell hast du mich mit der Geschichte gepackt, ich würde gerne lesen wie es weiter geht.

Trotzdem sind ein paar Sachen nicht ganz stimmig. Die Erzählstimme ist wirklich sehr distanziert. Auf Marias Gefühle wird so gut wie gar nicht eingegangen, außer in ein paar kurzen Abschnitten. Wie fühlt sie sich, während sie entführt wird? Sie muss ja schreckliche Angst haben, das wird allerdings kaum beschrieben.

Außerdem finde ich den Einstieg des Textes ein bisschen schwierig. Die politischen Geschehnisse zu dieser Zeit und ihre ausführliche Morgenroutine (und auch die ihrer Mitbewohner) haben ja eigentlich nicht so viel mit dem Rest der Geschichte zu tun und sind ein bisschen verwirrend.

Ich hoffe ich konnte dir weiter helfen,
liebe Grüße!
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Piratin
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Beitrag15.05.2018 13:22

von Piratin
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Hallo BaronHarkonnen,

ich schleiche schon eine Weile um Deinen Text herum und überlege, warum es mir an Spannung fehlt. Die Andeutungen, die Du machst, dass Maria am Ende dieser Szene stirbt, sind es, die dem Leser die Spannung rauben, denn so weiß man schon sehr früh, dass sie es nicht überleben wird. Um mit ihr zu leiden, weiß ich trotz Deiner Erzählung über ihre Herkunft, etc. zu wenig - soll heißen, emotional bin ich nicht bei ihr, denn Deine Erzählweise ist sehr distanziert. Zwar ist der erste Satz ein starker Satz, aber genau dieser nimmt den Tod von Maria vorweg, der auch in dieser Szene bereits erfolgt. So wie dieser erste Satz erscheint Deine Erzählweise auktorial und vielleicht wäre es spannender, wenn es dichter aus Marias Perspektive erzählt wäre und ohne die Vorwegnahmen. Sie könnte sich vielleicht schon einmal verfolgt gefühlt haben, der Leser könnte dann mit ihren Augen die "Erstsichtung" des Paares im Park erleben und die kurz aufflackernden Ängste, die sie hat. Auch wenn sie dann wieder zu sich kommt, fehlt mir ihre Emotion.
Ein wenig hat mich verwirrt, was es mit den Nachrichten auf sich hat und so konnte ich erst überhaupt nicht verorten, in welchem Land Deine Geschichte spielt.  
Das klingt jetzt vielleicht hart, was ich hier geschrieben habe, aber der Plot an sich deutet sich sehr spannend an, sodass ich durchaus neugierig bin, wie es weiter geht.
Viele Grüße
Piratin


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BaronHarkonnen
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Beitrag15.05.2018 13:34

von BaronHarkonnen
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Vielen Dank lindaa für das schnelle und gehaltvolle Feedback!

lindaa hat Folgendes geschrieben:
Hallo BaronHarkonnen!

Erst eine kleine Anmerkung:

Zitat:
Es war ansonsten kein besonderer Tag – der Frühling ließ weiter auf sich warten, obwohl der kalendarische Frühlingsbeginn fast 2 Wochen zurück lag, und der Winter sich hartnäckig hielt.


Das "Obwohl" macht für mich im Zusammenhang mit dem Winter nicht so viel Sinn. Dass der Frühling auf sich warten lässt und der Winter sich hartnäckig hält, ist ja kein Widerspruch.
Das verstehe ich nicht so ganz - das Obwohl bezieht sich auf das Kalenderdatum. Obwohl schon Frühling ist, ist es noch kalt. Ich werde aber nochmal über die Formulierung nachdenken.


Mir gefällt deine Ausdrucksweise sehr gut, der Text liest sich flüssig und ist spannend. Ein bisschen flüssiger wäre es aber wahrscheinlich noch, wenn du weniger Gedankenstriche und Strichpunkte verwenden würdest.
Danke! ja, Semikolon sind mein Problem, und manche Sätze werde zu kompliziert

Generell hast du mich mit der Geschichte gepackt, ich würde gerne lesen wie es weiter geht.

Trotzdem sind ein paar Sachen nicht ganz stimmig. Die Erzählstimme ist wirklich sehr distanziert. Auf Marias Gefühle wird so gut wie gar nicht eingegangen, außer in ein paar kurzen Abschnitten. Wie fühlt sie sich, während sie entführt wird? Sie muss ja schreckliche Angst haben, das wird allerdings kaum beschrieben.
Das habe ich bewusst als Stilmittel gedacht. Die sachliche, distanzierte Sicht von oben als Kontrst zu den schrecklichen Vorkommnissen. In den kommenden Kapiteln ändert sich die Erzähler-Perspektive

Außerdem finde ich den Einstieg des Textes ein bisschen schwierig. Die politischen Geschehnisse zu dieser Zeit und ihre ausführliche Morgenroutine (und auch die ihrer Mitbewohner) haben ja eigentlich nicht so viel mit dem Rest der Geschichte zu tun und sind ein bisschen verwirrend.
das stimmt. Der Einstieg ist, obwohl bereits gekürtz, zu geschwätzig. --> werde ich noch etwas straffen.

Ich hoffe ich konnte dir weiter helfen,
liebe Grüße!

 Very Happy Liebe Grüße zurück!!


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Beitrag15.05.2018 13:42

von BaronHarkonnen
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Hallo Piratin,

auch Dir einen herzlichen Dank! Keine Angst, ist nicht zu hart Smile
Die Vorwegnahme ihres Tode ist eigentlich so beabsichtigt,als Cold Open, um Leser/Leserin erstmal zu binden ("was geht das vor?").
Allerdings hast Du wahrscheinlich recht - es sind (zu) viele irrelevante Informationen am Anfang gestreut.  Daran werd ich noch arbeiten.
Was die Distanz der Erzählers angeht, hat lisaa das auch schon bemängelt. Wenn ich merke, dass das zu vielen Leuten aufstößt, werde ich das auch nochmal überarbeiten.

Liebe Grüße
tim


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Beitrag15.05.2018 14:00
Dunkelblau - Kapitel 1
von BaronHarkonnen
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So, liebe Leute, nach Eurem freundlichen Feedback zum Prolog meines Roman-Erstlings 'Dunkelblau' kommt hier Kapitel 1.
Dazu 2 Anmerkungen:
1. Der Umfang der Geschichte ist (wenn mir nicht die Puste ausgeht Wink ) ziemlich länglich; deshalb entfaltet sich die Handlung nur langsam. Nichts für ungeduldige Leser.
2. Die Story wird ab jetzt immer aus dem Blickwinkel einer der 4 Hauptfiguren erzählt. Los geht's mit Denise

Viel Spaß!

Kapitel 1 - Denise

¬Als Denise den U-Bahnhof erreichte, war ihr Bahnsteig voller Menschen. Sie war später dran als beabsichtigt, weil sie verschlafen hatte, zum ersten Mal seit Monaten, und das ausgerechnet heute. Ihr kleiner Digitalwecker, dessen Display in den letzten Wochen blasser und blasser geworden war, hatte sich diese Nacht ausgesucht, um sich zu verabschieden, und hatte sie nicht geweckt. Denise wachte fast eine Stunde zu spät auf, als draußen ein Lieferwagen vorüber polterte, und hetzte Minuten später mit ungeordneten Haaren und ohne den dringend benötigten Morgenkaffee aus dem Haus.
Und jetzt also die U-Bahn. Die Menge der Leute auf dem Bahnsteig ließ nichts Gutes ahnen, und tatsächlich war der Zugverkehr wegen technischer Probleme unregelmäßig. Sie fluchte in sich hinein und stellte sich mit flatterndem Herzen und einem vom Koffeinmangel gedämpftem Verstand, in die Menge der Wartenden. Das wird nicht dein Tag. Ganz und gar nicht. Ein paar Minuten gab sie sich dieser Prophezeiung hin und schwelgte in Zorn und Selbstmitleid. Dann beschloss sie, es professioneller anzugehen und Alex per SMS mitzuteilen, dass es leider später werden würde. Vielleicht könnte er ja die Reihenfolge ändern und Sophies Pitch vorziehen.
Schließlich kam die Bahn im Schneckentempo angekrochen, und ein leises kollektives Murren ging durch die Menge, als erkennbar wurde, wie vollgestopft die Waggons bereits jetzt schon waren. Keine Zeit jetzt für Zimperlichkeiten, Nisy, sagte sie sich und drückte sich entschlossen nach vorn, kaum dass sich die Türen öffneten. Das trug ihr den bösen Blick eines älteren Anzugträgers ein, aber dann stand sie im Waggon und schob sich zur mittleren Haltestange vor. Als beim besten Willen kein Mensch mehr hineinpasste, schlossen sich die Türen und der Zug nahm vorsichtig Fahrt auf. Wegen der Überfüllung behielt er dieses zögerliche Tempo bei, aber selbst bei Höchstgeschwindigkeit und einer Vollbremsung hätte Denise nicht umfallen können, so eingequetscht stand sie.
Die Fahrt wurde eine echte Geduldprobe, und sie hatte noch nicht mal genug Platz, um das Handy herauszuziehen und nachzusehen, ob Alex ihre Nachricht bekommen hatte. Irgendwann war sie dann doch in Mitte und drängelte sich zur Tür durch ins Freie. Im Laufschritt rannte sie die Treppen hoch und versuchte, möglichst vielen der Pendler aus dem Weg zu gehen, die die Station füllten. Sie rannte die Torstraße hoch, bremste dann aber ihr Tempo. Es hatte keinen Sinn, völlig aufgelöst in der Redaktion zu erscheinen, und auf zwei oder drei Minuten mehr kam es jetzt auch nicht mehr an. Schließlich erreichte sie das Gebäude, ein alter Gewerbehof aus dem vorletzten Jahrhundert mit verklinkerter Fassade, der zu einem schicken Bürokomplex für die kreative Avantgarde umgebaut worden war. Es gab ein Treppenhaus, aber sie zwang sich, auf den Fahrstuhl zu warten und ihre Atmung unter Kontrolle zu bekommen.
Oben angekommen huschte sie schnell am Empfang vorbei, ließ auch die Kaffeeküche links liegen, obwohl ihr jetzt nichts lieber gewesen wäre als ein Cappuccino, und öffnete die Tür zum kleinen Konferenzraum. Sechs Gesichter wandten sich ihr zu, als sie mit entschuldigender Geste den Konferenztisch umrundete und sich auf einen freien Stuhl setzte.
„Denise. Wie schön, dass Sie es einrichten konnten.“
Das war Brinkmann, der vorne saß und eines seiner geschmacklosen Freizeithemden trug. Mit über 40 war er der älteste in der Redaktion, und der einzige, der alle siezte. Leider hatte er als Geschäftsführer und Chefredakteur auch die maßgebliche Entscheidungsgewalt über die inhaltliche Ausrichtung von berlinNow, und dass er verärgert war, war kein gutes Zeichen.
„Tut mir total leid, Herr Brinkmann, wirklich! Die U6 hatte Zugausfall, und …“
Er hob gönnerhaft die Hand.
„Ist schon OK. Kann ja mal passieren.“ Er ließ eine kleine Lücke, die andeutete, dass ihm so etwas eher nicht passieren würde.
„Da Sie nicht da waren, haben wir uns Ihren Vorschlag schon mal angehört.“
„Was?“ In ihr krampfte sich etwas zusammen. „Entschuldigung, aber ich hatte Alex doch gebeten, dass er den Pitch von Sophie vorziehen soll.“
Der Angesprochene blickte auf sein Handy, das auf dem Tisch lag. „Hast Du? Sorry, Denise, ich schalte es in Konferenzen immer stumm. Du hattest mir den Entwurf für deinen Pitch ja auch schon gestern per Mail geschickt. Ich hab‘ ihn vorhin in der Runde vorgestellt. Verstrickungen in der Bau-Lobby; wirklich eine gute Idee.“
Sie ahnte schon, was jetzt kam. „Aber?“
Brinkmann faltete die Hände zusammen und lächelte schmal. „Nichts aber. Es passt nur nicht zu unserem Profil. Wie Sie eigentlich wissen müssten. Zu aufwändig in der Recherche, online schwer vermarktbar, nicht unsere Zielgruppe. Wir sind ein Online-Stadtmagazin, nicht die New York Times. Wir produzieren zielgruppengerechten Content.“
Denise öffnete den Mund und ignorierte Alex‘ warnenden Blick. „Zielgruppengerechten Content? So etwas wie Die fettesten 10 Party-Locations, was ich letzte Woche gemacht habe? Meinen Sie nicht, dass es unsere Zielgruppe auch interessieren würde, wenn das Wohnen in der Stadt durch Mauscheleien immer teurer wird?“
Brinkmann lächelte weiter. „Möglicherweise. Möglicherweise aber auch nicht, und unsere page visits stagnieren seit 3 Monaten. Wenn Sie so etwas in Ihrer Freizeit recherchieren möchten, sehe ich mir das gerne an, und dann sprechen wir darüber. Während Ihrer Arbeitszeit bitte ich Sie aber, sich auf das zu konzentrieren, was uns einen unmittelbareren Benefit bringt. Wir dachten an Piercing-Studios. Welche sind die angesagtesten, welche die verrücktesten? Meinetwegen auch ein bisschen kritisch, über Gesundheitsrisiken und so.“
Piercing-Studios. Arschloch. Sie versuchte sich zu beherrschen, was ihr auch fast gelang. „Ähm, also, bei der Themenwahl hätte ich schon gerne mitgeredet.“
„Dann sollten Sie beim nächsten Mal vielleicht pünktlich sein. Ein Drittel des Teams ist krank, also muss es wohl jemand machen.“ Brinkmann hatte jetzt erkennbar keine Lust mehr, sich weiter mit dem Thema zu befassen, und wandte sich nach vorne. Sophie setzte ihren Vortrag fort, bei dem es um irgendwas mit veganen Suppenküchen ging, und Denise wusste, dass sie verloren hatte. Alex warf ihr noch einen halb mitleidigen, halb amüsierten Blick zu und strich sich durch den Bart, bevor er sich auch abwandte. Sie versuchte ihr Händezittern zu verbergen.

