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Kino Vollbart Eselsohr
Beiträge: 236
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30.04.2008 11:02 Reflexion von Kino Vollbart
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Reflexion
Etwas ist anders.
Im Badezimmer trat ich vor den Spiegel.
Blinzeln. Dicke Augenlider. Was war anders an meinen Augen?
Vielleicht die Dämmerung.
Ich schaltete das Licht ein.
Das Andere in meinen Augen nahm zu. So sehr, dass ich erschrak. Wie ein Fremder blicke ich mir entgegen.
Ich erwachte am Morgen noch vor der Sonne. Sie hatte verschlafen.
Was war anders an meiner Wohnung?
Ich war Linkshänder?
Öffnen der Kühlschranktür. Was ist anders? Was?
Die Schatten sahen seltsam aus. Ich putzte meine Zähne mit der linken Hand. Aber mit Rechts ging es nicht. Staksiges Rühren.
Was ist anders an meinem Gesicht?
Als ich aus dem Fenster sah, war dort keine Straße. Ein willkürlicher Ausschnitt der Häuserfront gegenüber schwebte im Nichts.
Ich konnte mich lange Zeit nicht vom Sofa erheben.
Was ist das?
Zittern in den Gelenken. Pochendes Herz.
Wieso rechts?
Ich blicke in den Garderobenspiegel. Anders.
Wohnungstür. Als ich öffnete, lag dort ein Flurausschnitt im Nichts.
Was war hier los?
Ich machte einen furchtsamen Schritt auf die Überreste des Hausflures, der nach beiden Seiten ersatzlos verschwand.
Das ist Isolation.
„Was ist das?“ Ich zitterte noch immer.
Der fremde Mann im Spiegel bin ich?
Die Wohnung erstreckte sich in drei Richtungen hinter drei Spiegeln. Und doch hatte ich ein Bewusstsein.
Gefangen zwischen den Überresten der Welt.
„Ich kann nicht hinaus,“ sagte ich.
„Ich kann nicht hinaus?“ sagte der Mann. Er lächelte sogar.
Wer war er?
Ich blickte auf fein säuberlich abgetrennte Hauswände. Im Rücken stand der Mann und schwieg. Aber ich spürte ihn lächeln.
Ich erwachte in der Nacht, nachdem ich nicht geschlafen hatte.
Es verstrich die Zeit.
Unruhig schlich mein Spiegelbild durch die Zimmer. Verstohlen blickt es mich an.
Wo sind die Anderen?
Welche Anderen?
„Das ist es also,“ sagte ich, nicht unbedingt zu ihm. Ich blickte starr in den Spiegel.
Hingeworfen auf mich selbst.
Jetzt erkannte ich mich, dort bin ich. Aber wer war hier, auf der anderen Seite?
Was mache ich dort?
Warten, dass ich mich freigab.
„Ist das Vertrauen? Sich verschwinden lassen im Nichts?“
Über Pathos kann er nur lächeln. Und über Angst. Und über Zweifel.
Und über Verzweiflung lächelt er.
Sein Blick ist vom Vorrübergehen der Stäbe so müd’ geworden, dass ihn nichts mehr hält. Ihm ist, als ob es tausend Stäbe gäbe. Und hinter tausend Stäben keine Welt.
Draußen regnet es auf 20 Kubikmetern Welt.
Hier stehe ich. Nackt und bloß. Er sieht drei Menschen, aber ein Bewusstsein. Was wird er tun? Wundert er sich? Ist er?
Ich habe keinen Hunger. Und keinen Durst. Aber er isst und trinkt. Und ich schmecke nichts.
Ich bin hier. Aber wer ist dort? Wer ist das?
Gefangene Reflexion. Reines Licht.
Mit der Faust gegen das Glas, angehalten von seiner Faust. Hand gegen Hand. Dort suchen seine Augen meine. Und finden nichts?
Was finde ich?
Meine Hand verbinden, aber sein Bild ist in Scherben. Meine Welt schrumpft ohne Wirklichkeit.
Ich bin das Bild!
Ist das Vertrauen? Sich verschwinden lassen im Nichts?
Seine Ruhe schwebt im Raum wie ein Duft, den ich nicht rieche.
Was ist Vertrauen?
Das Vertrauen in sein Bestehen.
Das Vertrauen in sein Bestehen, des Mannes im Spiegel.
Die Hand auf der Klinke, blicke ich in den Spiegel. Ich sehe keine Angst.
Angst. Sieht er sie?
Dort draußen ist der Flur. Ein winziger Ausschnitt im Spiegel. Und hinter dem Ausschnitt ist er blind.
Weitere Werke von Kino Vollbart:
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Gast
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30.04.2008 11:15
von Gast
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Interessant. Wirklich sehr interessant. Eine Reflexion über die Reflexion. Wie ist das im Spiegel?
Das Rilke-Zitat finde ich etwas unpassend. Denn da geht es nicht um Spiegel und auch nicht um Reflexion. Ein schönes Zitat, aber hier nicht unbedingt angebracht. Auch wenn es eine gewisse Übereinstimmung gibt. Dennoch geht es um zwei völlig verschiedene Dinge. Ich würde mich auf den Spiegel konzentrieren, das Zitat lenkt ab und führt in eine andere Richtung.
Ansonsten: Beeindruckend.
