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azareon35 Eselsohr
Beiträge: 292 Wohnort: Hessen
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17.10.2017 23:45 Polnischer Kaffee von azareon35
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Ich sitze im Café inmitten der Buchhandlung meines Vertrauens in Mainz. Vor mir liegt aufgeschlagen der neuste Provinzkrimi meiner Lieblingsautorin, den ich mir gleich beim Reinkommen gekauft habe.
Gerade bringt mir die junge, blonde Barrista meine Bestellung, einen Caramel Macciato. „Darf es noch etwas sein?“
„Mehr Zucker. Bitte“, sage ich lächelnd.
Ein Hauch von Rosa färbt ihre Wangen. Sie erwidert mein Lächeln und kommt meiner Bitte umgehend nach. Das Café legt immer nur zwei Zuckertütchen dazu, aber ich brauche das Vierfache, sonst ist mir der Kaffee zu bitter.
Behutsam lasse ich den Zucker nach und nach in die mit einem Mandala aus Karamell verzierte Schaumkrone rieseln. Ich sehe dabei zu, wie die Körnchen die Schichten von Kaffee und aufgeschäumter Milch durchbrechen. Nachdem auch das letzte Tütchen dran glauben musste, rühre ich in dem Glas die Flüssigkeiten zu einem goldbraunen Impasto.
Während ich darauf warte, dass der Kaffee weit genug abkühlt, um mir nicht die Zunge zu verbrennen, lese ich die ersten Seiten des Krimis. In einem neuen Ferienressort nahe Mülsen wird eine Leiche in sehr kuriosen Umständen entdeckt. Die Autorin schweigt sich über die Umstände aus, benutzt nur einzelne Schlagwörter, wie ‚Nippelklemmen‘ und ‚Lackleder‘.
Der Vormittag neigt sich seinem Ende zu. Einige Kinder im Vorschulalter versuchen, auf das Bücherregal mit der Selbsthilfeliteratur zu klettern, während die Mütter daneben sich via InstantMessenger beschimpfen. Ein einzelner Mann liefert sich in einem Sessel ein wütendes Zwiegespräch, entweder mit Gott oder mit einer Deckenlampe. Die restlichen Tische des Café hat ein Rentnerstammtisch wie fast jeden Tag in Beschlag genommen. Nur noch mein Tisch und der eines älteren Ehepaares sind übrig. Mitarbeiter der Buchhandlung bauen gerade die neuste Enthüllungsbiographie Melanie S. - vom It-Girl zur Salafistin zur Pornopolitikerin in nur drei Monaten zu einer Pyramide auf, direkt neben der Pyramide der annotierten Ausgabe von Mein Krampf.
Ein üblicher, ruhiger Tag in der Buchhandlung.
Mein Caramel Macciato müsste jetzt weitestgehend abgekühlt sein. Ich will gerade danach greifen, da fragt mich eine Stimme von der Seite: „Sie haben doch gerade Abitur gemacht, nicht wahr?“
Ich blinzele. „Äh. Nein. Ich habe nicht gerade Abitur gemacht.“
Die Stimme gehört dem Mann des älteren Ehepaars, welches direkt am Tisch neben mir sitzt. Als der Mann meine Antwort hört, nickt er, und in seinen Augen blitzt es auf. Ich denke mir nichts dabei.
Ich will gerade weiterlesen und endlich meinen Kaffee kosten, da sagt er: „Hab ich mir ja fast gedacht. Sie sind ja nicht von hier.“
Das irritiert mich jetzt etwas. Woher weiß der ältere Herr das? „Nein, ich bin nicht von hier“, sage ich langsam.
Er schnippt mit den Fingern. „Hab ich mir gleich gedacht, da hab ich ein Ohr für.“ Mit einem etwas besorgt klingenden „Ewald“ legt seine Frau ihre Hände auf seinen linken Arm, aber er wischt diese unwirsch weg. „Student?“, er stößt seinen Zeigefinger in meine Richtung.