Nach der Redaktionskonferenz ging sie an ihren Platz, holte sich endlich ihren Cappuccino, und machte sich halbherzig an die Arbeit. Eine Recherche über Berliner Piercing-Studios. Vorige Woche eine über Party-Locations, und davor über die besten Mocktails der Stadt. Was kam wohl als nächstes? Die 10 schönsten Hipster-Bärte?
Heul nicht rum. Wolltest Du nicht genau das? Nun, irgendwie stimmte das. Sie wollte nach dem Journalistik-Studium nichts wie weg aus Stuttgart, weg aus dem Ländle und mitten in die Hauptstadt, am liebsten in ein junges Start-up, irgendwas Angesagtes im Online-Segment. Das war ihr gelungen, wenn auch nur mit befristetem Vertrag. Aber wo war das heute bitteschön noch anders, abseits der großen Medienhäuser? Als sie die Zusage von berlinNow bekommen hatte, und darüber hinaus noch eine kleine Altbauwohnung unweit vom Berghain, war sie überglücklich. Überzeugt davon, dass jetzt das bessere Leben beginnen könne. Das war jetzt über ein Jahr her, und die Erkenntnis, dass auch in Berlin nur mit Wasser gekocht wird, war schrittweise durchgesickert. Die Arbeit in der Redaktion war nicht die erhoffte journalistische Offenbarung. Ihr Arbeitsalltag bestand aus einer endlosen Reihe banaler oder unnötig reißerischer Artikel, die unter Zeitdruck dahingeschlunst werden mussten. Das Problem war, dass Brinkmann ein Stück weit recht hatte. Ein Online-Stadtmagazin war wirklich nicht der richtige Ort für investigativen Journalismus. Sie wäre in einem der großen Verlagshäuser wie dem Spiegel besser aufgehoben. Nur – wie dort hingelangen? Mit ihrer bisherigen Vita würde das schwierig werden. Sie bräuchte eine Eintrittskarte, einen echten Scoop, irgendeine Hammer-Story, von ihr selbst recherchiert. Aber welche? Und wann sollte sie das schaffen? Die langen Abende in der Redaktion sorgten jetzt schon dafür, dass sie noch nicht viel Anschluss in der Stadt gefunden hatte. Die Katze beißt sich in den Schwanz.
Ihre düsteren Betrachtungen wurden von Lizzie unterbrochen, die neben ihrem Schreibtisch erschien und sie angrinste.
„Na Süße? Alles klar? Wie war die Konferenz?“ Denise hatte seit letzter Woche Probleme mit einem Sicherheits-Zertifikat, und hatte per Mail einen Hilferuf an den internen Support abgeschickt. Eigentlich hielt sie sich für recht kompetent, was IT-Fragen anging, aber gegenüber Lizzie musste sie sich geschlagen geben.
„Ja, es war fantastisch. Ich war ‘ne halbe Stunde zu spät, und in der Zwischenzeit wurde mein Pitch abgelehnt.“
Lizzie schnitt ein bedauerndes Gesicht. „Oh Scheiße, tut mir leid. Brinkmann kann echt ein Arsch sein. Nur gegen meinen Arsch kommt er nicht an!“ Sie grinste weiter und wackelte mit dem besagten Körperteil hin und her. „Du hast Probleme mit Deinem Laptop? Lass mich mal ran!“
Denise beäugte sie, während sie aufstand und Lizzie Platz machte. Mit ihren Tätowierungen, die sich den Hals hinaufschlängelten, und ihrer Unbekümmertheit war sie ungefähr so cool, wie Denise es gerne gewesen wäre. Sie hatten ein paarmal eine zusammen geraucht, und einmal war sie Lizzies Einladung in einen Club gefolgt, wo sie allerdings dermaßen laut mit Hardcore beschallt worden war, dass sie nach 2 Stunden die Flucht ergriffen hatte. Trotzdem schien Lizzie rätselhafterweise eine Verbindung zwischen ihnen zu spüren, behandelte sie kumpelhaft und sprach ihr Mut zu, wenn es nötig war.
Denise, die dunkel ein erotisches Interesse bei Lizzie vermutete, freute sich über eine Verbündete in der Redaktion, achtete aber darauf, dass der Abstand nicht zu gering wurde.
Sie lächelte Lizzie schief an. „Ich recherchiere stattdessen über Piercings.“
„Piercings? Super; du kannst bei mir anfangen!“ Lizzie zeigte ihre Zunge, in deren Mitte sich tatsächlich ein Metallknopf von beachtlicher Größe befand. Dann wurde ihr Gesicht ernster. „Im Ernst. Lass dich nicht unterkriegen. Der Laden ist insgesamt echt okay, aber einen richtigen Scoop wirst du hier nicht landen können“, sagte sie und bestätigte damit unbewusst Denises‘ Gedanken.
Denise nickte. „War mir eigentlich ja auch klar. Trotzdem hatte ich gehofft, dass ich Brinkmann mit dieser Bau-Story anfixen kann. Ich meine, das war wirklich was Relevantes.“
Lizzie war bei der letzten Zigarette in ihre Idee eingeweiht worden. „Mag ja sein, dass das ein gutes Thema für eine Lokalzeitung wäre“, antwortete sie. „Aber für unseren Laden?“ Damit bestätigte sie auch noch Brinkmanns Einwände, und Denise seufzte. „Na okay. Vielleicht hast Du recht. Dann kümmere ich mich erstmal um die Piercings dieser Stadt.“ Sie hob die Augenbrauen, als Lizzie aufstand. „Schon fertig?“
„Das war kein Thema, Süße. Ungefähr so anspruchsvoll wie deine Piercing-Story. Wenn Du zur Abwechslung mal ne echte Aufgabe für mich hast, lass es mich wissen!“

