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Autobio 1


 
 
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Christof Lais Sperl
Geschlecht:männlichKlammeraffe

Alter: 62
Beiträge: 941
Wohnort: Hangover
Der silberne Roboter


Beitrag20.07.2017 17:46
Autobio 1
von Christof Lais Sperl
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Ich wollte meine Autobio mit Fiktion vermengen, und arbeite dazu eine große Arbeit von mir (Amex) durch. Es fällt viel Überflüssiges  weg, nur das Wichtigste soll noch zum Zuge kommen. Hier wäre der erste Teil von sehr viel mehr. Mancher und Manchem könnte es bekannt vorkommen.

1
Wenn es zu langweilig wird, drücke ich Farben. Beide Daumen auf die geschlossenen Augenlider, schon ringeln sich Schnüre bunter Jetons durchs Dunkelrot. Nehme ich den Druck, dauert es ein paar Sekunden, bis das grüngelb verstellte Bild wieder klar ist. Sonst gibt es hier nicht viel zu sehen. Links die Fensterreihe mit den dürren Bäumen und den buckligen Krähen, die davon herunterblicken. Und dann sitzt einer vor mir, dessen Kopfhaut durch das kurz geschorene Haar mäandert. In der Form  einer flüssigen Hirnrinde drücken sich beflaumte Wülste von unten nach oben, von links nach rechts. Meistens blickt der Vordermann an die Decke, wiegt seinen in die Hände gestützten Kopf hin und her.

Ich bin ein Arschloch.

Und ein hässliches dazu. Damit fängt alles an. Morgens schäme ich mich vor dem eigenen Spiegelbild im Bad, ohrfeige mich, klitsch, klatsch, links und rechts. Um das Selbst zu strafen. Das sich  langsam rötende Sackgesicht aus der Welt zu kloppen.

Die anderen sehen ohne Spiegel, wie es um mich steht. Ihr Blick schmerzt. Die würden schon verstehen, warum sich einer wie ich selbst auf die Fresse gibt. Doch öffentlich wäre mir die Selbstzüchtigung dann doch zu geisteskrank. Deshalb bewahre ich das Geheimnis nur für mich. Draußen klappt es auch ohne Selbstklatschen, wenn es nur ums Rotwerden gehen soll. Denn ich werd von ganz alleine rot. Schon wenn die anderen mich nur anstarren.

Einmal nur war es anders, da stand da ein neues Mädchen rum. Die war so pott, dass es mir richtig Angst gemacht hat. Mir wurde schlecht, ohne dass ich genau bestimmen konnte, woran ich die Abneigung festgemacht hatte. Vielleicht lag’s auch nur daran, dass sie nur so regungslos rumstand, ohne was zu sagen. Ich weiß das nicht. Von manchen Farben wir mir auch immer schlecht. Von Silber metallic zum Beispiel. Da weiß ich auch nicht, was an der Farbe so schlimm sein soll, aber ich könnte sofort loskotzen, wenn ich einen Güterzug mit einem Tankwagen in Silber metallic sehe. Grün ist auch schlimm. Vor allem mit Gelb. Das erinnert mich an den Spinat mit Spiegelei, zu dem mich meine Mutter zwingt. Ich schließe immer die Augen und würge das eklige Zeug runter, so schnell, dass ich den widerlich erdigen Geschmack kaum spüre. Wenn man das auf der Zunge zergehen lassen würde, wüsste man, was es heißt, ins Gras zu beißen. Danach will ich mir immer ein paar Treets nehmen, aber meine Mutter verbietet das. Ich soll das Essen schätzen lernen, und erstmal noch an dem Spinatgeschmack im Hals leiden.

Meine Mutter macht auf Normalleben. Wo ich doch weiß, dass die Welt nur dazu gemacht ist, mich zu bescheißen. Ein Schmierentheater von kosmischen Ausmaßen, in dem jeder seine festgelegte Rolle spielt. Um mich Arschgesicht hinters Licht zu führen. Genauso wie die Krähen mitspielen, die von da oben runtergucken. Ein Schnippchen aber habe ich der Kackwelt geschlagen: Ich hab das alles durchschaut. Also, das mit den Rollen und so. Eigentlich hätte mir ja mal einer bescheid sagen können. Aber vielleicht haben die Mitleid mit mir, und denken ich kapiere nix. Irgendeiner muss ihn  ja spielen, den Blöden. Und die passende Hackfresse nach außen tragen. Die mit Niveafett gebändigten Scheißlocken undefinierbarer Farbe. Die nach unten weisenden Mundwinkel, die jeden sofort depressiv machen. Abends gucke ich ins Spiegelbild. Aber dann doch wieder gucke ich, meine ich. Ich liebe den Nervenkitzel, der sich einstellt. Wohlig laufen Schauer über den Rücken. Das fühlt sich fast so gut an, wie die Gänsehaut, wenn ich im letzten Moment am Güterbahnhof vor so einer herannagelnden Lok über die vielen Geleise renne, und nicht genau weiß, auf welchem das Teil nun kommt.

Wenn ich tot bin, ist sowieso egal. Dann werde ich ein Friedhofsbaum. Meine Asche dringt als Nährstoff in die Wurzeln. Formt ein Abbild der Pflanze. Ob sie vorher am Grab heulen werden, wenn sie von oben in die Grube glotzen? Ich glaube kaum. Wegen so einem Sackgesicht heult doch keiner. Da gibt jeder eine Schippe drauf, und gut ist. Ob so ein Friedhofsbaum
Irgendwie anders ist als andere? Ob der mehr weiß vom Leben und vom Tod?

So sieht es also aus bei mir. Vorne ein Lehrer, der Großbuchstaben an die Tafel malt, rechts ein paar bunte Bilder. Links die Bäume mit den Krähen. Und vor mir der mit den Hirnfurchen.
Bald bester Kumpel. Wir laufen immer zu dritt heim. Der Wirth, ich, und die Furchenbirne.
Vor der Weggabelung beleidige ich schnell noch den Wirth. Dann links abbiegen. Die Furchenbirne beschützt mich ja noch. Wirth geht geradeaus. Droht. Das Haus vom Kurzgeschorenen kommt als erstes. Die Mutter steht immer schon in der Tür, und wartet mit dem Mittagessen. Ich also erstmal mit dem Furchenkopf links ab, Richtung Mutter. Später dann wieder zweimal links, wo der dicke Wirth in gespielter Wut schon auf mich wartet. So eine Oliver-Hardy-Wut ist das. Eine schwer körperliche. Mich fuchtelnden Armen. Gestikulierend steht der da am Briefkasten, immer steht er am Briefkasten, obwohl er mich auch anderswo abpassen könnte. Gibt mir auf die Fresse. Schwitzkasten. Arschtritte. Aber nur zum Schein. Ganz sanft. Der weiß um seine Kraft. Wir laufen dann gemeinsam weiter. Sein Haus kommt als erstes.   

Mein Haus ist hell und von Birken umsäumt. Es enthält auch eine dicke Oma mit hellblauer Küchenuhr. Die regt sich immer auf, wenn im ihrem Radio Rock läuft. Sie mag die Schreierei nicht, sagt sie. Das ist doch kein Gesang. Aber wie sollte eine Rockgruppe ihre Musik spielen, wenn dazu nicht wie blöd geschrieen wird?  

Mich nerven die bescheuerten Sportreporter. Wenn mein Vater da ist, hat er immer Fußball an. Offensichtlich kann man über Fußball nur berichten, wenn immer so aufgeregt rumgebrüllt wird. Mich interessiert das nicht. Ist doch scheißegal, ob Frankfurt oder sonst wer das Tor gemacht hat. Tor und gut ist.

Im Sommer kommt eine zweite Oma aus Frankfurt. Eine dünne. Frisst sich drei Wochen bei meiner Mutter durch, fährt dick wieder heim, und wenn an einem Tag mal kein Fleisch auf dem Teller liegt, nur Nudeln mit Tomatensoße oder so was, beschwert sie sich, dass sie bei der Schwiegertochter Hunger leiden muss.

Ich wache immer früh auf. Denke ans Ohrfeigen. Kann mich aber kurz nach dem Aufwachen noch nicht bewegen, und muss mir meinen Körper, den ich noch gestern Abend beweglich ins Bett bewegt habe, ausgehend vom kleinen Zeh, nach und nach zurückerobern. Dann Frühstück, Schmierkäse mit Pilzgeschmack aus dem Glas, Käpt’n Nuss oder so was, Zähne putzen, ohrfeigen, Schule.  So sieht es aus.



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Beitrag20.07.2017 19:05

von V.K.B.
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Hallo Christof Lais Sperl,

Zitat:
Abends gucke ich ins Spiegelbild. Aber dann doch wieder gucke ich, meine ich.
Der Sinn dieser Sätze erschließt sich mir nicht.

Zitat:
Ich bin ein Arschloch.
Als Arschloch wirkt der Prota auf mich eher nicht. Arschloch assoziere ich mit demjenigen, der Tritte austeilt, nicht mit dem, der einsteckt.

Ich habe mal reingelesen und muss zugeben, dass ich nicht genau weiß, was ich damit anfangen soll. Kann jetzt auch nur textimmanent kommentieren, weil ich nichts über dich weiß und auch noch nichts gelesen habe. Ich weiß auch nicht, in was für einem Kontext welcher größeren Arbeit das steht. Wahrscheinlich ist mein Kommentar daher unqualifiziert. Nimm ihn einfach als Kommentar von jemandem ohne jegliches Vorwissen.

In der Beschreibung sehe ich jemanden, der sich selbst niedermacht, ohne dass ich festmachen kann, warum eigentlich. Der dann einige Dinge kommentiert (Fussball, Famlilie (Omas), Leben und Tod, etc) aber dabei irgendwie lustlos rüberkommt. Andeutungen von Sarkasmus und Zynismus sind zu finden, aber nicht genug, um (jedenfalls für mich) wirklich unterhaltsam oder witzig zu sein. Philosophische Tiefe, wie ich sie von Nicht-Unterhaltungsliteratur erwarte, finde ich auch nicht, die Gedanken des Protas sagen mir nichts Neues und zeigen mir auch keine neue Perspektive auf, aus der größere Denkanstösse entstehen würden.  Eine emotionale Verbindung zum Prota und Interesse für sein Leben entsteht bei mir nicht, sorry.

Ich frage mich daher: Was ist der Sinn dieses Textes? Da fehlt mir irgendwas, was mich mitzieht, der Text hat mich noch nicht an der Angel. Ich lese ihn genauso teilnahmslos wie der Prota von sich erzählt. Daher kann ich nur sagen: Leider nicht mein Ding. Aber das ist subjektiv, Texte wie dieser sind nicht für eine riesige Zielgruppe geschrieben, denke ich, und ich gehöre wahrscheinlich einfach nicht dazu.

Flüssig geschrieben und gut lesbar fand ichs aber trotzdem.

Grüße,
Veith


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Christof Lais Sperl
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Beitrag20.07.2017 21:18
Kritik
von Christof Lais Sperl
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Danke! Ich bedenke das!

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Canyon
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Beitrag20.07.2017 22:56
Re: Autobio 1
von Canyon
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Hey Christof smile

Ich habe deinen Text heute zweimal gelesen. Beim ersten Mal kam mir die "Stimme" des Erzählers ziemlich aggressiv vor, was dazu geführt hat, dass ich den Text nicht ganz zu Ende lesen konnte. Beim zweiten Mal war es dann aber schon deutlich besser, so dass ich nun versuchen möchte meine Eindrücke zu schildern.

Grundsätzlich hat der Text von Anfang an, und auch während des ersten Lesens, mein Interesse geweckt, sonst hätte ich auch keinen zweiten Versuch gestartet. Die Person, die erzählt, wirkt auf mich wie ein klassischer Außenseiter, der sich selbst in allen Aspekten des Lebens als Verlierer sieht. Die Art und Weise wie er sich selbst, aber auch andere darstellt, macht auf mich den Eindruck, als wäre das "Maß" schon ziemlich voll. Zorn, Verzweiflung, eine gewisse Abgestumpftheit schlagen mir entgegen. Das finde ich allgemein nicht weiter schlimm, vielleicht sogar gerade anregend, um weiter zu lesen. Es gibt viele zornige und unzufriedene Menschen, die sich mit einem solchen Charakter identifizieren können. Auch ich kann das, wobei bei mir eher eine Art Mitleid aufkommt, wie mit einem typischen Mobbingopfer.
Allerdings muss ich zugeben, dass mich der Schreibstil, sofern er in diesem zornigen, verächtlichen Tonfall weiter bestehen sollte, wohl auf Dauer nicht halten könnte. Bei einer Kurzgeschichte mag das (für mich) funktionieren, aber über 200 - 300 Seiten, oder sogar mehr wäre mir das doch zu anstrengend. Würde aber der Protagonist im Laufe der Geschichte eine Entwicklung durchmachen (und damit auch der Schreibstil), wäre das womöglich hinnehmbar ... aber das kann ich ja noch nicht beurteilen.

Was mir beim Lesen auch aufgefallen ist, ist, dass du einige Themen angeschnitten, dann aber nicht weiter verfolgt hast. Zum Beispiel:

Christof Lais Sperl hat Folgendes geschrieben:

Meine Mutter macht auf Normalleben.

Spätestens hier würde ich mich fragen: Okay, was ist denn an seinem Leben nicht normal? Denn die Dinge, die er aus seinem Familienleben beschreibt, klingen doch eigentlich super - normal: die Oma, die keine Rockmusik mag, Fußball glotzender Vater, Mutter, die darauf besteht, dass er seinen Spinat isst ...
Und wieso sieht er sich in einem so schlechten Bild, und glaubt, dass auch andere das tun? Da wird sehr viel geschimpft, aber nicht so genau erklärt, warum eigentlich. Wobei doch gerade das für den Leser von größtem Interesse wäre.

Du hast zwar erwähnt, dass du nur das Nötigste schreiben möchtest, und Unwichtiges weglassen, aber vergiss nicht, dass du als Autor vielleicht manche Details als unwichtig betrachtest, da du ja sowieso die Gesamtheit der Geschichte kennst. Als Leser fehlt einem aber im Grunde alles - man kann letztendlich nur das zu einem Gesamtbild verarbeiten, was man zu lesen bekommt. Und um ein rundes Bild zu bekommen, sind ein paar "Schmuckdetails" manchmal ganz nett. Sozusagen als Dekoartikel für die Welt, die man betritt.
smile


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Christof Lais Sperl
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Beitrag21.07.2017 10:43
Autobio 1.0
von Christof Lais Sperl
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Ich habe die Kritik berücksichtigt. Der Prota wird im Verlauf moderater.

1
Wenn es zu langweilig wird, drücke ich Farben. Beide Daumen auf die geschlossenen Augenlider, schon ringeln sich Schnüre bunter Jetons durchs Dunkelrot. Nehme ich den Druck, dauert es ein paar Sekunden, bis das grüngelb verstellte Bild wieder klar ist. Sonst gibt es hier nicht viel zu sehen. Links die Fensterreihe mit den dürren Bäumen und den buckligen Krähen, die herunterblicken. Und dann sitzt einer vor mir, dessen Kopfhaut durch das kurz geschorene Haar mäandert. In der Form  einer flüssigen Hirnrinde drücken sich beflaumte Wülste von unten nach oben, von links nach rechts. Meistens blickt der Vordermann an die Decke, wiegt seinen in die Hände gestützten Kopf hin und her.

Ich bin eine richtig arme Sau. Eine hässliche. Damit fängt alles an. Morgens schäme ich mich vor dem eigenen Spiegelbild im Bad, ohrfeige mich, klitsch, klatsch, links und rechts. Das Selbst zu strafen. Das sich  langsam rötende Sackgesicht aus der Welt zu ballern.

Die anderen sehen ohne Spiegel, wie es um mich steht. Deshalb schmerzt auch ihr Blick. Die würden zwar verstehen, warum sich einer wie ich selbst auf die Fresse gibt. Doch öffentlich wäre mir die Selbstzüchtigung dann doch zu geisteskrank. Deshalb bewahre ich das Spiegelgeheimnis nur für mich. Draußen klappt es auch ohne Selbstklatschen, wenn es jetzt mal nur ums Rotwerden gehen soll. Denn ich werd von ganz alleine rot. Schon wenn die anderen mich nur anstarren.

Einmal nur war es anders, da stand ein neues Mädchen vor der Schule rum. Die war so pott, dass es mir richtig Angst gemacht hat. Mir wurde schlecht, ohne dass ich genau bestimmen konnte, woran ich die Abneigung festgemacht hatte. Vielleicht lag es nur daran, dass sie so regungslos rumstand, ohne was zu sagen. Ich weiß das nicht.

Von manchen Farben wir mir auch immer schlecht. Erklären kann ich’s nicht. Von Silber metallic zum Beispiel. Da weiß ich auch nicht, was an der Farbe so schlimm sein soll, aber ich könnte sofort loskotzen, wenn ich einen Güterzug mit einem Tankwagen in Silber metallic sehe. Grün ist auch schlimm. Vor allem mit Gelb. Das erinnert mich an den Spinat mit Spiegelei, zu dem mich meine Mutter zwingt. Ich schließe immer die Augen und würge das eklige Zeug runter, so schnell, dass ich den widerlich erdigen Geschmack kaum spüre. Wenn man das auf der Zunge zergehen lassen würde, wüsste man, was es heißt, ins Gras zu beißen. Danach will ich mir immer ein paar Treets nehmen, aber meine Mutter verbietet das. Ich soll das Essen schätzen lernen, und an dem Spinatgeschmack im Hals leiden. Sie meint, ich gewöhne mich noch dran.

Meine Mutter macht auf Normalleben. In Bezug auf mich, meine ich. Wo ich doch weiß, dass sie ein Monster geboren hat, und die Welt nur dazu gemacht ist, mich zu bescheißen. Ein Schmierentheater von kosmischen Ausmaßen dreht sich um mich, in dem jeder seine festgelegte Rolle spielt. Um mich Arschgesicht hinters Licht zu führen. Genauso wie die Krähen mitspielen, die von da oben ständig runtergucken. Ein Schnippchen aber habe ich der Kackwelt geschlagen: Ich hab das alles durchschaut. Also, das mit den Rollen und so. Eigentlich hätte mir ja mal einer bescheid sagen können. Aber vielleicht haben die Mitleid mit mir, und denken ich kapiere nix. Irgendeiner muss ihn  ja spielen, den Blöden. Und die passende Hackfresse nach außen tragen. Die mit Niveafett gebändigten Scheißlocken undefinierbarer Farbe. Die nach unten weisenden Mundwinkel, die jeden sofort depressiv machen. Abends gucke ich ins Spiegelbild. Ich gucke dann doch wieder, meine ich. Ich könnte’s ja vermeiden. Doch ich liebe den Nervenkitzel, der sich einstellt. Wohlig laufen Schauerwellen über den Rücken. Das fühlt sich fast so gut an, wie die Gänsehaut, wenn ich im letzten Moment am Güterbahnhof vor so einer herannagelnden Lok über die vielen Geleise renne, und nicht genau weiß, auf welchem das Teil nun kommt.

Wenn ich tot bin, ist sowieso egal. Dann werde ich hoffentlich ein Friedhofsbaum. Meine Asche dringt als Nährstoff in die Wurzeln. Formt ein Abbild der Pflanze. Dann würd ich richtiog gut aussehen, wie ein Baum eben. Ob alle vorher am Grab heulen werden, wenn sie von oben in die Grube glotzen? Ich glaube kaum. Wegen so einem Sackgesicht heult doch keiner. Da gibt jeder eine Schippe drauf, und gut ist. Ob so ein Friedhofsbaum
Irgendwie anders ist als andere? Ob der mehr weiß vom Leben und vom Tod? Friedhofsbäume sehen anders aus. Wie Grenzbäume. Meinetwegen solche, die direkt hinter der holländischen oder dänischen oder sonst was Grenze stehen. Die sehen dann gleich so ausländisch aus. Anders, eben.

So sieht es also aus bei mir. Vorne ein Lehrer, der Großbuchstaben an die Tafel malt, rechts ein paar bunte Bilder und Landkarten. Links die Bäume mit den Krähen. Und vor mir der mit den Hirnfurchen. Bald bester Kumpel. Wir laufen immer zu dritt heim. Der Wirth, ich, und die Furchenbirne.  Vor der Weggabelung beleidige ich schnell noch den Wirth. Dann links abbiegen. Die Furchenbirne beschützt mich jetzt ja noch. Wirth geht geradeaus. Droht mit allen Gliedern. Das Haus vom Kurzgeschorenen kommt als erstes. Die Mutter steht immer schon in der Tür, und wartet mit dem Mittagessen. Ich also erstmal mit dem Furchenkopf links ab, Richtung Mutter. Später dann wieder zweimal links, wo der dicke Wirth in gespielter Wut schon breitbeinig auf mich wartet. So eine Oliver-Hardy-Wut ist das. Eine schwer körperliche. Mich fuchtelnden Armen. Gestikulierend steht der da am Briefkasten, immer steht er am Briefkasten, obwohl er mich auch anderswo abpassen könnte. Gibt mir auf die Fresse. Schwitzkasten. Arschtritte. Aber nur zum Schein. Eigentlich ganz sanft. Der weiß um seine Kraft. Trotzdem hab ich jeden Tag Schiß. Er könnte ja mal richtig zulangen. Wir laufen dann gemeinsam weiter. Sein Haus kommt immer als erstes.    

Mein Haus ist hell und von Birken umsäumt. Es enthält auch eine dicke Oma mit hellblauer Küchenuhr. Die regt sich immer auf, wenn im ihrem Radio Rock läuft. Sie mag die Schreierei nicht, sagt sie. Das ist doch kein Gesang. Aber wie sollte eine Rockgruppe ihre Musik spielen, wenn dazu nicht wie blöd geschrieen wird?   

Mich nerven die bescheuerten Sportreporter. Wenn mein Vater da ist, hat er immer Fußball an. Offensichtlich kann man über Fußball nur berichten, wenn immer so aufgeregt rumgebrüllt wird. Mich interessiert das nicht. Ist doch scheißegal, ob Frankfurt oder sonst wer das Tor gemacht hat. Tor und gut ist.

Im Sommer kommt eine zweite Oma aus Frankfurt. Eine dünne. Frisst sich drei Wochen bei meiner Mutter durch, fährt dick wieder heim, und wenn an einem Tag mal kein Fleisch auf dem Teller liegt, nur Nudeln mit Tomatensoße oder so was, beschwert sie sich, dass sie bei der Schwiegertochter Hunger leiden muss und frisst im Gasthaus. Bei ihr selbst gib’s aber nie was, wenn wir mal auf Besuch kommen. Heizung auf null, und eine Scheibe Braten für fünf Leute auf dem Tisch.

