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Klemens_Fitte
Geschlecht:männlichSpreu

Alter: 41
Beiträge: 2934
Wohnort: zuckerstudio waldbrunn


Beitrag30.01.2018 10:54
Kon|Text|Sequenz
von Klemens_Fitte
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    Kon|Text|Sequenz




    Knabenliebe. Keiner wusste genau zu sagen, wie sich das Wort verbreitet hatte. Der Ethiklehrer musste es an die Tafel geschrieben haben, und von da hatte es seinen Weg in die Schulmappen und die Köpfe gefunden. Womöglich war es ein oder zwei Mal während der Pausen gefallen, in der Raucherecke oder im Oberstufenraum. Aus dem Lehrplan stammte es nicht. Und doch: es hätte nicht dem Charakter der Klasse entsprochen, hätte es jemanden aufmerken lassen. Die Nikomachische Ethik hatte auch niemanden aufmerken lassen. Man konnte sich nicht vorstellen, dass es einen betraf. Einen Platz außerhalb des Klassenzimmers und der Unterrichtsstunde hatte. Die Nikomachische Ethik oder die Knabenliebe. Womöglich hatte der Lehrer das Wort gar nicht an die Tafel geschrieben, sondern nur ausgesprochen. Warum man es dennoch aufgeschrieben hatte, konnte man nicht sagen. Unstrittig war, dass der Lehrer diesem Wort einen Platz im Stundenverlaufsplan zugewiesen hatte. Er war aus einer Sitzung des Lehrerkollegiums ins Klassenzimmer gekommen und hatte das Wort an die Tafel geschrieben. Oder es ausgesprochen. Zuvor hatte man sich zwei Monate lang mit der Maieutik befasst. Mit dem Höhlengleichnis. Mit der Nikomachischen Ethik. Und dann war der Lehrer mit einer Viertelstunde Verspätung ins Klassenzimmer gekommen und hatte mit einem Wort alles eingerissen. Hatte gesagt, wer die Wahrheit bewundere, der müsse sie auch ertragen. Wer die antike Weisheit lehre, der dürfe ihre Konstituenten nicht verschweigen. Sowieso müsse, wer junge Menschen lehre, die Tradition kennen, in der er stehe. Wer diesen Kontext entferne, sei ein Dieb. Und wenn die antike Weisheit heute noch lehrenswert sei, trotz des Kontexts, aus dem sie entstanden sei, dann sei auch der Kontext lehrenswert. Man hatte es hingenommen und aufgeschrieben. Womöglich hatte einer gefragt, ob es prüfungsrelevant sei. Womöglich hatte der Lehrer geantwortet, alles sei relevant. Nicht zu leugnen war, dass nun etwas im Raum stand. In der Raucherecke oder im Oberstufenraum. Vor der Sitzung des Lehrerkollegiums war gemunkelt worden, der Lehrer solle an eine andere Schule versetzt werden. Warum, wusste keiner zu sagen. Seit das Wort im Raum stand, fügten sich neue Gerüchte hinzu. Ein Gedanke leitete sich logisch aus dem vorangegangenen ab. Man müsse, hatte der Lehrer einmal gesagt, in der Ethik alles konsequent zu Ende denken, um das Menschliche nicht zu verraten. Man müsse das Denken furchtlos betreiben. Wer Ethik lehre, der dürfe sich nicht vor der Erkenntnis fürchten, dass das Ethische nicht das Moralische sei, für das man es halte. Man hatte es hingenommen. Womöglich hatte es der ein oder andere notiert oder sich gefragt, ob es prüfungsrelevant sei. Womöglich hatte derjenige daraufhin notiert: alles ist relevant.

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hannahliebt
Geschlecht:weiblichSchneckenpost
H

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Beiträge: 9



H
Beitrag19.02.2018 14:14

von hannahliebt
Antworten mit Zitat

Danke für Deinen Text, Inkognito.