Den Nachmittag über versenkte Denise sich in ihre neue Aufgabe, recherchierte über Piercing-Studios, die Geschichte des Piercings und dessen gesundheitliche Risiken. Als sie mit müden Augen den Laptop schließlich zuklappte, war es schon lange dunkel. Die Redaktion leerte sich, nur bei Brinkmann und ein paar Unermüdlichen leuchteten noch die Monitore. Denise packte ihre Sachen und machte sich auf den Heimweg. Am U-Bahnhof holte sie sich schnell noch einen Falafel und aß ihn im Gehen, während sie an der Reihe von Szene-Cafés und Bars vorbeiging, in denen sich das abendliche Kiez-Leben abspielte.
Zu Hause angekommen, schloss sie die verzogene Holztür auf und machte sich am Briefkasten zu schaffen. Graffiti verzierte die Wände des Altbaus, der schon bessere Tage gesehen hatte, und schaler Essensgeruch durchzog den Hausflur. Als sie gerade den Briefkasten geschlossen hatte und im Begriff war, nach oben zu gehen, öffnete sich die Haustür nochmal. Es war ein untersetzter junger Mann, der sich mit entschuldigendem Lächeln an ihr vorbeischob und zur Treppe ging. Ihr Nachbar aus der Wohnung schräg unter ihr. Etwas betroffen merkte sie, dass sie seinen Namen nicht kannte, obwohl er kurz nach ihr eingezogen war und sie sich hin und wieder auf der Treppe gegrüßt hatten. Es lebe die anonyme Großstadt.
Sie folgte ihm und achtete darauf, ihm nicht zu sehr auf die Pelle zu rücken. Er war nicht der Schnellste, und so stiegen sie gemessen und schweigend nacheinander die Treppe hinauf. An seiner Tür angekommen, nestelte er seinen Schlüssel heraus. Als Denise an ihm vorbeigehen und weiter hochsteigen wollte, drehte er sich plötzlich nach ihr um.
„Hi. Du, ähm, sag mal, du hast nicht zufällig Kaffee?“
„Kaffee?“, sagte Denise. „Du meinst Kaffeepulver?“
„Ja genau, oder Bohnen. Wenn ja – könntest du mir damit aushelfen? Bekommst du natürlich wieder. Edeka ist ja schon geschlossen, und der Späti an der Ecke ist auch zu.“ Er lächelte schüchtern.
Das stimmte. Denise war an dem dunklen, vergitterten Laden vorbeigekommen.
„Also, na klar“, meinte sie. „Ich habe zwar kein Pulver, aber ich kann dir mit Bohnen aushelfen. Ich hab‘ nur einen Vollautomaten.“
„Super, das passt. Ich habe auch einen. Ohne abendlichen Kaffee geht bei mir gar nichts.“ Wieder das Lächeln.
Denise nahm ihn näher in Augenschein. Er wirkte irgendwie nicht wie der Vollautomaten-Typ, sondern sah eher nach Coladosen und Kaffee aus Pappbechern aus. Jünger als sie, vielleicht Anfang 20, mit ausgebeulten schwarzen Klamotten und blonden Haaren, die einen Schnitt und eine Wäsche gut vertragen könnten. Insgesamt der Typ, an dem sie auf der Straße immer vorübergehen würde, und mit dem sie in ihrem Leben höchstens ein paar Sätze gewechselt hatte. Ein Nerd. Aber sein Lächeln war irgendwie süß, etwas schüchtern und doch verschmitzt.
„Na dann komm mit hoch. Kaffeemangel geht gar nicht.“ Sie lachte leise, und er fiel ein. Dann folgte er ihr schnaufend die Treppen hinauf, und sie sperrte auf.
Im Flur brannte Licht, was bedeutete, dass Inga zu Hause war, und tatsächlich hörte Denise sie durch die geschlossene Wohnzimmertür telefonieren. Genauer gesagt: in den Hörer schluchzen. Denise schloss kurz genervt die Augen; es könnte ein anstrengender Abend werden.
Der Junge folgte ihr zögernd. „Ach, das hier ist eine WG? Wusste ich gar nicht.“
„Ist es auch nicht.“ Sie lächelte ihn schief an. „Ist nur eine Freundin von mir, die von ihrem Ex vor die Tür gesetzt wurde und bei mir untergeschlüpft ist.“ Seit fünf Wochen. Und die keine Anstalten zeigt, wieder auszuziehen.
Er folgte ihr in die kleine Küche und blickte sich aufmerksam um, während sie die Kaffeedose herauskramte. Dabei erblickte er den Kunstkalender, der neben der Spüle hing. „Oh, Cindy Sherman. Schick.“
„Du kennst Cindy Sherman?“ Sie musste sich zusammenreißen, um das Du nicht zu betonen. Soviel zu den Vorurteilen über Nerds.
„Naja, hatten wir mal in der Schule. Und ich fand ihren Ansatz cool, selbst in so viele Rollen zu schlüpfen. Die eigene Persönlichkeit quasi transparent zu machen. Eigentlich komme ich ansonsten mehr so aus dieser Ecke.“ Er deutete etwas verlegen auf seinen Kapuzenpulli, auf dem unübersehbar ein gelbes Star Wars-Logo prangte.
„Also, ich liebe Cindy Sherman!“ sagte Denise. „Aber Star Wars hab‘ ich noch nie gesehen. Sorry.“
„Woah! Sowas geht?“ Er runzelte tatsächlich die Augenbrauen und versuchte sich offensichtlich vorzustellen, wie ein Leben mit einem solchen Mangel wohl aussehen könnte.
Denise musste grinsen und drückte ihm einen Gefrierbeutel in die Hand, den sie mit Kaffeebohnen gefüllt hatte. „Bitte schön. Und zurückhaben möchte ich die natürlich nicht. Ich hab‘ was gut bei dir, wenn ich mal was brauche, ok?“
„Auf jeden Fall! Und vielen Dank!“ Sein Händedruck, auch das war eine kleine Überraschung, war trocken und fest. „Ich heiße übrigens Benny.“

Als er weg war, kam Inga mit verheultem Gesicht aus dem Wohnzimmer. Sie drückten sich kurz, und Denise fuhr ihr über das zerwühlte Haar. Ihre letzte Beziehung mit Trennungsdrama lag schon etwas zurück, vor ihrem Umzug nach Berlin, und damals war sie so wütend auf den Mistkerl und seinen Verrat gewesen, dass das den Schmerz fast vollständig überlagert hatte. So aus der Bahn geworfen wie Inga war sie noch nie gewesen, und sie hatte auch nicht vor, dass das jemals passierte. Dann lieber frei und unabhängig, mit gelegentlichem Abenteuer in der von ihr gewünschten Dosis.
Apropos. Seit 3 Tagen war sie nicht mehr auf Red&Black gewesen, weil es sich nicht ergeben hatte. Davor hatte sie dort diesen Typen angeschrieben, dessen Profilbild ganz verheißungsvoll war. Vielleicht hatte der inzwischen geantwortet? Als disziplinarische Maßnahme verbot sie sich tagsüber jeden schnellen Blick ins Portal, weil sie wusste, wie schnell sie dort kleben blieb, und hatte auch die Push-Nachrichten deaktiviert. Aber jetzt könnte sie sich diese kleine Freude gönnen.

Zu ihrem Glück war Inga heute nicht in Redestimmung. Das Telefonat hatte sie so ausgelaugt, dass sie sich mit einem Tee und einem kurzen Schwätzchen am Küchentisch begnügte. Danach ging sie für eine Zigarette auf den Balkon, und Denise nutzte die Gelegenheit, um sich zu verabschieden und sich in ihr Schlafzimmer zurückzuziehen. Am liebsten hätte sie sich noch einen von Ingas Schokoladen-Puddings aus dem Kühlschrank geschnappt, aber die Aussicht auf ein mögliches Date disziplinierte sie und ließ sie zu einem Apfel greifen.
Sie warf sich auf das Bett und fuhr den Laptop hoch. Adresse und Anmeldedaten hatte sie im Kopf, und sie achtete immer peinlich genau darauf, dass ihre Besuche von Red&Black nicht im Browser-Verlauf auftauchten. Inga nutzte den Laptop gelegentlich auch, und dieses kleine Geheimnis wollte sie unbedingt für sich behalten. Ein sündiges erotisches Kribbeln durchzog sie jedes Mal, sobald sich die Seite aufbaute.
Denise hielt sich für emanzipiert (und war es auch), und deswegen hatte es ziemlich lange gebraucht, sich einzugestehen, wie sehr sie das Spiel von Dominanz und Unterwerfung erregte. Schon ab ihrer dritten Liebesbeziehung – die erste war im Wesentlichen ein verdruckstes Ausprobieren, die zweite war Der-dessen-Name-nicht-genannt-werden-darf gewesen – hatte sie der Sex nach der anfänglich stürmischen Phase schnell zu langweilen begonnen. Sie genoss die Nähe und Intimität, aber hatte immer das unbestimmte Gefühl, dass etwas fehlte. Sie musste erst nach Berlin ziehen und etliche einsame Abende auf dem Sofa verbringen, bevor sie sich das erste Mal auf dieses Terrain vorzutasten traute. Seitdem war sie etwas mutiger geworden, hatte aber immer noch ein schuldbewusstes Flattern im Bauch, so wie ein Teenager, der nachts heimlich die Schmuddelhefte unter der Matratze hervorholte. Im Endeffekt konnte sie die Anzahl der Dates, die über Red&Black zustande gekommen waren, an einer Hand abzählen, wenn man den Daumen außen vorließ. Trotzdem hatte es ihrem Liebesleben einen Schub verpasst, den sie noch vor 2 Jahren für unmöglich gehalten hätte.
Im Posteingang lagen vier Nachrichten. Sie öffnete die Liste und überflog die Namen der Absender. Ihr Wunschkandidat war nicht darunter. Denise atmete tief aus – was hatte sie nach einem solchen Tag anderes erwartet? - und öffnete eine der übrigen Nachrichten. Das erste, was ihr entgegensprang, war ein Penis in Großaufnahme, der offenbar durch ein kompliziertes System von Lederbändern abgeschnürt und in Form gehalten wurde. Der Text dazu war knapp und passte zum Bild.
Denise seufzte. Wenn man sich ein paar Monate auf einer BDSM-Plattform herumgetrieben hatte, lernte man, nicht allzu zimperlich zu sein. Trotzdem stieß sie die obszöne Direktheit und gleichzeitige Banalität dessen, was manche Menschen offenbar für erotisch hielten, immer noch ab. Sie klickte die Nachricht direkt in den Papierkorb und öffnete die nächste. Ein etwas längerer Text, der aber offensichtlich per copy & paste an diverse Frauen verschickt worden war. Er wanderte in den Papierkorb. Die nächste Nachricht war noch kürzer als die erste und bestand nur aus einer Aufforderung, die keine Fragen offenließ. Auf dem dazugehörigen Bild rekelte sich ein bärtiger Mann; ein haariger Bauch quoll unten aus einem Latex-Shirt heraus.
Klick, Papierkorb.
Die letzte Nachricht war anders, und Denise stutzte. Die Meldung selbst war auch nicht gerade lang, höchstens ein paar Zeilen, aber der Tonfall war ein komplett anderer. Höflich, fast schon formell. Sie wurde gesiezt; das war ihr hier noch nie passiert. Und sie wurde nicht gefragt oder gebeten; mit einer kühlen, fast schon aristokratischen Selbstverständlichkeit teilte man ihr mit, dass ein gemeinsames Dinner erwünscht sei.
Das Profilbild faszinierte Denise fast noch mehr als die Nachricht. Die meisten Herren zeigten sich auf Red&Black in mehr oder weniger eindeutigen Posen. Viele verbargen zumindest teilweise ihre Gesichter oder trugen szenetypische Fetischkleidung. Nicht so Er. Er trug einen eleganten dunklen Anzug und blickte frontal in die Kamera, ohne die Spur eines Lächelns. Oder versteckte sich in seinen Zügen doch eine Belustigung? Schwer zu sagen. Er war ein gutes Stück älter als sie – wie war er überhaupt durch ihre Filtereinstellungen gerutscht? - aber dabei attraktiv, ziemlich sogar. Dunkle, hinten zu einem Pferdeschwanz zusammengefasste Haare, eckiges Kinn, dunkle Augen mit einem undeutbaren Ausdruck. Geheimnisvoll; das traf es am ehesten.
Hallo Mister Unbekannt, dachte Denise und runzelte die Brauen, während sie gleichzeitig lächelte. Nicht das, was sie erwartet hatte, und eigentlich auch nicht ihr Typ. Trotzdem nicht uninteressant, definitiv nicht. Vielleicht war der Tag letztlich doch noch zu etwas gut gewesen? Ein erotisches Abenteuer als Ausgleich für ein abgelehntes Projekt?
Mit einem dunklen Kribbeln im Unterleib ergriff sie die Maus und klickte auf ‚Antworten‘.

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MosesBob
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Beitrag15.05.2018 16:01

von MosesBob
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Moin Moin!

Ich habe das erste Kapitel an den Thread gehängt, in dem auch der Prolog zu finden ist. Für mehrteilige Geschichten sehen wir im dsfo nur einen Thread vor. smile

Beste Grüße,

Martin


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Rudi.Hermes
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Beitrag15.05.2018 16:31
Wow...
von Rudi.Hermes
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Moin Tim,
Hammer, habe deinen Prolog regelrecht verschlungen. Ich freue mich auf heute Abend, dann befasse ich mich mit dem ersten Kapitel. Sehr geil (tschuldigung). Ich finde schon den ersten Satz des Prologs als Einstieg ungeheuer gelungen. Natürlich muss man mit Semikola und Gedankenstrichen hausieren, aber manchmal sind sie auch ein geeignetes Mittel um Spannung noch ein wenig zu akzentuieren. Machst du in meinen Augen aber gut.  Das sind aber, genau wie Tempusfehler, Satzlängen etc. Dinge, die man in unzähligen Überarbeitungen sowieso und spätestens im gemeinsamen Lektorat diskutiert und ausmerzt. Was aber deinen Plan mit den wechselnden Erzählperspektiven angeht: Das kann auch nach hinten losgehen. Manchmal ist es nett, eine spannende Sequenz auch noch einmal aus der Perspektive eines anderen Beteiligten zu erleben, aber aus meiner persönlichen Sicht ist da weniger mehr. Bis demnächst und
LG vom Rudi


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lindaa
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Beitrag15.05.2018 17:31

von lindaa
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Hallo BaronHarkonnen! Laughing

Naja, ich meine man könnte auch sagen:

"Der Frühling ließ weiter auf sich warten, WEIL der Winter sich hartnäckig hielt."

den kleinen Einschub in der Mitte jetzt mal außer Acht gelassen. Also die beiden Teile widersprechen sich nicht, weshalb für mich ein "obwohl" an dieser Stelle keinen Sinn macht.