Amüsiert schüttele ich den Kopf. „Nein, das auch nicht.“ Ich bin schon lange kein Student mehr.
„Aha! Aha“, sagt der ältere Mann, steht auf und geht aus dem Laden. Seine Frau vergräbt ihr Gesicht in den Händen.
„Was sollte das jetzt?“, frage ich.
„Oh, das ist mir so peinlich, bitte verzeihen Sie. Wir dachten, Sie sehen wie ein Abiturient aus und hätten vielleicht eine Idee, was wir unserem Enkel zu seinem Abitur im nächsten Jahr schenken können.“
„Eine Reise ohne die Eltern. Nichts Teures, aber auch keine Busfahrt mit einem Wanderklub. Schicken Sie ihn dahin, wo er sich ein bisschen austoben kann und lassen Sie bloß die Finger von irgendwelchen kulturellen Touren. Ansonsten wird er Sie für das restliche Leben hassen.“
Zu meiner Überraschung scheint sie von meinen Worten sogar leicht fasziniert. Sie nickt ebenfalls und eilt aus dem Laden.
Ich widme mich wieder dem Provinzkrimi und kann endlich meinen Kaffee genießen.
Das Glas ist halbleer und im Krimi hat der Ermittler gerade den verdächtigen Studienrat zu seinen seltsamen Fetischen befragt, da reißt mich eine Berührung an der Schulter in die Wirklichkeit zurück. Vor mir steht ein Schutzpolizist in voller Montur. „Czy mogę zobaczyć Twoją tożsamość?”
„Was soll ich hobeln?“
Er wiederholt die Worte, eins nach dem anderen, sehr langsam und deutlich.
Ich kneife für einige Sekunden die Augen zusammen und öffne sie wieder. „Was?“
„Interessant“, der Polizist zieht eine Augenbraue hoch. „Sie haben kein Wort verstanden.“
„Das habe ich nicht. Was heißt das?“
„Dürfte ich bitte Ihren Ausweis sehen? Das heißt es und das würde ich gerne.“
„Klar.“
Mit gerunzelter Stirn betrachtet der Polizist sich die Plastikkarte.
Das beunruhigt mich. „Ist alles in Ordnung?“
Er reibt sich das Kinn. „Da ist überhaupt kein Problem. Ich frage mich nur, wie-“
„Ja, was wird‘n das jetzt? Verhaften Sie den verdammten Polacken endlich mal, Sie!“ Hinter den Pyramiden kommt der ältere Mann hervor, die Faust schwenkend, in seinem Kielwasser seine Frau, welche die Hände zum Stoßgebet gefaltet hat.
Der Polizist stoppt ihn mit erhobener Hand. Das hält den Herren nicht von weiteren Unflätigkeiten ab. „Sozialschmarotzer, du! Verzieh dich zurück zu deinem Putin!“
„Ewald, bitte, dein Blutdruck“, will seine Frau auf ihn einreden, doch er schüttelt sie ab.
Der Polizist reibt sich die Schläfe. „Also, aus irgendeinem Grund glaubt dieser werte Herr, Sie, junger Mann, seien ein polnischer Staatsbürger, der sich illegal hier aufhalten würde.
Zu seinem Glück trinke ich gerade nichts, sonst hätte ich ihm die Flüssigkeit über die Hose gespien.
„Ihr Ausweis, junger Mann, straft seine Behauptung allerdings Lügen“, fährt der Polizist fort.
„Was? Das gibt‘s doch nicht! Der ist doch nie im Leben Deutscher!“, ereifert sich der ältere Mann.
„Wie kommen Sie darauf?“, spricht der Polizist meine Gedanken aus.
„Ja, ja, hören Sie sich doch mal seine Aussprache an“, fuchtelt der Mann in meine Richtung, „so klingt doch kein echter Deutscher. Der schwätzt ja gar keinen Dialekt nicht.“
„Oder er spricht Hochdeutsch“, fügt der Polizist mit einem süffisanten Grinsen hinzu.