Ich wache immer früh auf. Denke ans Ohrfeigen. Kann mich aber kurz nach dem Aufwachen noch nicht bewegen, und muss mir meinen Körper, den ich noch gestern Abend beweglich ins Bett bewegt habe, ausgehend vom kleinen Zeh, nach und nach zurückerobern. Vom Schwanz weiß ich noch nichts. Außer pinkeln halt. Dann immer Frühstück, Schmierkäse mit Pilzgeschmack aus dem Glas, Käpt’n Nuss oder so was, Zähne putzen, schiffen, ohrfeigen, Schule.  So sieht es aus bei mir.
Nachmittags könnt ich mit dem Gernot spielen. Der darf sich aber nur mit Akademikerkindern treffen, weil seine Eltern ja so hervorragende Akademiker sind. Ich würde den vielleicht verderben. Mein Vater ist ja kein Studierter. Aber immerhin Beamter. Das trägt meine Mutter immer vor sich her. Ein Beamter. Das wäre viel besser als Arbeiter oder Angestellter, meint die immer. Eine Nachbarin hatte mal zu ihr gesagt, ihr eigener Mann sei schließlich bei der Krankenkasse. Also Angestellter im Beamtensinne. Darüber musste meine Mutter immer lauthals überheblich lachen, zu Hause meine ich. So diskret war sie ja schon. Ja, die Akademiker, die waren schon was. Die Frau vom Grundschullehrer flötete deren Namen immer so übertrieben ausgesprochen. Da gab es so eine Sippe Schluhe. Akademiker eben, die nannte die bei den Ansagen zum Flötenkonzert immer Schluwé. Mit ganz langem e. Na ja, die bekamen auch immer die besseren Noten. Ein Schluhe mit Rechnen drei, das gab es nicht. Bei Beamten und so was schon. Na ja, gut war ich ja nie im Rechnen. Schon beim schriftlichen Teilen wurde es eng. Aber ich brauchte das auch nie. Teilen und Brüche und so. Ich zähle jetzt noch die Stunden an den Fingern, wenn was von neun bis siebzehn Uhr dauert. Ich kann zwar siebzehn minus neun rechnen, aber entweder komm ich da immer nicht drauf, oder es ist mit den Fingern bequemer.


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Beitrag21.07.2017 11:19

von V.K.B.
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Schöne Überarbeitung, liest sich viel besser jetzt.

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Beitrag23.07.2017 10:29
Autobio Fortsetzung
von Christof Lais Sperl
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2
Beim Frisör stehen immer Zigaretten auf dem Tisch. Camel. In einer großen Dose. Ich schätze, in so eine Dose gehen mindestens hundert Kippen rein. Ich nehme immer welche vom Frisör mit. Oder aber der Furchenkopf klaut zu Hause welche. Kratzige Gitanes ohne. Oder blaue Gauloises. Meine Alten rauchen ja nicht. Oder nur dann, wenn sie mal besoffen sind, was selten vorkommt. Wenn dann, mit Martini oder Cinzano.

Der Furchenkopf und ich gehen unter die Brücke. Da guckt keiner. Weil da nie jemand lang geht. Also jedenfalls keiner von den Erwachsenen. Da sind ja immer so ein paar alte Nazis drunter. Die dann gleich wieder den Verstoß gegen das Jugendschutzgesetz feststellen. Obwohl sie selber vielleicht hundert Unschuldige ans Messer geliefert haben. Aber das war ja eine andere Zeit, sagen die immer. Also wir sitzen da immer rum und rauchen, wenn wie nicht den Wettbewerb im Weitpissen machen. Ich gewinne immer. Mein Schwanz ist beschnitten, und die Eichel flutscht nicht so rum, wie die von denen mit Vorhaut. Meine ist schön trocken und unempfindlich. Und so kann ich die ganz vorne, an der Pissöffnung, richtig zusammenquetschen. Dadurch baut sich massig Druck auf, den ich auf den Vortrieb geben kann. Ich komme damit über den Bach, bis zur gegenüberliegenden Brückenmauer. Wie gesagt, außer mir kriegt so was keiner hin. Die anderen haben entweder einen schlappen, dicken Strahl. Oder auch mal zwei dünne. Wie das geht, kapier ich nicht. Aber wenigstens hier bin ich mal die Nummer eins.

Beim Rauchen sieht es gut aus, wenn man die Mundhöhle voll Qualm saugt, dann den Rauch rausdrückt und  ihn mit der Nase aufzieht. Wenn es gut klappt, entstehen da zwei Rauchstränge, die parallel nach oben ziehen. Ich rauche immer mit, obwohl meine Mutter das trotz Kaugummi fast immer riecht. Jeden Tag ist an der Haustür Riechkontrolle, und wehe, die merkt was. Dann setzt es ein paar zusätzliche Ohrfeigen. Oder Arrest. Mein Vater hält sich aus allem raus. Nicht, weil es ihm egal wäre. Sondern, weil er mit sich selbst schon so viel zu kämpfen hat. Innerlich. Ihm fehlt die Kraft zum Gefecht mit der Umwelt. Da hört er lieber Fußballgebrüll.

Manchmal kommt die Mia mit. Also, unter die Brücke. Die lässt gern  an sich fummeln. Bisschen Brüste kneten und so was. Sie ist schließlich die einzige, die schon am Ende der Vierten so was wie Titten hat. Manchmal stehen wir das zu fünft rum. Ein Fummelpulk. Vier Jungs grabbeln unter dem weiten Pulli, den sie extra für den Grabschauflauf angezogen hat. Von Schwanz und so hat noch keiner Ahnung. Außer zum Pinkeln, wie gesagt. Der wird zwar manchmal hart, aber was das  zu bedeuten hat, weiß keiner so genau. Aber die Mia weiß da was, will auch schon immer mal selbst von außen fühlen, wie die ganzen Pimmel in der Hose hart werden. Manchmal holt einer seinen raus. Aber nur zum Rumzeigen. Trotzdem packt Mia ihn dann manchmal an. Pinkeln geht in diesem Zustand nicht.

Ansonsten gibt’s nicht viel zu berichten. Ein paar Kloppereinen dann und wann. Ich halte mich immer an die Kleinen, weil ich ein feiges, grinsendes Arschloch bin. Kapitalverbrecher. Schwächere. Denen kann mal so richtig eine schallern. Gründe gib’s immer: Anderer Stadtteil, Vorort, blond, irgendwas passt schon. Da baut sich eine Freudenwelle auf, die kribbelt durch den ganzen Oberkörper. Patsch, knall ich denen lächelnd eine rein. Und da rennen sie schon, es ihren Müttern zu erzählen. Die Freudenwelle hält ziemlich lange an. Ich hab schon einen Ruf weg, und auf meinen Spielplatz kommen nur noch solche, die neu sind, und  keine Ahnung haben. Die kriegen dann auch gleich eine rein. Ist ja schließlich mein Spielplatz. Da hat außer den Kumpeln keiner was zu suchen. Mädchen zählen nicht. Die lasse ich in Ruhe. Wenn die Kumpels da so rumstehen, zugucken, und ich dresche den Kleinen was aufs Maul, sind die immer ganz erstaunt, dass ich so brutal sein kann. Irgendwie finden sie’s lustig. Wir da so einer steht, und gibt denen völlig unverhofft eine auf die Fresse, das muss irgendwie witzig aussehen.

Aber wenn die Feuermelder kommen, haue ich lieber gleich ab. Wo die hintreten, da wächst kein Gras mehr. Drei sehnige Brüder. Sommersprossig, dürre. Die haben fast immer ein paar Bier in der Birne. Auch vormittags. Wenn sie nicht irgendwo rumlaufen, oder zu Hause ihre Mutter beleidigen, stehen sie am Kiosk. Immer mit einer Röhre und einer Malle in der Hand. Gucken böse rum. Runzeln die Augenbrauen runter. Ein Blick aus Beobachtung und Drohung. Unbeweglich wie Schlangen stehen die da an der Bierbude rum und rauchen Malle rotweiß. Bis es mal drauf ankommt, und sie sich wegbewegen müssen. Schlägerei anzetteln,  oder im Jugendzentrum die Einrichtung zu Klump hauen, da werden sie ganz schnell beweglich. Da kriegt sogar der Pfarrer eine ab. Der Mittlere von denen, der redet manchmal. Aber nur, wenn es die zwei anderen Rothaarigen nicht mitkriegen. Sonst kriegt der von den eigenen Brüdern aufs Maul. Eigentlich kann der Mittlere ganz in Ordnung sein. Aber im Bruderbund hält er sich dann doch lieber an die Familienregeln. Erst ist er nett. Aber wenn einer der Brüder unverhofft auftaucht, lässt seine Seele die Gesichtsmuskeln wieder auf Angriffsstellung zusammenschnurren. Einmal war ich mit dem Mittleren bei denen im Haus. Eine richtige Bruchbude. In die Esstischplatte hatten sie ihre Namen und Grabkreuze und so was geschnitzt. Wie in der Schule. Der Mittlere nennt seine Mutter immer beim Nachnamen: Frau Boll. Frau Boll hol mal ne Pulle Martini, und so. Die Mutter hat richtig Bammel vor dem. Was der Alte Boll tagsüber genau trieb, wusste keiner. Jedenfalls kam er jeden Abend granatenmäßig aus der Kneipe. Ist dann auch schnell gestorben, der Mann.

3
Irgendwann war Mia weg. Die hatte während der großen Pause im Klassenzimmer aus den Ranzen Geld geklaut. Jetzt, nach den Sommerferien, geht’s aufs Gymnasium. Ich kann zwar immer noch nicht gut rechnen, aber egal, meine Mutter hat mich verdonnert. Ich muss schließlich Akademiker werden und erreichen, was dem Vater verwehrt geblieben war. Der Opa hatte gemeint, in seiner Familie mache man eben kein Abitur. Das hätte noch niemand gemacht. Da wäre die Realschule mehr als ausreichend.

Der Furchenkopf soll auch aufs Gymnasium gehen. Da können wir immer zusammen mit dem  Bus fahren, und ich kenne wenigstens schon mal mindestens einen. Im Gymnasium gibt es einen Raucherhof. Der ist zwar der Oberstufe vorbehalten, aber in der Masse der langhaarige und hochgewachsenen Raucher kann man sich ganz gut verstecken. Die Lehrer sind entweder Nazi oder Alternative. Dazwischen gibt es kaum was.
Mancher Alternative ist in Wirklichkeit ein Nazi. Ich sehe das immer in der Sportumkleide. In meiner Klasse ist nämlich der Sohn vom Kunstlehrer: Ein Möchtegern-Dalí, mit langer Mähne und Schnurrbart, der sich seine Schuhe farbig lackiert. Er macht auf verkanntes Genie. In der Sportumkleide kann man den grün und blau geprügelten Körper des Jungen sehen. Der schämt sich gar nicht. Der zeigt das alles her. Als Beweis für die Arschlochnatur des Vaters. Falls noch irgendjemand daran gezweifelt hätte. Vielleicht ist auch die Kinderprügelei in Wahrheit bloß Performance.  

Nazis aber, die in Wirklichkeit Alternative sind, gibt es nicht. Die Nazilehrer ziehen die Kinder an den Koteletten bis zur Tafel. Beleidigen sie. Halten Vorlesungen zu Politik und Weltgeschehen. Verteilen Ohrfeigen, wie der kleine schwule Porsche-Giftzwerg in der Sporthalle. Oder die fette Lateinsau K, die sich mit ihrer Marx’schen Gesichtsfotze nach den Pausen immer verschwitzt mitten in den Haupteingang stellt, und die Kinder zwingt, sich an dem fetten Wanst vorbeizudrängeln. Seht, hier steht die Macht, ihr kleinen Pisser, soll das heißen.

Spätestens ab Klasse sieben sind wir darauf gekommen, dass sich der Mann gerne über die Linken aufregt, also alle, die nicht CDUCSU sind. Deshalb besorgen wir Flugblätter von den Kommunisten. Legen sie aufs Pult. Dann steigert sich der Fettsack in Tiraden. Brüllt durch den Rauschebart, gibt für diese Stunde weder Latein noch Deutsch, und wir sind ganz fein raus. Schließlich macht es doch mehr Spaß, den Irren vor der Tafel beim Herumzucken zu beobachten, als irgendwelche Flexionen zu lernen. Aber irgendwann kommen dann doch wieder Zeugnisse und Klassenarbeiten. Manch Begabten verdächtigt er, seine Aufsätze abgeschrieben zu haben, wo auch immer, und verteilt Sechsen wegen Betrugs. Von Mädchen hält er gar nichts. Er meint, die sollten besser ihr Leben in der Küche verbringen und dort die Kämpfer des heiligen Deutschlands bekochen.

Weil man gegen den  Verbrecher nichts unternehmen kann, wird sein eigener Sohn von ein paar Leuten aus der Oberstufe entführt. Mitten im Winter muss er, der arme unschuldige  Nachkomme, in einer eiskalten Pfütze sitzend dafür büßen, nicht nur Mitschüler, sonder auch Sohn des K zu sein.


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Christof Lais Sperl
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Beitrag24.07.2017 10:34
Autobio Fortzetzung
von Christof Lais Sperl
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4
Ich habe Freunde. Viele Freunde. Es fühlt sich an, als wäre ich ein beliebtes Kind. Aber das kann auch Strategie von den Jungs sein. Vielleicht fühlen die sich größer, wenn sie mit einem Monster durch die Gegend ziehen. Das bringt massig Glanz. Oder ich bin ein Maskottchen, das man sich hält, um wichtig damit tun zu können. Wie ein Liliputaner im Zirkus. Ein Cliquenclown, über den man hinter der Hand überlegen schmunzeln kann, und der als Reserve dient, wenn mal kein anderer Spielkamerad verfügbar ist.

Meine Mutter macht weiter auf Normalleben und sagt, ich sei ein hübscher Junge. Ich nehme ihr das nicht ab. Es gibt ja noch das Spiegelbild. Sagt, dass ich in der Zukunft all das bringen soll, was der Vater nicht leisten kann. Bei den Eltern geht es ständig um Beförderungen. Nur Beamter, also besser als Angestellter, aber trotzdem weniger als Akademiker, das reicht ja nicht. Es muss ja ein hoher Beamter werden. Ein Höherer oder Gehobener. Schicksal des Beamten scheint zu sein, ständig irgendwelchen Beförderungen hinterherzulaufen. Amtmann, Inspektor, sonst was. Wer das nicht bringt, ist Versager. In den ewigen Trauerreden meine Mutter geht es  fast immer um nicht erfolgte Beförderungen, Prüfungen und Krankheiten. Jeden Tag kommt das aufs Tapet. Es geht um einen Chef, der sagt, egal welche Note Sie in der Prüfung kriegen, die Beförderung können Sie sowieso vergessen. Es geht um das Zerreiben von Menschen, um Medikamente, die den Menschen, der oft wochenlang im Bett liegt, aufhelfen sollen. Die ihn aber auch zum Pfeifen bringen. Was ihn wieder mütterlicher Lächerlichkeit aussetzt. Weil er vorn morgens bis abends stumpfsinnig herumpfeift. Keine Melodien, sondern tschiup, tschiup, tschiupup. Wie eine Meise im Frühling. Nur traurig. Die Geschichte von Einem, der sich die Welt zurecht- pfeift und schonpfeift, und doch immer wieder scheitern muss. Der alle bösen Gedanken an den öden Job wegträllert. Manchmal im Sommer auf dem Liegestuhl liegt, die Mundwinkel zeigen dabei tieftraurig nach unten. Schon spitzt sich der Mund zum ewigen Tschiup, doch nach ein paar Sekunden fällt das Gesicht wieder ab ins Dunkle. Bis zum nächsten Tschiup. Ich beobachte das eher zufällig als verstohlen, und verstehe  nicht, dass Mutter mir heimlich einen Vogel zeigt. Soll wohl heißen, dass der Vater nicht mehr alle Tassen im Schrank hat. Aber das könnte man über sie selbst genau so gut sagen. Ich sag’s ihr aber nicht, sonst krieg ich gleich wieder eine geschossen. Mit ihren ewigen, mit vaginalem Auflachen gewürzten Esstischgeschichten von irgendwelchen Geistlichen und Ärzten, die ihr offenbar zufällig über den Weg laufen, doch deren Nähe sie  auch sucht. Der Kleriker fasziniert, weil er nicht darf, aber sicherlich gern wollte. Vor allem bei so einer Hübschen wie Mutter. Und der Mediziner, der fasziniert als Akademiker, Machtträger, Playboy und Porschefahrer. Willst du mich heiraten, soll er die Mutter einmal gefragt haben, lange bevor sie Vater kennen gelernt, und er die Frieda genommen hat. Vater muss sich diese Scheiße täglich anhören. Bald wirken die Medikamente schon nicht mehr. Er versinkt wieder im Bett. Der Doktor verordnet Anderes. Der Vater pfeift nun nicht mehr. Jetzt brummt er wie eine Tuba.


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Canyon
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Beitrag24.07.2017 12:11
Re: Autobio Fortzetzung
von Canyon
Antworten mit Zitat

Hey CLS smile

Ich leg einfach mal los, mit meinen ersten Eindrücken:

Christof Lais Sperl hat Folgendes geschrieben:

Ich habe Freunde. Viele Freunde. Es fühlt sich an, als wäre ich ein beliebtes Kind. Aber das kann auch Strategie von den Jungs sein. Vielleicht fühlen die sich größer, wenn sie mit einem Monster durch die Gegend ziehen. Das bringt massig Glanz. Oder ich bin ein Maskottchen, das man sich hält, um wichtig damit tun zu können. Wie ein Liliputaner im Zirkus. Ein Cliquenclown, über den man hinter der Hand überlegen schmunzeln kann, und der als Reserve dient, wenn mal kein anderer Spielkamerad verfügbar ist.

Den Absatz finde ich richtig schön geschrieben. smile
Allerdings, auch durch die weiter folgenden Sätze:

Christof Lais Sperl hat Folgendes geschrieben:

Meine Mutter macht weiter auf Normalleben und sagt, ich sei ein hübscher Junge. Ich nehme ihr das nicht ab. Es gibt ja noch das Spiegelbild.

... möchte man doch langsam wissen, wo die immer wieder erwähnte Hässlichkeit herrührt? Hat er eine Krankheit, die dazu führt? Ist er von Geburt an oder durch einen Unfall entstellt? Ist er vielleicht gar nicht hässlich, sondern empfindet sich nur so?
Man müsste ja nicht gleich das ganze Geheimnis lüften (denn als solches erscheint es einem irgendwie), aber ein paar Hinweise wären schon toll.
smile

Christof Lais Sperl hat Folgendes geschrieben:

Sagt, dass ich in der Zukunft all das bringen soll, was der Vater nicht leisten kann. Bei den Eltern geht es ständig um Beförderungen. Nur Beamter, also besser als Angestellter, aber trotzdem weniger als Akademiker, das reicht ja nicht. Es muss ja ein hoher Beamter werden. Ein Höherer oder Gehobener.

Das Problem mit dem Erfolgsdruck, ausgelöst durch die Erwartungshaltung der Mutter, wurde auch in den anderen Textauszügen schon erwähnt, ich denke nicht, dass man das immer wieder wiederholen muss.

Christof Lais Sperl hat Folgendes geschrieben:

Jeden Tag kommt das aufs Tapet.

Aufs Tablett?

Christof Lais Sperl hat Folgendes geschrieben:

Es geht um das Zerreiben von Menschen, um Medikamente, die den Menschen, der oft wochenlang im Bett liegt, aufhelfen sollen.

Eine schöne Formulierung.

Christof Lais Sperl hat Folgendes geschrieben:

Keine Melodien, sondern tschiup, tschiup, tschiupup. Wie eine Meise im Frühling. Nur traurig. Die Geschichte von Einem, der sich die Welt zurecht- pfeift und schonpfeift, und doch immer wieder scheitern muss. Der alle bösen Gedanken an den öden Job wegträllert. Manchmal im Sommer auf dem Liegestuhl liegt, die Mundwinkel zeigen dabei tieftraurig nach unten. Schon spitzt sich der Mund zum ewigen Tschiup, doch nach ein paar Sekunden fällt das Gesicht wieder ab ins Dunkle. Bis zum nächsten Tschiup.

Der Absatz gefällt mir besonders gut, weil man hier zum ersten Mal, anstelle von Zorn und Abneigung, auch das Gefühl von Mitleid beim Erzähler wahrnimmt.  

Mir sind auch noch ein paar ganz allgemeine Sachen aufgefallen:
Du schreibst sehr viele kurze Sätze. Dadurch klingt der Text zuweilen sehr abgehakt, als müsste der Erzähler nach jedem Satz erstmal überlegen, was er als nächstes sagt. Das überträgt sich natürlich auch auf den Leser, was dazu führt, dass - zumindest bei mir - kein "entspannter" Lesefluss aufkommen kann.
Ein weiterer Punkt, der das Lesen ein wenig schwierig gestaltet, ist, dass du keine wörtlich Rede benutzt. Wörtliche Rede kann einen Erzähltext auflockern, so dass die Geschichte nicht so monoton wirkt. Ich weiß nun nicht, ob es bereits ganze Bücher gibt, die tatsächlich nur im Erzählmodus geschrieben sind, vollkommen ohne wörtliche Rede (vielleicht hat jemand Beispiele zur Hand?). Womöglich funktioniert das für manche Leser sogar. Ich persönlich könnte aber kein Buch von mehreren hundert Seiten in diesem Stil lesen.

Auch die Geschichte selbst kommt für meinen Geschmack noch nicht in Gang. Ich rätsele immer noch, wo eigentlich das Problem liegt.
Okay, er ist hässlich - aber ob das auch stimmt, kann der Leser gar nicht beurteilen, weil ihm, wie oben schon erwähnt, dazu die nötigen Informationen fehlen. Er bekommt von zu Hause Druck erfolgreich im Leben zu werden. Ja, okay ... das geht aber vermutlich vielen so. Eventuell ist es für ihn besonders schlimm, weil er glaubt, aufgrund seiner Hässlichkeit, ohnehin nie Erfolg zu haben? Wenn ja, könnte man das noch in den Text mit einbringen.
Er hat offenbar einen kranken Vater, der von der Mutter verspottet wird, und von dem er selber, als Sohn, dadurch auch keine Unterstützung erhält.
Das wäre jetzt für mich tatsächlich der erste Punkt, der sein Leben interessant macht!
Was für eine Krankheit ist das? Vielleicht eine Erbkrankheit? Vielleicht sogar die Krankheit, die ihn (angeblich) so hässlich macht? Wie ist sein Verhältnis zum Vater, oder wie war es vor der Krankheit? Wird er irgendwann Partei für ihn ergreifen und sich gegen die herrische Mutter behaupten?

Bisher wurde viel an der Oberfläche gekratzt, und zwar an etlichen Stellen. Aber tiefer geht die Reise bislang nicht, was schade ist, denn dadurch würden sich bestimmt einige Stellen auftun, die beim Leser mehr Spannung erzeugen. Ansonsten sieht es bisher nämlich nach einer recht normalen Kindheit aus: Zur Schule gehen, rauchen, fummeln, er hat Freunde - wenn auch vielleicht keine echten - aber zumindest ist er nicht alleine, sondern wird von anderen scheinbar in der Gruppe akzeptiert. Ob die Gründe tatsächlich sensationslustiger Natur sind, kann man nicht beurteilen, es gab noch keinen "Beweis" dafür.