Erst mal ein großes Wow, zu dem nächsten Teil der Geschichte. Du schreibst wirklich schön, klingt als hättest du schon einiges an Erfahrung mit Geschichtenschreiben!

Ich bin selbst keine Kommasetzungsexpertin, aber ich dachte immer, dass vor "und" kein Komma kommt. Bin mir allerdings nicht sicher.

Das Einzige was mir ein bisschen fehlt an der Fortsetzung ist die Beschreibung, wie Denise aussieht. Ich würde gerne wissen, wie ich mir die Hauptperson während des Lesens vortsellen darf.

Ich bin schon sehr gespannt darauf wie es weiter geht, hoffentlich gibst du uns noch mehr Fortsetzungen!

liebe Grüße
Linda
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Rudi.Hermes
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Alter: 56
Beiträge: 20
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Beitrag15.05.2018 19:22
Liest sich richtig gut...
von Rudi.Hermes
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...deine Geschichte. Ich zähle übrigens zu der Klientel der geduldigen Leser, also gerne mehr von deinem Stoff Wink . Zwei kleine Anmerkungen: über den Begriff „Mauscheleien“ stolpere ich ein wenig. Wäre Küngelei, Korruption, Vetternwirtschaft... eine Alternative für dich? Ist aber reine Geschmackssache. Ändern musst du jedenfalls die Beschreibung von Denisé Beziehungen. Da muss es heißen „seit“, nicht „ab“. Kleinigkeiten also. Du schreibst sehr gut, variierst den Stil den Situationen entsprechend und lässt dem Leser bei aller Plastizität deiner Schilderungen immer eine gewisse Portion Restneugier. Gefällt mir persönlich sehr gut. Viel Spaß weiterhin und
LG vom Rudi


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Muskat
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Beitrag16.05.2018 09:36
Baron
von Muskat
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Hallo Baron,

gerade habe ich deinen Prolog gelesen und möchte noch einiges dazu sagen.
Zunächst zum Aufbau:

Wozu brauchst du die Wetterbeschreibung zu Beginn? Ändert das etwas an Marias Tag? Du schreibst zu Beginn nicht aus Marias Perspektive-warum nicht? Wozu die Distanz?
Aufgrund des distanzierten Erzählens fehlt das Mitgefühl mit Maria und es fehlt dir das Erzeugen von Spannung. Das versuchst du mittels der Andeutungen -Marias bevorstehendes Ende- auszugleichen, aber im Grunde ist das ein Schuss nach hinten.

Mein Vorschlag: Beginne das Ganze an der Stelle:

Zitat:
Maria, deren Vorlesungen an diesem Tag etwas später begannen, blieb nach dem Aufwachen noch ein wenig liegen und ließ ihre Gedanken ziehen. Dann trieben sie das zunehmende Tageslicht – graues Winterlicht, kein Sonnenschein – und die Geräusche ihrer Mitbewohner aus dem Bett


Die Mitbewohner sollten Mitbewohner bleiben, ohne die Namensnennung, die hier eher verwirrt, weil die Figuren in dem Prolog nicht mehr auftreten.

Dann versinke in Maria und zeige ihre Gefühle! Als Leser will ich die Angst und Panik spüren, nicht nur ihre Einsamkeit.
Ebenso ihre gehobene Laune, und die behalte bei, umso härter trifft einen dann das Kommende!

Zum Ende hin:

Zitat:
Sie bekam nicht mit, dass ihre Brust mit Meerwasser gewaschen wurde und sah nicht das Messer, das der Mann andächtig auswickelte.


Wer bekommt es denn dann mit, wenn nicht sie? Du erzählst doch aus ihrer Perspektive, was du gleich im nächsten Satz tust?
Warum bleibst du nicht in ihr und lässt sie den Schmerz spüren? ich frage nochmal: Wozu die Distanz? Willst du den Leser schonen?

Zur Stilistik: Bitte streiche alle "eigentlich". Das ist zu schwammig. Entweder es ist so oder nicht.

Soweit erstmal.
Verzeih, dass ich direkt bin, aber mir scheint, dass du was vom Handwerk verstehst. Daher denke ich, dass du die Wirkung deutlich erhöhen könntest, wenn du die Perspektive beibehältst, die Gefühle der Protagonistin zeigst und alle Andeutungen streichst.

Liebe Grüße

Muskat


Nachtrag:

Gerade lese ich das:

Zitat:
Das habe ich bewusst als Stilmittel gedacht. Die sachliche, distanzierte Sicht von oben als Kontrst zu den schrecklichen Vorkommnissen. In den kommenden Kapiteln ändert sich die Erzähler-Perspektive


Nein, das funktioniert nicht! Glaube mir.

Du kannst die Leser nicht damit vertrösten, dass es in den folgenden Kapiteln anders wird. Lass sie von Anfang an mit Maria mitfühlen.
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Rudi.Hermes
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Beitrag16.05.2018 10:32
Re: Baron
von Rudi.Hermes
Antworten mit Zitat

Muskat hat Folgendes geschrieben:
Wozu brauchst du die Wetterbeschreibung zu Beginn? Ändert das etwas an Marias Tag?


Das sehe ich eher in der atmosphärischen Ausgestaltung und halte es für wohl gelungen. Es zeigt dem Leser, dass das Grauen völlig unvermittelt und innerhalb alltäglichster Szenarien zuschlagen kann. Stephen Kings Romane beispielsweise sind gespickt mit derlei Schilderungen.

Muskat hat Folgendes geschrieben:
Du schreibst zu Beginn nicht aus Marias Perspektive-warum nicht? Wozu die Distanz?


Er führt den Leser so auf seine Protagonistin zu. Ist für mich viel realistischer. Kommt halt immer auf die Intention an.  


Zitat:
Mein Vorschlag: Beginne das Ganze an der Stelle:

Maria, deren Vorlesungen an diesem Tag etwas später begannen, blieb nach dem Aufwachen noch ein wenig liegen und ließ ihre Gedanken ziehen. Dann trieben sie das zunehmende Tageslicht – graues Winterlicht, kein Sonnenschein – und die Geräusche ihrer Mitbewohner aus dem Bett


Sicherlich auch eine Variante, die ursprüngliche Form gefällt mir persönlich  allerdings besser (Geschmacksache Wink ).

Zitat:
Die Mitbewohner sollten Mitbewohner bleiben, ohne die Namensnennung, die hier eher verwirrt, weil die Figuren in dem Prolog nicht mehr auftreten.


Gerade weil sie nicht weiter auftreten ist es eigentlich egal, ob mit oder ohne Namen. Als "Mitbewohner" würden sie nur noch mehr in der Anonymität versinken. Die Namen machen Marias Setting in meinen Augen nur ein wenig persönlicher, "wärmer".



Zitat:
Zum Ende hin:

Zitat:
Sie bekam nicht mit, dass ihre Brust mit Meerwasser gewaschen wurde und sah nicht das Messer, das der Mann andächtig auswickelte.


Wer bekommt es denn dann mit, wenn nicht sie? Du erzählst doch aus ihrer Perspektive, was du gleich im nächsten Satz tust?
Warum bleibst du nicht in ihr und lässt sie den Schmerz spüren? ich frage nochmal: Wozu die Distanz? Willst du den Leser schonen?


Das Mädel ist durch das Heroin doch völlig weggeschossen.

Zitat:
Zur Stilistik: Bitte streiche alle "eigentlich". Das ist zu schwammig. Entweder es ist so oder nicht.


Hier gebe ich dir eigentlich Recht Wink , allerdings wird diese phrasische Einschränkung im alltäglichen Dialog tausendfach verwendet. Es wäre eher unreal, wenn das bei Romanfiguren nicht der Fall wäre.

@Muskat: Ich hoffe, dass du mir meine Direktheit ebenfalls ncht übel nimmst. Vieles liegt halt im Auge des jeweiligen Betrachters.

LG vom Rudi


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Muskat
Eselsohr


Beiträge: 343



Beitrag16.05.2018 11:43
Baron
von Muskat
Antworten mit Zitat

Hi Rudi,

ich fange mit dem Ende an:


Zitat:
@Muskat: Ich hoffe, dass du mir meine Direktheit ebenfalls ncht übel nimmst. Vieles liegt halt im Auge des jeweiligen Betrachters.


Ich nehme deine Meinung zu meinem Beitrag keinesfalls übel, möchte aber der Aussage widersprechen: Geht es ums Handwerk, dann liegt eben nicht vieles im Auge des Betrachters, meine ich.

Nun aber der Reihe nach:

Zitat:
Muskat hat Folgendes geschrieben:
Wozu brauchst du die Wetterbeschreibung zu Beginn? Ändert das etwas an Marias Tag?


Das sehe ich eher in der atmosphärischen Ausgestaltung und halte es für wohl gelungen. Es zeigt dem Leser, dass das Grauen völlig unvermittelt und innerhalb alltäglichster Szenarien zuschlagen kann. Stephen Kings Romane beispielsweise sind gespickt mit derlei Schilderungen.


Stimmung ist wichtig, keine Frage. Aber sie sollte eben einen Bezug zur Protagonistin haben. Hier hat sie den nicht.
Und richtig! Auch ich habe das unvermittelte Eintreten des Grauens in den Alltag angesprochen. Davon kann hier keine Rede sein, weil Baron es ja vorher zwei Mal (?) ankündigt.
Was den Alltag angeht, den soll Baron zeigen und das tut er auch, aber halt den der Protagonistin.

Zitat:
Muskat hat Folgendes geschrieben:
Du schreibst zu Beginn nicht aus Marias Perspektive-warum nicht? Wozu die Distanz?


Er führt den Leser so auf seine Protagonistin zu. Ist für mich viel realistischer. Kommt halt immer auf die Intention an.  


Wieso ist es realistischer, wenn die Geschichte Marias erzählt werden soll, allgemein über das Wetter zu reden, wenn es keinerlei Bedeutung für sie hat? Wieso ist es realistischer, Distanz zur Protagonistin zu wahren?
Tut mir leid, aber das verstehe ich nicht.
Ist es im Leben nicht so, dass wir alles und jedes bewerten? Ist es kalt, ärgern wir uns oder auch nicht. Ist es uns gleichgültig, dann denken wir keine Sekunde darüber nach.
Hier das Wetter zu erwähnen, macht dann Sinn, wenn es für Maria eine Rolle spielt. Ansonsten braucht es die Erwähnung nicht.