Der ältere Mann bemerkt das nicht. „Ja, ja, aber warum sacht er dann, er sei nich von hier?“
Der Polizist schielt erneut auf meinen Ausweis. „Weil sich der junge Mann wahrscheinlich auf seine Wohnadresse bezog, die eine halbe Stunde Autofahrt von Mainz entfernt liegt.“ Er reicht mir die Plastikkarte zurück. „Entschuldigen Sie bitte die Unannehmlichkeiten.“
Der ältere Mann explodiert. „Ich hab mich wohl verhört! Sie Aushilfsochse fallen auf einen gefälschten Ausweis rein!“, brüllt er durch die ganze Buchhandlung, gefolgt von einer Reihe zusammenhangloser Silben. Alle starren her. Selbst die Kinder sind vom Bücherregal geklettert.
Das ruft den Geschäftsführer auf den Plan. Der Polizist erklärt ihm kurz die Sachlage. Ich bin dazu nicht fähig, die Situation hat mich gelähmt.
„Wie können Sie es wagen einen unserer besten Kunden derartig zu beschuldigen?“, entrüstet sich der Geschäftsführer. Blitzschnell macht er ein Foto von dem Ehepaar. „Sie haben hiermit Hausverbot. Lassen Sie sich hier nie wieder blicken.“
„Und wegen der Beleidigung unterhalten wir uns jetzt gleich mal auf der Wache“, fügt der Polizist hinzu.
Langsam normalisiert sich die Buchhandlung wieder. Der Geschäftsführer spendiert mir einen Kaffee. Doch als der ältere Herr abgeführt wird, kann ich mir eine Sache nicht verkneifen: „Do widzenia!”
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"If you don't read my bleedin' text, you don't get to talk down about my bleedin' text!" |
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Rheinsberg écrivaine émigrée
Alter: 64 Beiträge: 2251 NaNoWriMo: 35000 Wohnort: Amman
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19.10.2017 15:13
von Rheinsberg
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Hallo,
eine Geschichte nach meinem Geschmack. Neugierig, wie ich bin, habe ich bei deinen anderen Werken gestöbert, weil ich dich noch nicht kannte (liegt an längerer Abwesenheit meinerseits), und muss wohl noch ein bisschen Zeit fürs Lesen aufwenden.
Mir fiel hier auf, dass manches für mich etwas dick aufgetragen wirkt (etwa die Buchtitel), aber das scheint, wenn ich mir die anderen Texte anschaue, deine persönliche Note zu sein, und grinsen musste ich trotzdem.
Zudem gefiel mir die Beschreibung der Buchhandlung und des Caramel Macchiato (einer meiner Lieblingssünden).
Ebenso die Beschreibung des älteren Ehepaares. Ein wenig bemüht fand ich den Punkt, wo der Herr einen doch nicht mehr ganz jungen Mann für einen Abiturienten halten möchte - über diese Schwelle zur Konversation hätte man vielleicht auch anders kommen können.
"Aushilfsochse" - ist mit Sicherheit Beamtenbeleidigung, aber wenigstens originell.
Langer Rede kurzer Sinn: wenn ich deinen Namen bei den neu eingestellten Texten sehe, gucke ich sicher wieder hin.
_________________ "Write what should not be forgotten…" Isabel Allende
"Books are written with blood, tears, laughter and kisses. " - Isabel Allende
"Die größte Gefahr ist die Selbstzensur. Dass ich Texte zu bestimmten Themen gar nicht schreibe, weil ich ahnen kann, welche Reaktionen sie hervorrufen." - Ingrid Brodnig |
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azareon35 Eselsohr
Beiträge: 292 Wohnort: Hessen
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19.10.2017 17:58
von azareon35
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Rheinsberg hat Folgendes geschrieben: | Hallo,
eine Geschichte nach meinem Geschmack. Neugierig, wie ich bin, habe ich bei deinen anderen Werken gestöbert, weil ich dich noch nicht kannte (liegt an längerer Abwesenheit meinerseits), und muss wohl noch ein bisschen Zeit fürs Lesen aufwenden.