Was ich damit sagen will: Mir fehlt ein bisschen der Konflikt und mehr Tiefe in den Charakteren. smile


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Beitrag25.07.2017 09:55
Autobio. Fortsetzung 5.2
von Christof Lais Sperl
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Ich bin noch nicht dahinter gekommen, was die Jungs eigentlich von mir wollen. Normalerweise müsste denen doch schlecht werden, wenn sie mich sehen. Genauso, wie mir übel geworden war, als diese Neue an der Schule gewartet hatte. Sie schleppen mich überall mit hin, sogar zu Mia, unter die Brücke. Ob ich bei Mia eine Chance hätte, wenn ich nicht im Pulk mitginge, ganz allein am Wasser stünde? Wäre die Abfuhr so schlimm wie die vom Traummädchen, das ich beim Flaschendrehen für ein paar Sekunden gewonnen hatte, das aber mit spitzem Schrei vorher weggelaufen war? Die anderen hatten dann mit ihr geschimpft, das kannst du nicht tun, der Flaschenhals hat doch auf euch gezeigt, ihr seid beide eingeladen. Und sie hatte mir einen Hauch von Kuss gegeben, nicht mal auf den Mund, extra knapp daneben platziert, leicht und flüchtig wie der Flügel eines Schmetterlings. Eigentlich hatte ich verzichten wollen, und das hübsche Wesen schonen, um es mit meinem heldenhaften Verzicht doch noch zu beeindrucken. Aber die anderen hatten auf Gerechtigkeit bestanden, für alle gälten die gleichen Regeln. Und so war es dann zum Kuss gekommen.



Ich will das Spiegelbild genauer betrachten und ihm eine Weile geben, seine Schrecken zu zeigen, ohne noch kurz zuvor rot geschlagen worden zu sein. Ich will es als etwas Fremdes in aller Ruhe von oben bis unten besehen, wie ein unbekanntes Gemälde an der Wand. Dann will ich es beschreiben und beherrschen, wie einer, der an Höhenangst leidet, und durch das Besteigen hoher Türme seine Krankheit unter Kontrolle bringt.

Meine Mutter hat eine Kommode mit drei Spiegeln. In der Mitte kann man sich von vorn, an den seitlichen von links und rechts betrachten. Man kann die Spiegel sogar fast parallel anordnen, um ein ins dunkle Grün der Unendlichkeit versinkendes Bild mit tausend Gesichtern zu erzeugen. Nun also die Kommode. Unten brüllt der Fußballreporter, und meine Mutter klappert mit Küchengeschirr. Ich bin mit mir ganz allein.

Alles fängt mit vielen ärgerlichen Locken an, die die alten Tanten immer mit der Hand durchfahren: „Wie ein Mädchen! Wie die Mutter!“ Das macht mich so wütend, und immer will ich heulend wegrennen, lasse es dann aber doch bleiben. Ich lese jährlich immer wieder den Tom Sawyer, in dem Locken als „weibisch“ bezeichnet werden. Genau so wie die Szenen mit dem Bretterzaun und der Butter unterm Hut, ist dieses Wort genau neben dem muffigen Geruch der alten Tanten in meinem Hirn fest eingebrannt.

Locken wären ja noch ganz in Ordnung, wenn sie nicht eine undefinierbare Farbe hätten. Weder dunkelblond noch braun, eine, in egal welchem Licht betrachtet, unbestimmbare Farbe.
Ebenso verhält es sich mit den viel zu kleinen Augen, die an ein müdes Ferkel erinnern. Die liegen unter einer übertrieben hohen Stirn, die bestenfalls zu einem sechzigjährigen Ägyptologieprofessor gepasst hätten, nicht aber zu einem Jugendlichen. Der Mund ist einfach nur traurig. Etwas, das man als Kinn bezeichnen könnte, gibt es nicht. Eine bescheuerte Kassenbrille quetscht das Bild zusammen, Armmuskeln sieht man nicht viele, wenn welche da sind, treten sie wegen des überdimensionierten Brustkorbes in den Hintergrund. Ansonsten geht der Rest halsabwärts gerade noch. Von der Seite betrachtet fallen die abfallenden Mundwinkel noch mehr auf. Ihr trübes Profil wird von der krummen Nase untermauert. Die Wangen sind zu großflächig, und nach hinten gezogen, weshalb die Ohren viel zu weit vorn angebracht sind. Auf dem schlecht gewachsenen Kopf sieht es aus, als wäre das Haar wie eine schlecht sitzende Perücke nach hinten gerutscht. Deshalb kann mich wohl kein Lehrer leiden. Nur Marty Feldmann sieht noch schlimmer aus.

Da ich extra einen Zettel und einen Stift mitgenommen habe, beginne ich zu notieren. Den Zettel habe ich vorher in zwei Spalten aufgeteilt. Schlecht, gut. Ich beginne aus der Ablage der Kommode zu notieren.


Schlecht                                                            Gut

Locken                                                             viele, kräftig
Augen sehr klein                                               eher freundlicher Blick
Apollo-Brille                                                     (Augen sehen aber ohne noch bescheuerter aus)
blöde Stirn                                                        begabter Eindruck (vielleicht)
Mund, vor allem Mundwinkel                              nichts
Nase, dünn, krumm                                           nichts
Wangen, groß, rot                                             nichts
Ohren vorn                                                       könnte man Ohrring stechen               lassen
                                                                          oder lange Haare drüber
Kopf blöde Form                                                nichts
Haar schief                                                        nichts

Das einzige, was ich tun kann, ist, den Kopf zu senken, merke ich. Dann sieht man die Stirn nicht so. Ich glotze dann aber wie ein Vollidiot in Unterhose übern Brillenrand und die Augen fallen noch mehr auf. Ich kann auch die Stirn runzeln. Dann sehe ich allerdings ziemlich böse aus.

Ich bilanziere den Zettel. Vier gute Sachen, aber eher schwächere. Zehn schlechte. Ich muss jetzt die Guten sehen und mich mit den zehn Schlechten anfreunden. Ich muss was daraus machen. Egal was, aber irgendwas machen. Ich trete erneut vor den Spiegel, und stelle die Seitenteile parallel ein. Zum Spaß ziehe ich mir die Hose runter und halte meinen Schwanz hoch. Ich bewege ihn, ehe hunderte, tausende synchron wackelnde Schwänze, die im Grün versinken. Meine Mutter betritt das Zimmer. Ich ziehe schnell die Hose hoch. Mit offenem Mund steht sie da. Als ich das Zimmer fluchtartig verlassen will, knallt sie mir eine. Hausarrest.


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Beitrag25.07.2017 15:16

von Canyon
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Hey CLS smile

Mein absolutes Kompliment! Ich finde, der neue Text liest sich durch die etwas längeren Sätze hier und da deutlich flüssiger. Auch der eingeschobene Satz in wörtlicher Rede lockert das Ganze spürbar auf, und das schon, obwohl es nur ein einziger ist. Die nähere Beschreibung des Protagonisten hat bei mir nun zu einem runderen Bild im Bezug auf seine Probleme geführt. Es macht ihn greifbarer und dadurch mich selber empfänglicher für seine Empfindungen. An einer Stelle musste ich sogar schmunzeln, weil ich mich sehr gut in ihn hineinversetzen konnte:

Zitat:
Locken wären ja noch ganz in Ordnung, wenn sie nicht eine undefinierbare Farbe hätten. Weder dunkelblond noch braun, eine, in egal welchem Licht betrachtet, unbestimmbare Farbe.

Ich hab zwar keine Locken, aber vermutlich die gleiche undefinierbare Haarfarbe, wegen der mich meine ältere Schwester immer aufzieht.

Wirklich schön, dass sich der Erzähler langsam öffnet. smile
Besonders gefallen hat mir auch das Ende des Textauszuges, und ich hoffe du verzeihst es mir, wenn ich dir sage, dass es mich laut zum Lachen brachte. Nicht, weil es lächerlich erschien, sondern weil die Situation, die für Jungs in dem Alter vermutlich total normal ist, gemischt mit der trockenen Erzählweise einfach unfreiwillig komisch wirkte. Da prallen zwei völlig verschiedene Welten aufeinander: der Junge, der versucht mit seinem Äußeren Freundschaft zu schließen - und die konservative Mutter, der nichts besseres einfällt, als zu bestrafen ... was im Grunde schon reine Gewohnheit für beide Seiten geworden ist.
Erinnerte mich stark an die Erzählweise von Frank McCourt, in "Die Asche meiner Mutter".


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Beitrag25.07.2017 17:04

von Ansch
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@Canyon

Aufs Tapet ist richtig, aufs Tablett wäre falsch.

Tapet ist der Bezug eines Konferenztisches. Was dort ankommt, wird diskutiert, sozusagen.

LG

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Canyon
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Beitrag25.07.2017 17:10

von Canyon
Antworten mit Zitat

Ansch hat Folgendes geschrieben:
@Canyon

Aufs Tapet ist richtig, aufs Tablett wäre falsch.

Tapet ist der Bezug eines Konferenztisches. Was dort ankommt, wird diskutiert, sozusagen.

LG

Ansch


Jau, wurde mittlerweile auch vom Autor selbst per PN geklärt. smile War eine falsche Assoziation meinerseits.


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Beitrag29.07.2017 11:00
Fortsetzung
von Christof Lais Sperl
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5
Mia sehe ich regelmäßig im Bus. Unsere Schulen liegen auf dem gleichen Weg. Also verabreden wir uns von Zeit zu Zeit für ein paar Stunden bei ihr zu Hause. Unter die Brücke müssen wir nicht mehr, denn ihre Mutter arbeitet jetzt nachmittags. Und weil ihre Eltern beide rauchen, stört es niemanden, wenn wir uns im Wohnzimmer ein paar Zigaretten anzünden. Mias Eltern besitzen eine große Sammlung von Pornoheften und erotischen Büchern. Die blättern wir immer auf dem Sofa durch. Es sind keine ganz harten Pornos, sie wie die von Furchenkopfs Vater, in denen sich immer die Leute gegenseitig anpissen und so. Mias Vater besitzt Sexhefte, die einen künstlerischen Anspruch haben, oder manchmal auch als Aufklärungswerke getarnt sind.  Wir blättern, sehen uns die vielen seltsamen Stellungen an, und lachen darüber. Gelegentlich sagt Mia: „Das müsste man mal ausprobieren.“ Oder „Ich kapiere gar nicht, wie die das hinkriegen!“ Ob das nun als Aufforderung zu sehen ist, oder als Kommentar, kann ich nicht einschätzen. Ich frage Mia aber auch nicht. Mir genügt es, von Zeit zu Zeit eine zu rauchen, und die Bücher durchzublättern. Zum Knutschen ist es uns im Wohnzimmer zu ungemütlich, da gehen wir lieber in Mias Zimmer hoch. Wir knutschen und fummeln da immer so ein bisschen herum, weil Mia nach dem Pornogucken immer ganz kuschelig wird. Mehr passiert nicht. Ich habe Angst, dass die neugierige kleine Schwester hereinplatzen könnte, und uns dann erpresst. Außerdem weiß ich nicht, wie ich mich anstellen soll. Und Mia gefällt mir auch nicht wirklich. Rauchen und Reden, das ist ja in Ordnung, aber die seltsame Vokuhila geht gar nicht. Da komme ich mir immer wie ein Schwuler vor, wo doch die Gruppenmitglieder von Slade und The Sweet schon viel weiblich aussehen, als Mia. Außerdem muss ich immer daran denken, dass unsere Eltern vielleicht auch so komische Verrenkungen machen, und das bringt mich immer aus dem Konzept, wenn Mia in Fahrt kommt. Außerdem ähnelt sie ihrer Mutter. Und die ist alt. Lange halte ich es bei Mia jedenfalls nicht aus. Um vier kommen ihre Eltern nach der Arbeit immer zusammen nach Hause. Ihr Vater bedient den gelben Opel immer so hektisch, rührt wild mit der Ganzschaltung herum, als wollte er das Benzin mit Sauerstoff anreichern, und reißt auf dem Stellplatz schließlich den Handbremshebel hoch. Wenn die zur Tür reinkommen, sage ich immer zu Mia: „Ich muss heim.“ Auf der Treppe werde ich immer ganz rot, als ob der Vater mir ansehen könnte, dass wir wieder in seinen Pornos geblättert haben. Obwohl er ja damit rechnen muss, wenn die immer alle so offen im Regel stehen. Mia macht mein Gehen traurig. Und auch ich laufe deprimiert, mit schaler Seele und süßlich riechenden Fingern nach Hause. Weil ich wieder Sachen gemacht habe, die ich gar nicht wollte. Ich hätte mir mal wieder eine Selbstklatsche verdient, denke ich.

Später treffen wir uns nicht mehr. Ich bin zuviel mit mir selbst beschäftigt, und liege tagelang auf dem Bauch herum, und lese in der Bravo die Dr. Sommer- Seiten, und sehe mir die Bilder mit den vielen Mädchen an, die unter der Dusche stehen, vor irgendwem befummelt werden, oder ein Gespräch mit einem Star gewonnen haben. Ich muss die Bravo heimlich lesen, da meine Mutter, die zwar immer auf offene Sexualität und Aufklärung tut, die Zeitschrift eigentlich hasst. Wenn die eine Bravo findet, dann setzt es was. Deshalb kann ich mir auch die Starschnitte nicht aufhängen. Dann würde sie ja merken, dass ich mir das Blatt besorgt habe.

In der Schule habe ich jetzt Französisch, und es wird mir zuviel mit den ganzen Vokabeln und Verben auf –oir, -ir, -re und -er. Vorne schreit ein Französisch-Nazi herum, der nach den Sommerferien immer den Spruch: „Mal sehen, wie viele von euch Idioten am Jahresende noch hier sitzen werden!“ zum besten gibt, uns Kamele und Idioten nennt, und wie ein geisteskranker chinesischer Lenkdrache vor der Tafel herumzuckt.

Unten auf dem Hof scharen sich nun alle, vor allem die Mädchen, um Leatherbutt, der einen Ami-Vater hat. Das heißt erstens, er kann richtig Englisch, besser als manche Lehrer, die ihn nicht verstehen, beherrscht zweitens alle Texte von Black Sabbath, drittens ist er schon fünfzehn, und fünfzehn bedeutet: Mofa. Er hat an seinem Geburtstag die Mofa extra an der gegenüberliegenden Straßenseite abgestellt, damit die gesamte Schule aus dem Fenster glotzen kann, weil er sich um zehn krankmeldet, um demonstrativ den Heimweg anzutreten. Da gucken sie alle von oben herunter, wo Leatherbutt, mit Integralhelm und Lederkombi, die Pedale der grünen Hercules durchdreht, Dekompression, sie läuft, vom Ständer herunter, ein Blick nach links und rechts unten, ob mit der Maschine alles OK ist, er lässt die Kupplung kommen und der knatternde König grüßt mit der linken Hand das Volk. In der Umkleide, wenn der Sohn vom Kunstlehrer seine neuen blauen Prügelflecken zeigt, ruft Leatherbutt immer Sabbath-Sprüche, um die Aufmerksamkeit wieder auf sich zurück zu ziehen: Oh Lord yeah! Poison in your brainwashed mihinds!

Ich habe keine Mofa. Schon allein die Erwähnung des Wortes kann zu Hause den Kochlöffel auslösen. Ich fahre mit dem Bus. Samstags holt mich mein Vater auch mal mit dem Käfer 1200. Wir haben samstags Sport und Englisch.

Seit wir den Französisch-Nazi haben, mache ich kaum noch etwas in der Schule. Ich will nichts tun, und unterstreiche die Sinnlosigkeit des Lernens mit gespielter Dummheit. Das bringt meine Mutter zur Weißglut, die immer öfter an der Haustür mit den blauen Briefen und Mitteilungen wedelt, die regelmäßig mit der Post kommen. Sie will den Akademiker erzwingen, und der rückt in täglich weitere Ferne, weshalb der Kochlöffel, offensichtlich bester Freund aller Studiertheit, nun immer mehr zum Tanzen kommt. Vater scheint alles egal zu sein.

Da ich, im Hinblick auf die Mädchen, so cool sein will wie Leatherbutt, spiele ich ungeschickt den rotzfrechen Clown, kann aber mit meiner Babyvisage doch niemanden beeindrucken. Die alten Freunde sind schockiert, und den Mädchen fehlt es an der richtigen Dosis, mit der ich meine Frechheiten einsetze. Doch an Sinn für Subtilität hat es mir schon immer gemangelt.


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Beitrag01.08.2017 16:41
Fortsetzung Kap 6
von Christof Lais Sperl
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6
Nachmittags sitze ich im Zimmer und lerne Mathe. Das heißt, ich tue so, als würde ich Matze lernen. Dabei kann ich stundenlang auf das geöffnete Buch starren, und nichts dabei denken. Meine Mutter wundert sich, dass ich trotzdem immer schlechtere Noten bekomme. Und es geht ihr immer schlechter, da der Akademiker in weite Ferne rückt. Manchmal schluchzt sie im Badezimmer, wenn sie einen weißen Fleck entdeckt. Reste von Shampoo, Zahncreme oder Flüssigseife, die jemand nicht weggewischt hat. Dann schließt sie sich im Bad ein, bis Beruhigung eingekehrt ist. Woran das liegt, weiß sie nicht. Vielleicht ist es ihr übertriebender Sinn für Sauberkeit.

Sonst gibt es immer wieder Streitereien. Zwischen ihr du meinem Vater. Der hört sich die endlosen Monologe an. Vorträge vom Sohn, der nicht so enden soll, wie der Vater. Als wäre der Vater längst tot. Von der geizigen Schwiegermutter. Vom Keller im Krieg. Von der strengen Sexualmoral  der Oma. Durch die dünnen Wände kann ich das alles hören. Schon am Tonfall erkenne ich, worum es geht. Vater tut so, als würde er zuhören. In regelmäßigen Abständen sagt er „ja!“ Selbst wenn die Mutter im Badezimmer ist, sagt er es. Es hat sich in ihn eingeschlichen, dass er das ganz automatisch sagt. Mutter schluchzt im Bad, Vater sagt im Wohnzimmer „ja“. Ich darf gegen Vater keine Stellung beziehen. Das Privileg ist Mutter vorbehalten. Kritisiere ich den Vater, fällt eine Gittertür herab. Da gibt es kein Durchdringen. Da ich Mutter ohnehin nicht anzugehen wage, bleibt mir nur der Rückzug. Dann liege ich rücklings auf dem Bett. Und höre mir Musik, oder die Jas vom Vater an.

Er filmt viel auf Normal- oder Super-Acht. Die Bilder sind zu Beginn und am Ende der älteren Rollen voller Flecken und zuckender Streifen. Bei den grellen Kodak-Farbfilmen löst sich am Ende alles in Orangetönen auf. Eine Tonspur gibt es nicht. Meistens wird auf Urlauben gefilmt. Ferien an der See sind schön. Da kann man stundenlang aufs Meer starren oder Muscheln suchen. Allerdings fahren wir ungefähr alle zwei Jahre in die Berge. Da muss zu irgendwelchen Hütten gewandert werden. Es gibt steile Pfade, die Bergmassive verstellen den Blick, und schnüren den Raum ein. Ich mag solche Urlaube in den Bergen nicht. Das Beste wäre, wir ließen sie hinter uns, und führen in den Süden. Da wollte ich schon immer mal hin. Aber das lehnt mein Vater ab, er fährt in keinem Land Auto, in dem nicht Deutsch gesprochen wird. Er hält alle Italiener für Mafiosi und ihr Idiom für eine Sackkratzersprache, außer, wenn es Libretto ist, das Wort habe ich von im gelernt. Deshalb schaffen wir es auch nie weiter als bis Österreich oder in die deutsche Schweiz. Dänemark oder Frankreich kommen auch nicht in Frage.

Mein Vater übernimmt immer die Rolle des Kameramannes. Er schwenkt aber zu schnell. Da rauschen und rattern Berge und Dünen, Pferdeweiden und Sonnenuntergänge auf der Leinwand vorbei, als säße man in einem Kettenkarussell. Meiner Mutter wird dabei immer übel. Alle zwei Monate gibt es Filmabende, die immer gleich ablaufen: Es gibt etwas Besonderes. Cola oder Piccolo und Salzstangen. Dann werden die Jalousien heruntergelassen. Mein Vater legt Filme ein, spult sie hin und her. Und am Ende kommt immer der alte Schwarzweißfilm mit dem Opa, wie er vom Schlaganfall gezeichnet, auf einen Stock gestützt die Haustreppe hinab geht. Immer weint meine Mutter bei diesem Anblick. Ihr ist schlecht, und sie weint. Nach den Opafilmen verlässt sie heulend den verdunkelten Raum und geht schlafen. Sie liegt dann bis zum nächsten Morgen im Schlafzimmer. Und trotzdem soll immer wieder zuletzt dieser Film gezeigt werden.

Ich träume oft vom Fallen. Immer schneller geht der Sturz, doch bevor ich endlich aufpralle und zu Tode komme, wache ich auf. Das geschieht fast immer im ersten, leichten Schlaf. Oder ich habe wieder einmal Fieber und Luftnot. Da wird das Zimmer zum Traum und die pfeifenden Atemtöne zu langgezogenen Lichtschnüren, Hustenattacken zu grünen Quadern, die aneinandergereiht aus dem kranken Mund aufsteigen.

Zwischen mir und meiner Mutter gibt es ein neutrales Thema, das wir gern mit leiser und geheimnisvoller Stimme besprechen. Ich weiß nicht, warum das so ist. Es war einfach schon immer so. Das ist die Sache mit den Träumen. Einmal hat sie ein böser Mann darin verfolgt. Genau denselben Mann hat sie am nächsten Tag mit seinem stechenden Blick im Kaufladen gesehen. Sie ließ alles fallen und rannte entsetzt nach Hause. Doch Oma lachte sie bloß aus. Oft träumt meine Mutter auch von den Angriffen der Kriegstage. Wie sich der Opa, im Kartoffelkeller, schützend über die Kinder wirft. Das passt zur Erzählung vom guten Alten, die in der Familie oft aufgenommen wird. Manchmal träumt sie aber auch, dass der Großvater im Kartoffelkeller etwas Geheimnisvolles hervorzieht. Das soll sie sich immer ansehen. Ein Ding, das er einen mackeligen Kerl nennt, und mit dem sie, immer noch im Keller, etwas tun muss, bis es genug ist, und eine helle Spur davon bleibt. Wann es genug ist, weiß sie nie, und erschreckt sich deshalb immer wieder. Doch das sind nur Träume, sagt sie. Wie alles, sei auch die Angst für irgendetwas gut. Und überhaupt gäbe es weder nächtliche Stürze, noch solche Kerle.


