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[Schreibübung-Wendepunkte] Das Ritual

 
 
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Lilly_Winter
Geschlecht:weiblichEselsohr

Alter: 43
Beiträge: 250
Wohnort: Dortmund


Beitrag30.10.2015 00:01
[Schreibübung-Wendepunkte] Das Ritual
von Lilly_Winter
eBook pdf-Datei Antworten mit Zitat

Dirk stand unter der Dusche und drehte das Wasser auf. Der Strahl spülte den Schweiß fort und hinterließ ein kribbelndes Gefühl auf seiner Haut. Er drehte den Kopf hin und her, bis es laut knackte und sich seine Nackenmuskulatur lockerte. Mit den Händen fuhr er sich mehrmals über das Gesicht, er hatte immer noch das Gefühl die Maske zu tragen. Er hasste sie, aber er konnte das Geld für die Stunden gut gebrauchen. Sie hatten viel geschafft, was ihm sogar ein anerkennendes Schulterklopfen seines AVOs am Ende der Schicht einbrachte, eine Geste, von der Dirk wusste, dass sie äußerst selten vorkam. Doch das Ganze konnte ihm jetzt egal sein, es war Samstag, Zeit für ein Ritual.
Er betrat die große Halle, der Geruch nach Chlor war allgegenwärtig. Durch die Fensterfront schien die Morgensonne, die vorbeiziehenden Wolken spiegelten sich in der Wasseroberfläche des Pools.
Als könne man direkt in den Himmel springen, dachte er.
Der Bademeister saß auf einem Plastikstuhl, las in einer Zeitung, er sah auf und nickte Dirk kurz zu. Bald würde es von Besuchern wimmeln. Kinderlachen, die mahnenden Rufe der Eltern, gepaart mit dem Planschen und Spritzen des Wassers. Keinen Sinn für diesen Moment am Morgen.
Für Dirk war er perfekt. Die Wasseroberfläche unberührt, keine störenden Geräusche. Er wollte untertauchen, hindurchgleiten, das angenehme Ziehen in den Muskeln spüren, wenn er das Training beendete.
Am Beckenrand ließ er die Beine baumeln, beobachtete die ringförmigen Wellen, die auseinanderschoben. Genauso hatte er mit seinem Vater am Pool gesessen, jeden Samstag. Minutenlang hatten sie ausgeharrt, ohne ein Wort, den Blick auf die verzerrten Gesichter gerichtet, bis der Erste hineinsprang und losschwamm. Heute schwamm er alleine. Bei dem Gedanken zog sich sein Brustkorb zusammen, aber er wusste, dass er das Ritual weiterführen musste. Für seinen Vater. Für sich. Vielleicht hatte er auch irgendwann Kinder, einen Sohn, mit dem er ins Schwimmbad gehen konnte.
Er strich eine dunkle Strähne aus der Stirn, glitt am Rand hinab, sog hörbar die Luft ein, sank, bis sich die Oberfläche über ihm schloss. Er hörte die dumpfen Geräusche seiner eigenen Bewegungen. Kleine Luftblasen lösten sich aus den Nasenlöchern und suchten ihren Weg nach oben. Er stieß sich ab, tauchte einen Teil der Strecke. Routiniert holten seine Arme aus, während die Beine den Schub gaben. Am Ende der Bahn drehte er unter Wasser und kraulte zurück. An der Ausgangsposition verschnaufte er einen Moment. Der Bademeister war inzwischen eingenickt, in der Hand die Tageszeitung. Dirk schüttelte den Kopf und drückte sich von dem Beckenrand weg. Nach einer Weile wurden seine Muskeln schwer, aber er schob sich weiter, blendete alles andere aus.
Etwas berührte ihn am Fuß, er stoppte, hielt sich rudernd an der Stelle, suchte die Umgebung ab, doch er sah nichts. Der Bademeister schlummerte friedlich, das restliche Bad war leer.
Dirk glaubte schon an eine Einbildung und wollte gerade losschwimmen, als er es erneut spürte. Erst ganz leicht. Dann umschloss es Dirks Knöchel, zog ihn runter. Er war nicht einmal in der Lage, einen Laut von sich zu geben. Er trat zu, wollte den Angreifer abschütteln, aber der Griff wurde fester. Dirks Lungen protestierten, er strampelte, versuchte den Peiniger zu orten, aber er sah nur seine eigenen Beine.
Für einen Moment löste sich der Griff. Dirk durchbrach die Oberfläche und schnappte nach Luft. Er sah zu dem Bademeister, doch der war verschwunden. An seiner Stelle saß eine schlammfarbene Kröte, sie öffnete ihr Maul und stieß ein hohles „Quak”, aus. Er wurde wieder nach unten gezogen, diesmal krallte sich die unsichtbare Hand fest. Ein stechender Schmerz durchfuhr seine Wade, er sah kleine rote Fäden von seinem Bein wegziehen. Der Kampf ging weiter. Krallen durchschnitten sein Fleisch, färbten das Wasser. Die Schreie erstickten in den aufsteigenden Blasen. Dirk wehrte sich, doch der Drang zu atmen gewann. Seine Glieder zuckten. Ein letztes Mal verlangten seine Lungen nach Sauerstoff und sogen Wasser ein. Der Griff um seinen Knöchel löste sich und er trieb an die Oberfläche.
Er schrie. Fuhr hoch, warf die Decke von sich. Das Herz klopfte wild gegen seinen Brustkorb. Mit zitternden Händen griff er sich an die Kehle, spürte immer noch das Verlangen nach Sauerstoff. Erst nach und nach erkannte er das Krankenzimmer. Die sterile Einrichtung, die piependen Anzeigen. Sein Blick fiel auf das Telefon. Er zögerte, dann griff er den Hörer und tippte die Nummer ein. Achtmal ertönte das Freizeichen, bis er endlich die Stimme hörte: „Kemper?”
„Hallo, Dirk, ich bin es.”
„Papa? Ist alles in Ordnung?”, sein Sohn klang besorgt.
„Mir geht es gut. Ich wollte nur deine Stimme hören”, seine Finger spielten mit der geringelten Schnur.
„Du, Papa, ich wollte gerade los…”
„Dirk … was hältst du davon, wenn du heute das Schwimmen ausfallen lässt und stattdessen hier vorbeikommst?”
„Ist wirklich alles in Ordnung? Haben die Ärzte etwas gesagt?”
„Sie sagen das Gleiche wie gestern. Ich denke nur, dass man nicht so sehr auf Rituale beharren soll. Also, was ist, kommst du?”
„Natürlich komme ich! Ich bin in dreißig Minuten bei dir.”
Er drückte die Taste mit dem roten Hörer und lehnte sich wieder zurück in die Kissen. Er biss sich auf die Unterlippe, der Traum war absurd, die Angst total irrational, dennoch beruhigte es ihn, dass Dirk heute nicht schwamm.
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Lilly_Winter
Geschlecht:weiblichEselsohr