Ich bin noch sehr neu hier, mag Dir aber gern ein paar Sätze zu meinem Eindruck schreiben.
Das Anhungsvolle, Unausgesprochene, die Macht von Worten und Weltanschauung, die in Deinem Text stecken, finde ich faszinierend entfaltet.
Die Kritik daran, Dinge unreflektiert aufzunehmen, zeigst Du interessant zweifach interpretierend - wenn da der Lehrer ist mit der Nikomachischen Ethik, anspielend auf das so schwierige Lehrer-Schüler Verhältnis der Antike, im Hintergrund die Frage: Was ist ein gutes Leben (die doch alle irgendwie angeht)? Der rät, das anzunehmen, wie es ist, relevant (und natürlich ist der Kontext wichtig, nur sein Umgang damit so kritisch)- und dann die Schüler, die ebenso unreflektiert sind, ebenfalls übernehmen, aber unwissend, desinteressiert. Die Spannung baust Du sehr subtil auf - ich möchte als Leserin gern wissen, wie es weitergeht. Kommt da der Moment, in dem alle zu hinterfragen beginnen, was Wahrheit ist und was Gerücht, obsiegt das Desinteresse, auch wenn es um Menschen geht, um Mitgefühl, um notwendige Hilfe, wird Wahrheit als dem Subjekt überlassen angenommen? Ich finde auch die Perspektive, so assoziativ, gut gewählt - weil so vieles im Dunkeln, verschwommen, bleibt und allein deutlich wird: Wir Lesende haben nur eine Sicht der Dinge. Wie ist dann Wahrheit möglich und was ist sie? Was bedeutet es, sie "zu ertragen?"
 

"Und wenn die antike Weisheit heute noch lehrenswert sei, trotz des Kontexts, aus dem sie entstanden sei, dann sei auch der Kontext lehrenswert."
Hier vielleicht eine winzige Anmerkung: Falls Du magst, könntest Du ein sei weniger verwenden, in dem Du den eingeschoben Satz etwas umformst:

...trotz des Kontexts, aus dem sie stammte, dann sei auch dieser lehrenswert.


Und eventuell auch hier nochmal:

"Womöglich hatte es der ein oder andere notiert oder sich gefragt, ob es prüfungsrelevant sei. Womöglich hatte derjenige daraufhin notiert: alles ist relevant."
Vielleicht weniger nah beieinander: "Womöglich hatte es der ein oder andere notiert oder sich gefragt, ob es prüfungsrelevant sei. Womöglich hatte dieser daraufhin vermerkt: alles ist relevant."

Vielleicht geht es ja auch um das Tabuisieren, um das Wegsehen, nichthelfenwollen... Die Person des Lehrers wirft Fragen auf, regt zum mehrfachlesen an.

In jedem Fall hat Dein Text mich bereichert und mir einige Denkanstöße und Fragen aufgeworfen (Wie denke ich dies konsequent zu Ende? Ist das - logisch?) - Danke dafür!

Liebe Grüße
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Klemens_Fitte
Geschlecht:männlichSpreu

Alter: 41
Beiträge: 2934
Wohnort: zuckerstudio waldbrunn


Beitrag21.02.2018 10:12

von Klemens_Fitte
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Liebe hannahliebt,

zunächst: entschuldige bitte, dass ich mich erst so spät zu deinem Kommentar äußere, obwohl ich mich sehr darüber gefreut habe; um ehrlich zu sein, hatte ich in der Zeit, in der der Text unkommentiert im Forum stand, schon damit abgeschlossen und muss jetzt selbst erst wieder einen Zugang dazu finden.

hannahliebt hat Folgendes geschrieben:
Das Anhungsvolle, Unausgesprochene, die Macht von Worten und Weltanschauung, die in Deinem Text stecken, finde ich faszinierend entfaltet.


Vielen Dank dafür. Ich denke, damit hast du schon die Kernthemen angesprochen, die dieser Text fähig sein sollte, zu transportieren – ob es mir darum ging, als ich ihn schrieb, weiß ich gar nicht mehr so genau zu sagen, denn erstens, s.o., zweitens: er "entstand aus einem Kontext", in dem es weniger darum ging, eine Thematik oder Problematik in Worte oder einen Text zu fassen, sondern vielmehr, einen Text um vorgegebene Begriffe herum zu spinnen.

Mir ist natürlich die Ironie bewusst, wenn man mit einem Text, der behauptet, man müsse Dinge konsequent und "furchtlos" zu Ende denken, mehr Fragen aufwirft, als man Antworten liefern kann. Ich weiß ja nicht einmal, wie die Transkripte der Schüler nach besagter Unterrichtsstunde hätten aussehen können.

Andererseits:

hannahliebt hat Folgendes geschrieben:
Wir Lesende haben nur eine Sicht der Dinge.