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Beitrag05.08.2017 10:06
Fortsetzung 7
von Christof Lais Sperl
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Jetzt wird es eng. Nicht nur wegen der miesen Noten und der ewigen Schimpfereien zu Hause. Das ganze Leben drückt mich ein, und faltet mich zusammen. Ich stehe wie ein Strich vor der ersten Stunde auf dem Raucherhof herum, und habe Horror vor dem Tag, der mich erwartet. Er wartet. Auch so eine Redensart. Als würde der warten. Ausgerechnet auf mich. Und als hätte er irgend etwas anzubieten. Ich muss mich da selber durchkämpfen: Der Französisch-Nazi wird wieder herumbrüllen, Schultz wird im Physiksaal den Schlüsselbund nach uns werfen, wir werden uns im letzten Moment ducken, der Mathelehrer sein berühmtes „mal wieder voll in die Scheiße gepackt“ ausrufen, und der Hausmeister hinter meinen Traummädchen hinterher stieren, zu denen er immer „mein Sternchen“ sagt. Egal zu welchem. Auf dem letzten Konzertabend mit der Schulband Maze war der richtig dicht. Da hat er mich plötzlich beiseite genommen, und ist mir ganz persönlich gekommen. Mit seinem sauer stinkenden Bieratem hat er mir die Frage ins Ohr gebrüllt, ob er denn nicht mal seinen Schwanz bei einer aus meiner Klasse reinhängen könnte. Egal bei welcher. Einer von uns dürfte dann auch mal mit seiner Frau. Ob ich da was für ihn tun könnte? Ich hab den einfach stehen lassen. Er hat mir mit flehendem Blick und schwankend nachgesehen. Wieso fragt der gerade mich? Ich krieg doch sowieso keine ab. Jedenfalls im Vergleich zu Leuten wie Leatherbutt und ihren Mofas. Letherbutt hat neulich dem Hausmeister sogar richtig eine geschallert. Affekt. Unter sieben Sekunden. Der Hausmeister hatte ihm schließlich vorher auch eine verpasst. Leatherbutt ist jetzt doppelter Held.

Nun haben alle Bikerjacken. Auch die, die gar kein Moped fahren. Die Taschen sind ganz oben angebracht, und die Gesamtheit steht mit spitz abgewinkelten Armen und den Händen in den Taschen auf dem Schulhof. Die Kunst ist es, zu rauchen, ohne die Kippe aus dem Maul zu nehmen. Ich kümmere in dem Pulk bloß vor mich hin, und stehe nur so als Deko rum. Ich und rede nicht mehr viel. Die meisten blicken sowieso an mir vorbei. Außer dem Furchenkopf vielleicht. Die Luft ist bei mir raus. Ich gehöre schon nicht mehr dazu, und hab mich durch mein ewiges Scheißebauen schon selbst ins Abseits gestellt. Und bei den Noten kriege ich eh keine Lederjacke. Also ob die noch etwas daran ändern könnte.

Weil jeden zweiten Tag irgendwelche Elternmitteilungen im Briefkasten liegen, fahre ich nach der Schule nicht immer direkt nach Hause. Ich hole meinen milden Vater von der Arbeit ab. In der Bundesbank. Meine Mutter betont immer, dass er Bank-Beamter sei. Mit der Betonung auf Beamter. Das ist ja, wie gesagt,besser als Angestellter. Aber trotzdem immer noch viel weniger als Akademiker. Ich hole den also ab, und wir fahren mit dem Käfer nach Hause. Nachdem die Kollegen, die er regelmäßig im Auto mitnimmt, ausgestiegen sind, beichte ich ihm dann die Vorkommnisse der vergangenen Tage. Das ist leichter, als mit dem Bus nach Hause zu fahren, und dann erst das Geschrei der Mutter, und am Abend dann noch mal, wenn sie sich fast schon wieder beruhigt hat, den Brüllreport an meinen Vater zu ertragen. In dem kommt immer das Wort von der Anmeldung an der „Dummschnuttenschule“ vor.
Und so fühle ich mich danach dann auch immer. Wir eine Dummschnutte.


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Christof Lais Sperl
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Beitrag10.10.2017 10:55
8
von Christof Lais Sperl
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8
Ein paar Straßen weiter oben wohnt einer, der stets mit einer mit Jeansweste bekleidet, sonntags die BILD austrägt. Zwanzig Pfennig pro Lieferung. Aus den übrig gebliebenen Zeitungen muss am Abend das rotweiße Logo ausgeschnitten, und an den Großhändler zurückgeschickt werden. Dafür kriegt der Junge dann auch noch mal ein paar Pfennig. Im Sommer verkaufen sich die Zeitungen besser. Da sitzen die Leute auf den Balkonen ihrer Mietwohnungen, frühstücken, und lassen sich dazu zusammengerollte Zeitungen hochwerfen. Die Käufer geben oft ein kleines Trinkgeld. Pfeffer stopft die Münzen in eine große Lederbörse, die an der hinteren Seite der roten Radgepäckträgertasche angebracht ist. Abends sitzt er am Küchentisch. Links ein Haufen mit den Logos. In der Mitte die Münzen für den Verlag, und rechts Pfeffers Einnahmen fürs Sparbuch. Pfeffer zieht seit Jahren die Auslieferung durch. Klingeln oder Einwerfen. Bei den Einwerfern liegt das Geld unter der Fußmatte. Zeitung abgeben, kassieren. Manchmal öffnet irgendein Schwuler im Bademantel. Oder eine Frau im Négligé. Pfeffer achtet gar nicht darauf. Schwule und Frauen, so was gibt es für Pfeffer gar nicht. Hinter den dicken Brillengläsern steht nur ein Gedanke: Der an die Yamaha. TY 50 M. Viergang. Fabrikneu. Und nach ein paar Jahren, in denen Pfeffer ständig von der Yamaha geredet hat, steht sie tatsächlich vor der Tür. Rotweiß und chromblitzend. Keiner darf da ran, meint Pfeffer. Die kann nur von ihm gefahren werden. Und niemand darf den runden Tank streicheln. Da steht ein Pulk von Jugendlichen um das sich warm laufende Moped, das niemand  berühren darf. Es kribbelt allen richtig in den Fingern. So wie es überall prickelt, wenn man heimlich mit einem ein Mädchen allein ist, das einem gut gefällt.

Können wir nicht wenigstens mal mit einem Lappen den Tank polieren? Na ja OK, sagt Pfeffer am nächsten Tag, das könnt ihr schon mal machen. Aber der Lappen kommt von mir. Und dann poliert jeder ein wenig. Dann kommt die Frage:  Pfeffer, kann ich mal den Kickstarter treten, nur einmal den Motor anwerfen und ein paar Mal am Gas drehen? Pfeffer, der Gutmütige, gibt nach. Er hat die Katze aus dem Sack gelassen. Zwanzig Leute kicken an, drehen am Gashebel. Auch ein paar ganz kleine Kinder aus der Grundschule. Pfeffer, kann ich mal fahren, heißt es nun am nächsten Tag. Nee, die kannst du gar nicht halten, antwortet Pfeffer. Ach Pfeffer, jetzt lass doch mal. Und am übernächsten Tag kommen alle, und stehen wie Protestierer um Pfeffer und seine Yamaha. Sogar die bedrohlich blickenden drei Feuermelder sind zu sehen. Beleidigen angeschickert die Maschine, rotweiße Malle im Mundwinkel. Kurz vor dem Adrenalinflash: Kein Saft, das Teil. Ne Möhre. Pfeffer hat Angst, dass sie dagegentreten könnten. Nur der Pulk und die Fensterglotzer verhindern das. Ey  Pfeffer, sagen die Jüngeren, lass doch mal fahren. Und dann fährt der erste unter ihnen eine kleine Runde. Nur im ersten Gang, so hat es Pfeffer befohlen. Und nur ganz vorsichtig Gas. Knapp über Standgas, die muss doch erst noch eingefahren werden. Vom Einfahren hatte Pfeffer jahrelang geträumt, und sich geschworen, niemand außer ihm dürfe die Maschine auch nur berühren. Und nun fährt einer nach dem anderen eine Runde. Darunter auch welche, die gar keinen Mokickführerschein haben. Kinder. Ey Pfeffer, so geht das von früh bis spät. Der Junge spürt den Schmerz aufsteigen. Wir ein Band spannt der sich zwischen ihm und der Yamaha, die nun, wie Gemeinschaftsbesitz,  von immer neuen Leuten gefahren wird.  Im zweiten Gang, im dritten. Pfeffer stöhnt. Windet den Kopf. Rudert mit den Armen. Zerzaust sich das Haar. Eine Maschine, zusammengespart und dazu auserkoren, nur von Pfeffer selbst unübertrefflich schonend bedient werden zu können. Pfeffer glaubt, dass die Yamaha es ihm übel nehmen wird. Die wird nicht lange halten, meint er. Irgendwann mitten auf der Landstraße schlapp machen. Wir irgend so eine orangefarbene Schrotte von Solo. Jetzt hat Pfeffer eine Idee. Er dreht heimlich den Benzinhahn zu. Und der Motor tuckert aus. Pech, sagt Pfeffer. Kein Sprit mehr. Er fährt jetzt nur noch ganz früh aus dem Abstellraum, wenn die anderen noch schlafen. Und wenn es nicht regnet. Dann gleich auf die Landstraße, um die Yamaha durch sanfte Behandlung wieder gütig zu stimmen.


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Beitrag10.10.2017 15:26

von IQ Dino
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Bei Deinen Texten sieht man, dass Texte das Potential haben, einem anderen Leben beizuwohnen ...

Natürlich kann man die Texte noch überarbeiten, wann ist sowas schon fertig, aber das Lebensgefühl kommt "beobachtend lebendig" rüber.

Ich war gerade eine Weile "ganz woanders" smile
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Christof Lais Sperl
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Beitrag13.10.2017 12:04
Am Ex 9
von Christof Lais Sperl
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9
Das letzte Haus mit Elektroheizung ist die Hütte von Jimi. Der heißt natürlich nicht wirklich so. Wir nennen ihn nur Jimi, um ihn damit zu ärgern. Davon erzähle ich später mehr. Jimi wohnt in einer kleinen Gartenhütte aus Holz. Eine Datsche, wie man das im Osten nennen würde. Diese grüne Datsche ist gar nicht mal billig. Der Vermieter knöpft ihm locker zweihundert Mark im Monat dafür ab. Kalt wohlgemerkt. Den Strom muss Jimi selber zahlen. Die Hütte hat einen Windfang mit einem verkrusteten Klo und Waschbecken. Duschen kann man nicht. Dahinter befindet sich noch ein kleiner Raum mit Hochbett. Mehr als zehn Quadratmeter hat der nicht. Darunter stehen Jimis Elektroöfchen, ein Berg leere und volle Flaschen, Aschenbecher, ein paar Piece in Silberfolie, eine Stereoanlage, eine Kiste Kassetten mit Aufnahmen von Musiksendungen vom Radio der DDR, zwei E-Gitarren, von denen eine nicht funktioniert, und ein kleiner Zehn-Watt-Marshal. Wenn Jimi nicht gerade Taxi fährt, kann man es schon von weitem aus der Hütte dudeln hören. Unendlich langes Gniedeln. „Solos“, nennt Jimi diese Melodien immer. Dazu läuft im Hintergrund Hendrix, Frank Marino, irgendwelche Ost-Bands, die keiner kennt, aber auch mal Zappa und solche Sachen. Das Dudeln aus der Hütte passt weder von der Tonlage noch vom Rhythmus her zu den Songs, die auf den Kassetten laufen. Manchmal quasselt ein Sprecher vom Radio der DDR dazwischen, vom Klang her so ein Ost-Berufsjugendlicher, der die sozialistischen Massen bespaßen muss. Aber Jimis Soli laufen trotzdem weiter, und dann gleich ins neue Stück oder in die Nachrichten  hinein, die als nächster Programmpunkt auf der Kassette sind.  Jimi spielt sich durch sein Leben, in dem der einzige Weg der des ewig fortdauernden Gitarrenlaufes ist. Jimi lädt auch mal zum Jam Session ein, wenn man was zu rauchen oder ein Flasche Schnaps mitbringt. Die Session besteht dann aber darin, dass der Besucher irgendein Riff anschlägt, und Jimi seine Soli drüberdudelt. Ob All Along The Watchtower oder Little Wing , ist egal. Das Solo ist immer gleich. Nur mal schneller und mal langsamer. Zwischendurch nimmt man ein paar Schnäpse. Egal was für welche. Morgens geht Jimi auf die Parkbank. Dreht sich eine aus den gesammelten Kippenresten aus dem Aschenbecher, und trinkt sein Frühstücksbier. Er hält konstant einen eher geringen Pegel, im Laufe des Tages kann aber das Pendel auch mal stark nach oben ausschlagen. Dann trinkt er Küstennebel aus einem seiner zwei Wassergläser. Später muss er  beim Chef vom Taxidienst anrufen, krank, und irgendein Anderer muss den Hundertneunziger abholen, der bei Jimi in der Straße wartet.

Das kuriose ist: Jimi ist ganz schön muskulös. Irgendwie sieht er fit aus, trotz dem ganzen Alk, den er täglich in sich reinschüttet. Manchmal geht er nämlich mit einem Kumpel nach draußen auf die Wiese. Ein bisschen kicken und so. Da wieselt der ganz schön schnell übern Platz. Das würde man gar nicht denken, wenn man ihn mal abends in der Hütte erlebt hat. Einmal musste er sogar schon Blut spucken. Ich dachte erst, er hätte Tuberkulose oder so was. Er hat mir dann aber später mal erklärt, dass sich das Blut über der kaputten Leber aufstaut. Und ein paar Blutgefäße, die zur Leber führen, laufen in der Speiseröhre entlang. Wenn sich das Blut dann vor der Leber anstaut, weil sie die Giftstoffe gar nicht mehr abbauen kann, entsteht so was wie innere Krampfadern. Jimi meint, die heißen Ödipusritzen oder so was. Ich glaub das aber nicht. Weil Jimi und Fremdwörter, das passt nicht zusammen. Und wenn man etwas Hartes schluckt, meint Jimi, ein Stück Brotkruste oder so was, dann platzen diese Ritzen. Das Blut schießt die Speiseröhre hinauf, und wenn man Pech hat, läuft es in die Atemröhre. Das wäre es dann, meint Jimi.

Letztes Mal haben sie ihn gerade noch retten können. Mit einem Gummiband in der Speiseröhre. Da hat er ganz schön abgeröchelt. Jimi meint, das nächste Mal wäre es das dann gewesen. Sagt auch der Arzt. Deshalb isst er nichts mehr.  Er sagt, der Alkohol wäre gesund, wärmend und nahrhaft. Er tötet Bakterien ab, wie übrigens auch das Zigarettennikotin die Bakterien in der Lunge killt. Und im Weizen wären ziemlich viele Vitamine und so was. Da braucht man gar nichts mehr zu essen. Jimi hat vor langer Zeit mal eine Freundin gehabt. Er zeigt manchmal ein ziemlich unscharfes Foto von ihr herum. Eine ganz niedliche und mädchenhafte Freundin, mit schönen, langen Haaren. Das hätte nicht geklappt, meint Jimi. Und überhaupt, die Frauen nerven sowieso nur. Entweder besoffen und geil im Taxi, da kann er gar nichts mit anfangen. Oder sie machen immer irgendwelche blöden Vorschriften. Deshalb, sagt er,  hat er in einem Karton lauter FKK-Zeitschriften gesammelt. Da sind merkwürdige Bilder von nackten Familien drin. Das würde ihm reichen, meint Jimi.  

Er ist vor langer Zeit mal  aus dem Osten in die BRD gekommen, wie er immer sagt. Aber in der BRD angekommen ist er nie, glaube ich. Er meint, Hendrix sei „der einzige Bimbo gewesen, der Gitarre spielen konnte, und der einzige „Neger“, den er „gerade noch so“ akzeptieren könnte. Allein, seine Ablehnung kann er nicht erklären. Ich habe oft genug nachgefragt. Aber Pustekuchen. Hendrix könnte stolz darauf sein, sagt Jimi. Irgendwann, aber ziemlich bald, wird Jimi sterben. Danach wird es nicht mehr aus der Hütte dudeln.

Zieht dann keiner mehr ein, sagt meine Mutter kategorisch. Sowas akzeptieren die Leute heutzutage nicht mehr, so ne Bude für zweihundert Mark.


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Beitrag18.10.2017 15:51
10
von Christof Lais Sperl
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10
Es gibt nicht viel zu sehen. Ein paar Vorgärten, in denen alte Kloschüsseln als Blumenkübel stehen, einen Grillplatz, das Jugendzentrum im Kirchkeller, den Bier-Kiosk mit den drei Feuermeldern, und das muffelige Gasthaus. Ich muss dann schon mit der Straßenbahn in die Stadt, wenn ich was erleben will. Oder zu Fuß ins Einkaufszentrum. Mit der Straßenbahn fahre ich allerdings nicht gerne. Die heult so asthmatisch, kommt kaum voran, und quietscht in den Kurven. Das fühlt sich an, als hätte man Gänsehaut auf schmerzenden Zähnen. Außerdem muss man immer vorn am grünen Pfeil einsteigen, und die ganzen Omas sitzen in Fahrtrichtung. Die glotzen mich dann immer so an, wenn ich zu meinem Lieblingsplatz nach hinten durchgehe, und legen ihre alten Zähne bloß. Ob die mich auslachen?

Manchmal komme ich in der Stadt an, und weiß gar nicht, wohin ich eigentlich wollte. Ich latsche dann ein bisschen rum und fahre dann wieder heim, denn  die Leute gehen mir mit ihrem Geglotze auf den Zeiger. Als ob man nur zu mir hinsehen könnte, und die vielen Schaufenster gar nicht da wären.


Im Einkaufszentrum gibt es so gut wie alles. Plattenspieler, Verstärker, Tape Decks, Tuner, Fernseher, Poster, LPs, Kassetten, Kameras, Filme, einen Kopierer, Klamotten, Tiere, einen Imbiß, und Lebensmittel. Vom Haupteingang aus zieht sich ein langer Gang durch die Ladenhalle. Links und rechts befinden sich Läden, die Wände aus Fachwerkimitat haben. Damit nur keiner vergisst, dass wir in Hessen sind. Trete ich durch den Haupteingang ein, glotzen sie auch schon wieder, und Mütter nehmen ihre Kinder an die Hand. Die lutschen nicht mehr ihr Eis, die blicken nur noch zu mir. Weiter hinten stehen  Mädchen in Grüppchen und reden aufgeregt. Alle blicken in meine Richtung und tuscheln. Aber wenn ich mal allen Mut zusammennehme, und mit geistigem Anlauf auf so ein Grüppchen zugehe, was selten genug vorkommt, in mir die Frageabsicht, „Was redet ihr denn über mich?“, dann verstummen die alle, wenden ihren Blick ab, oder sehen durch mich herdurch.

Manchmal löst sich eine aus der Gruppe, kommt auf mich zu, lächelt. Mein Herz schlägt mir vor Angst den Hals hoch, auch ein wenig Freude mischt sich unters Pochen. Doch dann hat sie doch wieder nur einen Typen gemeint, der hinter mir geht, und den ich nicht wahrgenommen habe.

In den Läden das gleiche Spiel. Die Verkäufer haben einen Blick drauf, der sagen soll: „Aha, da kommt ja der Idiot wieder.“ Mein Mund verrutscht dann immer. Ich kann den nicht mehr halten. Und bin nun wirklich der Irre mit der schiefen Fresse. Dann überall diese Spiegel. Wozu haben sie alle drei Meter einen Spiegel aufgehängt? Damit ich mein Maul darin ertragen muss? Das verhasste Gesicht, das unter Millionen seinesgleichen sucht, und mir unter Milliarden entgegenspringt? Die Ärsche haben das Scheißebäude doch nur dazu errichtet, mich wieder einmal genüsslich vorzuführen.

Ich flüchte immer in den in dunkelgrün gehaltenen GASTRO-Imbiß. Da kann ich mir die Speisekarte an der Wand ansehen, ohne dass mich jemand von vorn beobachtet. Ich suche mir einen Platz mit Blick auf die Vitrine, hinter der jeden Tag eine knochige, alte Frau schuftet. Und hole mir eine Ladung Pommes mit Jägersoße, denn die knusprigen, salzigen Fritten und die schleimige, süßliche Pilzpampe passen optimal zusammen, ergänzen sich im Magen zu einem beruhigenden, fetten Brei. Der gibt mir genug Kraft, um die Stätte wieder durch den Mittelgang verlassen zu können. Und nächste Woche latsche ich dann doch wieder hin, wenn mir zu Hause die Decke auf den Kopf fällt. Oder meine Mutter an mir rumzetert.


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Beitrag20.10.2017 13:31
Autobio "Am Ex", neue Version
von Christof Lais Sperl
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Meine Geschichte funktionierte in der Gegenwartsform nicht. Ich habe sie daher in die Vergangenheit umgeschrieben. Dabei wurden zwei im Forum gelobte Teilgeschichten eingearbeitet. Ich denke, alles klingt nun so, daß es sich lohnt, weiter daran zu arbeiten.

Am Ex

1
Wenn es zu langweilig wurde, drückte ich Farben. Beide Daumen auf die geschlossenen Augenlider, schon ringelten sich Schnüre bunter Jetons durchs Dunkelrot. Nahm ich den Druck, dauerte es ein paar Sekunden, bis das grüngelb verstellte Bild wieder klarer wurde. Sonst gab es nicht viel zu sehen. Links die Fensterreihe mit den dürren Bäumen und den buckligen Krähen, die herunterblickten. Und dann saß einer vor mir, dessen Kopfhaut durch das kurz geschorene Haar mäanderte. In der Form  einer flüssigen Hirnrinde drückten sich beflaumte Wülste von unten nach oben, von links nach rechts. Meistens blickte der Vordermann an die Decke, wiegte seinen in die Hände gestützten Kopf hin und her.

Ich war eine richtig arme Sau. Eine hässliche noch dazu. Damit fing alles an. Morgens schämte ich mich vor dem eigenen Spiegelbild im Bad, ohrfeigte mich, klitsch, klatsch, links und rechts, das Selbst zu strafen. Das sich  langsam rötende, verhasste Sackgesicht aus der Welt zu knallen.

Die anderen sahen ohne Spiegel, wie es um mich stand. Ihr Blick schmerzte. Die würden zwar verstehen, warum sich einer wie ich selbst auf die Fresse gab. Doch öffentlich wäre mir die Selbstzüchtigung dann doch zu geisteskrank gewesen. Deshalb bewahrte ich das Spiegelgeheimnis nur für mich. Draußen klappte es auch ohne Selbstklatschen, wenn es jetzt mal nur ums Rotwerden ginge, und Rotwerden ein Wert an sich wäre. Ich wurde von ganz alleine rot. Schon wenn die anderen mich nur anstarrten.

Einmal nur war es anders gewesen, da hatte ein neues Mädchen vor der Schule gewartet. Die war so furchtbar hässlich gewesen, jedenfalls hatte ich das genau so empfunden, dass dies mir große Angst gemacht hatte. Mir war schlecht geworden, ohne dass ich genau bestimmen konnte, woran ich die Abneigung festgemacht hatte. Vielleicht hatte es auch nur daran gelegen, dass sie so regungslos herumgestanden war, ohne viel zu sagen. Ich weiß das nicht mehr.

Von manchen Farben wurde mir auch immer übel. Erklären kann ich das auch nicht. Von Silber metallic zum Beispiel. Da wußte ich auch nicht, was an der Farbe so schlimm war, aber ich konnte sofort loskotzen, wenn ich einen Güterzug mit Tankwagen in Silber metallic sah. Grün war auch schlimm. Vor allem mit Gelb:  BP-Tankstellenmäßig. Das erinnerte mich an den Spinat mit Spiegelei, zu dem mich meine Mutter zwang. Ich schloss  dann die Augen und würgte das eklige Zeug runter, so schnell, dass ich den widerlich erdigen Geschmack kaum spürte. Wenn man das auf der Zunge zergehen lassen würde, wüsste man, was es heißt, ins Gras zu beißen. Danach wollte ich mir immer ein paar von den Treets aus dem Schrank nehmen, aber meine Mutter verbot das. Ich sollte das Essen schätzen lernen, und an dem Spinatgeschmack im Hals leiden. Dr durfte keinesfalls von Treetsgeschmack übertünchet werden. Sie meinte, ich würde mich noch dran gewöhnen. Wir eine Stopfgans, die sich in ihr Schicksal gefügt hat.