Zitat:
Mein Vorschlag: Beginne das Ganze an der Stelle:

Maria, deren Vorlesungen an diesem Tag etwas später begannen, blieb nach dem Aufwachen noch ein wenig liegen und ließ ihre Gedanken ziehen. Dann trieben sie das zunehmende Tageslicht – graues Winterlicht, kein Sonnenschein – und die Geräusche ihrer Mitbewohner aus dem Bett


Sicherlich auch eine Variante, die ursprüngliche Form gefällt mir persönlich  allerdings besser (Geschmacksache Wink ).




Es geht mir nicht um die Frage nach Geschmack, sondern um den Bezug der Beschreibungen zu der Protagonistin.
Mit meinem Geschmack hat das Ganze nichts zu tun.


Zitat:
Zitat:
Die Mitbewohner sollten Mitbewohner bleiben, ohne die Namensnennung, die hier eher verwirrt, weil die Figuren in dem Prolog nicht mehr auftreten.


Gerade weil sie nicht weiter auftreten ist es eigentlich egal, ob mit oder ohne Namen. Als "Mitbewohner" würden sie nur noch mehr in der Anonymität versinken. Die Namen machen Marias Setting in meinen Augen nur ein wenig persönlicher, "wärmer".



Die Mitbewohner sollen eben auch anonym bleiben, weil sie nicht mehr auftreten. Wird ein Name genannt, erwarte ich als Leser, dass er von Bedeutung ist.

Zitat:
Zum Ende hin:

Zitat:
Sie bekam nicht mit, dass ihre Brust mit Meerwasser gewaschen wurde und sah nicht das Messer, das der Mann andächtig auswickelte.


Wer bekommt es denn dann mit, wenn nicht sie? Du erzählst doch aus ihrer Perspektive, was du gleich im nächsten Satz tust?
Warum bleibst du nicht in ihr und lässt sie den Schmerz spüren? ich frage nochmal: Wozu die Distanz? Willst du den Leser schonen?


Das Mädel ist durch das Heroin doch völlig weggeschossen.



Ich spreche hier von einem Perspektivwechsel und nicht von einer benebelten Protagonistin. Ist sie nicht mehr Herr ihrer Sinne, dann sollte erzählt werden, was SIE wahrnimmt und nicht die Perspektive gewechselt werden.

Zitat:
Zitat:
Zur Stilistik: Bitte streiche alle "eigentlich". Das ist zu schwammig. Entweder es ist so oder nicht.


Hier gebe ich dir eigentlich Recht Wink , allerdings wird diese phrasische Einschränkung im alltäglichen Dialog tausendfach verwendet. Es wäre eher unreal, wenn das bei Romanfiguren nicht der Fall wäre.


Bsp:

Zitat:
Eigentlich wollte sie immer noch schreien, aber ihre Zunge war plötzlich dick und nutzlos, und auch die Stimmbänder spielten nicht mehr mit.


Es handelt sich um keinen Dialog hier sondern um einen erzählten Teil. Folglich hat der nichts mit der gesprochenen Sprache zu tun. Daher ist das Wort wohl entbehrlich, weil schwammig. Der Satz ist wirkungsvoller in der Form:

Sie wollte noch immer schreien, aber die Zunge ...

Soweit meine Meinung dazu. Was Baron davon verwertet, bleibt ihm überlassen.

Liebe Grüße

Muskat
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BaronHarkonnen
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Beitrag16.05.2018 12:10

von BaronHarkonnen
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Hallo liebe Leute,

es ehrt mich sehr, dass Ihr so konstruktiv über meinen Text diskutiert. Danke dafür!

Ich kann/möchte jetzt nicht auf jeden einzelnen Punkt eingehen, deshalb erstmal nur 2 Anmerkungen:

1) einige Hinweise, insbesondere was den Einstieg und die Zusatz-Infos (Mitbewohner, Wetter etc.) werde ich bestimmt berücksichtigen.
Mein Ziel war es, ein komplexes und realistisches Szenario zu beschreiben. Wenn da zuviel unnötige/irrelevante/verwirrende Details sind, werde ich dran arbeiten.

2) die Sache mit der Perspektive. Die habe ich aus 2 Gründen gewählt:
zum Einen ist zu viel Nähe m.E. hier gar nicht erforderlich: Maria ist keine handlungsrelevante Person, sondern nur ein Hilfsmittel, um das Szenario aufzuspannen (nichts für ungut. Maria Wink ).
Danach ist sie weg und taucht nie wieder auf. Man soll/muss sie einfach nicht näher kennenlernen. Deshalb werde ich auch einige ihrer biografischen Details kürzen.
Zum Anderen könnte ich, wenn ich aus ihrer Perspektive erzählen würde, den Vorgriff auf ihren Tod und den Fortgang der Opferung nicht mehr beschreiben. Gerade die finde ich für den Cold Open aber entscheidend.
Wie schon gesagt: ab dem 1. Kapitel folgt die Erzählperspektive dann direkt den Protas und wird subjektiv.

Nur so nebenbei: Frank Schätzung hat das auch mal so gemacht (nicht dass ich mich mit ihm vergleichen wollte). Beim Einstieg von der Schwarm  habe ich das geklaut habe ich mich inspirieren lassen. Wink

Nochmal ganz lieben Dank für Euer Feedback!! Very Happy


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Beitrag16.05.2018 12:22
Baron
von Muskat
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Beim Einstieg von der Schwarm habe ich das geklaut habe ich mich inspirieren lassen. Wink




 Laughing

Zitat:
einige Hinweise, insbesondere was den Einstieg und die Zusatz-Infos (Mitbewohner, Wetter etc.) werde ich bestimmt berücksichtigen.


Das freut mich.

Liebe Grüße
Muskat
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BaronHarkonnen
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Beitrag16.05.2018 12:24

von BaronHarkonnen
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Und hier für die, die noch Lust haben, Kapitel 2 mit der Einführung des zweiten Protas.
Viel Spaß!


Kapitel 2
Yusuf


Das Gebet zum Maghreb war seit ein paar Minuten vorbei, und der kleine Gebetsraum hatte sich geleert. Yusuf blieb noch ein paar Minuten mit überkreuzten Beinen sitzen und dachte nach. Er hatte heute an allen Gebeten teilgenommen, was nicht oft vorkam. In der kleinen Welt, die er mit seinen Schicksalsgenossen teilte, gab so etwas Pluspunkte. Nur ‘ischa würde er schwänzen, da konnten sie sagen, was sie wollten.
Bei dem nasskalten Wetter, das der scheidende Winter mit sich gebracht hatte, hatte er sich eine fiebrige Erkältung geholt, durch die er fast eine Woche ans Bett gefesselt gewesen war. Bei den vielen Menschen und dem beengten Raum im Wohnheim wäre alles andere auch ein Wunder gewesen. Die letzten Monate hatten mehrere Erkältungswellen mit sich gebracht, und dieses Mal hatte es ihn erwischt. Erst nur eine laufende Nase, dann bellender Husten, dann noch Fieber obendrauf. Dadurch war er über eine Woche kaum vor der Tür gewesen, und hatte sich aus lauter Langeweile häufiger im Gebetsraum wiedergefunden.
Jetzt musste Yusuf dringend raus.
Ein kleines Lächeln schlich sich auf sein Gesicht. Zu Hause war Namika immer die Gläubigere von ihnen gewesen, während sein Verhältnis zur Religion eher pragmatisch gewesen war. Unter der Woche konnte er seine Arbeit im Institut vorschieben, und das war nicht mal gelogen: mit dem Lehrbetrieb und der Betreuung der Doktoranden war immer mehr als genug zu tun. Es gab auf dem Campus in Damaskus natürlich auch Gebetsräume und eine Fraktion, die diese regelmäßig nutzte. Insgesamt war das Klima an der Universität aber liberal gewesen, trotz einiger gegenläufiger Strömungen in den letzten Jahren. Keinen kümmerte es, wenn ein kleiner Dozent den Gebeten fernblieb. Für die Spitzel der politischen Polizei zählte sowieso nur linientreue, nicht Frömmigkeit.
An den Wochenenden funktionierte diese bequeme Ausrede nur eingeschränkt. Namika hatte eine kleine Ecke neben der Veranda eingerichtet, und durch die Ausrichtung nach Mekka fügte es sich, dass man beim Aufrichten direkt auf die fernen Berge blicken konnte. Yusuf hatte diesen Ort gemocht und auch deswegen gelegentlich an den Gebeten teilgenommen.
Wenn sie gewusst hätte, dass er den kleinen Gebetsraum hier so häufig aufsuchte, stickig und fensterlos wie er war, hätte sie ihn bestimmt verspottet.
Von unten war das Geräusch des Kickers zu hören, und aus Richtung der Küche zog ein aromatischer Dunst durch den Flur. Heute hatten die Afrikaner Küchendienst, und das lohnte sich fast immer. Yusuf beschloss das Abendessen noch mitzunehmen, auch wenn das bedeutete, dass er erst nach Einbruch der Dämmerung starten würde. Aber ausschlafen konnte er morgen, wenn er wollte. Rahul, der mit ihm den Raum teilte, hatte seit kurzem einen Job in einer Reinigungsfirma und verließ frühmorgens das Wohnheim.
Das Abendessen hielt, was die Gerüche versprochen hatten – scharf angebratenes Gemüse und Fisch mit einem milden Hirsebrei. Er würde noch zum Experten für internationale Küche werden, wenn er weiter hier wohnte. Beim Essen setzte er sich zu einer Gruppe Syrer, mit denen er eine melancholische Schicksalsgemeinschaft bildete, und lauschte den Tischgesprächen. Die Lage in Syrien, die Lage in Deutschland, Assad; es war das Übliche, täglich neu durchgekaut und variiert.
Nach dem Essen stand er auf und nickte der Runde zu. Es gab ein paar spöttische, aber auch freundlich gemeinte Kommentare zu seiner Ruhelosigkeit. Bei einigen, die er kannte, war er inzwischen bekannt als al-Tabib almutajawil – der wandernde Doktor. Mit diesem Spitznamen konnte er leben.
Er zog sich seine dicken Wanderschuhe und die Outdoor-Jacke an – eine Spende der Willkommens-Initiative - und trat ins Freie. Neben der Tür stand die kleine Raucherfraktion und nickte ihm zu. Der Himmel war tatsächlich schon dunkel und die Luft kühl, aber lange nicht mehr so kalt wie noch vor ein paar Tagen. Der Frühling schien sich tatsächlich langsam durchzusetzen. Immerhin etwas.
Yusuf atmete tief ein und machte sich auf den Weg in die Berliner Nacht. Das Wohnheim mit seiner Enge hinter sich zu lassen und die kühle Luft einzuatmen, sorgte alleine schon dafür, dass er sich besser fühlte.