Mir fiel hier auf, dass manches für mich etwas dick aufgetragen wirkt (etwa die Buchtitel), aber das scheint, wenn ich mir die anderen Texte anschaue, deine persönliche Note zu sein, und grinsen musste ich trotzdem.
Zudem gefiel mir die Beschreibung der Buchhandlung und des Caramel Macchiato (einer meiner Lieblingssünden).
Ebenso die Beschreibung des älteren Ehepaares. Ein wenig bemüht fand ich den Punkt, wo der Herr einen doch nicht mehr ganz jungen Mann für einen Abiturienten halten möchte - über diese Schwelle zur Konversation hätte man vielleicht auch anders kommen können.
"Aushilfsochse" - ist mit Sicherheit Beamtenbeleidigung, aber wenigstens originell.
Langer Rede kurzer Sinn: wenn ich deinen Namen bei den neu eingestellten Texten sehe, gucke ich sicher wieder hin. |
Vielen Dank
Was die Buchtitel angeht: wenn ich mir so anschaue, was es alles an Semipromibiographien gibt, dann bin ich mit meinem satirisch gedachten Titel gar nicht so weit von der Realität weg. Bei dem anderen Titel wusste ich nicht mehr, ob ich den einfach offen posten kann.
Viel Spaß mit meinen anderen Texten
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Sonnenstunde Gänsefüßchen
Alter: 39 Beiträge: 15 Wohnort: Nordrhein-Westfalen
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31.10.2017 00:34
von Sonnenstunde
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Die Geschichte habe ich wirklich gerne gelesen, weil es dir so gut gelingt, eine bestimmte Atmosphäre aufzubauen. Du verwendest relativ viel Zeit darauf und das lohnt sich.
Meine absolute Lieblingststelle: Zitat: | Einige Kinder im Vorschulalter versuchen, auf das Bücherregal mit der Selbsthilfeliteratur | (ausgerechnet! ) Zitat: | zu klettern, während die Mütter daneben sich via InstantMessenger beschimpfen. | Großartig!
Einen ganz kleinen Kritikpunkt habe ich: Ich stolpere über Zitat: | Während ich darauf warte, dass der Kaffee weit genug abkühlt, um mir nicht die Zunge zu verbrennen,... | Hier fänd ich harmonischer entweder Während ich darauf warte, dass der Kaffee weit genug abkühlte, dass ich mir nicht die Zunge verbrannte,... oder, noch lieber Während ich darauf warte, dass der Kaffee weit genug abkühlt, um ihn trinken zu können, ohne sich die Zunge zu verbrennen,...
Habe ich das richtig verstanden? Nimmt dein Protagonist ACHT Tüten Zucker? In einen Caramel Macciato?
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azareon35 Eselsohr
Beiträge: 292 Wohnort: Hessen
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31.10.2017 00:47
von azareon35
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Heyo Sonnenstunde,
Sonnenstunde hat Folgendes geschrieben: |
Die Geschichte habe ich wirklich gerne gelesen, weil es dir so gut gelingt, eine bestimmte Atmosphäre aufzubauen. Du verwendest relativ viel Zeit darauf und das lohnt sich. |
Vielen Dank. Ich hatte schon befürchtet, es mit der Beschreibung übertrieben zu haben.
Sonnenstunde hat Folgendes geschrieben: | Hier fänd ich harmonischer entweder Während ich darauf warte, dass der Kaffee weit genug abkühlte, dass ich mir nicht die Zunge verbrannte,... oder, noch lieber Während ich darauf warte, dass der Kaffee weit genug abkühlt, um ihn trinken zu können, ohne sich die Zunge zu verbrennen,... |
Danke, ich bau es ein.
Sonnenstunde hat Folgendes geschrieben: | Habe ich das richtig verstanden? Nimmt dein Protagonist ACHT Tüten Zucker? In einen Caramel Macciato? |
Oh ja.
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