Meine Mutter machte auf Normalleben. In Bezug auf mich, meine ich. Wo ich doch wusste, dass sie ein Monster geboren hatte, und die Welt nur dazu gemacht war, mich nach Strich und Faden zu bescheißen. Ein Schmierentheater von kosmischen Ausmaßen drehte sich um mich, in dem jeder seine festgelegte Rolle spielte, und mich Arschgesicht hinters Licht zu führen. Genauso wie die Krähen mitspielten, die von da oben ständig runterguckten. Ein Schnippchen aber hatte ich dem Universum geschlagen: Ich hatte das alles längst durchschaut. Also, das mit den Rollen und so weiter. Eigentlich hätte mir ja mal einer bescheid sagen können. Aber vielleicht hatten die Mitleid mit mir, und dachten ich kapiere sowieso nix. Irgendeiner musste ihn  ja spielen, den Blöden. Und die passende Hackfresse nach außen tragen. Die nur schlecht mit Niveafett gebändigten Scheißlocken in undefinierbarer Farbe. Die nach unten weisenden Mundwinkel, die jeden sofort depressiv machten. Abends guckte ich ins Spiegelbild. Ich guckte dann doch immer wieder, meine ich. Ich hätte es vermeiden können. Doch ich liebte den Nervenkitzel, der sich einstellte. Wohlig liefen Schauerwellen über den Rücken. Das fühlte sich fast so gut an, wie die Gänsehaut, die zu spüren war, wenn ich im letzten Moment am Güterbahnhof vor einer herannagelnden Lok über die vielen Geleise rannte, und nicht genau wusste, auf welchem die eigentlich rankommen würde.

“Wenn ich tot bin, ist sowieso egal“, dachte ich mir. „Dann werde ich ein Friedhofsbaum. Meine Asche dringt als Nährstoff in die Wurzeln, und formt ein Abbild der Pflanze. Dann würde ich  schön aussehen, wie ein in der Nässe blitzender Kohlebaum. Ob alle vorher am Grab heulen würden, wen sie von oben in die Grube glotzen?“ Ich glaubte: Wohl kaum. Wegen so einem Sackgesicht heult doch keiner. Da gibt jeder eine Schippe drauf. Aus die Maus, und gut ist. Wie fühlt man sich als Pflanze? Ob so ein Friedhofsbaum anders ist als andere? Ob der mehr weiß vom Leben und vom Tod als die Bäume in den Parks oder an Waldrändern? Friedhofsbäume sahen einfach fremd aus. Wie  Grenzbäume. Solche, die direkt hinter holländischen oder dänischen oder sonst was für Schlagbäumen stehen. Die haben dann gleich so ein ausländisches Erscheinungsbild. Dänisch und holländisch. Ganz anders eben.

So trübe sah es also bei mir aus. Vormittags ein Lehrer, der Großbuchstaben an die Tafel malte, dazu rechts ein paar bunte Bilder und Landkarten. Links die Bäume mit den Krähen. Und vor mir der mit den Hirnfurchen. Wir liefen immer zu dritt heim. Der Wirth, ich, und die Furchenbirne.  Vor der Weggabelung beleidigte ich schnell noch den Wirth. Dann links abbiegen. Die Furchenbirne beschützte mich jetzt ja noch. Wirth ging geradeaus. Drohte mit allen Gliedern. Das Haus vom Kurzgeschorenen kam als erstes. Die Mutter stand immer schon winkend in der Tür, und wartete mit dem Mittagessen. Ich also erstmal mit dem Furchenkopf links ab, Richtung Mutter. Später dann wieder zweimal rechts, wo der dicke Wirth in gespielter Wut schon breitbeinig auf mich wartete. So eine Oliver-Hardy-Wut ist das. Eine schwer körperliche. Mich fuchtelnden Armen gestikulierend stand der da am Briefkasten, immer stand er am Briefkasten, obwohl er mich auch am Kaugummiautomaten abpassen könnte. Gibt mir auf die Fresse. Schwitzkasten. Arschtritte. Aber nur zum Schein. Eigentlich ganz sanft. Der wußte um seine Kraft. Trotzdem hatte ich jeden Tag Schiss. Er könnte ja mal weniger zärtlich werden, und richtig zulangen. Wir liefen dann immer gemeinsam weiter. Sein Haus kam als erstes.    

Mein Haus war hell und von Birken umsäumt. Es enthielt auch eine dicke Oma mit hellblauer Küchenuhr. Die regte sich immer auf, wenn im ihrem Radio Rock lief. Sie mochte die Schreierei nicht, sagt sie. Das ist doch kein Gesang. Aber wie sollte eine Rockgruppe ihre Musik spielen, wenn dazu nicht wie blöd geshoutet wird?  Mich nervten die bescheuerten Sportreporter. Wenn mein Vater da war, hatte er immer Fußball an. Offensichtlich kann man über Fußball nur berichten, wenn immer so aufgeregt rumgebrüllt wird. Mich interessierte das nicht. Ist doch scheißegal, ob Offenbach oder sonst wer das Tor gemacht hat. Tor und gut ist.

Im Sommer kam eine zweite Oma aus Frankfurt. Aber eine dünne. Fraß sich drei Wochen bei meiner Mutter durch, fuhr dick wieder heim, und wenn an einem Tag mal kein Fleisch auf dem Teller lag, nur Nudeln mit Tomatensoße oder so, beschwerte sie sich, dass sie bei der Schwiegertochter Hunger leiden musste, und speiste demonstrativ im Gasthaus. Bei ihr selbst gabt’s aber nie was, wenn wir mal auf Besuch kamen. Heizung auf null, alle schlotterten, und eine Scheibe Braten stand für fünf Leute auf dem Tisch. Mein Vater rastete immer aus, wenn die Oma meinte, die paar Gramm reichten für alle. Er lud dann alle ins Restaurant ein.

Ich wachte immer früh auf. Dachte ans Ohrfeigen. Konnte mich aber kurz nach dem Aufwachen noch nicht bewegen, und musste mir meinen Körper, den ich noch gestern Abend beweglich ins Bett bewegt hatte, ausgehend von einem  kleinen Zeh, nach und nach zurückerobern. Vom Schwanz wusste ich noch nichts. Außer zum Pinkeln halt. Dann immer schnell Frühstück, Schmierkäse mit Pilzgeschmack aus dem Glas, Käpt’n Nuss oder so was, Zähne putzen, Grüner Geist, schiffen, ohrfeigen, Schule.  So sah es aus bei mir.

Nachmittags hätte ich mit dem Gernot spielen können, weil der nebenan wohnte. Der durfte sich aber nur mit Akademikerkindern treffen, weil seine Eltern offenbar hervorragende Akademiker waren. Ich würde den Sohn vielleicht verderben. Das war die Befürchtung. Mein Vater war ja kein Studierter. Aber immerhin Beamter. Das trug meine Mutter immer vor sich her. Ein Beamter. Das wäre viel besser als Arbeiter oder Angestellter, meinte die immer. Eine Nachbarin hatte mal zu ihr gesagt, ihr eigener Mann sei immerhin bei der Krankenkasse. Also Angestellter im Beamtensinne. Darüber musste meine Mutter immer lauthals lachen, zu Hause meine ich. So diskret war sie ja schon, nicht vor den Leuten aufzukreischen. Ja, die Akademiker, die waren etwas wert. Die Frau vom Grundschullehrer brachte deren Namen immer so übertrieben ausgesprochen vor. Zum Dicketun. Da gab es eine Sippe Schluhe. Ganz wichtige Leute. Akademiker eben, die nannte die bei den Ansagen beim Flötenkonzert immer Schluhwé. Mit ganz langem ee. Nun ja, die bekamen auch immer die besseren Noten. Ein Schluhwee mit Rechnen drei, das gab es nicht. Bei Beamten schon. Obwohl, gut war ich ja nie im Rechnen. Schon beim schriftlichen Teilen wurde es eng, und bei den Brüchen war gar nichts mehr gegangen. Aber ich brauchte das auch nie. Teilen und Brüche und das ganze Gelörre. Ich zähle jetzt noch die Stunden an den Fingern, wenn was von neun bis siebzehn Uhr dauert. Ich kann zwar siebzehn minus neun rechnen, aber entweder komm ich da immer nicht drauf, oder es ist mit den Fingern schneller und bequemer.

2
Beim Frisör standen immer Zigaretten auf dem Tisch. Camel. In einer großen Dose. Ich schätze, in so eine dicke Dose gingen mindestens hundert Kippen rein. Ich nahm immer welche vom Frisör mit. Oder aber der Furchenkopf klaute zu Hause welche. Kratzige Gitanes ohne. Oder blaue Gauloises. Meine Alten rauchten ja nicht. Oder nur dann, wenn sie mal betrunken waren, was selten vorkam. Wenn, dann mit ein wenig zuviel Martini oder Picon Rouge.

Der Furchenkopf und ich gingen immer unter die Brücke. Da guckte keiner. Weil da nie jemand langlief. Also jedenfalls keiner von den Erwachsenen. Da waren ja immer so ein paar alte Nazis drunter. Die dann gleich wieder den Verstoß gegen das deutsche Jugendschutzgesetz feststellten. Obwohl sie selber vielleicht hundert Unschuldige ans Messer geliefert hatten. Aber das ist eine andere Zeit gewesen, sagen die immer.

Wir saßen also da immer rum und rauchten, wenn wir nicht den wöchentlichen Wettbewerb im Weitpissen machten. Ich gewann immer. Mein Schwanz ist nämlich beschnitten, und die Eichel flutscht nicht so rum, wie die von den Leuten mit Vorhaut. Meine war immer schön trocken und unempfindlich. Da konnte ich immer angeben. Und alles ganz vorne, an der Pissöffnung, richtig zusammenquetschen. Dadurch baute sich massig Druck auf, den ich auf den Vortrieb geben konnte. Ich kam damit mindestens über den Bach und bis zur gegenüberliegenden Brückenmauer. Wie gesagt, außer mir kriegte so was keiner hin. Die anderen hatten entweder einen schlappen, dicken Strahl. Oder auch mal zwei dünne. Wie das ging, hab ich nie kapiert. Aber egal, wenigstens hier war ich mal die Nummer eins.

Beim Rauchen sieht es gut aus, wenn man die Mundhöhle voll Qualm saugt, dann den Rauch rausdrückt und  ihn mit der Nase aufzieht. Wenn es gut klappt, entstehen da zwei Rauchstränge, die parallel nach oben ziehen. Ich rauchte immer mit, obwohl meine Mutter das trotz Kaugummi fast immer riechen konnte. Jeden Tag war an der Haustür Riechkontrolle, und wehe, die merkte was. Dann setzet es ein paar zusätzliche Ohrfeigen. Oder Arrest. Mein Vater hielt sich aus allem raus. Nicht, weil es ihm egal war. Sondern, weil er mit sich selbst schon so viel zu kämpfen hatte. Innerlich. Ihm fehlte die Kraft zum Gefecht draußen. Da hörte er lieber Fußballgebrüll und legte die Füße dazu hoch.

Manchmal kam Mia mit. Also, unter die Brücke. Die ließ gern  an sich fummeln.
Bisschen Brüste kneten und so was. Sie war schließlich die einzige, die schon am Ende der Vierten so was wie Titten hatte. Manchmal standen wir da zu fünft rum. Ein Fummelpulk. Vier Jungs grabbelten unter dem weiten Pulli, den sie extra für den Grabschauflauf angezogen hatte. Von Schwanzbedürfnissen hatte noch keiner eine Ahnung. Außer Pinkeln, wie gesagt. Die Pimmel wurden zwar manchmal hart, vor allem morgens, aber was das  zu bedeuten hatte, wusste keiner. Aber Mia weiß irgendwas, wollte auch schon immer mal selbst von außen fühlen, wie die Pimmel in den Hosen hart wurden. Manchmal holte einer seinen raus. Aber nur zum Rumzeigen. Trotzdem packte Mia ihn dann manchmal an. Pinkeln ging in diesem Zustand jedenfalls nicht.

Ansonsten gabt’s nicht viel zu berichten. Ein paar Kloppereinen dann und wann. Ich hielt mich immer an die Kleinen, weil ich ein feiges, grinsendes Arschloch war. Kapitalverbrecher. Albtraum aller Mütter. Schwächere schlagen. Denen konnte man mal so richtig eine schallern, und Gründe gab’s immer: Anderer Stadtteil, Vorort, blond, irgendwas passte schon. Da baute sich eine Freudenwelle auf, die kribbelte durch den ganzen Oberkörper. Patsch, knallte ich denen lächelnd eine rein. Und da rannten sie schon, es ihren Müttern zu erzählen. Die Freudenwelle hielt ziemlich lange an. Wie eine Handvoll Pfefferminz im Hals. Ich hatte schon einen Ruf weg, und auf meinen Spielplatz kamen nur noch solche, die neu waren, und  keine Ahnung hatten. Die kriegten dann auch gleich erstmal eine rein. War ja schließlich mein Spielplatz. Da hatte außer den Kumpeln keiner was zu suchen. Mädchen zählten nicht. Die ließ ich in Ruhe ihren Gummitwist machen. Wenn die Kumpels da so rumstanden, zuguckten, und ich drosch den Kleinen was aufs Maul, waren die immer ganz erstaunt, dass ich so brutal sein konnte. Irgendwie fanden sie’s lustig. Wie da einer so harmlos steht, und gibt denen völlig unverhofft eins auf die Fresse, das musste irgendwie witzig aussehen.

Wenn die Feuermelder kommen, haute ich allerdings lieber gleich ab. Wo die hintraten,  wuchs kein Gras mehr. Drei sehnige Brüder. Sommersprossig und dürre. Die hatten fast immer ein paar Bier in der Birne. Auch vormittags. Wenn sie nicht irgendwo rumliefen, oder zu Hause ihre Mutter beleidigten, standen sie am Kiosk. Immer mit einer Röhre und einer Malle in der Hand. Guckten böse rum und runzelten die Augenbrauen runter. Ein Blick aus Beobachtung und Drohung. Unbeweglich wie Schlangen standen die da an der Bierbude rum und rauchten Malle rotweiß Filter. Bis es mal drauf ankam, und sie sich wegbewegen mussten. Schlägerei anzetteln,  oder im Jugendzentrum die Einrichtung zu Klump hauen, da wurden sie ganz schnell beweglich. Da kriegte sogar der Pfarrer eine ab. Einer von denen sagte immer nur ein Wort, wie „Kirchkeller“ oder „Spielplatz“. Dann setzten sie sich in Bewegung um Ärger zu machen. Der Mittlere von denen redete manchmal. Aber nur, wenn es die zwei anderen Rothaarigen nicht mitkriegten. Sonst hätte der von den eigenen Brüdern aufs Maul bekommen. Eigentlich konnte der Mittlere ganz in Ordnung sein. Aber im Bruderbund hielt er sich dann doch lieber an die Familienregeln. Erst nett, aber wenn einer der Brüder auftauchte, ließ seine Seele die Gesichtsmuskeln wieder auf Angriffsstellung zusammenschnurren. Einmal war ich mit dem Mittleren bei denen im Haus. Eine richtige Bruchbude. In die Esstischplatte hatten sie ihre Vornamen und Grabkreuze und solche Sachen geschnitzt, und auch noch mit Tinte eingefärbt. Wie in der Schule. Der Mittlere nannte seine Mutter immer beim Nachnamen: „Frau Boll. Frau Boll hol mal ne Pulle Martini“, und so. Die Mutter hatte richtig Bammel vor dem. Was der Alte Boll tagsüber genau trieb, wusste keiner. Jedenfalls kam er jeden Abend granatenmäßig aus der Kneipe heim. Ist dann auch schnell gestorben, der Mann. Erblindet.

3
Irgendwann war Mia weg gewesen. Die hatte während der großen Pause im Klassenzimmer aus den Ranzen Geld geklaut. Jetzt, nach den Sommerferien, ging’s aufs Gymnasium. Ich konnte zwar immer noch nicht gut rechnen, aber egal, meine Mutter hat mich zum Abi verdonnert. Ich musste schließlich Akademiker werden und erreichen, was dem Vater verwehrt geblieben war. Der Opa hatte nämlich gemeint, in seiner Familie mache „man eben kein Abitur“. Das hätte noch niemand gebraucht. Und Realschule wäre viel mehr als ausreichend.

Der Furchenkopf sollte auch aufs Gymnasium gehen. Da konnten wir immer zusammen mit dem  Bus fahren, und ich kannte wenigstens schon mal mindestens einen. Im Gymnasium gab es einen Raucherhof. Der war zwar der Oberstufe vorbehalten, aber in der Masse der langhaarigen und hochgewachsenen Raucher konnte man sich ganz gut verstecken. Die Lehrer waren entweder Nazis oder Alternative. Dazwischen gab es keine Abstufungen.
Und mancher Alternative war in Wirklichkeit ein Nazi. Ich konnte das immer in der Sportumkleide sehen. In meiner Klasse war nämlich der Sohn vom Kunstlehrer: Ein Möchtegern-Dalí, mit langer Mähne und Schnurrbart, der sich seine Schuhe farbig lackierte. Er machte auf verkanntes Genie. In der Sportumkleide konnte man allerdings den geprügelten Körper des Jungen sehen, grün und blau geprügelt. Der schämte sich gar nicht dafür. Der zeigte das alles her. Als Beweis für die Arschlochnatur des Vaters. Falls noch irgendjemand daran gezweifelt hätte. Vielleicht war die Kinderprügelei Performance. Teil der Documenta oder so was.

Nazis, die in Wirklichkeit Alternative waren, gab es umgekehrt nicht. Nazilehrer zogen Kinder an den Koteletten bis zur Tafel. Beleidigten sie. Hielten selbstgerechte Möchjtegern-Vorlesungen zu Politik und Weltgeschehen. Verteilten Ohrfeigen, wie der kleine, jungsgeile Porsche-Giftzwerg in der Sporthalle. Oder die fette Lateinsau K, die sich mit ihrer eigentlich an Marx erinnernden Gesichtsfotze nach den Pausen immer verschwitzt mitten in den Haupteingang stellte, und die Kinder zwang, sich an der feisten Harley-Wampe vorbeizudrängeln. Seht her, hier steht die Macht, ihr kleinen Pisser!, sollte das heißen.

Spätestens ab Klasse sieben kamen wir aber dahinter, dass sich der Mann gerne über die Linken aufregte, also alle, die nicht CDUCSU waren. Deshalb besorgten wir Flugblätter von den Kommunisten. Legten sie aufs Pult. Dann steigerte sich der Fettsack in Tiraden. Brüllte durch den Rauschebart, und gab, wenigstens für diese Stunde, weder Latein noch Deutsch. Für uns waren das Freistunden. Schließlich machte es mehr Spaß, den Irren vor der Tafel beim Herumzucken zu beobachten, als irgendwelche Flexionen zu lernen. Aber irgendwann kamen dann doch wieder Zeugnisse und Klassenarbeiten. Manch Begabter wurde verdächtigt, seine Aufsätze abgeschrieben zu haben, wo auch immer, und verteilte Sechsen wegen Betruges. Einer las immer Seeräubergeschichten. Der kannte sich aus mit Rahen, Spanten und Kombüsen. Doch der Fette zerriss seine Geschichte. Abgeschrieben! Sechs! Das ein Schüler auch mal was drauf haben könnte, dafür hatte es in der Vorstellungswelt des Hasspredigers keinen Platz gegeben.Von Mädchen hielt er noch viel weniger. Er glaubte, die sollten besser ihr Leben in der Küche verbringen und von dort aus das Deutsche Reich bekochen.

Weil man nichts gegen den Mann unternehmen konnte, haben sie einmal seinen eigenen Sohn entführt. Mitten im Winter musste er, als unschuldiger  Nachkomme, in einer eiskalten Pfütze sitzend dafür büßen, nicht nur Mitschüler, sondern auch Sohn des K zu sein. Da standen sie im Halbkreis um ihn herum, rauchten, und beglotzten den Pfützensitzer wie ein neues Auto. Der Sohn  hatte sogar noch Verständnis dafür. Er wusste, was der Alte für ein Schwein war., und schämte sich für ihn.

4
Ich hatte Freunde. Viele Freunde. Es fühlte sich an, als wäre ich ein beliebtes Kind. Aber das konnte auch Strategie von den Jungs sein. Vielleicht fühlen die sich größer, wenn sie mit einem Monster durch die Gegend zogen. Das brachte Glanz. Oder ich war ein Maskottchen, das man sich hält, um wichtig damit tun zu können. Wie man sich früher noch Liliputaner im Zirkus hielt. Ein Cliquenclown, über den man hinter der Hand überlegen schmunzeln konnte, als stille Reserve diente, wenn mal kein anderer Spielkamerad verfügbar war.

Meine Mutter machte weiter auf Normalleben und sagte, ich wäre ein hübscher Junge. Ich nahm ihr das nicht ab, und war enttäuscht, dass selbst die eigene Mutter beim Schmierentheater mitspielte. Sie sagte, dass ich in der Zukunft all das bringen würde, was der Vater nicht leisten konnte. In der Welt der Eltern ging es ständig um Beförderungen. Nur Beamter, also besser als Angestellter, aber trotzdem weniger als Akademiker, das reichte ja nicht. Es musste ein wichtiger Beamter sein. Ein Höherer oder Gehobener. Schicksal des Beamten schien zu sein, ständig irgendwelchen Beförderungen hinterherzuhecheln. Amtmann, Inspektor, sonst was. Wer das nicht brachte, war Versager. In den ewigen Trauerreden meiner Mutter ging es  fast immer um nicht erfolgte Beförderungen, Prüfungen und Krankheiten. Jeden Tag kam das aufs Tapet. Es ging um einen Chef, der sagte, egal welche Note Sie in der Prüfung kriegen, die Beförderung können Sie trotzdem vergessen. Es ging um das Zerreiben von Menschen, um Medikamente, die den Menschen, der oft wochenlang im Bett lag, aufhelfen sollten. Die ihn aber auch zum Pfeifen brachten. Was ihn wieder mütterlicher Lächerlichkeit aussetzte. Weil er vorn morgens bis abends stumpfsinnige Melodien herumpfiff. Keine vollständigen Melodien, sondern Bruchstücke: tschiup, tschiup, tschiupup. Wie eine Meise im Frühling. Nur trauriger. Die Geschichte von Einem, der sich die Welt zurecht- und schönpfiff, und doch immer wieder scheitern musste. Der alle bösen Gedanken an den öden Job wegträllerte. Manchmal im Sommer auf dem Liegestuhl lag, die Mundwinkel zeigten dabei tieftraurig nach unten. Schon spitzte sich der Mund zum ewigen Tschiup, doch nach ein paar Sekunden fiel das Gesicht wieder ab ins Dunkle. Bis zum nächsten Tschiup. Ich beobachtete das eher zufällig als verstohlen, und verstand  nicht, dass Mutter mir heimlich einen Vogel zeigte. Sollte wohl heißen, dass der Vater nicht mehr alle Tassen im Schrank hatte. Aber das hätte man über sie selbst genau so gut sagen können. Ich sagte ihr aber nichts, sonst hätte ich gleich wieder eine geschossen gekriegt.