Die Hauptstraße war von Geschäften gesäumt, von denen einige noch geöffnet waren und mit leuchtenden Schildern für sich warben. Yusuf achtete inzwischen darauf, möglichst viel im Alltag zu lesen und darüber sein Deutsch zu verbessern. Letztes Jahr hatte ihn ein Mitbewohner zu einem Ausflug nach Neukölln überredet. Dort sah nicht nur die gefühlte Mehrheit der Passanten so aus, als käme sie aus dem arabischen Raum, sondern er entdeckte auch arabisch beschriftete Geschäfte und Cafés. Das war praktisch, hinterließ aber ein ungutes Gefühl, gerade weil es ihn an daheim erinnerte. In Damaskus gab es das alte kurdische Viertel, mit kurdischen Geschäften, Teehäusern und einem alljährlichen großen Newroz-Fest. Als Teil einer liberalen Gesellschaftsschicht hatte sich Yusuf nichts dabei gedacht, sondern war gerne durch das Gewirr der kleinen Gassen geschlendert.
Aber er merkte auch, dass bei weitem nicht alle so dachten. Den Kurden wurde die Teilhabe an der syrischen Gesellschaft systematisch verweigert, sie blieben in ihrem Ghetto und mussten sehen, wie sie klarkommen. Und auch seinen Eltern wäre es nicht im Traum eingefallen, in einem kurdischen Geschäft einkaufen zu gehen. Ohne dass sie bösartig gewesen wären, war für sie klar: Es gibt uns, und es gibt die. Die werden niemals richtig dazugehören.
Yusuf hatte in diesem neuen Land, das ihn widerwillig aufgenommen hatte, einen Vorsatz gefasst. Der Besuch in Neukölln machte diesen Vorsatz zu einem festen Entschluss. Kein Leben in der Minderheit, kein Verharren im Ghetto. Er würde die deutsche Leitkultur erst verstehen, und dann zu seiner eigenen machen. Darin eintauchen wie ein Fisch im Wasser. Geschmeidig, ohne Widerstand. Die Kämpfe lagen hinter ihm.
Aus diesem Grund war der Besuch der arabischen Geschäfte in Neukölln sein einziger geblieben. Er konzentrierte sich auf deutsche Viertel, deutsche Geschäfte, und versuchte dabei so viel wie möglich in sich aufzunehmen.
Bäckerei: al-Makhbiz. Coffee & Cookies: selbsterklärend. Marken-Discount: unklar, musste er nachschlagen.
Weitere Schilder entziffernd ging er die Hauptstraße hoch, bis er ein Gewässer überquerte, und bog dann nach links ab. Der schmale Grünstreifen, der den Kanal säumte, hatte keine eigene Straßenbeleuchtung und war daher deutlich dunkler als die Straße. Er ging ein paar Meter und hielt dann inne, bis sich seine Augen an die Dunkelheit gewöhnt hatten. Durch das Schwarz der Uferböschung sah man das Wasser des Kanals aufblitzen. Der Weg vor ihm verlor sich im Dunkeln.
Immer noch seinen Gedanken nachhängend folgte er dem Uferweg, gelegentlich überholt von einem abendlichen Radfahrer. Er war diesen Weg schon einmal gegangen, aber nicht allzu weit. Beim letzten Mal war er umgekehrt und hatte eine andere Route gewählt. Wenn er jetzt beschloss, dem Weg weiter zu folgen, stieß er in unbekanntes Territorium vor. Das war nicht weiter beunruhigend. Mit der Zeit hatte er zahlreiche Routen durch die Stadt entdeckt; ein Netzwerk, das er ständig umbaute und erweiterte.
Nach einiger Zeit tauchte vor ihm die dunkle Masse einer Brücke auf, die quer zum Uferweg verlief. Fernab der Lichter und dem Verkehrslärm entsprang sie einer größeren Straße, die den Kanal überquerte. Eine steinerne Treppe führte nach oben, während nach links zum Ufer hin ein gepflasterter Weg hinabführte. Vermutlich für Radfahrer, die ihr Fahrrad nicht über die befahrene Straße tragen wollten.
Yusuf entschied sich für den Radweg. Er bog vom Hauptweg ab und ging in den dunkleren Bereich unter der Brücke.
Zunächst konnte er kaum etwas erkennen, aber der Weg war in gutem Zustand und hatte zum Kanal hin ein Geländer. Dann hörte er etwas: Musik, oder zumindest das dumpfe Stampfen von Bässen, eben noch vom Verkehr übertönt. Er dachte zuerst, dass die Musik von oben käme, von der Straße, aber es kam eindeutig von unten. Dann bog er um den massigen Brückenpfeiler und sah es.
Unter der Brücke war es nicht so dunkel wie erwartet, was an dem Feuer lag, das in einer rußigen Tonne brannte. Es erhellte die Pfeiler sowie die Unterseite der Brücke mit flackerndem Licht. Neben den Pfeilern wiegten sich ein halbes Dutzend Gestalten zu einem monotonen elektronischen Beat, der aus tragbaren Boxen dröhnte. Ein nächtlicher Rave unter den Straßen der Stadt.
Yusuf war an der Wegbiegung stehengeblieben und zögerte. Dass Berlin die Stadt von Techno und Underground-Clubs war, hatte sich bis ins Wohnheim herumgesprochen, aber nur als Gerüchte und Mutmaßungen. Er hatte sich schon zu Hause wenig für Musik interessiert, schon gar nicht für elektronische, und das hatte sich seit seiner Ankunft nicht geändert. Ein paar der Jüngeren fuhren nachts in die Innenstadt und trieben sich vor den großen Clubs herum, in der Hoffnung auf Einlass. Nach dem Wenigen, das er gehört hatte, war die Berliner Techno-Szene zumindest nicht aggressiv; es ging mehr darum, die Nächte durchzutanzen und dem Hedonismus zu frönen.
Trotz dieser Erkenntnis zauderte er. Irgendwie hatte die Szene etwas Beunruhigendes an sich. Das gelbrot-flackernde Licht, das hypnotische Stampfen. Eine Szene wie aus der Unterwelt. Noch ein paar Sekunden, und er wäre wahrscheinlich umgekehrt, dem Weg bis zur Gabelung gefolgt und hätte die Brücke auf ihrer Oberseite überquert.
Er zögerte etwas zu lange. Eine der Gestalten, ein schlaksiger junger Mann in Kapuzenpullover und grotesk ausgebeulten Baggy-Pants, richtete sich auf und blickte direkt in seine Richtung. Ein breites Grinsen spannte sich über sein Gesicht, die Augen lagen in dunklen Höhlen. Unbehagen kroch in Yusufs Magen, als sie sich reglos einige Sekunden musterten wie zwei Cowboys vor dem Duell.
Dann gab er sich einen Ruck. Das Jüngelchen war höchstens Mitte 20 und sah nicht aus wie ein Nazi; über deren Erscheinungsbild hatte er sich informiert. Yusuf hatte ihn und seine Kumpels bei ihrer nächtlichen Privatparty gestört. Was sollte sein? Er nickte dem Jungen zu – freundlich, wie er hoffte – und setzte seinen Weg langsam fort.
Inzwischen bekamen auch seine Kumpane mit, dass sie einen Besucher hatten, und drehten ihm ihre Gesichter zu. Keiner sagte etwas, nur die Musik schrillte und stampfte, und das Feuer tauchte alles in unstetes Licht. Rechts vom Weg befand sich eine Betonmauer, die die Brücke zur Böschung hin abgrenzte. Dort war eine massige Gestalt mit Spraydose und einer großen Sprühschablone zugange gewesen; in den Rauch des Feuers mischte sich ein beißender Geruch von frischer Farbe und Lösungsmitteln. Yusuf versuchte im Weitergehen das Graffiti zu erkennen, das frisch glänzend an der Wand prangte. Es sah fast schwarz aus, aber das konnte auch an dem roten Licht liegen. Eine stilisierte Figur, aber nicht menschlich. Eine Sagengestalt? Er kramte in seinem Gedächtnis und erinnerte sich an einen Filmabend mit seiner Familie, Lichtjahre weit entfernt. Sie hatten einen amerikanischen Piratenfilm gesehen; der Bösewicht war halb Mensch, halb Tintenfisch gewesen. Es hatte sich um eine Raubkopie mit arabischen Untertiteln gehandelt, und sie hatten Ayshe ins Bett schicken müssen, weil sie sich gegruselt hatte. Sollte das Graffiti diesen Kapitän darstellen? Aber der hatte doch keine Flügel gehabt, oder?
Der Schöpfer des Werkes stand neben der Mauer, die Spraydose in der fleischigen Hand. Offenbar hatte er Yusuf beobachtet, während dieser versucht hatte, aus dem Machwerk schlau zu werden. Jetzt näherte er sich behäbig.
„Na, gefällt’s dir?“ Er übertraf Yusuf um einige Zentimeter in Höhe und Breite. Seine Augen waren unter dem Schirm der Baseballmütze, die er tief in die Stirn gezogen hatte, kaum zu erkennen. Er lächelte nicht.
Yusuf, der entgegen seinem Bauchgefühl nicht zurückwich, versuchte seinerseits zu lächeln.
„Ja. Ist schön. Was...“ er räusperte sich und versuchte, sich an das passende deutsche Wort zu erinnern. „... soll das sein? Ein Oktopus?“
Der massige Mann sah ihn ein paar Sekunden an. Jedenfalls vermutete Yusuf das; durch die Mütze ließ sich das nicht sagen. Dann bleckte er die Zähne und antwortete mit schleppender Stimme.
„Oktopus? Du hältst das für einen Oktopus? Blöder Kanake.“ Yusuf erkannte das Schimpfwort; niemand hatte ihn selbst jedoch  so zuvor genannt. Sein Gegenüber hatte es ohne besondere Betonung ausgesprochen. Überhaupt wirkte er auf merkwürdige Weise verlangsamt, dabei aber nicht weniger einschüchternd. Yusufs Pulsschlag dagegen erhöhte sich weiter, weniger wegen der Beleidigung als wegen der zunehmenden Bedrohlichkeit der Situation.
„Hey, Digga, mach langsam“, hörte er hinter sich. Als er sich umdrehte, sah er den schlaksigen Kerl auf sich zu geschlendert kommen, in seinem Arm ein blondiertes Mädchen.
„Komm mal runter. Der Mann hat dir doch nichts getan. Hat gesagt, er findet dein Graffiti schön.“
Inzwischen war er neben Yusuf zum Stehen gekommen. Er war ein dunkelhäutiger Typ und hätte auch als Syrer durchgehen können, aber sein Deutsch war akzentfrei. Das Grinsen spannte sich über sein gesamtes Gesicht und blieb maskenhaft starr, während er Yusuf anstarrte. Seine Augen waren dunkle Kohlegruben.
„Du denkst, das wär‘ ein Tintenfisch? Kann ja mal vorkommen. Keiner weiß am Anfang, wen er vor sich hat. Ging mir genauso, Bruder. Wird sich aber ändern. Oh Scheiße, und wie sich das ändern wird!“ Das Grinsen wurde, falls möglich, noch breiter, und seine Schultern zuckten. Im Gegensatz zu dem Großen, der wie aus feuchtem Lehm gemacht schien, sprühte er vor manischer Energie.
Yusuf, der kein Wort verstanden hatte, wand sich unbehaglich. Er hatte keine Ahnung, was hier vor sich ging, aber er erkannte Gefahr, wenn er sie sah.
„Tut mir leid, wollte nicht stören. Muss jetzt weiter.“ Er wich langsam zurück. Der Schlanke drehte seinen Kopf und ließ ihn nicht aus den Augen.
„Nein, warum denn? Bleib doch noch! Du weißt doch noch gar nicht, was hier abgeht. Hast du selbst gesagt.“ Er näherte sich Yusuf wieder und starrte ihm in die Augen. „Glaubst du an Gott? Oder wohl eher an Allah, stimmt’s? Glaubst du an Allah, Bruder?“ Inzwischen war er so nahe, dass Yusuf seinen Atem riechen konnte. Kein Alkohol, wie er vermutet hatte, sondern Tabakrauch. Und dahinter etwas bitteres Synthetisches, wie aus einem Labor.
„Vergiss ihn. Vergiss deinen Allah. Das hier, Bruder, ist viel größer. Viel geiler. Wie echter Sex, verglichen mit wichsen.“
Dabei griff er mit der linken Hand lässig nach der Brust seiner Begleiterin, die er mit der Rechten immer noch umfasst hielt. Sie lachte schrill auf blickte erst zu ihm, dann zu Yusuf.
Yusuf fing ihren Blick auf. Er passte nicht zu ihrem Lachen und ihrer Körpersprache, sondern spiegelte Scham, vielleicht sogar Angst. Während der Kerl damit fortfuhr ihre Brust zu kneten, hielt sie für einen kurzen Moment Yusufs Blick, bevor sie ihre Augen zu Boden senkte.
Yusufs Furcht durchmischte sich mit Empörung. Weniger wegen der Blasphemie als wegen des Ausdrucks in ihren Augen. Er hatte Willkür und Ungerechtigkeit schon in seiner letzten Heimat miterleben müssen, und hatte keine Lust auf eine Wiederholung in seiner neuen. Tapfer reckte er das Kinn vor.
„Ja, ich glaube an Allah. Und nein, ich kenne dein Bild nicht. Interessiert mich auch nicht. Aber vielleicht zeigst du etwas mehr Respekt vor deiner Frau.“
Einige Sekunden sagte keiner etwas, alle starten ihn an.
Dann bekam das Grinsen des Schlaksigen eine andere Note. Er drehte sich langsam im Halbkreis und wandte sich dem Rest der Bande zu, die sich bisher im Hintergrund gehalten hatten. Das Mädchen folgte seiner Bewegung unfreiwillig.
„Leute! Hab‘ ich was an den Ohren? Oder habt Ihr das auch gehört? Hat mich unser Freund hier gerade beleidigt? Oder hat er sogar ...“ ein kehliger Name, der Yusuf nichts sagte ... „beleidigt?“
Er drehte sich wieder zu Yusuf um.
„Da stehen wir nämlich nicht drauf. Ganz und gar nicht. Dich interessiert also nicht, wer das hier ist?“ Er wies mit einer ausholenden Geste hinter sich. „Wen Du hier gerade geschmäht hast? OK, ist cool. Du wirst es noch mitkriegen.“
„Zeig’s ihm jetzt schon!“ quietsche eine Stimme hinter Yusuf; dem kieksenden Falsett nach ein Teenager. „Stich die Sau ab!“  
Der Angesprochene drehte sich wieder zu Yusuf und legte den Kopf schief, als würde er den Vorschlag in Erwägung ziehen. Yusuf, dessen Mut schon wieder zusammengeschmolzen war, wich langsam zurück und hob die Hände.
„Bitte, ich möchte keinen Ärger. Wollte Euch auch nicht stören. In meiner Tasche sind 20 Euro. Könnt ihr haben ...“ etwas schlug hart gegen seine linke Wange und unterbrach ihn.
Die Flasche, die nach ihm geworfen worden war, klirrte auf den Boden, ohne zu zerbrechen. Während er betäubt nach unten schaute und Blut an seiner Schläfe herab zu sickern begann, baute sich ein Schatten vor ihm auf.  
Der große Kerl, der das Graffiti gesprüht hatte, hatte sich in den letzten Minuten im Hintergrund gehalten. Jetzt ragte er plötzlich vor Yusuf auf und schwang etwas Keulenförmiges, das im Feuerschein schimmerte. Yusuf, der sich noch weiter rückwärts bewegt hatte, spürte hinter sich das Geländer des Kanals.
Weiter zurückweichen konnte er nicht, also bog er seinen Oberkörper nach hinten, um dem Keulenschlag auszuweichen. Dabei spürte er, wie sich sein Schwerpunkt über das Geländer verlagerte. Voller Angst und halb vom Instinkt gesteuert machte er sich das zunutze. Er bog sich noch weiter nach hinten, und als er spürte, wie er das Gleichgewicht verlor, stieß er sich mit den Beinen ab. Die Welt drehte sich und er kippte rücklings über das Geländer. Überzeugt davon, in das dunkle kalte Wasser zu stürzen, rollte er sich zu einem Ball zusammen. Offenbar gab es zwischen Geländer und Kanal aber noch einen schräg abfallenden, mit Büschen bewachsenen Grünstreifen. Er fiel nur etwa zwei Meter tief und landete hart auf dem Rücken.
Wie ein gehetztes Tier rappelte er sich auf und kroch geduckt durch das Gestrüpp, weg von der Brücke. Er hörte Gelächter und Geschrei hinter sich und rechnete fest damit, verfolgt zu werden. Aber entweder war die Bande zu vollgedröhnt für eine Verfolgung, oder es war ihnen nicht so wichtig.
Zum Glück verbargen ihn Unterholz und Dunkelheit, und der Techno-Sound, der immer noch wummerte, überdeckte alle Geräusche. Er robbte weiter und zerkratzte sich Hände und Gesicht, merkte jedoch nichts von Verfolgern.
Als er sich weit genug weg fühlte, hielt er mit jagendem Herzen inne, duckte sich tief und lauschte. Nichts rührte sich hinter ihm, keine Lichter, keine Stimmen. Bestimmt fünf Minuten hockte er da, Schweiß tropfte von seiner Nase.
Dann krabbelte er auf allen Vieren die Böschung wieder hinauf. Ein dorniges Gebüsch versperrte den Weg, und er schützte sein Gesicht mit den Ellenbogen, während er sich durch die steifen Ranken kämpfte.
Schließlich brach Yusuf durch das Gestrüpp und erreichte den Weg. Alles war dunkel, die Brücke hinter ihm war nur noch zu erahnen. Schwer atmend lief er den Weg hinunter und hielt nicht an, bis vor ihm eine weitere beleuchtete Brücke auftauchte. Er spurtete die Treppen hinauf und blieb schließlich zitternd im Licht einer Straßenlaterne stehen.
Erst dort bemerkte er, dass seine Brille fehlte – bei dem Schlag musste sie ihm vom Kopf geflogen sein.
Verletzt und aufgewühlt machte er sich schließlich auf den Heimweg, wobei er Brücke und Kanal weiträumig umging. Als er das Wohnheim endlich erreicht hatte und sich ins Bett fallen ließ, war die Nacht schon größtenteils vorüber.