Und wahrscheinlich ist es nicht an mir, diese Sicht im Nachhinein zu manipulieren.

hannahliebt hat Folgendes geschrieben:
"Und wenn die antike Weisheit heute noch lehrenswert sei, trotz des Kontexts, aus dem sie entstanden sei, dann sei auch der Kontext lehrenswert."
Hier vielleicht eine winzige Anmerkung: Falls Du magst, könntest Du ein sei weniger verwenden, in dem Du den eingeschoben Satz etwas umformst:

...trotz des Kontexts, aus dem sie stammte, dann sei auch dieser lehrenswert.


Bin mir da noch unsicher. Für mich ist im entstanden eine Folgerichtigkeit oder gar Zwangsläufigkeit enthalten, während ein Entstammen auch ein zufälliges Nebenprodukt sein könnte; da scheint mir die Wechselwirkung weniger stark.
Die Wortwiederholung könnte man an dieser Stelle natürlich einsparen, das stimmt. Ich persönlich gehe recht frei mit dem Wiederholen (wichtiger) Begriffe um.

hannahliebt hat Folgendes geschrieben:
Und eventuell auch hier nochmal:

"Womöglich hatte es der ein oder andere notiert oder sich gefragt, ob es prüfungsrelevant sei. Womöglich hatte derjenige daraufhin notiert: alles ist relevant."
Vielleicht weniger nah beieinander: "Womöglich hatte es der ein oder andere notiert oder sich gefragt, ob es prüfungsrelevant sei. Womöglich hatte dieser daraufhin vermerkt: alles ist relevant."


Ich mag diese/r/s eigentlich gern und verwende es, glaube ich, recht häufig, aber fast ausschließlich in Verbindung mit einem zugehörigen Substantiv. So käme es mir ein wenig 'nackt' vor.

hannahliebt hat Folgendes geschrieben:
In jedem Fall hat Dein Text mich bereichert und mir einige Denkanstöße und Fragen aufgeworfen (Wie denke ich dies konsequent zu Ende? Ist das - logisch?)


Das freut mich ehrlich. Vielen Dank dafür.

Liebe Grüße
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hannahliebt
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Alter: 28
Beiträge: 9



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Beitrag22.02.2018 13:34

von hannahliebt
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Hallo Inkognito,

danke für Deine Antwort, trotz des innerlich entstandenen Abstands zu Deinem Text.

Der Enstehungsprozess zu Deinem Text macht ihn in meinen Augen noch faszinierender, weil er so vielschichtig und ausdrucksstark geworden ist, gerade weil dann ja zunächst nicht der Inhalt, sondern die Vorgabe im Fokus stand, toll.

Was Du zu Deiner Wortwahl geschrieben hast, gefällt mir gut - ich denke, dass sich in den Entscheidungen zu solchen Fragen ist auch der ganz eigene und einzigartige Stil ausdrückt, sodass ich mit Deinen Anmerkungen etwas mehr darüber gelernt habe (und sie nachvollziehen kann!).

Liebe Grüße
 Hannah
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Klemens_Fitte
Geschlecht:männlichSpreu

Alter: 41
Beiträge: 2934
Wohnort: zuckerstudio waldbrunn


Beitrag23.02.2018 11:11

von Klemens_Fitte
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Hallo noch mal.

Ich habe das Inko jetzt aufgelöst; der Text war ja lange genug anonym und womöglich hilft es beim Einordnen dessen, was ich geschrieben habe.

hannahliebt hat Folgendes geschrieben:
Der Enstehungsprozess zu Deinem Text macht ihn in meinen Augen noch faszinierender, weil er so vielschichtig und ausdrucksstark geworden ist, gerade weil dann ja zunächst nicht der Inhalt, sondern die Vorgabe im Fokus stand, toll.


Das freut mich. Man läuft ja schnell Gefahr, den Text aus Lesersicht zu entwerten, wenn man so etwas preisgibt.

hannahliebt hat Folgendes geschrieben:
Was Du zu Deiner Wortwahl geschrieben hast, gefällt mir gut - ich denke, dass sich in den Entscheidungen zu solchen Fragen ist auch der ganz eigene und einzigartige Stil ausdrückt, sodass ich mit Deinen Anmerkungen etwas mehr darüber gelernt habe (und sie nachvollziehen kann!).