Alter: 43
Beiträge: 250
Wohnort: Dortmund


Beitrag08.11.2015 22:45

von Lilly_Winter
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cry
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Heidi
Geschlecht:weiblichReißwolf


Beiträge: 1425
Wohnort: Hamburg
Der goldene Durchblick


Beitrag08.11.2015 23:44

von Heidi
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Liebe Lilly_Winter,

ich habe die Geschichte gerne gelesen.

Zu Anfang erwähnst du eine Maske. Da es sich um eine Schreibübung handelt, gehe ich nicht davon aus, dass die Geschichte weitergeht. Jetzt frage ich mich, was es nun mit dieser Maske auf sich hat. Sie erscheint im Text, als hätte sie eine große Bedeutung, die sich mir aber nicht erschließt. Vielleicht kannst du das noch genauer ausführen.
Der Wendepunkt – also, dass es sich um einen Traum handelt – ist gut gelöst, nur musste ich den letzten Teil etwa fünf mal lesen, um herauszufinden, wer denn da nun geträumt hat. Ich bin mir immer noch nicht ganz sicher. War es Dirks Vater? Wenn ja, kommt das nicht so rüber, wie es sollte (kann aber auch sein, dass ich heute schon zu müde dafür bin ...)

Was ich richtig toll finde, ist die Sache mit dem Bademeister, der sich in eine Kröte verwandelt. Ich musste bei dieser Passage laut lachen. Insgesamt fände ich es schön, wenn noch mehr so „verrückte“ Sachen im Text auftauchen würden. Der Traum wäre dann mehr als Traum erkennbar, und ich finde, dass das keine negativen Auswirkungen auf den Wendepunkt haben würde.

lg Heidi
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Lilly_Winter
Geschlecht:weiblichEselsohr

Alter: 43
Beiträge: 250
Wohnort: Dortmund


Beitrag09.11.2015 13:11

von Lilly_Winter
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Liebe Heidi,

ich danke dir für deinen Kommentar.

Nach 10 Tagen habe ich die Hoffnung schon fast aufgegeben Embarassed

Es freut mich, das dir meine kleine Übung gefällt.
Die Maske soll eigentlich keine große Bedeutung haben, es geht um eine Atemschutzmaske die in vielen Branchen getragen werden muss, vor allem wenn es um Gefahrstoffe geht. Ich wollte den Leser etwas in die Irre führen, was die Tageszeit angeht. Der Anschein sollte entstehen, dass Prota nach seinem Arbeitstag duscht und erst später deutlich wird, dass er von der Nachtschicht kommt (vielleicht ein Teil, den ich besser ausarbeiten muss).