« Was vorher geschah123



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lindaa
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Beitrag16.05.2018 15:19

von lindaa
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hallo BaronHarkonnen!

Ich verstehe jetzt was du mit der Distanziertheit im Prolog ausdrücken wolltest, finde das eigentlich eine gute Idee. Allerdings würde ich darauf achten, dass du diese Distanz dann auch den ganzen Prolog lang durchziehst. Manchmal (wenn auch selten) gehst du ja dann doch auf Maries Gefühle ein und das verwirrt dann ein wenig. Dann lass ihre Eindrücke doch lieber ganz aus dem Spiel.
Diese wechsel in der Perspektive sind verwirrend, zum Beispiel an dieser Stelle:

Zitat:
Vielleicht war das alles nur ein monströser Scherz? Irgendeine Show im Privatfernsehen, oder ein bizarres Studenten-Ritual?
Ihre Angst bekam unerwartet eine Beimischung von Wut. Man hatte sie entführt, ihr das Schlüsselbein gebrochen und sie halbnackt zur Schau gestellt – für einen Scherz?
Die Wut schwoll an, verdrängte kurzzeitig sogar die Angst, und sie ignorierte den Schmerz in ihrer Brust. Eigentlich hatte sie vor, laut und vernehmlich zu protestieren und das sofortige Ende dieser Groteske zu fordern. Heraus kam dann aber ein durchdringender Schrei, ein wütendes, sich steigerndes Kreischen.


Hier gehst du ziemlich genau auf ihre Gefühle ein, als ob du aus ihrer Sicht erzählen würdest. an anderen Stellen beschreibst du den Vorgang wie ein Außenstehender.

Dein zweites Kapitel ist super! Du kannst Spannung echt gut vermitteln, ich freu mich schon auf das nächste!

liebe Grüße,
Linda
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Klemens_Fitte
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Beitrag16.05.2018 15:56

von Klemens_Fitte
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Mehr oder weniger off-topic, da nicht direkt auf den Text bezogen, aber ein paar grundsätzliche Überlegungen:

lindaa hat Folgendes geschrieben:
Diese wechsel in der Perspektive sind verwirrend, zum Beispiel an dieser Stelle:

Zitat:
Vielleicht war das alles nur ein monströser Scherz? Irgendeine Show im Privatfernsehen, oder ein bizarres Studenten-Ritual?
Ihre Angst bekam unerwartet eine Beimischung von Wut. Man hatte sie entführt, ihr das Schlüsselbein gebrochen und sie halbnackt zur Schau gestellt – für einen Scherz?
Die Wut schwoll an, verdrängte kurzzeitig sogar die Angst, und sie ignorierte den Schmerz in ihrer Brust. Eigentlich hatte sie vor, laut und vernehmlich zu protestieren und das sofortige Ende dieser Groteske zu fordern. Heraus kam dann aber ein durchdringender Schrei, ein wütendes, sich steigerndes Kreischen.


Hier gehst du ziemlich genau auf ihre Gefühle ein, als ob du aus ihrer Sicht erzählen würdest.


Das ist kein Wechsel in der Perspektive, sondern ein ganz normales Mittel eines Erzählers, der die Gedanken und Gefühle einer Figur schildert, und, wie ich finde, an dieser Stelle eben dezidiert nicht aus Sicht der Figur.
Ihre Angst bekam unerwartet eine Beimischung von Wut. – das ist ein Satz, der zwar das Innenleben einer Figur vermittelt, aber dennoch Distanz wahrt. Das mag nicht jedermanns Sache sein, aber zunächst einmal sollte man einem Erzähler zugestehen, die erzählerischen Mittel zu wählen, die er für angemessen hält.

Und noch hierzu:

Muskat hat Folgendes geschrieben:
Geht es ums Handwerk, dann liegt eben nicht vieles im Auge des Betrachters, meine ich.


Handwerk existiert nicht ohne Kontext, sondern immer nur bezogen darauf, was ich tue und erreichen will. Und natürlich sind die Prämissen, die man setzt, nicht absolut, sondern vom jeweiligen Blickwinkel abhängig – die Prämisse, ein einleitender Satz über das Wetter müsse in Relation zu den Emotionen/dem Leben einer Figur gesetzt werden, die Prämisse, man sollte in der Perspektive einer Figur bleiben und nicht in eine Außenperspektive wechseln, wenn diese nicht mehr Herr ihrer Sinne ist, die Prämisse, der Leser möchte immer die Gefühle der Figur gezeigt bekommen, in ihr versinken – das sind alles keine allgemeingültigen Sätze, sondern Aussagen, die von einem ganz bestimmten Verständnis von Literatur ausgehen und somit: im Auge des Betrachters liegen – und bevor man in einen Text eingreift, sollte doch geklärt werden, ob man selbst und der Autor von den gleichen Prämissen ausgehen?