Und auch das freut mich. Man läuft ja schnell Gefahr … ich habe oftmals Sorge, als kritikresistent angesehen zu werden, wenn ich erkläre, warum ich – zunächst mal – bei bestimmten Entscheidungen bleibe.

LG Klemens


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100% Fitte

»Es ist illusionär, Schreiben als etwas anderes zu sehen als den Versuch zur extremen Individualisierung.« (Karl Heinz Bohrer)
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hannahliebt
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Alter: 28
Beiträge: 9



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Beitrag23.02.2018 15:17

von hannahliebt
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Hey,
schön, dass wir uns jetzt sozusagen auch "hier" begegnet sind.

Danke für Deine Antwort.

Zitat:
warum ich – zunächst mal – bei bestimmten Entscheidungen bleibe.
- gerade diese Gedanken kann ich gut verstehen - Kritik ist ja auch in erster Regel ein Denkanstoß, und natürlich kannst Du selbst entscheiden, was davon zu Dir passt und was eben auch nicht.

Liebe Grüße
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PhilipS
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Beiträge: 109



Beitrag16.03.2018 20:03

von PhilipS
Antworten mit Zitat

Hallo Klemens,

was mir an dem Text zuerst auffällt, ist die Anonymität und Unbestimmtheit. Aus welcher Perspektive wird hier erzählt? Nun - aus gar keiner. Das spiegelt das nebulöse der Gerüchte. Wer hat geredet? Nun - niemand und alle. Der Text hat keinen Erzähler, die Gerüchte keinen Urheber, das Wort hat niemand geschrieben. Aber sie alle sind da.

Sehr schön finde ich auch die Kontrastierung des (in meiner Vorstellung jungen) engagierten Ethiklehrers, der über den Lehrplan hinausgehen will, mit den Schülern, an denen dieses Engangement völlig vorbeigeht. "Ist das prüfungsrelevant?" - "Alles ist relevant." Die Klasse schreibt auf: "Alles ist relevant" und merkt nicht, dass der Lehrer die erste Hälfte des Kompositums wegließ.

Zitat:
Ein Gedanke leitete sich logisch aus dem vorangegangenen ab.
Sehr schön, denn das ist ja eigentlich das Leitbild der Philosophie, die der Lehrer unterrichtet. Nun wendet sich sein Engagement gegen ihn.

Ich habe einen kleinen stilistischen und einen vielleicht weniger kleinen inhaltlichen Kritikpunkt.
Zitat:
Wer die antike Weisheit lehre, der dürfe ihre Konstituenten nicht verschweigen.
Zum einen finde ich "Konstituenten" hier sperrig. Ein Fremdwort in einem ansonsten so klaren Text passt nicht. Wie wäre es mit "(Be-)Gründer", "Gründerväter" o. Ä.? Außerdem verschweigt der Lehrer sie ja nicht, er schweigt über sie oder verschweigt etwas über sie.

Außerdem:
Zitat:
Man müsse, hatte der Lehrer einmal gesagt, in der Ethik alles konsequent zu Ende denken, um das Menschliche nicht zu verraten.
Hm... Mir, der ich selber Philosophie studiere, mich mit Ethik beschäftige und (hoffentlich) im Herbst meine Doktorarbeit anfange, macht dieser Satz Magenschmerzen. Mir scheint, das Menschliche wird gerade da vergessen, wo in der Ethik konsequent zu Ende gedacht wird. Das ist ein häufiger Vorwurf gegen rigoristische Ethiken wie die Kants oder den Utilitarismus: sie stellten Regeln über Menschen, weil sie die Regeln konsequent zu Ende dächten. Ein solcher Text ist wahrscheinlich nicht der Ort, diese Fragen zu verhandeln. Der Philosoph in mir wollte das aber nicht unkommentiert lassen.
Ja, ich weiß, die Ansichten der Figur sind nicht die des Autors. Trotzdem ...


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Klemens_Fitte
Geschlecht:männlichSpreu

Alter: 41
Beiträge: 2934
Wohnort: zuckerstudio waldbrunn


Beitrag17.03.2018 12:51

von Klemens_Fitte
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Hallo PhilipS,

vielen Dank fürs Lesen und Kommentieren. Spannend, wie das Unbestimmte, das, was eben keinen Erzähler und keine Perspektive, keine wirkliche Handlung hat, in deinem Lesen dann doch wieder ausgeformt, schon fast wieder zur Geschichte wird.