Liebe Grüße
Angela
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lupus Bücherwurm
Alter: 56 Beiträge: 3913 Wohnort: wien
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30.04.2008 12:11
von lupus
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das is ja so gar nicht mein Stil (weder aktiv - weil ich's gar nicht könnt - noch passiv) un ich hatte Probleme in den Text einzutauchen.
Aber: der Text steht ja für sich allein und kann mE kaum Teil eines größeren Ganzen sein, also --> öfter lesen. So wird's dann auch zu einem Genuß, der auch trotz einer ziemlich genauen Beschreibung - viel Platz für die eigene Phantasie läßt. Handwerklich famos.
Chapeau!
lg
Wolfgang
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Merlinor Art & Brain
Alter: 72 Beiträge: 8667 Wohnort: Bayern
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01.05.2008 02:47
von Merlinor
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Das ist nicht meine Art zu denken. Das ist nicht meine Art zu schreiben.
Aber das ist gut.
Eine ziemlich üble Art zu erwachen und sich seiner selbst und der Welt nicht mehr sicher zu sein. Reflexionen im Spiegel.
Zitat: | „Ich kann nicht hinaus,“ sagte ich.
„Ich kann nicht hinaus?“ sagte der Mann. Er lächelte sogar. |
Böse Sache das ... Gerne gelesen.
Herzlich
Merlinor
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MosesBob Gehirn²
Administrator Alter: 44 Beiträge: 18339
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03.05.2008 11:33
von MosesBob
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Hallo Kino!
Das ist eine Erzählung in lyrischer Form, düster, dicht und nahegehend, aber schwierig für mich zu kommentieren. Man muss sich wirklich damit auseinandersetzen, um die Gedankengänge und die Metaphorik, die du einsetzt, zu begreifen und in der ganzen Spannbreite zu erfassen … zumindest ging es mir so. Setzt man sich damit auseinander, eröffnen sich völlig neue Welten und Blickwinkel und eine wirklich beklemmende Atmosphäre. Ein satter Pluspunkt dafür. Sprachlich schwankt der Text für meinen Geschmack zwischen erstklassigen Formulierungen („Flurausschnitt im Nichts“, „Ein willkürlicher Ausschnitt der Häuserfront gegenüber schwebte im Nichts“), die du schnörkellos auf den Punkt gebracht hast; schmückendes Beiwerk findet man hier nicht, und das ist gut. Es komprimiert den Text. Auf der anderen Seite finde ich manche Stellen zu abgehackt. Die Erzählweise hat was von einem Morgen danach, von Konfusion und mentalem Exil.
Ob ich diesen Text jetzt gut oder schlecht finde, kann ich nicht sagen, weil er eine Entscheidung zwischen diesen Extremen bei mir nicht zulässt. Aber ich finde ihn außergewöhnlich und verdammt tief.
Beste Grüße,
Martin
_________________ Das Leben geht weiter – das tut es immer.
(James Herbert)
Die letzte Stimme, die man hört, bevor die Welt untergeht, wird die eines Experten sein, der versichert, das sei technisch unmöglich.
(Sir Peter Ustinov)
Der Weise lebt still inmitten der Welt, sein Herz ist ein offener Raum.
(Laotse) |
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Hardy-Kern Kopfloser
Alter: 74 Beiträge: 4832 Wohnort: Deutschland
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03.05.2008 22:17
von Hardy-Kern
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Ohne Zweifel gut geschrieben, Kino,
aber mit fehlt der Hintergrund der Betrachtung. Ich kotze mich auch an,
wenn ich vor meinem Rasierspiegel stehe. Aber den Grund kenne ich; ich
werde alt. Hier, bei dir kann ich nichts erkennen. Sehe auch nicht ein,
Phantasiepunkte zu vergeben.
Hardy
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Kino Vollbart Eselsohr
Beiträge: 236
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05.05.2008 19:39
von Kino Vollbart
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Hi.
Vielen Dank für Eure im Allgemeinen positiven Rückmeldungen.
Der Text ist in der Tat nicht ganz einfach, und wenn Du schreibst, MosesBob,
MosesBob hat Folgendes geschrieben: | Die Erzählweise hat was von einem Morgen danach, von Konfusion und mentalem Exil. |
trifft das den Nagel auf den Kopf. Was die Stimmung angeht.
Hardy-Kern hat Folgendes geschrieben: | Hier, bei dir kann ich nichts erkennen. |
Nun, dann hat der Text es nicht geschafft, Dich zu erreichen. Denn mit ein bisschen Mühe kann man da was erkennen.
ru
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MosesBob Gehirn²
Administrator Alter: 44 Beiträge: 18339
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09.05.2008 18:06
von MosesBob
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Moin Kino!
Kino Vollbart hat Folgendes geschrieben: | Hi.
Vielen Dank für Eure im Allgemeinen positiven Rückmeldungen.
Der Text ist in der Tat nicht ganz einfach, und wenn Du schreibst, MosesBob,
MosesBob hat Folgendes geschrieben: | Die Erzählweise hat was von einem Morgen danach, von Konfusion und mentalem Exil. |
trifft das den Nagel auf den Kopf. Was die Stimmung angeht. |
Jupp, das war voll und ganz auf die Stimmung gemünzt. Dieses Weggetretene, Neben-sich-Stehende und Verquere spiegelt der Text sauber und absolut glaubwürdig wider.
Grüße,
Martin
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Die letzte Stimme, die man hört, bevor die Welt untergeht, wird die eines Experten sein, der versichert, das sei technisch unmöglich.
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