Jetzt kann man sich anhand jedes beliebigen Textes wünschen, er möge anders geschrieben sein, aber dann sollte doch trotzdem klar sein, dass man von persönlichen Ansichten und Präferenzen ausgeht und nicht versucht werden, den eigenen Standpunkt durch ein absolutes Handwerk zu legitimieren.

*

Tut mir leid, dass das jetzt nicht viel mit dem Text zu tun hat, aber dieser Kommentar steht nur stellvertretend für zig Textarbeitsfäden in letzter Zeit, in denen ich ein Gleiches hätte schreiben können. Sollte das den Fadenersteller stören, kann er meinetwegen gelöscht oder abgetrennt und anderswohin verschoben werden.


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Muskat
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Beitrag16.05.2018 16:55
Baron
von Muskat
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Hallo Klemens,

zum Perspektivwechsel: Ich weiß natürlich nicht, wie du das Stilmittel nennst, ich nenne es Perspektivwechsel.

Nur zwei Beispiele aus dem Text:

Das Folgende ist von außen erzählt:

Zitat:
Es war ansonsten kein besonderer Tag – der Frühling ließ weiter auf sich warten, obwohl der kalendarische Frühlingsbeginn fast 2 Wochen zurück lag, und der Winter sich hartnäckig hielt. Der Himmel über der Stadt war seit Tagen bedeckt, an Straßenrändern und auf Grünflächen lagen unansehnliche Haufen von altem Schnee, gemischt mit Rollsplitt und Erde. Die Präsidentschaftswahlen in den USA waren ein beherrschendes Thema in den Medien, es gab wieder vermehrte Drohgebärden im Mittleren Osten und einen Doping-Skandal im Handball.


Während das hier von innen erzählt wird:

Zitat:
Jetzt fühlte sie sich jedoch isoliert, und als sie in der S-Bahn saß und in den Wintermorgen hinausblickte, spürte Maria einen unerwarteten, heftigen Schub von Heimweh. Sie vermisste die Wärme von Valencia, den Geruch des Meeres und die warmen Farben, die die Morgensonne auf die Fassaden der Altstadt zauberte. Sie vermisste ihre Geschwister, ihre Mutter, und überraschenderweise sogar ihren Vater, trotz seiner Strenge und Bitterkeit. Gefühle, die sie normalerweise nicht zuließ oder kleinzuhalten versuchte



Ich nenne das einen Wechsel der Perspektive.

Nun die Diskussion hatten wir ja bereits und sind uns nicht einig geworden.

Zitat:
der Leser möchte immer die Gefühle der Figur gezeigt bekommen, in ihr versinken


Das habe ich nie behauptet! Ich schrieb, dass ich es für wirkungsvoller halte, die Gefühle der Protagonistin hier zu zeigen, als distanziert zu erzählen. Meine Hinweise beziehe ich auf den Prolog hier und da bleibe ich bei meiner Meinung. Das Wort "immer" kommt darin nicht vor und ein "absolut" gibt es auch nicht.

Zitat:
Jetzt kann man sich anhand jedes beliebigen Textes wünschen, er möge anders geschrieben sein, aber dann sollte doch trotzdem klar sein, dass man von persönlichen Ansichten und Präferenzen ausgeht und nicht versucht werden, den eigenen Standpunkt durch ein absolutes Handwerk zu legitimieren.



Ich habe kein absolutes Handwerk herbeigezogen, Klemens, aber ein Handwerk und nicht meinen persönlichen Geschmack.
Ich wünsche mir auch nicht, dass ein Text anders geschrieben wird. Was hätte ich wohl davon? Ich schreibe meine Texte, so wie ich sie mir wünsche und das genügt.

Ich mache hier Textarbeit. Davon lebt das Forum, ansonsten können wir uns die auch ersparen und jeder möge schreiben, wie er mag.
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Klemens_Fitte
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Beitrag16.05.2018 18:18
Re: Baron
von Klemens_Fitte
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Muskat hat Folgendes geschrieben:
Hallo Klemens,

zum Perspektivwechsel: Ich weiß natürlich nicht, wie du das Stilmittel nennst, ich nenne es Perspektivwechsel.


Ich lese hier einen auktorialen Erzähler, der im gesamten Prolog nicht verlassen wird.

Muskat hat Folgendes geschrieben:
Zitat:
der Leser möchte immer die Gefühle der Figur gezeigt bekommen, in ihr versinken


Das habe ich nie behauptet! Ich schrieb, dass ich es für wirkungsvoller halte, die Gefühle der Protagonistin hier zu zeigen, als distanziert zu erzählen. Meine Hinweise beziehe ich auf den Prolog hier und da bleibe ich bei meiner Meinung. Das Wort "immer" kommt darin nicht vor und ein "absolut" gibt es auch nicht.


Mir geht es doch einzig um deinen Rückgriff auf ein Handwerk, das nicht im Auge des Betrachters liege, sondern unabhängig von Text und Leser Forderungen formuliere.

Muskat hat Folgendes geschrieben:
Aufgrund des distanzierten Erzählens fehlt das Mitgefühl mit Maria und es fehlt dir das Erzeugen von Spannung.

Muskat hat Folgendes geschrieben:
Nein, das funktioniert nicht! Glaube mir.

Du kannst die Leser nicht damit vertrösten, dass es in den folgenden Kapiteln anders wird. Lass sie von Anfang an mit Maria mitfühlen.

Muskat hat Folgendes geschrieben:
Stimmung ist wichtig, keine Frage. Aber sie sollte eben einen Bezug zur Protagonistin haben.

Muskat hat Folgendes geschrieben:
Hier das Wetter zu erwähnen, macht dann Sinn, wenn es für Maria eine Rolle spielt. Ansonsten braucht es die Erwähnung nicht.

Muskat hat Folgendes geschrieben:
Ist sie nicht mehr Herr ihrer Sinne, dann sollte erzählt werden, was SIE wahrnimmt und nicht die Perspektive gewechselt werden.


Jede dieser sehr absolut formulierten Aussagen geht von Prämissen aus, und mit keiner davon habe ich ein Problem, wenn sie als Meinung gezeigt würden, die aus bestimmten Annahmen folgt. Du berufst dich aber nicht auf deine persönliche Sicht- und Herangehensweise an Texte, auf dein Lesen, sondern explizit auf das Handwerk und den oder die Leser. Damit hat jeder Eingriff in einen Text auf einmal ein völlig anderes Gewicht, weil sie objektive Kriterien behaupten.

Muskat hat Folgendes geschrieben:
Ich habe kein absolutes Handwerk herbeigezogen, Klemens, aber ein Handwerk und nicht meinen persönlichen Geschmack.


Ja. Und ich sage: das Handwerk, auf das du dich berufst, folgt aus deinem persönlichen Geschmack und deinen persönlichen Ansichten zum Lesen und zur Literatur.

Muskat hat Folgendes geschrieben:
Ich mache hier Textarbeit. Davon lebt das Forum, ansonsten können wir uns die auch ersparen und jeder möge schreiben, wie er mag.


Es gibt nicht die Textarbeit. Und ich halte es nicht für falsch, ab und an darüber zu diskutieren, was Textarbeit sein kann und was an ihr problematisch ist – das ist nicht gleichbedeutend damit, dass jeder schreiben möge wie er mag (übrigens hoffe ich doch, dass niemand nach einer Textdiskussion schreibt, wie er nicht mag).


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Muskat
Eselsohr


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Beitrag16.05.2018 19:15
Baron
von Muskat
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Zitat:
Mir geht es doch einzig um deinen Rückgriff auf ein Handwerk, das nicht im Auge des Betrachters liege, sondern unabhängig von Text und Leser Forderungen formuliere


Ich weiß nicht, ob es hier in dem thread Sinn macht, darüber zu diskutieren, ob es mein Handwerk oder ein Handwerk gibt.

Zitat:
Jede dieser sehr absolut formulierten Aussagen geht von Prämissen aus, und mit keiner davon habe ich ein Problem, wenn sie als Meinung gezeigt würden, die aus bestimmten Annahmen folgt. Du berufst dich aber nicht auf deine persönliche Sicht- und Herangehensweise an Texte, auf dein Lesen, sondern explizit auf das Handwerk und den oder die Leser. Damit hat jeder Eingriff in einen Text auf einmal ein völlig anderes Gewicht, weil sie objektive Kriterien behaupten.


Zitat:
Ist sie nicht mehr Herr ihrer Sinne, dann sollte erzählt werden, was SIE wahrnimmt und nicht die Perspektive gewechselt werden.


Absolute Aussagen? Das sind Vorschläge, die halt nicht im Konjunktiv formuliert sind. Ich denke mal, dass klar ist, dass hier jeder seine Beiträge in seinen Worten formuliert, ohne dass betont werden muss, dass er seine Meinung kundtut. Und ja, ich führe das Handwerk an, um zum Beispiel über die Perspektive zu reflektieren.

Zitat:
Ja. Und ich sage: das Handwerk, auf das du dich berufst, folgt aus deinem persönlichen Geschmack und deinen persönlichen Ansichten zum Lesen und zur Literatur.


Stilmittel haben nichts mit meinem Geschmack zu tun. In der Ansicht unterscheiden wir uns halt stark.

Zitat:
Es gibt nicht die Textarbeit. Und ich halte es nicht für falsch, ab und an darüber zu diskutieren, was Textarbeit sein kann und was an ihr problematisch ist – das ist nicht gleichbedeutend damit, dass jeder schreiben möge wie er mag (übrigens hoffe ich doch, dass niemand nach einer Textdiskussion schreibt, wie er nicht mag).


Tja, das ist nun ein weites Feld, über das wir diskutieren könnten, was Textarbeit ist. Aber auch ich hoffe nicht, dass jemand nach einer Diskussion schreibt, wie er nicht mag. Darin stimmen wir überein.

Zitat:
Ich lese hier einen auktorialen Erzähler, der im gesamten Prolog nicht verlassen wird.


Und ich lese, bis auf den Anfang und das Ende einen personellen Erzähler.

Liebe Grüße
Muskat
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BaronHarkonnen
Geschlecht:männlichLeseratte


Beiträge: 123
Wohnort: Berlin


Beitrag16.05.2018 21:54

von BaronHarkonnen
pdf-Datei Antworten mit Zitat

Also Leute - dass Ihr Euch hier über meinen Text in die Haare bekommt, wäre nicht nötig gewesen Wink

Aber ich freue mich trotzdem über den konstruktiven Diskurs, und verstehe auch Muskats Argumente.
Trotzdem bin ich mehr bei Klemens_Fitte: ich halte meinen Prolog auch für aukorial. Weil ich mir nicht ganz sicher war, habe ich mal im Bücher-Wiki nachgeschlagen. Da steht als Merkmal für aukoriale Perspektive:

"Der Erzähler greift mit Vorausdeutungen, Rückblicken oder Kommentaren in die Geschichte ein."

aber auch:
"Der Erzähler weiß, wie die Figuren von innen und außen aussehen. Er kennt ihre Macken, Wünsche und Absichten."
(Hervorhebung von mir)

Nach meinem Verständnis kann der allwissende Erzähler also durchaus auch Gefühle und Eindrücke etc. der Figuren schildern. Insofern passts doch Smile

Vielen Dank für Euren Input!


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Alles was wir sehen oder scheinen,
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