Sie raubte mir den letzten Nerv mit ihren ewigen, wenn überhaupt nur für Erwachsene geeigneten,  mit vaginalem Auflachen gewürzten Esstischgeschichten von irgendwelchen Geistlichen und Ärzten, die ihr offenbar zufällig über den Weg liefen, doch deren Nähe sie  auch suchte. Der Kleriker faszinierte, weil er nicht durfte, aber sicherlich gern gewollt hätte. Vor allem bei so einer Hübschen wie Mutter. Der Mediziner faszinierte als Großakademiker, Machtträger, Playboy, Porschefahrer. „Willst du mich heiraten“, soll er die Mutter einmal gefragt haben, lange bevor sie Vater kennen gelernt, und er leider dann die Frieda genommen hatte. Vater musste sich diese Scheiße täglich anhören. Bald wirkten die Medikamente schon nicht mehr. Er versank wieder im Bleiernen. Der Doktor verordnete irgendwas anderes. Vater pfiff nicht mehr. Nun brummte er wie eine Tuba.


Ich kam nicht dahinter, was die Jungs eigentlich von mir wollten. Normalerweise hätte es denen doch schlecht werden müssen, wenn sie mich sahen. Genauso, wie mir übel geworden war, als diese Neue vor der Schule gewartet hatte. Sie schleppten mich überall mit hin, sogar zu Mia, unter die Brücke. Ob ich bei Mia eine Chance gehabt hätte, wenn ich nicht im Pulk mitgegangen wäre, ganz allein am Wasser gestanden hätte? Wäre die Abfuhr so schlimm gewesen wie die vom Traummädchen, das ich beim Flaschendrehen für ein paar Sekunden gewonnen hatte, das aber mit spitzem Schrei schnell vorher weggelaufen war? Die anderen hatten dann mit ihr geschimpft, das kannst du nicht tun, der Flaschenhals hat doch auf euch gezeigt, ihr seid beide ausgelost. Und sie hatte dann doch noch mir einen Hauch von Kuss gegeben, nicht mal auf den Mund, extra knapp daneben platziert, leicht und flüchtig wie der Flügel eines Schmetterlings. Eigentlich hatte ich verzichten wollen, um das hübsche Wesen zu schonen, es mit meinem heldenhaften Verzicht doch noch zu beeindrucken. Aber die anderen hatten auf Gerechtigkeit bestanden, für alle gälten die gleichen Regeln. Und so war es dann zum Kuss gekommen. Ich konnte die Berührung noch wochenlang fühlen.



Ich wollte das Spiegelbild genauer betrachten, und ihm eine Weile geben, seine Schrecken zu zeigen, ohne noch kurz zuvor rot geschlagen worden zu sein. Ich wollte es als etwas Fremdes in aller Ruhe von oben bis unten besehen, wie ein unbekanntes Gemälde an der Wand. Es dann beschreiben und beherrschen, wie einer, der an Höhenangst leidet, und durch das Besteigen hoher Türme seine Krankheit mit Konfrontation unter Kontrolle bringt.

Meine Mutter hatte eine Kommode mit drei Spiegeln. In der Mitte konnte man sich von vorn, an den seitlichen von links und rechts betrachten. Es war sogar möglich, die Spiegel fast parallel anordnen, um ein ins dunkle Grün der Unendlichkeit versinkendes Bild mit tausend Gesichtern zu erzeugen. Nun also die Kommode. Unten brüllte der Fußballreporter, und meine Mutter klapperte mit Küchengeschirr. Ich war mit mir ganz allein.

Alles, dachte ich,  fing mit vielen ärgerlichen Locken an, die die alten Tanten immer mit der Hand durchfuhren: „Wie ein Mädchen! Wie die Mutter!“ Das machte mich so wütend, und immer wollte ich heulend wegrennen, ließ es dann aber doch bleiben. Ich las immer wieder den Tom Sawyer, in dem Locken als „weibisch“ bezeichnet werden. Genau so wie die Szenen mit dem Bretterzaun und der Butter unterm Hut, war dieses Wort genau neben die Erinnerung an den muffigen Geruch der alten Tanten in meinem Hirn fest eingebrannt.

Locken wären ja noch ganz in Ordnung, wenn sie nicht eine undefinierbare Farbe gehabt hätten. Weder dunkelblond noch braun, eine, in egal welchem Licht betrachtet, unbestimmbare Farbe. Ebenso verhielt es sich mit den viel zu kleinen Augen, die an ein müdes Ferkel erinnerten. Die lagen unter einer übertrieben hohen Stirn, die bestenfalls zu einem sechzigjährigen Ägyptologieprofessor gepasst hätten, nicht aber zu einem Jugendlichen. Der Mund war einfach nur traurig. Etwas, das man als Kinn bezeichnen könnte, gab es nicht. Eine bescheuerte Kassenbrille quetschte das Gesicht zusammen, Armmuskeln sah man nicht viele, wenn welche da waren, traten sie wegen des überdimensionierten Brustkorbes in den Hintergrund. Ansonsten ging der Rest halsabwärts gerade noch. Von der Seite betrachtet fielen die abfallenden Mundwinkel noch mehr auf. Ihr trübes Profil wurde von der krummen Nase untermauert. Die Wangen waren zu großflächig, und nach hinten gezogen, weshalb die Ohren viel zu weit vorn angebracht schienen. Auf dem schlecht gewachsenen Kopf sah es aus, als wäre das Haar wie eine schiefsitzende Perücke nach hinten gerutscht. Deshalb konnte mich wohl kein Lehrer leiden. Nur Marty Feldmann sah noch schlimmer aus.

Da ich extra einen Zettel und einen Stift mitgenommen hatte, begann ich zu notieren. Den Zettel hatte ich vorher in zwei Spalten aufgeteilt. Schlecht und gut. Wie bei Pegida. Ich begann, auf der Ablage der Kommode zu notieren.


Schlecht                                                            Gut

Locken                                                              viele, kräftig
Augen sehr klein                                               eher freundlicher Blick
Apollo-Brille                                                    (Augen sehen aber ohne noch bescheuerter aus)
blöde Stirn                                                        begabter Eindruck (vielleicht)
Mund, vor allem Mundwinkel                          nichts
Nase, dünn, krumm                                           nichts
Wangen, groß, rot                                             nichts
Ohren vorn                                                        könnte man Ohrring stechen lassen
                                                                          oder lange Haare drüber
Kopf blöde Form                                               nichts
Haar schief                                                        nichts

Das einzige, was ich zur Milderung tun konnte, war, den Kopf zu senken, merkte ich. Dann sah man die ausladende Stirn nicht so. Ich glotzte dann aber wie ein Vollidiot in Unterhose übern Brillenrand und die Augen fielen noch mehr auf. Ich konnte auch die Stirn runzeln. Dann sah ich allerdings ziemlich böse aus.

Ich bilanzierte den Zettel. Vier gute Sachen, aber eher schwächere. Zehn schlechte. Ich musste jetzt die Guten fokussieren, und mich mit den zehn Schlechten anfreunden. Ich musste was daraus machen. Egal was, aber jedenfalls irgendwas machen. Ich trat erneut vor den Spiegel, und stellte die Seitenteile parallel ein. Zum Spaß zog ich mir die Hose runter und hielt meinen Schwanz hoch. Ich bewegte ihn, sah hunderte, tausende synchron wackelnde Schwänze, die im Grün der Unendlichkeit versanken. Meine Mutter betrat das Zimmer. Ich riß schnell die Hose hoch, und klemmte meine Schwanzunterseite schmerzhaft im Reißverschluss ein. Mit offenem Mund stand nun Mutter da. Als ich das Zimmer fluchtartig verlassen wollte, knallte sie mir eine. Hausarrest.
 
5
Mia sehe sah regelmäßig im Bus. Unsere Schulen lagen auf dem gleichen Weg. Also verabredten wir uns von Zeit zu Zeit für ein paar Stunden bei ihr zu Hause. Unter die Brücke mussten wir nicht mehr, denn ihre Mutter arbeitete jetzt nachmittags. Und weil ihre Eltern beide rauchten, störte es niemanden, wenn wir uns im Wohnzimmer ein paar Zigaretten anzündeten. Mias Eltern besaßen eine große Sammlung von Pornoheften und erotischen Büchern. Die blätterten wir immer auf dem Sofa durch. Es waren keine ganz harten Pornos,  wie die von Furchenkopfs Vater, in denen sich immer die Leute gegenseitig anpissten und so. Mias Vater besaß Sexhefte, die einen künstlerischen Anspruch hatten, oder manchmal auch als Aufklärungswerke getarnt waren.  Wir blätterten, sahen uns die vielen seltsamen Stellungen an, und lachten darüber. Gelegentlich sagte Mia: „Das müsste man mal ausprobieren.“ Oder „Ich kapiere gar nicht, wie die das hinkriegen!“ Ob das nun als Aufforderung oder Kommentar zu sehen war, konnte ich nicht einschätzen. Ich fragte Mia aber auch nie. Mir genügte es, von Zeit zu Zeit eine zu rauchen, und die Bücher durchzublättern. Zum Knutschen war es uns im Wohnzimmer zu ungemütlich, da gingen wir lieber in Mias Zimmer hoch. Wir knutschten und fummelten da immer so ein bisschen herum, weil Mia nach dem Pornogucken immer ganz kuschelig wurde. Mehr passierte nicht. Ich hatte Angst, dass die neugierige kleine Schwester hereinplatzen könnte, um uns dann zu erpressen. Außerdem wußte ich nicht, wie ich mich anstellen sollte. Und Mia gefiel mir auch nicht wirklich. Rauchen und Reden, das war ja in Ordnung, aber die seltsame Vokuhila ging gar nicht. Da kam ich mir immer wie ein Schwuler vor, wo doch die Gruppenmitglieder von Slade und The Sweet schon viel weiblich aussahen als Mia. Außerdem musste ich immer daran denken, dass unsere Eltern vielleicht auch so komische Verrenkungen machten, und das brachte mich immer aus dem Konzept, wenn Mia in Fahrt kam. Außerdem ähnelte sie ihrer Mutter. Und die war alt. Lange hielt ich es bei Mia jedenfalls nicht aus. Um vier kamen ihre Eltern nach der Arbeit immer zusammen nach Hause. Ihr Vater bediente seinen gelben Opel immer sehr hektisch, rührte wild mit der Ganzschaltung herum, als wollte er das Benzin mit Sauerstoff anreichern, und riß auf dem Stellplatz schließlich den Handbremshebel hoch. Wenn die zur Tür reinkamen, sagte ich immer zu Mia: „Ich muss heim.“ Auf der Treppe wurde ich immer ganz rot, als ob der Vater mir hätte ansehen können, dass wir wieder in seinen Pornos geblättert hatten. Obwohl er ja damit rechnen musste, wenn die immer alle so offen im Regel standen. Mia machte mein Gehen traurig. Und auch ich lief deprimiert nach Hause. Weil ich wieder Sachen gemacht hatte, die ich gar nicht wollte.

Später trafen wir uns nicht mehr. Ich war zuviel mit mir selbst beschäftigt, lag tagelang auf dem Bauch herum und las in der Bravo die Dr. Sommer- Seiten. Ich sah mir die Bilder mit den vielen Mädchen an, die unter der Dusche standen und von irgendwem befummelt wurden, oder ein Gespräch mit einem Star gewonnen hatten. Ich musste die Bravo heimlich lesen, da meine Mutter, die immer auf offene Sexualität und Aufklärung tat, die Zeitschrift hasste. Wenn die eine Bravo fand, dann setzte es was. Deshalb konnte ich mir auch die Starschnitte nicht aufhängen. Dann hätte sie ja gemerkt, dass ich mir das Blatt besorgt hatte. In der Schule hatte ich begonnen, Französisch zu lernen, und es wurde mir zuviel mit den ganzen Vokabeln und Verben auf –oir, -ir, -re und -er. Vorne schrie ein Französisch-Nazi herum, der nach den Sommerferien immer den Spruch: „Mal sehen, wie viele von euch Idioten am Jahresende noch hier sitzen werden!“ zum besten gab, uns Kamele und Idioten nannte, und wie ein geisteskranker chinesischer Lenkdrache vor der Tafel herumzuckte.

Unten auf dem Hof scharten sich nun alle, vor allem die Mädchen, um Leatherbutt, der einen Ami-Vater hatte. Das hieß: Erstens, er konnte richtig Englisch. Besser als manche Lehrer, die ihn kaum verstanden, er beherrschte, zweitens, alle Texte von Black Sabbath, drittens war er schon fünfzehn, und fünfzehn bedeutete: Mofa. Er hatte an seinem Geburtstag die Mofa extra an der gegenüberliegenden Straßenseite abgestellt, damit die gesamte Schule aus dem Fenster glotzen konnte, weil er sich um zehn extra krankmelden würde, um den Heimweg anzutreten. Da guckten sie alle von oben herunter, wo Leatherbutt, mit Integralhelm und Lederkombi, die Pedale der grünen Hercules durchdrehte, Dekompression, sie lief, vom Ständer herunter, ein Blick nach links und rechts unten, ob mit der Maschine alles OK ist, er ließ die Kupplung kommen und der knatternde König grüßet mit der linken Hand das Volk am Fenster.

Ich hatte keine Mofa. Schon allein die Erwähnung des Wortes konnte zu Hause den Kochlöffel auslösen. Ich fuht mit dem Bus. Samstags holte mich mein Vater auch mal mit dem Käfer. Wir hatten samstags Sport und Englisch. Seit wir den Französisch-Nazi hatten, leistete ich kaum noch etwas in der Schule. Ich wollte nichts tun, und machte es mir in gespielter Dummheit bequem. Das brachte meine Mutter zur Weißglut, die immer öfter schon an der Haustür mit den blauen Briefen und Mitteilungen wedelte, die regelmäßig mit der Post kamen. Meine Mutter wollte den Akademiker erzwingen, und der rückte täglich in weitere Ferne, weshalb der Kochlöffel, offensichtlich bester Freund aller Studiertheit, nun immer mehr zum Tanzen kam. Vater schien das alles egal zu sein.

Da ich, im Hinblick auf die Mädchen, so cool sein wollte wie Leatherbutt, spielte ich ungeschickt den rotzfrechen Clown, konnte aber mit meiner Babyvisage doch niemanden beeindrucken. Die alten Freunde waren schockiert, und den Mädchen fehlte es an der richtigen Dosis, mit der ich meine Frechheiten einsetzte. An Sinn für Subtilität hatte es mir schon immer gemangelt.

  6
Nachmittags saß ich im Zimmer und lernte Mathe. Das heißt, ich tat so, als würde ich Mathe lernen. Dabei konnte ich stundenlang auf das geöffnete Buch starren, und währenddessen nichts denken. Meine Mutter wunderte sich, dass ich trotzdem immer schlechtere Noten bekam. Und es ging ihr immer schlechter, da der Akademiker in noch weitere Ferne rückte. Manchmal schluchzte sie im Badezimmer, immer, wenn sie einen weißen Fleck entdeckte. Reste von Shampoo, Zahncreme oder Flüssigseife, die jemand nicht weggewischt hatte. Dann schloß sie sich im Bad ein, bis Beruhigung eingekehrt war. Woran das lag, wusste sie nicht.

Sonst gab es immer wieder Streitereien. Zwischen ihr und meinem Vater. Der hörte sich die endlosen Monologe an. Vorträge vom Sohn, der nicht so enden sollte, wie er selbst. Als wäre der Vater längst tot. Von der geizigen Schwiegermutter. Vom Keller im Krieg. Von der strengen Sexualmoral  der Oma. Durch die dünnen Wände konnte ich die immer gleichen Litaneien hören. Schon am Tonfall erkannte ich, worum es ging. Vater tat so, als hörte er zu. In regelmäßigen Abständen sagte er „ja!“ Selbst wenn die Mutter im Badezimmer ist, sagte er es auf. Es hatte sich so in ihn eingeschlichen, dass er das ganz automatisch von sich gab. Mutter schluchzte im Bad, Vater sagte im Wohnzimmer  sein „ja“. Ich durfte  gegen den Vater keine Stellung beziehen. Das Privileg war Mutter vorbehalten. Kritisierte ich den Vater, fiel eine Gittertür herab. Da gab es kein Durchdringen. Da ich Mutter ohnehin nicht anzugehen wagte, blieb mir nur der Rückzug. Dann lag ich rücklings auf dem Bett. Und hörte mir Musik und die Jas vom Vater an.

Er filmte viel auf Normal- oder Super-Acht. Die Bilder waren zu Beginn und am Ende der älteren Rollen voller Flecken und zuckender Streifen. Bei den grellen Kodak-Farbfilmen löste sich am Ende alles in Orangetönen auf. Eine Tonspur gab es nicht. Meistens wurde auf Urlauben gefilmt. Die Ferien an der See waren schön. Da konnte man stundenlang aufs Meer starren oder Muscheln suchen. Allerdings fuhren wir ungefähr alle zwei Jahre in die Berge. Da musste zu irgendwelchen Hütten gewandert werden. Es gab steile Pfade, die Bergmassive verstellten den Blick, und schnürten den Raum ein. Ich mochte solche Urlaube in den Bergen nicht. Das Beste wäre gewesen, wir hätten sie hinter uns gelassen, und wären in den Süden gefahren. Da hatte ich schon immer mal hingewollt. Aber das lehnte mein Vater ab, er fuhr in keinem Land Auto, in dem nicht Deutsch gesprochen wurde. Er hielt alle Italiener für Mafiosi und ihr Idiom für eine Sackkratzersprache, außer, wenn es Libretto war. Deshalb schafften wir es auch nie weiter als bis Österreich oder in die deutsche Schweiz. Dänemark oder Frankreich kamen auch nicht in Frage.

Mein Vater übernahm immer die Rolle des Kameramannes, schwenkte aber zu schnell. Da rauschten und ratterten Berge und Dünen, Pferdeweiden und Sonnenuntergänge auf der Leinwand vorbei, als säße man in einem Kettenkarussell. Meiner Mutter wurde dabei immer übel. Alle zwei Monate gab es solche Filmabende, die immer gleich abliefen: Es gab etwas Besonderes. Cola oder Piccolo und Salzstangen. Dann wurden die Jalousien heruntergelassen. Mein Vater legte Filme ein, spulte sie hin und her. Und am Ende kam immer der alte Schwarzweißfilm mit dem Opa, wie er, vom Schlaganfall gezeichnet, auf einen Stock gestützt die Haustreppe hinab ging. Immer weinte meine Mutter bei diesem Anblick. Ihr war schlecht, und sie weinte. Nach den Opafilmen verließ sie heulend den verdunkelten Raum und ging schlafen. Sie lag dann bis weit bi in den nächsten Morgen im Schlafzimmer. Und trotzdem soll immer wieder zuletzt dieser Film gezeigt werden.

Ich träumte oft vom Fallen. Immer schneller ging der Sturz, doch bevor ich endlich aufprallte und zu Tode kam, wachte ich auf. Das geschah fast immer im ersten, leichten Schlaf. Oder ich hatte wieder einmal Fieber und Luftnot. Da wurde das Zimmer zum Traum und die pfeifenden Atemtöne zu langgezogenen Lichtschnüren, Hustenattacken zu grünen Quadern, die aneinandergereiht aus dem kranken Mund aufstiegen. Zwischen mir und meiner Mutter gab es ein neutrales Thema, das wir gern mit leiser und geheimnisvoller Stimme besprachen. Ich weiß nicht, warum das so war. Es war einfach schon immer so gewesen. Das war die Sache mit den Träumen. Einmal hatte sie ein böser Mann darin verfolgt. Genau denselben Mann hatte sie am nächsten Tag mit seinem stechenden Blick im Kaufladen gesehen. Sie ließ alles fallen und rannte entsetzt nach Hause. Doch Oma hatte sie bloß ausgelacht. Oft träumte meine Mutter auch von den Angriffen der Kriegstage. Wie sich der Opa, im Kartoffelkeller, schützend über die Kinder warf. Das passte zur Erzählung vom guten Vater, die in der Familie oft aufgenommen wurde. Manchmal träumte sie aber auch, dass der Großvater im Kartoffelkeller etwas Geheimnisvolles hervorzog. Das sollte sie sich immer ansehen. Ein Ding, das er einen mackeligen Kerl nannte, und mit dem sie, immer noch im Keller, etwas tun musste, bis es genug war, und eine helle Spur davon blieb. Wann es genug war, wusste sie nie, nur dass der Vater dann wie ein Geist aussah, und erschrak sich deshalb immer wieder. Doch das sind nur Träume, sagt sie immer. Wie alles, sei auch die Angst für irgendetwas gut. Und überhaupt gäbe es weder nächtliche Stürze, noch solche geisterhaften Kerle.

7
Bald wurde es eng. Nicht nur wegen der miesen Noten und den ewigen Schimpfereien zu Hause. Das ganze Leben drückte mich ein, und faltete mich zusammen. Ich stand wie ein Strich vor der ersten Stunde auf dem Raucherhof herum und hatte Horror vor dem Tag, der mich erwartete. Er wartete. Auch so eine Redensart. Als würde der warten. Ausgerechnet auf mich. Und als hätte er irgendetwas anzubieten. Ich musste mich da selber durchkämpfen: Der Französisch-Nazi musste wahrscheinlich wieder herumbrüllen, Schultz würde im Physiksaal den Schlüsselbund nach uns werfen, wir duckten uns immer im letzten Moment, der Mathelehrer sein berühmtes „mal wieder voll in die Scheiße gepackt“ ausrufen, und der Hausmeister hinter meinen Traummädchen hinterherstieren, zu denen er immer „mein Sternchen“ sagte. Egal zu welchem. Auf dem letzten Konzertabend mit der Schulband Maze war der mal richtig dicht gewesen. Da hatte er mich plötzlich beiseite genommen, und war mir ganz persönlich gekommen. Mit seinem sauer stinkenden Bieratem hatte er mir die Frage ins Ohr gebrüllt, ob er denn nicht mal seinen Schwanz bei einer aus meiner Klasse reinhängen könnte. Egal bei welcher. Einer von uns dürfte dann auch mal mit seiner Frau. Ob ich da was für ihn tun könnte? Ich hatte den einfach stehen lassen. Er hatte mir mit flehendem Blick nachgesehen. „Wieso fragt der gerade mich?, dachte ich.  „Ich krieg doch sowieso keine ab. Jedenfalls im Vergleich zu Leuten wie Leatherbutt mit ihren Mofas.“ Letherbutt hat neulich dem Hausmeister sogar richtig eine geschallert. Affekt. Freispruch. Unter sieben Sekunden. Der Hausmeister hatte ihm schließlich vorher auch eine verpasst. Leatherbutt war dann doppelter Held.