PhilipS hat Folgendes geschrieben:
Sehr schön finde ich auch die Kontrastierung des (in meiner Vorstellung jungen) engagierten Ethiklehrers, der über den Lehrplan hinausgehen will, mit den Schülern, an denen dieses Engangement völlig vorbeigeht. "Ist das prüfungsrelevant?" - "Alles ist relevant." Die Klasse schreibt auf: "Alles ist relevant" und merkt nicht, dass der Lehrer die erste Hälfte des Kompositums wegließ.


Das ist eine Ebene oder eine Lesart, auf die ich den Text in meinem Lesen oder Nachdenken nicht bekomme. Was aber womöglich wenig über die Gültigkeit deines Lesens aussagt und mehr über meinen eingeschränkten Blick darauf.
Interessanterweise habe ich mich gestern mit Lorraine über diesen Satz unterhalten
Zitat:
alles ist relevant

Für mich ist er ein Rückgriff auf eine Äußerung, die ich als essentiell aus meinem Philosophiestudium mitgenommen habe, paraphrasiert: die erschütternde Qualität des Wirklichen besteht darin, dass es so wirklich ist.
Sich auf das wahre Leben, die Wirklichkeit berufen zu können, Aussagen treffen oder gar Regeln aufzustellen, würde im Grunde erfordern, alles zu betrachten, weil im Wirklichen alles relevant ist. Weil das Wirkliche wirklich ist.
Und dann stellt sich die Frage, ob nicht jedes (notwendige) Weglassen ein (unvermeidbares) Verfälschen ist, also:

PhilipS hat Folgendes geschrieben:
Zitat:
Wer die antike Weisheit lehre, der dürfe ihre Konstituenten nicht verschweigen.
Zum einen finde ich "Konstituenten" hier sperrig. Ein Fremdwort in einem ansonsten so klaren Text passt nicht. Wie wäre es mit "(Be-)Gründer", "Gründerväter" o. Ä.? Außerdem verschweigt der Lehrer sie ja nicht, er schweigt über sie oder verschweigt etwas über sie.


Mit Konstituenten meine ich an dieser Stelle tatsächlich all dasjenige, woraus ein Phänomen (die antike Weisheit) besteht. Man könnte das womöglich mit Einzelteile oder Teile ausdrücken – Komponenten ist mir zu 'gemacht', im Sinne von: (künstlich) zusammengesetzt – wollte man unbedingt das Fremdwort¹ vermeiden; persönlich sehe ich den Widerspruch zwischen einer klaren Sprache und einem 'Fremdwort' nicht, insbesondere wenn ich dadurch etwas in einen – präzisen – Begriff fassen kann, für das ich andernfalls eine vage Bezeichnung oder einen ganzen Satz benötigte.

PhilipS hat Folgendes geschrieben:
Außerdem:
Zitat:
Man müsse, hatte der Lehrer einmal gesagt, in der Ethik alles konsequent zu Ende denken, um das Menschliche nicht zu verraten.
Hm... Mir, der ich selber Philosophie studiere, mich mit Ethik beschäftige und (hoffentlich) im Herbst meine Doktorarbeit anfange, macht dieser Satz Magenschmerzen. Mir scheint, das Menschliche wird gerade da vergessen, wo in der Ethik konsequent zu Ende gedacht wird. Das ist ein häufiger Vorwurf gegen rigoristische Ethiken wie die Kants oder den Utilitarismus: sie stellten Regeln über Menschen, weil sie die Regeln konsequent zu Ende dächten. Ein solcher Text ist wahrscheinlich nicht der Ort, diese Fragen zu verhandeln. Der Philosoph in mir wollte das aber nicht unkommentiert lassen.


Ich denke nicht, dass zu Ende denken hier im Sinne einer Regelfindung gemeint ist. Zunächst steht da, man müsse alles konsequent zu Ende denken, nicht, man müsse die Regeln konsequent zu Ende denken. Und wenn man den Gedanken von oben – alles ist relevant – berücksichtigt, dann sind Regeln unter dieser Prämisse immer ungültige Abkürzungen, die man nur dann erreicht, wenn man etwas eben nicht konsequent zu Ende denkt.