Zitat:
Der Wendepunkt – also, dass es sich um einen Traum handelt – ist gut gelöst, nur musste ich den letzten Teil etwa fünf mal lesen, um herauszufinden, wer denn da nun geträumt hat. Ich bin mir immer noch nicht ganz sicher. War es Dirks Vater?


Richtig, Dirks Vater hat den Traum. Eine Verwirrung war schon von mir geplant, die Frage ist die, wie es beim Leser ankommt, deswegen Müdigkeit hin oder her, für mich ein Punkt, über den ich nachdenken muss Smile

Es freut mich, dass dir die Bademeisterszene gefällt, ich war mich nicht sicher, ob ich sie hätte streichen sollen. Ob es mehr "verrückte Sachen" geben sollte, da bin ich mir nicht sicher, ich werde auf jeden Fall darüber nachdenken, ob und wie ich das umsetzen könnte.

lg Lilly
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Graven
Geschlecht:weiblichEselsohr


Beiträge: 281



Beitrag09.11.2015 14:00

von Graven
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Hallo Lilly

Erst einmal gefällt mir Dein Schreibstil, du benutzt alle Sinne, man befindet sich unmittelbar am Ort des Geschehens. Die Geschichte gefiel mir, bis dann die Wende kam. Ich war verwirrt, bekam erst nach mehrmaligen lesen mit, dass Du die Perspektive gewechselt hast. Tut mir leid,aber das war keine gute Überraschung, weil es im ersten Teil nicht angedeutet wurde, dass der Vater noch lebt, usw. Der Wechsel war zu unmittelbar.
 
Ich blieb ratlos zurück.

Grüße Graven
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Lilly_Winter
Geschlecht:weiblichEselsohr

Alter: 43
Beiträge: 250
Wohnort: Dortmund


Beitrag09.11.2015 23:32

von Lilly_Winter
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Hallo Graven,

ich danke auch dir für deinen Kommentar. Es freut mich, dass dir der Stil gefällt.
Der Punkt mit der Wende, ich habe gezielt darauf geachtet, dass das Leben/Ableben des Vaters im Unklaren bleibt, um die Wende überraschender zu gestalten und habe auch die Ratlosigkeit provoziert, aber das sollte natürlich nicht negativ ausfallen.
Aber das ist ja immer die große Frage, kommt das was ich schreibe an (und ich gestehe, dass ich mehrfach auch darüber nachgedacht habe, ob ich es wirklich so schreiben will ^^)

lg Lilly
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manon
Geschlecht:weiblichLeseratte

Alter: 57
Beiträge: 111



Beitrag07.05.2017 11:25

von manon
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Hallo Lilly_Winter,

ich habe deine Geschichte gern gelesen. Es handelt sich um einen Vater, der im Albtraum das Ritual sieht, welches er mit seinem Vater immer vollzog und an seinen Sohn weitergab. Da ihm dieses im Traum zum Verhängnis wird, ändert er seine Einstellung zu dem Ritual und erkennt, dass der persönliche Kontakt wichtiger ist, als ein stummes Ritual.

Die Wendepunkte hast du schön eingearbeitet, da du vom Schwimmen zum Albtraum übergehst, wo ein Bademeister zur Kröte wird. Anschließend ist der nächste Wendepunkt, der, dass der Protagonist im Krankenhaus liegt und schwerer krank/verletzt ist.

Ich hoffe, du bist hier noch aktiv und liest meine Antwort noch. Smile
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Lilly_Winter
Geschlecht:weiblichEselsohr

Alter: 43
Beiträge: 250
Wohnort: Dortmund


Beitrag07.05.2017 12:27

von Lilly_Winter
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Hallo manon,
ich glaube aktiv ist das falsche Wort, aber regelmäßig hier Laughing

Ich freue mich, dass du den Text ausgegraben hast, denn noch heute muss ich darüber lächeln. Er ist entstanden, als meine Tochter ihr Seepferdchen gemacht hat. Mit den anderen Eltern saß ich in einem separaten Raum, und wir konnten über ein große Leinwand unsere Kinder beim Schwimmen beobachten. Ich glaube, ich habe den Schwimmlehrer später etwas seltsam angestarrt. Lag vielleicht am schlechten Gewissen, weil ich ihn in meiner Geschichte getötet habe. Twisted Evil Die Äußerlichkeiten habe ich zwar verändert, aber er war es, der mich dazu inspiriert hatte. angel
Deine Interpretation gefällt mir. Ich hatte zwar gedacht, dass der Vater davon träumt, bereits gestorben zu sein, und sein Sohn stirbt, während er versucht das Ritual beizubehalten. Deine Variante gefällt mir aber auch sehr gut.^^

Liebe Grüße
Lilly
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