Wenig später hatten alle Bikerjacken. Auch die, die gar kein Moped fuhren. Die Taschen sind bei solchen Jacken ganz oben angebracht, und die Gesamtheit stand mit spitz abgewinkelten Armen und den Händen in den Taschen auf dem Schulhof. Die Kunst war es, zu rauchen, ohne die Kippe aus dem Maul zu nehmen, obwohl der scharfe Rauch in den Augen biss. Ich kümmerte in dem Pulk bloß vor mich hin, hatte keine Lederjacke, stand nur so als Deko rum, und rede nicht mehr viel. Die meisten blickten sowieso an mir vorbei. Außer dem Furchenkopf vielleicht. Die Luft war bei mir raus. Ich gehörte schon nicht mehr dazu, und hatte mich durch mein ewiges Scheißebauen schon selbst ins Abseits gestellt. Und bei den Noten kriegte ich eh keine Lederjacke. Also ob die noch etwas an der ganzen Scheiße ändern könnte!

Weil jeden Tag irgendwelche Elternmitteilungen im Briefkasten lagen, fuhr ich nicht direkt nach Hause. Ich holte meinen milden Vater von der Arbeit ab. In der Bundesbank. Meine Mutter betonte immer, dass er Bank-Beamter sei. Mit der Betonung auf Beamter. Das ist ja wie gesagt besser als Angestellter. Aber trotzdem viel weniger als Akademiker. Ich hole den also ab, und wir fuhren mit dem Käfer nach Hause. Nachdem die Kollegen, die er regelmäßig mitnahm, alle ausgestiegen waren, beichtete ich ihm dann die Vorkommnisse der vergangenen Tage. Das war leichter, als mit dem Bus nach Hause zu fahren, und dann erst das Geschrei der Mutter, und am Abend dann noch mal, wenn sie sich fast schon wieder beruhigt hat, den Brüllreport an meinen Vater zu ertragen, in dem immer das Wort von der Anmeldung an der „Dummschnuttenschule“ vorkam.




8
Ein paar Straßen weiter oben wohnte einer, der, stets mit einer Jeansweste bekleidet, sonntags die BILD austrägt. Zwanzig Pfennig pro Lieferung. Aus den übrig gebliebenen Zeitungen musste am Abend das rotweiße Logo ausgeschnitten, und an den Großhändler zurückgeschickt werden. Dafür kriegte der Junge dann auch noch mal ein paar Pfennig. Im Sommer verkauften sich Zeitungen besser. Da saßen die Leute auf den Balkonen ihrer Mietwohnungen, frühstückten, und ließen sich dazu zusammengerollte Zeitungen hochwerfen. Die Käufer gaben oft ein kleines Trinkgeld. Pfeffer stopfte die Münzen in eine große Lederbörse, die an der hinteren Seite der roten Radgepäckträgertasche angebracht war. Abends saß er am Küchentisch. Links ein Haufen mit den Logos. In der Mitte die Münzen für den Verlag, und rechts Pfeffers Einnahmen fürs Sparbuch. Pfeffer hatte schon seit Jahren die Auslieferung durchgezogen. Klingeln oder Einwerfen. Bei den Einwerfern lag das Geld unter der Fußmatte. Zeitung abgeben, kassieren. Manchmal öffnete irgendein Schwuler im Bademantel. Oder eine Frau im Négligé. Pfeffer achtete gar nicht darauf. Schwule und Frauen, so was gab es für Pfeffer gar nicht. Das waren alles nur Leute, die eine Zeitund wollten. Hinter Pfeffers dicken Brillengläsern stand nur ein Gedanke: Der an die Yamaha. TY 50 M. Viergang. Fabrikneu. Und nach ein paar Jahren, in denen Pfeffer ständig von der Yamaha geredet hatte, stand sie tatsächlich vor der Tür. Rotweiß und chromblitzend. „Keiner darf da ran“, meinte Pfeffer. Die durfte nur von ihm gefahren werden. Und niemandem war es gestattet, auch nur den runden Tank zu streicheln. Da stand ein Pulk von Jugendlichen um das sich warm laufende Moped, das niemand  berühren durfte. Es kribbelte allen richtig in den Fingern. Genau so, wie es überall prickelt, wenn man heimlich mit einem ein Mädchen allein ist, das einem gut gefällt.

“Können wir nicht wenigstens mal mit einem Lappen den Tank polieren?“
„Na ja OK“, sagte Pfeffer am nächsten Tag, „das könnt ihr schon mal machen. Aber der Lappen kommt von mir.“ Und dann polierte jeder ein wenig. Dann kam die Frage:  
„Pfeffer, kann ich mal den Kickstarter treten, nur einmal den Motor anwerfen und ein paar Mal am Gas drehen?“
Pfeffer, der Gutmütige, gab nach. Er hatte die Katze aus dem Sack gelassen. Zwanzig Leute kickten an, drehten am Gashebel. Auch ein paar ganz kleine Kinder aus der Grundschule. „Pfeffer, kann ich mal fahren?“, hieß es nun am nächsten Tag. „Nee, die kannst du gar nicht halten“, antwortete Pfeffer. „Ach Pfeffer, jetzt lass doch mal!“ Und am übernächsten Tag kamen alle, und standen wie Protestierer um Pfeffer und seine Yamaha. Man hätte Eintritt nehemn können. Sogar die bedrohlich blickenden drei Feuermelder waren zu sehen. Beleidigten, schon wieder angeschickert, die Maschine, rotweiße Malle im Mundwinkel. Und kurz vor dem Adrenalinflash: „Kein Saft, das Teil. Ne Möhre.“ Pfeffer hatte Angst, dass sie dagegentreten könnten. Nur der Pulk und die Fensterglotzer verhinderten das. „Ey  Pfeffer“, sagten die Jüngeren, „lass doch mal fahren!“ Und dann fährt der erste unter ihnen eine kleine Runde. „Nur im ersten Gang“, so hatte es Pfeffer befohlen. „Und nur ganz vorsichtig Gas. Knapp über Standgas, die muss doch erst noch eingefahren werden.“ Vom Einfahren hatte Pfeffer jahrelang geträumt, und sich geschworen, niemand außer ihm dürfe die Maschine auch nur berühren. Und nun fuhr einer nach dem anderen eine Runde. Darunter auch welche, die gar keinen Mokickführerschein hatten. Kinder. „Ey Pfeffer“, so ging das von früh bis spät. Der Junge spürte den Schmerz in sich aufsteigen. Wir ein Band spannte der sich zwischen ihm und der Yamaha, die nun, wie Gemeinschaftsbesitz,  von immer neuen Leuten gefahren wurde.  Im zweiten Gang, im dritten. Pfeffer stöhnte. Verdrehte den Kopf. Ruderte mit den Armen. Zerzauste sich das Haar. Eine Maschine, zusammengespart und dazu auserkoren, nur von ihm selbst,  Pfeffer, selbst unübertrefflich schonend bedient werden zu können. Pfeffer glaubte, dass die Yamaha es ihm übel nehmen würde. Die wird nicht lange halten, meinte er. Irgendwann mitten auf der Landstraße schlapp machen. Wir irgend so eine orangefarbene Schrotte von Solo. Dann aber hatte Pfeffer doch noch eine Idee. Er drehte heimlich den Benzinhahn zu. Und der Motor tuckerte aus. Pech, sagte Pfeffer. Kein Sprit mehr. Er fuhr dann nur noch ganz früh aus dem Abstellraum, wenn die anderen noch schliefen. Und wenn es nicht regnete. Dann gleich auf die Landstraße, um die Yamaha durch sanfte Behandlung wieder gütig zu stimmen.

9
Das letzte Haus mit Elektroheizung war die Hütte von Jimi. Der hieß natürlich nicht wirklich so. Wir nannten ihn nur Jimi, um ihn damit zu ärgern. Davon später mehr. Jimi wohnte in einer kleinen Gartenhütte aus Holz. Eine Datsche, wie man das im Osten nennen würde. Diese grüne Datsche war gar nicht mal billig. Der Vermieter knöpfte ihm locker zweihundert Mark im Monat dafür ab. Kalt wohlgemerkt. Den Strom musste Jimi selber zahlen. Die Hütte hatte einen Windfang mit einem verkrusteten Klo und Waschbecken. Duschen konnte man nicht. Hinter dem Wundfangklo befand t sich noch ein kleiner Raum mit Hochbett. Mehr als zehn Quadratmeter hatte der nicht. Darunter standen Jimis Elektroöfchen, ein Berg leere und volle Flaschen, Aschenbecher, ein paar Hasch-Piece in Silberfolie, eine Stereoanlage, eine Kiste Kassetten mit Aufnahmen von Musiksendungen vom Radio der DDR, zwei E-Gitarren, von denen eine nicht funktionierte, an der anderen, einer Strat in Sunburst-Lackierung war das Horn neben dem Griffbrett abgesägt, und dann gab es noch einen kleinen Zehn-Watt-Marshal. Wenn Jimi nicht gerade Taxi fuhr, konnte man es schon von weitem aus der Hütte dudeln hören. Unendlich langes Gniedeln. „Solos“, nannte Jimi diese Melodien immer. Dazu lief im Hintergrund Hendrix, Frank Marino, irgendwelche Ost-Bands, die keiner kannte, aber auch mal Zappa und solche Sachen. Das Dudeln aus der Hütte passte weder von der Tonlage noch vom Rhythmus her zu den Songs, die auf den Kassetten liefen. Manchmal quasselte ein Sprecher vom Radio der DDR dazwischen, von Habitus und Klang  her so ein Ost-Berufsjugendlicher, der die sozialistischen Massen bespaßen musste. Aber Jimis Soli liefen trotzdem weiter, und dann gleich ins neue Stück oder in die Nachrichten  hinein, die als nächster Programmpunkt auf der Kassette waren. Der drückte ja auch nie Stop, wenn er die Musiksendungen aufnahm. Jimi spielte sich durch sein Leben, in dem der einzige Weg der des ewig fortdauernden Gitarrenlaufes war. Jimi ludt auch mal zum Jam Session ein, wenn man was zu rauchen oder ein Flasche Schnaps mitbrachte. Die Session bestand dann aber darin, dass der Besucher irgendein Riff anschlug, und Jimi seine Soli drüberdudelte. Ob All Along The Watchtower oder Little Wing , war egal. Das Solo blieb immer gleich. Nur mal schneller und mal langsamer. Zwischendurch nahm Jimi man ein paar Schnäpse. Egal was für welche. Morgens ging Jimi auf die Parkbank. Drehte sich eine aus den gesammelten Kippenresten aus dem Aschenbecher, und trank sein Frühstücksbier. Er hielt konstant einen eher geringen Pegel, im Laufe des Tages konnte  das Pendel allerdings auch mal stark nach oben ausschlagen. Dann trank er Korn oder Küstennebel aus einem seiner zwei Wassergläser. Später musste er  beim Chef vom Taxidienst anrufen, krank, und irgendein Anderer musste den Hundertneunziger abholen, der bei Jimi in der Straße wartete.

Das kuriose war: Jimi war ganz schön muskulös. Irgendwie sah er fit aus, trotz dem ganzen Alk, den er täglich in sich reinschüttete. Manchmal ging er nämlich mit einem Kumpel nach draußen auf die Wiese. Ein bisschen kicken und so. Da wieselte der ganz schön schnell übern Platz. Das hätte man gar nicht gedacht, wenn man ihn mal abends in der Hütte erlebt hatte. Einmal hatte er sogar schon Blut spucken müssen. Ich dachte erst, er hätte Tuberkulose oder so was. Er hat mir dann aber später mal erklärt, dass sich das Blut über der kaputten Leber aufstaut. Und ein paar Blutgefäße, die zur Leber führen, laufen in der Speiseröhre entlang. Wenn sich das Blut dann vor der Leber anstaut, weil sie die Giftstoffe gar nicht mehr abbauen kann, entstehen so was wie innere Krampfadern. Jimi meinte, die heißen Ödipusritzen oder so was. Ich glaubte das aber nicht. Weil Jimi und Fremdwörter, das passte nicht zusammen.  „Wenn man etwas Hartes schluckt“, meint Jimi, ein Stück Brotkruste oder so was, dann platzen diese „Ritzen“. Das Blut schießt die Speiseröhre hinauf, und wenn man Pech hat, läuft es in die Atemröhre. Das wäre es dann gewesen, meinte Jimi.

Letztes Mal hatten sie ihn gerade noch retten können. Mit einem Gummiband in der Speiseröhre. Da hat er ganz schön abgeröchelt. Jimi meinte, das nächste Mal wäre es Exit. Hätte auch der Arzt gesagt. Deshalb aß er nichts mehr.  Er saget, der Alkohol wäre gesund, wärmend und nahrhaft. Er tötete Bakterien ab, wie übrigens auch das Zigarettennikotin die Bakterien in der Lunge killen würde. Und im Weizen wären ziemlich viele Vitamine und so was. Da brauchte man gar nichts mehr zu essen. Jimi hatte vor langer Zeit mal eine Freundin gehabt. Er zeigte manchmal ein ziemlich unscharfes Foto von ihr herum. Eine ganz niedliche und mädchenhafte Freundin, mit schönen, langen Haaren. Das hätte nicht geklappt, meint Jimi. Und überhaupt, die Frauen nervten sowieso nur. Entweder besoffen und geil im Taxi, da kann er gar nichts mit anfangen. Oder sie machen immer irgendwelche blöden Vorschriften. Deshalb, sagte er,  hätte er in seinem Karton lauter FKK-Zeitschriften gesammelt. Da waren merkwürdige Bilder von nackten Familien drin. Das würde ihm reichen, meinte Jimi immer.   

Er war vor langer Zeit mal  aus dem Osten in die BRD gekommen, wie er immer erzählte. Aber in der BRD angekommen war er nie, dachte ich. Er meinte, Hendrix sei „der einzige Bimbo gewesen, der Gitarre spielen konnte“, und der einzige „Neger“, den er „gerade noch so“ akzeptieren könnte. Allein, seine Ablehnung konnte er nicht erklären. Ich habe oft genug nachgefragt. Da war so ein seltsames Unwohlsein in ihm. Erklärungen gab es keine. Hendrix könnte stolz auf sein Lob sein, sagte Jimi. Irgendwann, aber ziemlich bald, sollte Jimi sterben. Danach sollte es nicht mehr aus der Hütte dudeln.  Nur manchmal, wenn ich im Sommer bekifft im Bett lag, konnte ich Jimi leise hören.

Zieht keiner mehr ein, sagt meine Mutter später kategorisch. Sowas akzeptieren die Leute heutzutage nicht mehr, so ne Bruchbude für zweihundert Mark.

10
Es gab nicht viel zu sehen. Ein paar Vorgärten, in denen alte Kloschüsseln als Blumenkübel standen, einen Grillplatz, das Jugendzentrum im Kirchkeller, den Bier-Kiosk mit den Feuermeldern, und das muffelige Gasthaus. Ich musste dann schon mit der Straßenbahn in die Stadt, wenn ich was erleben wollte. Oder zu Fuß ins Einkaufszentrum. Mit der Straßenbahn fuhr ich nicht gerne. Die heulte asthmatisch, kam kaum voran, und quietschte in den Kurven. Das fühlte sich an, als hätte man eine Gänsehaut auf den schmerzenden Zähnen. Außerdem musste man immer vorn am grünen Pfeil einsteigen, und die ganzen Omas saßen in Fahrtrichtung. Die glotzten mich dann immer durchdringend an, wenn ich zu meinem Lieblingsplatz nach hinten durchging, und legten ihre alten Zähne bloß. Ob die mich auslachten?

Manchmal kam ich in der Stadt an, und wusste gar nicht, wohin ich eigentlich wollte. Ich latschte dann ein bisschen rum und fuhr dann wieder heim, denn  die Leute gingen mir mit ihrem Geglotze auf den Zeiger. Als ob man nur zu mir hinsehen könnte, und die vielen Schaufenster mit dem ganzen Kosumkram gar nicht da wären.


Im Einkaufszentrum gab es so gut wie alles. Plattenspieler, Verstärker, Tape Decks, Tuner, Fernseher, Poster, LPs, Kassetten, Kameras, Filme, einen Kopierer, Klamotten, Tiere, einen Imbiß, und Lebensmittel. Vom Haupteingang aus zog sich ein langer Gang durch die Ladenhalle. Links und rechts befanden sich Läden, die Wände aus Fachwerkimitat hatten. Damit nur keiner vergaß, dass wir in Hessen waren. Trat ich durch den Haupteingang ein, glotzten sie auch schon wieder, und Mütter nthmen ihre Kinder an die Hand. Die lutschten nicht mehr ihr Eis, die blickten nur noch zu mir rüber. Weiter hinten standen manchmal  Mädchen in Grüppchen, und reden aufgeregt. Alle blickten in meine Richtung und tuschelten. Aber wenn ich mal allen Mut zusammennahm, und mit geistigem Anlauf in Richtung Elektronik auf so ein Grüppchen zuging, was selten genug vorkam, also vom Mut her, in mir die Frageabsicht, „Was redet ihr denn über mich?“, dann verstummten die alle, wendeten ihren Blick ab, oder sahen durch mich hindurch.

Manchmal löste sich eine aus der Gruppe, kam lächelnd auf mich zu. Mein Herz schlug mir vor Angst den Hals hoch, auch ein wenig Freude mischte sich unters Pochen. Doch dann hatte sie doch wieder nur einen Typen gemeint, der hinter mir geht, und den ich nicht wahrgenommen hatte. Hätte ich mir auch vorher denken können.

In den Läden das gleiche Spiel. Die Verkäufer hatten einen Blick drauf, der sagen soll: „Aha, da kommt ja der Idiot wieder.“ Mein Mund verrutschte dann immer. Ich konnte den nicht mehr halten. Und war nun wirklich der Irre mit der schiefen Fresse. Dann überall diese Spiegel. Wozu hatten sie alle drei Meter einen Spiegel aufgehängt? Damit ich mein Maul darin ertragen sollte? Das verhasste Gesicht, das unter Millionen seinesgleichen suchte, und mir unter Milliarden entgegensprang? Die Ärsche hatten das Scheißgebäude doch nur dazu errichtet, mich wieder einmal genüsslich vorzuführen.

Ich flüchtete immer in den in dunkelgrün gehaltenen GASTRO-Imbiß. Da konnte ich mir die Speisekarte an der Wand ansehen, ohne dass mich jemand von vorn beobachtete. Ich suchte mir einen Platz mit Blick auf die Vitrine, hinter der jeden Tag eine knochige, alte Frau schuftete. Und holte mir eine Ladung Pommes Frites mit Jägersoße, denn die knusprigen, salzigen Fritten und die schleimige, süßliche Pilzpampe passten fabelhaft zusammen, ergänzten sich im Magen zu einem beruhigenden, fetten Brei. Der gab mir genug Kraft, um die Stätte wieder durch den Mittelgang verlassen zu können. Und die Woche darauf latschte ich dann doch wieder ins Einkaufszentrum, wenn mir zu Hause die Decke auf den Kopf fiel. Oder meine Mutter an mir herumzeterte.



Bodenloses
Der erste ist mir in der Form des lieben Onkels begegnet. Natürlich ohne dass ich das als kleiner Junge wissen konnte. Ich meine, was er für einer war. Was soll man auch groß im fahrrad- und baumhausgefüllten Jungenhirn schon denken, wenn sich die betagten Onkels und Tanten an sommerlich gefärbten, warme Tagen auf Gartenstühlen das Licht ins Gesicht scheinen lassen, und über allerlei Belangloses reden, ihren Kaffee auf Untertassen balancieren, und abgegessene Kuchenteller aufs Gras stellen. Meine Mutter hat mir später dann alles erzählt.

Später dann, in der Schule, wurde das Bild schon klarer. Um die Einundsiebzig muss das gewesen sein, drei Jahre nach der magischen Jahreszahl, die noch heute als fatale Zeitenwende verbrecherisch aufrührerischer Verwirrungen durch die Seelen derer geistert, die fassungslos nur an ihr, aber nicht an allem, was zuvor geschehen war, den Schritt in den Abgrund des kulturellen Niedergangs für alle Ewigkeit auszumachen versuchen. Da standen sie, das lange Haar nach hinten über die Platte gekämmt, am Hinterkopf in scharfer Linie abrupt weggeschoren, litten darunter, dass die Zeit des Rohrstockes vorbei war, wussten sich aber darüber hinwegzuhelfen, indem sie ihre eigenen Kinder windelweich prügelten (man konnte dies samstags in der Umkleide an der Körpern der Lehrerkinder betrachten) oder den Fachunterricht gelegentlich für politische Vorträge unterbrachen: Unter polnischer Verwaltung.

Später zogen ihre Nachfolger (es gibt immer Nachfolger) in kleinen Gruppen und mit riesigen Ghettoblastern durch die westdeutsche Fußgängerzone, aus denen eine Musik dröhnte, die nach einer Mischung aus Schützenfestumzug und Rammstein klang.

Wir saßen im Kino und sahen uns Clockwork Orange an. Als die erste Filmattacke kam, in der ein Penner von ein paar Jugendlichen mit blöden Hüten verprügelt wurde, standen die, die die ersten beiden Reihen besetzt hatten, auf, und liefen wie Aufziehsoldaten im Stechschritt durcheinander, grölten in der Art betrunkener Fußballfans bei jedem Filmfußtritt Applaus und nahmen plötzlich und immer dann wieder Platz, als Fickszenen oder die Musikfetzen von Ludwig Van kamen.

Ein paar Jahre später dann die Demo der Blöden, eine Limousine fährt vor, aus ihr steigt eine kränklich-anämische, popelige Teigfresse mit Germanenwanst und original Rotzbremse. Durch die Gegenmenge wogt ein fast ungläubiges Stöhnen und  der sichernde Polizist neben mir sagt: „Geh mal zu Edeka ’ne Tüte Tomaten holen.“

Nebenan haben sie den Y. umgebracht. Die Haltestelle sollte in Y.-Platz umbenannt werden. Im Gedenken an den Toten. Da ging die Wut durch die Forenmenge, bei einem Deutschen, wie zum Beispiel dem Mordopfer Tragelehn, würde man ja auch nichts umbenennen. Klar, wenn man zu träge ist, wenigstens den Versuch zu unternehmen!
Y. aber wurde im Beisein staatlicher Autorität umgebracht, wenn man das Zuträgerhafte, in seiner eigenen Jugend selbst noch höchst Zweifelhafte, noch frisch Verheiratete, als Maßgeblichkeit betrachten möchte, die, nur zufällig beim Mord anwesend, eine ominöse Plastiktüte in der Hand, in Weltnetzräumen schon wieder mit jungen Dämchen anbandeln will.

Corellis Handy lag vier Jahre beim Verfassungsschutz im Tresor, ohne, dass man es „zuordnen konnte“. Himmel aber auch, wenn im regelmäßig überprüften, ordnungsgemäß deutschen V-Mann-Führer-Stahlschrank so ein Handy vier Jahre lang nicht auffällt.  Vielleicht wären wertvolle Informationen für den Prozess gegen Schlands bekannteste Dreiecks-Frau (mit der schönsten Rückenansicht des Ostens) drin gewesen? Aber wen kümmert, was man gar nicht wirklich wissen will?