¹Das es ja mE nicht einmal ist. Ein Fachbegriff? Okay, vielleicht. Ein Fremdwort im eigentlichen Sinn? Sehe ich nicht.


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PhilipS
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Beiträge: 109



Beitrag17.03.2018 13:19

von PhilipS
Antworten mit Zitat

Hallo Klemens,

Zitat:
Mit Konstituenten meine ich an dieser Stelle tatsächlich all dasjenige, woraus ein Phänomen (die antike Weisheit) besteht. Man könnte das womöglich mit Einzelteile oder Teile ausdrücken – Komponenten ist mir zu 'gemacht', im Sinne von: (künstlich) zusammengesetzt – wollte man unbedingt das Fremdwort¹ vermeiden; persönlich sehe ich den Widerspruch zwischen einer klaren Sprache und einem 'Fremdwort' nicht, insbesondere wenn ich dadurch etwas in einen – präzisen – Begriff fassen kann, für das ich andernfalls eine vage Bezeichnung oder einen ganzen Satz benötigte.


Verstehe. Dir geht es darum, dass Konstituenten nicht nur Personen sondern auch Umstände, Kultur etc. sein können. Das verstehe ich. Sicher heißt Fremdwort oder Fachbegriff nicht gleich Unklarheit. Dennoch werde ich nicht recht warm damit, dass dieses Wort hier auftaucht, auch wenn ich nicht weiter erklären kann, warum.

Zitat:
Ich denke nicht, dass zu Ende denken hier im Sinne einer Regelfindung gemeint ist. Zunächst steht da, man müsse alles konsequent zu Ende denken, nicht, man müsse die Regeln konsequent zu Ende denken.


Recht hast Du. Da habe ich mich zu schnell auf eine Lesart versteift.

Zitat:
Und wenn man den Gedanken von oben – alles ist relevant – berücksichtigt, dann sind Regeln unter dieser Prämisse immer ungültige Abkürzungen, die man nur dann erreicht, wenn man etwas eben nicht konsequent zu Ende denkt.


Sehe ich im Wesentlichen ähnlich. Gerade deswegen finde ich die Tugendethik so spannend, weil ich sie als einen Versuch verstehe, ohne Begriffe wie "Pflicht" oder "Regel" auszukommen.

Danke für Deine Antwort und Erläuterungen.


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Klemens_Fitte
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Beitrag17.03.2018 21:29

von Klemens_Fitte
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PhilipS hat Folgendes geschrieben:
Verstehe. Dir geht es darum, dass Konstituenten nicht nur Personen sondern auch Umstände, Kultur etc. sein können.


Um ehrlich zu sein, war mir die Verwendung von Konstituenten für Personen völlig neu. Gemeint sind tatsächlich alle Bestandteile eines Phänomens.

PhilipS hat Folgendes geschrieben:
Das verstehe ich. Sicher heißt Fremdwort oder Fachbegriff nicht gleich Unklarheit. Dennoch werde ich nicht recht warm damit, dass dieses Wort hier auftaucht, auch wenn ich nicht weiter erklären kann, warum.


Was ja auch in Ordnung ist. Sprachgefühl lässt sich nicht immer argumentieren, ohne … na ja, auf der Gefühlsebene zu bleiben. Vielleicht nehme ich das Wort weniger fremd wahr als jemand, der den Text nicht geschrieben hat. Noch mal zu dessen Genese: es waren Begriffe vorgegeben, die ich verwenden musste – und ich denke, wenn ich schon einen Text schreibe, in dem Stundenverlaufsplan vorkommen muss, darf ich mir auch ein paar Konstituenten erlauben.

PhilipS hat Folgendes geschrieben:
Zitat:
Ich denke nicht, dass zu Ende denken hier im Sinne einer Regelfindung gemeint ist. Zunächst steht da, man müsse alles konsequent zu Ende denken, nicht, man müsse die Regeln konsequent zu Ende denken.


Recht hast Du. Da habe ich mich zu schnell auf eine Lesart versteift.


Ich muss da auch anfügen: meine Erläuterungen lesen sich womöglich so, als wüsste ich, worum es im Kern des Textes geht oder als hätte es beim Schreiben eine Prämisse oder eine leitende Idee gegeben – dem ist nicht so. Was ich hier schreibe, entwickle ich ja auch erst anhand der Rückmeldungen, und es ist mit Sicherheit nicht der Weisheit letzter Schluss.


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