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Autor |
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Renate Neff Gänsefüßchen
Alter: 78 Beiträge: 21 Wohnort: Rheinland
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29.12.2016 18:01 Der alte Baum von Renate Neff
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Der alte Baum
Der alte Baum steht schief im Wind
Der stetig bläst vom Meer
Und ihn beugt von Westen her
Seit er ein Keimling war, ein Kind.
Nicht aufrecht frei dem Lichte zu
Entfaltet sich das Blätterdach
Die Äste wachsen lang und flach
Windabgewandt dem Lande zu.
Lang weiß er’s schon seit jenem Mai:
Bäume wachsen stolz und hoch.
Welch krummes Unding bist du doch!
Gelacht hat’s ihm der Möwe Schrei.
Scham lässt ihn sich tiefer beugen –
Da ist in träumerischer Nacht
Ein kleiner Buchfink aufgewacht –
Im Blätternest, im dunklen Schweigen
Hab ich ihn leise zwitschern hören
Das hat die Meisen aufgeweckt
Hat Eul’ und Grillen aufgeschreckt –
Ich war dabei, ich kann’s beschwören!
Glockenblumen klingeln leise
Durch die Heide fegt der Wind
Die Zeit zum Augenblick gerinnt
Der Mond scheint kalt und weise.
Die helle Nacht den Baum betört
Ihm wird so wundersam, so eigen
Von den Wurzeln zu den Zweigen
Weiß er, dass er hierher gehört.
Stolz reckt er sich in seinen Ringen
Fühlt selig ungekannte Kraft
Durch seine Adern schießt der Saft
An den Zweigen Knospen springen.
Der alte Baum steht seltsam quer –
Lass anderswo die Bäume ragen
Hör ich ihn leise knarrend sagen
ICH STEH HIER UND ICH STEH QUER!
Weitere Werke von Renate Neff:
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Soleatus Klammeraffe
Beiträge: 967
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30.12.2016 21:50
von Soleatus
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Hallo Renate!
Der Grundgedanke trägt sicherlich; trotzdem "packt" mich der Text nicht. Ich überlege schon seit gestern, woran das liegen könnte; und bin auf eine ganze Reihe von Punkten gekommen.
- Der Text lässt dem Leser keinen Raum, weil er alles auserklärt. Wenn in der ersten Strophe die Dinge "andersherum" genannt werden, also ...
Der Wind bläst stetig vom Meer
Der alte Baum steht schief
... dann hat der Leser zu tun, er muss mitgestalten und für sich das eine als die Folge des anderen erkennen; die tatsächlichgewählte Reihenfolge zwingt ihn, als unbeteiligter Zuschauer außen vor zu bleiben, das "beugt" wird ausgesprochen und nicht dem Leser überlassen.
- Dieses "Auserklären" findet sich auch in Dopplungen wie:
Windabgewandt dem Lande zu
"Windabgewandt" muss "dem Lande zu" bedeuten, da du vorher festgestellt hast, dass der Wind stetig vom Meer bläst; wieder bleibt dem Leser kein Raum.
- Nicht ganz dasselbe, aber: es geht Platz und Wirkung verloren dadurch, dass sehr erwartbare Verben stehen - der Wind "bläst". Das erwartet man, gleich an zweiter Stelle nach "weht", das steckt sozusagen im Wind mit drin und ist dem Leser auch bewusst; da kann also ruhig anderes stehen, was den Vorgang erstens deutlicher macht und zweitens den Leser in seiner Aufmerksamkeit fordert.
- Der Text legt "falsche Fährten" (oder zumindestens solche, denen ich nicht zu folgen weiß). Der Buchfink, die Meisen, Eulen, Grillen: Das ist wirklich gut gemacht, nur: Warum? Meiner Wahrnehmung nach wird all das einfach fallengelassen und der Text kehrt wieder zum Baum zurück.
In Fragen des Versbaus bin ich mir auch bei manchem nicht sicher, aber das mögen Geschmacksfragen sein.
- Die helle Nacht den Baum betört / Ihm wird so wundersam, so eigen
Gefühlt wählte ich da eher den Nebensatz, "Als helle Nacht den Baum betört, wird ihm so wundersam, so eigen"; die Wortstellung ist naheliegender, der Fluss besser meinem(!) Empfinden nach.
- Seit er ein Keimling war, ein Kind. Solche Nachstellungen schmecken immer nach "Reimbeschaffungsmaßnahme". Außerdem ist's, siehe oben, eine Überverdeutlichung.
- ICH STEH HIER UND ICH STEH QUER! Für mich (und ich glaube, für viele andere auch) hat durchgänggige Großschreibung eine Verbindung mit "Schreien", "Aufmerksamkeit verlangen"; das passt hier sehr schlecht zum "leisen Knarren". Ich denke, es geht mehr um "Nachdruck"; um "Gewissheit"; aber da müsstest du eine andere Lösung finden, denke ich.
- Der Wechsel zwischen betonten und unbetonten Silben am Versanfang greift zusammen mit dem Wechsel der männlichen und weiblichen Reime am Versende die Einheit der Strophe stark an, so dass es schwer fällt, sie als sich wiederholende Grundeinheit wahrzunehmen. Nicht unmöglich; aber etwas weniger wäre da mehr, meinem Geschmack nach.
Gruß,
Soleatus
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