Und nun? Onkel tot, aber Riefenstahl-Videos zur Grölermucke auf jedem Handy, der Dudelfunk klingt jetzt bisweilen schon nach Führerhauptquartier mit Schlagzeug und E-Gitarre. Ein Junge in Bonn totgeschlagen. Von Schwarzhaarigen und Dunkelhäutigen. Klar, der Deutsche im Allgemeinen bringt ja keinen um! Weder Babys noch Ehefrauen. Während aber der Südländer natürlich und so weiter flugs den Tod für die Demo ausgenutzt. Unser Junge, von solchen umgebracht, und die Lügenpresse schweigt dazu, wenn sie nicht die Infos einfach unterdrückt. Dass man die L-Presse erst jetzt entdeckt hat, wo doch die Zeitung mit den ganz großen Buchstaben schon Jahrzehnte irgendeinen assigen Dreck verzapft, bei dem es keine Sau kümmert, an welchen Haaren er herbeigezogen worden ist! Aber jetzt, da kann man die tiefergelegte L-Pressen-und-Glatzendemo anberaumen, alle auf die Autobahn, er hat die ja gebaut, dicker Auspuff, Kampfgolf, Astra-Jagdgeschwader, Scheibe runter, linker Arm in der Tür, die Faust auf Lenkrad, man hat ja Zeit und Geld genug, das Opfer für seine Zwecke nutzen, das einem sonst, genauso wie die viertausend Verkehrsopfer, herzlich egal wäre.

Wenn man nach Achtundsechzig irgendwas falsch gemacht hat, dann war es das, dass man nicht wachsam genug war. Fruchtbar noch, aus dem das kroch. Sagt Brecht jedenfalls.



Alès und die Oberschichtproleten
Durch dauerhaften  Mangel an Leistungsbereitschaft war ein Schulwechsel auf die von Garten’sche angesagt - denn auch die Fünf in Franze war trotz Hängenbleibens, Lycéeaufenthalts in Südfrankreich sowie etwas Talents nicht zu entfernen. Im Lycée hatte man nicht nur im Café des Palmiers das Rauchen der fünf Sorten Gauloises gelernt, sondern auch erfahren, dass aus einem  je ne sais pas umgangssprachlich ein mit rundem Mund hervorgestoßenes schba werden muss, bei dessen Anwendung am besten noch die Augenbrauen hochzuziehen sind, was dem Arrangement einen überraschten Ausdruck verleiht und damit dem allfälligen bof ganz ähnlich ist, welches auch


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Christof Lais Sperl
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Der silberne Roboter


Beitrag21.10.2017 10:54
Fortsetzung
von Christof Lais Sperl
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Alès war noch mit Kiever. Stets traurig und schön war er mit von der Partie gewesen, und danach mit sechzehn an einem Hirntumor gestorben. In Alès hatte er sich noch in ein französisches, Blümchen malendes, drogenabhängiges und Vélosolex fahrendes Späthippiegeschöpf namens Katchy, also eine Catherine, verliebt. Wir saßen im Park in der Sommerhitze. Katchy malte Blümchen. Alle Jungen hatten ihr T-Shirt ausgezogen, ein Polizist naht, salutiert, bestimmter Ton: Im Park unerwünscht. Ist kein Strand hier. Shirt wieder anziehen. Ganz die enge französische Republik der Siebziger, mit ihrem Zwang zum Militärdienst, den brutalen Polizisten, und der noch bis Mitterrand regelmäßig verhängten Todesstrafe für das unregierbare Volk.

Irgendwann im Herbst waren die Franzosen im Gegenzug zu uns gekommen, die Nachricht von ihrer Ankunft hatte sich schnell auch unter denen herumgesprochen, die mit Französisch gar nichts zu tun hatten. Kiever lebte schon nicht mehr.

Die naiven deutschen Mädchen flogen auf den nie gehörten französischen Akzent. Nachmittag Schulausflug in irgendein Kuhdorf. Ich bat zusammen mit ein paar deutschen Kumpeln die Landeier mit nachgemachtem Akzent um Raucherhilfe: Ast du ainmahl Föi-öhr führ misch? Dongké. Willst du einö-aur? Lauter offene, glucksende und kichernde Herzen. Wie billig sie sich doch manchmal kriegen lassen! Leider musste ich wieder zeitig zu Hause sein und den Regionalzug nehmen. Ich hatte mir schon erhofft, da könnte was gehen. Na ja, Termine, Termine. Aber rumgeknutscht haben wir schon noch ein wenig am bunten Waldrand.

Ich war vier Wochen lang in Alès gewesen. Bei meiner französischen Familie, auf einem echten lyceé. In der kleinen Pause wurde gemeinsam mit den Lehrern im  Klassenraum geraucht. Palmen, Hitze, Oliven, traversins, kurze Röcke, überhaupt Röcke, und ich in der Pubertät, zwanzig Frühstücksmarmeladen, la sieste, Essen bis 22 Uhr, Bouillabaisse, Spaghetti, Salat, Käse, Dessert, Kaffee, dem einen oder anderen Cognac, dem so genannten Kaffeeschieber, einem halben dutzend Wörtern für die Darstellung des Sättigungsgrades, täglicher Monde-Lektüre (soweit es ging), Gauloises und  Graven A sans filtre. Ich lernte peu à peu mein erstes substanzielles Französisch mit Tintin und Haddocks Mille sabords, hatte während des Aufenthalts nie ein deutsches Wort gesprochen. bis sich dann die französische Madamein der letzten Minute auf dem Bahnsteig als Deutschlehrerin aus dem Elsass entzauberte und mich grinsend in perfektem Deutsch verabschiedete.   

Ich aber. Trotz Alès nicht nur die Fünf in Französisch, sondern in mehreren Fächern mangelhaft, fuhr zu dieser verhängnisvollen Zeit wie jeden Tag mit Drotlauf in der heulenden Linie 8, zog laut über die Lehrer her, Drotlauf lachte sich kaputt, ich drehte immer mehr auf, stieg an der Teichstraße aus, Drotlaufs knallenge, gebleichte Jeans vor Lachen schon sichtbar bepisst, es zeichnete sich ein dunkler Fleck ab, Drotlauf eigte auf das Straßenbahnfenster und ich erkannte, daß hinter dem Vierersitz, den wir zuvor eingenommen hatten, gegen die Fahrtrichtung der Direktor saß, der mitleidig und schlau über den schleuen Lesebrillenrand blickte. Zwar war er ein eher sanftmütiger Mensch, doch wollte oder konnte auch er mich nicht mehr vor der Umsiedlung auf eine andere Anstalt schützen, die für mich genau die richtige war.


Das Publikum der von Garten’schen bestand aufgrund der Schulgeldpflicht  - es handelte sich um eine staatlich genehmigte Privatschule - aus nur wenigen für die Zeit typischen linksbürgerlichen Freaks mit den Hörgewohnheiten Kraftwerk, Supertramp, The Human League, Roxy, Reed, und Dépêche Mode, dafür aber um so mehr Jungkonservativen mit den üblichen Verhaltensauffälligkeiten der Plutokratie, schwarzen Schafen aus der Klasse der Parvenü-Folgegeneration vom Brasselsberg, den unvermeidlichen Poppern, die mit ihren gewellten Frisuren meist im schwarzen VW oder im dicken Merser vorfuhren. Die Diplomatenkofferverteilung hatte bereits unmittelbar nach Uterusaustritt eingesetzt, und die Hebammen hatten offenbar den Mitgliedsausweis von der Jungen Union gleich beigelegt. Golf GTI mit kopulierendem Rabbitaufkleber, Cabrio oder Scirocco, darin saftig klingende Clarion-Anlagen und Cassetten von Diana Ross und den Commodores standen als neue Familien-Drittwagen in der Garage oder auf dem Schulparkplatz. Wer keinen neuen Wagen hatte, fuhr einen älteren, aber dafür großen BMW. Auf alkoholgeschwängerten Poolpartys besprang so mancher die eigenen, sturzbetrunkenen, geilen, alten und feisten Tanten oder andere traurig kreischende Figuren aus der weiteren Verwandtschaft und ihrem versoffenen Gefolge. Ich war dabei und habe es mit eigenen Augen gesehen: Man war schließlich christlich orientiert und das alkoholisierte Clanvögeln war wahrscheinlich die höchste Form der Nächstenliebe. Rechts war Standard, aber nur CDU, das reichte nicht. Der weißblaugoldene und rhombenförmige CSU-Aufkleber musste am Auto prangen, denn man stand ganz weit außen: bei FJS. Manche Mütter waren vom täglichen Suff und den vielen Psychopharmaka zu triebgesteuerten Zombies geworden, und eine von solchen war auf einer Klassenfahrt mit dem unfreiwilligen Franzosen nach Straßburg als Begleitung mit ihrem feuchtglänzendem Schmollmund nach ein paar Gläsern Champagner im Tourbus ganz heiß auf die aus der Zwölften geworden. Beim Ausstieg vorne wartete sie mit ihrem speckigen Körper beim Fahrer und wollte jedem der einen naßgeleckten Knutsch verpassen. Zum Glück nicht mir, denn manchmal können Unattraktivität und ein Notausstieg in der Mitte Formen wahren Segens sein.


Ich war sofort einer der Besten der Klasse. Nicht, weil die anderen dumm gewesen wären. Die Wohlstandsverwahrlosten taten meistens nur blöde und waren zu faul zum denken. Außer ein paar weichgezeichneten Fakten zu Helmut Kohl hatten sie an Allgemeinbildung nicht viel im Gehirn und redeten  in einem Möchtegern-Unterschichtslang, den sie selbst sich zurechtgelegt hatten. Luxus bezeichnete man als ethe, Tätigkeiten wie Hausaufgaben und das Sich-Melden waren Malore. Da glaubte man, nur weil man XY hieß und Arzttochter war, käme das Abi ohne eigenes Zutun wie eine gebratene Taube im Schlaraffenland herangeflogen. Die haben sich später noch gewundert, als sie massenweise trotz Anwalt beim Abi durchgerasselt sind, diese hübschen, blonden Kinder, die es nie nötig hatten, etwas zu ihrem Fortkommen beizutragen! Bester Lehrer war der Franzose Claude Pascal, der bei Aufregung Morpheme separabler Verben vergaß: Karjes, setz disch ´ier! rief er, wenn mal wieder jemand mit dem Moped ins Barackenklassenzimmer geknattert kam oder die Porno-Sonnenbrille nicht absetzen wollte. Ein Kopf mit übergekämmtem schwarzem Haar und Dickglasbrille krönte den Kurzhals, es war ein französisch-Lafontaine’scher Breitschädel, der im ständigen Captagon-Rausch (´Att mihr mein Arzt empfohlöhn, stärkt die concentration) intellektuell fortwährend auf Hochtouren lief. Das Lampiongesicht machte im stinkenden Jungenklo grinsende Raucherrazzien, dabei selbst ohne Ablass gesalzten Caporal-Tabak paffend, die allerdings ohne besondere disziplinarische Folgen blieben. Auch im Unterricht war der mit Supair-Papier umwickelte erkaltete Tabakstummel im Mundwinkel befindlich, nur um zu Pausenbeginn wieder angezündet zu werden, das aber gefälligst nur mit Streichholz. Als ihm der Caporal einmal ausgegangen war, kaufte er eine Stange Gauloises Bleues, leckte das Papier an, riß die Zigaretten auf und drehte den Tabak in sein heiliges Supair-Papier. Doch das bittere Raucherlebnis mit den umgebauten Zigaretten von der Stange konnte seine Genußsucht nicht befriedigen. Einer unter uns durfte das Mondgesicht sogar beim Vornamen nennen, beziehungsweise hatte der Schüler dies ohne viel Federlesens einfach getan und Pascal hatte diese verbale Annäherung hinfort ohne Widerspruch geduldet. Monsieur beherrschte das Deutsche so gut, dass er  Muttersprachlern die Sprache der Mutter beibringen und unsere Aufsätze korrigieren konnte. Als Bewunderer der Deutschen hatte er Frankreich, das er aus damals noch unerfindlichen Gründen zutiefst ablehnte, verlassen. Einer unter den Schülern konnte wie Büchner schreiben, war aber stinkfaul, und es ist trotz Pascals Förderung wohl nichts aus ihm geworden. Ich habe vergessen, wie er hieß, die Erinnerung klingt nach Heindrich oder Heinrich, man hat nie wieder etwas von ihm gehört, weiß aber, dass von den wirklich Hochintelligenten nicht allzu viele im Leben erfolgreich werden, denn entscheidend sind immer auch Umfeld und psychische Disposition; Elemente, welche fördern und ersticken können.


Der 25er-Bus fuhr vom Kirchweg bis zur Schule hoch, und seit zwanzig Jahren war Pascal mit der Buslinie den Berg hinauf gefahren. Eines Morgens kam jedoch ein Kontrolleur. Der einzige im Bus ohne Fahrkarte natürlich Pascal, und da der gerammelt volle Bus fünf Stationen lang gefeixt und gejohlt hatte, kam Pascal hochrot und wütend in den Klassenraum, vergaß noch mehr Präfixe, Suffixe, Infixe, und was weiß ich noch alles und war so wütend, dass eine spontane Lernkontrolle geschrieben werden musste. Wir arbeiteten schweigend, doch am nächsten Tag war alles wieder längst vergessen.   

Pascal war absolut gerecht. Zu Links wie Rechts. Neben den paar Freaks und den Wohlstandsverwahrlosten der ethe- und Malore-Fraktion war sogar ein richtiger Nazi in der Klasse: Er trug, stets überlegen lächelnd, einen Diplomatenkoffer mit daraufgeklebtem Dreggerbild, eine dieser übertrieben glatten, weil zu sehr gepflegten und daher unmodischen Lederjacken und darüber ein verschlagenes Gesicht. Einer der Lederjacken-Nazis also, wie sie aus den verwinkelten Miasmen jeder Generation herauskriechen, der aber, und das war ganz besonders schön, als Ausgleich täglich auf einen Anarchisten namens Riewel mit zackigschwarzem A-Button am Kragen treffen musste. Die Kollision der beiden Extreme (der eine rauchte Marlboro, der andere Samson) ergab immer unterhaltsame Streitereien in den Pausen. Das  große A innerhalb eines Kreises stand nur für Anarchie, dasjenige A aber, welches auf Riewels Mantel zackig noch über den weißen Kreis hinausragte, symbolisierte schon Anarchie und gefährlichen Punk zugleich. Ich aber war ganz Salonsozialist und Umweltschützer: Es war der Beginn der Grünen Liste in den Achtzigern, in denen Grünsein noch etwas verhieß. Heute sind die Grünen bereits zu kleinen Schwarzen  geworden und haben ihre Seele schon verkauft.

Ich schmiss Kassetten in die Autoanlage, die Bassisten begannen in Slap-Technik zu spielen, man hörte Spliff und die frühen Level 42, fast jedes Taxi fuhr mit schwarzem Stern am Heck, und die Mädchen hatten damit begonnen, schon wieder viel besser auszusehen. Pascal bewertete Aufsätze, wenn sie stilistisch-logisch in Ordnung waren mit gut und bisweilen auch  sehr gut, egal wie die politische Ausrichtung war. Alles hatte den Anschein, Pascal wolle Intelligenz fördern und diskutierte auch gern kontrovers. Solang es schlau argumentiert zuging, war Pascal mit allen Standpunkten zufrieden.

Ich musste nach dem  Hängenbleiben die mittlere Reife nachholen, also auch in Französisch Prüfung machen, denn im Abschlusszeugnis der ehemaligen Adolf-Hitler-Schule prangte noch die Fünf. Prüfungsthema war das Imparfait: Anwendung und Bedeutung, Tous les jours,  je traversais le pont: Études françaises, cours de base. Ein umfassendes Thema, denn das Französische baut eine Menge an Bedeutung über Anwendungsregeln verschiedener Zeitformen. Pascal sagte am Vortag der Prüfung: Du bist um acht dran, da schläft der Beisitzer Knobelspiess noch. Auch Knobelspiess war ein französischer Germanist, gleiche Kategorie wie Pascal, Frankreichhasser, ich um acht in die Prüfung rein, Knobelspiess schnarchte, ich bekam eine Eins. Und nicht weil Knobelspiess schlief, sondern weil ich alles konnte. Die Tatsache, dass Knobelspiess schlief, bekommt im späteren Verlauf der Geschichte zwar noch besondere Würze, Pascal aber konnte nicht glauben, dass die ihm bekannten Schweinehunde an der Adolf-Schule mir eine Fünf verpasst hatten.

Nach der Abiprüfung bin ich drei Jahre später für ein Romanistikstudium direkt an die Uni gegangen. Mein leider sehr früh verstorbener Lektor und Sprachpraxislehrer Sylvain Kerabré hatte mich, da ich vergleichsweise gut Französisch, konnte zu Beginn einmal nach meiner Schule gefragt. Ich muss zur Verdeutlichung anmerken, dass manche der vielen Mädels, die sich in Romanistik eingeschrieben hatten, nicht mal korrekt einen Kaffee bestellen konnten. Und er, Kerabré, fragte mich: Und wer war denn dein Lehrer? Als ich die Namen Pascal und auch den von Knobelspiess genannt hatte wurde der Lektor ganz blass und erzählte mir das Folgende: Pascal hatte als Mitglied einer antisemitischen Organisation, die die Herrschaft der Intelligenz über die zu versklavende Dummheit forderte, erfolglos eine Dissertation über französische Schriftsteller der Kollaboration wie Céline und Konsorten eingereicht und war nicht nur in Frankreich als Rechtsaußen und faschistischer Extremist in einschlägigen Kreisen bekannt. Lediglich im Unterricht hatte man davon nichts bemerkt. Ich habe eine lange Zeit gebraucht, mich von der Überraschung  Nazi als Mensch zu erholen, Pascal aber aufgrund seiner Humanität, die alles andere als vordergründig war verziehen und seine Einstellung als irreparablen Dachschaden ad acta gelegt. Trotzdem: Welcher Frevel, sein großes Talent für eine faschistische Idee zu verschwenden! Pascal soll irgendwann nach Hamburg geschasst worden sein. Ich habe ihn nie wieder aufgespürt. Der spätere Literaturpabst Reich- Ranitzki beschreibt in seiner Autobiographie ähnlich beklemmende Begegnungen mit Lehrern als überzeugten Nationalsozialisten, die sein Talent erkannt hatten, ihn, den Juden, in ihrer intellektuellen Zerrissenheit und hierarchischen Verstrickung aber nicht fördern konnten und wollten. Pascal hatte uns als Linke erkannt und dennoch aufgebaut. Trotzdem war alles so erbärmlich traurig - und vor der später noch folgenden mit Joseph Beuys meine erste große Lebensenttäuschung.

Der Schulleiter Rudolsch war der menschlichste Lehrer der mir je begegnet ist. Mit meiner Diskalkulie, die ich damals so noch nicht nennen konnte, da es diese griffige Bezeichnung noch nicht gab, und damit nicht in der Art eines Legasthenikers die Einschränkung bequem etikettieren und vorweisen konnte, förderte er mich in Mathe wie es nur ging. Fürs Abi gab er mir das Thema Ellipse, denn das konnte man auswendig lernen, ohne viel zu rechnen und vor allem ohne etwas verstanden zu haben. So war ich zu meinem einen Zukunfts-Punkt in Mathe gekommen, der mir das ansonsten gute Abitur absicherte. Rudolsch selber hatte in seiner Vergangenheit mit Deutsch zu kämpfen gehabt und kannte die Leidenswege der Schule. So muss ein Lehrer sein, dachte ich mir, und würde ich selbst einmal ein bösartiger Spießer wie Zubillig, brächte ich mich lieber gleich um.

In der Jugendgruppe wurde weiter gestritten, ob Supertramp, Yes oder Genesis die bessere Band waren, wir wollten bekiffte Prog-Nächte ausladend durchtanzen, mussten aber alle um 10 zu Hause sein. Debattiert wurde grundsätzlich nur im Schneidersitz auf dem Fußboden, selbst wenn die Möglichkeit bestand, auf einem der Sperrmüllsofas Platz zu nehmen, die die Feuermelder verschont hatten. Wir kochten Reisgerichte und tranken Tee oder Kaffee aus Glastassen. Räucherstäbchen, und Palästinensertücher rochen noch immer nach Patchouli und überdeckten zusammen mit dem Grasaroma den scharfsauren Katzenschißgeruch der Jugendstil-WGs. Wer Genesis und Yes hinter sich gelassen hatte, kam auf Reed und Bowie, die in Berlin natürlich jeder schon seit zehn Jahren kannte.





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Ich begann, mich regelmäßig mit Wolle im Gastro auf Fritten mit Jägersoße und eine Flasche Apfelwein zu treffen. Wir holten uns am Tresen zuerst immer zwei Fanta, und gossen dann mit Apfelwein nach. Das war farblich unauffällig. Anschließend konnte ich ohne Mühe mit Wolle zusammen aus dem Laden herausbewegen.  Wolle hatte als Maurer vor allem im Winter viel Zeit. Er war aus Prinzip Maurer geworden. Schule war nichts für ihn. Maurer, das waren für ihn Leute die schnell alt und gebrechlich wurden, die schon morgens die Bierflasche in der Hand trugen, und einen Beruf gewählt hatten, der für Beschädigte reserviert war. Kaputt zu sein, ständig Alk zu trinken und Zigaretten zu rauchen, das war für Wolle das Lebensziel überhaupt.  Er mochte alles, was „fertig“ aussah, und sich so verhielt. Die Kifferei passte da nicht rein. Haschisch war für Wolle schon fast Kunsthochschule, also alles andere als fertig. Besonders beeindruckend hatte Wolle es gefunden, als Bonham während eines Konzertes am Schlagzeug zusammengebrochen war. Die hatten bloß drei Stücke gespielt, und dann war Schluss gewesen. Aber Wolle fand den Abgang vorbildlich. Wolle hörte Young und Zeppelin. Er hatte sich selbst ein Drumset aus alten Kaffeedosen, Persileimern und selbstgelöteten Klanggeneratoren für Hi Hat und Bassdrum  gebaut, und wenn er kein Schlagzeug greifbar hatte, was aus nahe liegenden Gründen meistens der Fall war, imitierte er Fill Ins, Rhythmen und Beckenzischen mit dem Mund, lange bevor es das Wort beatboxen überhaupt gab.

Wolle stammte aus einer Arbeiterfamilie aus der Vorstadt, trug die glatten, dunkelbraunen Haare lang, und sah wegen seiner ausgeprägten Wangenknochen wie ein Indianerhäuptling aus. Im Heizungskeller der Eltern hatte er einen Bandraum mit selbstgebauten Gitarren aus Besenstilen, Gummibändern und Mikrofonen installiert, die er über riesige, aber billige und laute Verstärker von Renkforce dröhnen ließ. Wolle nahm grundsätzlich alles auf  Kassetten auf, die wir nach dem Üben unter Gelächter abhörten. In der kalten Jahreszeit war auf jedem zweiten Lied der Startvorgang des Ölbrenners zu hören. Bald gehörte ich zu Wolles Band Eintagsfliege, in der es noch einen Bassisten und einen Typen am selbstgebauten Keyboard gab. Ein Tasteninstrument, das Wolle geschaffen hatte, indem von ihm eine einseitig beschichtete Kupferplatte zu einem riesigen Kamm zurechtgesägt worden war, dessen Zähne auf unerklärliche Weise beim Kontakt mit einem Haufen Drähtchen verschiedene Töne von sich gaben. Als es mit dem Punk losging, änderten wir den Bandnamen auf ETF.

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Lais
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