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Nathan


 
 
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Abifiz
Geschlecht:männlichEselsohr


Beiträge: 236
Wohnort: Deutschland, in Nähe von Marburg seit 2007


Beitrag06.12.2016 00:57

von Abifiz
Antworten mit Zitat

Hi Leveret.

Bin schwer beeindruckt, wirklich!

Wird aber schwere Arbeit sein, darauf einzugehen. Nehme mir nach und nach vor. Ein Kommentar von mir kommt also erst morgen oder noch später. Meine Kräfte sind halt soso lala...

Schon jetzt kurz: "Kennst Du den Film?" (Nicht "Filmen".) Und "Casablanca" ist kein Mafiafilm. Es ist ein Film über Frankreich  (bzw. eigentlich das französische Marokko) in der Vichy-Zeit. Das französische Vichy-Regime kollaborierte mit dem 3.Reich.

Bis demnächst
Abifiz


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Meine sehr kluge Signatur befindet sich noch in der Herstellungsphase. Falls keine gravierenden Inkompatibilitätsprobleme auftauchen werden, rechne ich mit ihrer Lieferung für das 1. Quartal 2034. Ich danke Ihnen für Ihr Vertrauen.
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Leveret Pale
Geschlecht:männlichKlammeraffe

Alter: 25
Beiträge: 786
Wohnort: Jenseits der Berge des Wahnsinns


Beitrag06.12.2016 07:28

von Leveret Pale
Antworten mit Zitat

abifiz hat Folgendes geschrieben:
Hi Leveret.

Bin schwer beeindruckt, wirklich!

Wird aber schwere Arbeit sein, darauf einzugehen. Nehme mir nach und nach vor. Ein Kommentar von mir kommt also erst morgen oder noch später. Meine Kräfte sind halt soso lala...


Vielen Dank! Warte vielleicht mit deinem Kommentar noch etwas ab. Ich habe gestern den halben Tag verbracht den Text dank Selannas Anmerkungen komplett zu überarbeiten und zu schleifen. Macht jetzt wenig Sin, wenn du dich jetzt durch die unverbesserte Version ackerst.

@Selanna Vielen, vielen, vielen Dank für die viele Arbeit und die Kommentare. Ich werde auf deine Fragen heute Abend eingehen.

Zitat:

Es ist nicht schlecht, das wollte ich keinesfalls sagen. Der Text ist eine gute Basis, auf der Du einiges aufbauen kannst. Aber es fehlt noch etwas Feinschliff, denke ich.

Ja, das sehe ich auch so. Deswegen bin ich ja hier in der Werkstatt damit aufgeschlagen.

- Leveret
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Abifiz
Geschlecht:männlichEselsohr


Beiträge: 236
Wohnort: Deutschland, in Nähe von Marburg seit 2007


Beitrag06.12.2016 07:57

von Abifiz
Antworten mit Zitat

Danke für Deine rechtzeitige Zwischenmitteilung.

Ich warte ab.


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Leveret Pale
Geschlecht:männlichKlammeraffe

Alter: 25
Beiträge: 786
Wohnort: Jenseits der Berge des Wahnsinns


Beitrag06.12.2016 20:51

von Leveret Pale
Antworten mit Zitat

Mit der Überarbeitung bin ich noch nicht ganz fertig. Es ist sehr viel, was an dem Text verbessert und umgebaut werden muss. Danke für den vielen Input. Ich stelle morgen Abend die komplette, neue überarbeitete Fassung ein, ok? Jetzt nur die Antworten auf die Frage.
Es hat vor allem so lange gedauert, weil ich alle Vorträge von Nathan jetzt zerschmettert und zu Dialogen umgebaut habe.

Abgesehen davon, ist mir aufgefallen, dass die ganzen Kursivsetzungen beim Kopieren aus Papyrus ins Forum nicht übertragen werden. Das hat wahrscheinlich stellenweise für etwas Verwirrung gesorgt.

Zitat:
Es ist nicht schlecht, das wollte ich keinesfalls sagen. Der Text ist eine gute Basis, auf der Du einiges aufbauen kannst. Aber es fehlt noch etwas Feinschliff, denke ich.

Danke. Meiner Meinung nach fehlt aber, vor allem wenn ich mir deine Anmerkungen durchlese, nicht nur etwas Feinschliff, sondern noch sehr viel Grob- und Feinschliff.

Zitat:
Pink Floyd

Kennt, um ehrlich zu sein, von den unter 18-jährigen heutzutage kaum noch jemand, höchsten vom Namen her irgendwo entfernt. Man hat vielleicht mal in der achten Klasse oder so den Filmausschnitt aus "The Wall" bzw. das Musikvideo zu "Another Brick in the Wall" gesehen, aber das wars schon. Letztes Jahr hat es glaube ich sogar der Schulsozialpädagoge mit einer E-Gittarre auf dem Schulsommerfest gespielt. Die meisten meiner Gleichaltrigen faden es einfach lustig, dass der "alter Mann da vorne einen auf Rockstar macht und irgendso ein lahmes Lied aus dem letzten Jahrtausend grölt".

Zitat:
[Kratom meinst Du, oder? Bisher war nicht bekannt, dass Nathan Ritalin genommen hätte], sondern kam auch[WW] tatsächlich aus der Vorstadt [der Gegensatz zwischen Ritalin und Vorort Unterhaching ist nicht so eingängig. Du willst eher auf die Unterhachinger Drogenszene hinaus, denke ich - oh mein Gott, in Unterhaching? Echt? Wusste ich nicht - , das solltest Du klarer umformulieren]

Also eigentlich bezog ich mich auf den Songtext von Jesus of Suburbia, der von einem Punk in einem Vorort handelt, der seine Jugend damit verbracht hat, sich mit Ritalin zuzudröhnen. Ich muss wahrscheinlich hier noch einmal den Kontext klarstellen.
Und natürlich gibt es auch in einem 25.000 Seelen "Kaff" wie Unterhaching eine Art Drogenszene, wobei deren Brennpunkt vor allem am LMGU (bekannt als Filmkulisse des Filmes Fuck ju Ghöte) und dem angrenzenden Sozialwohnungsghetto im Nachbarort Taufkirchen liegt. Klar ist das nicht so wie in Frankfurt, aber in Unterhaching bin ich aufgewachsen und kann das - obwohl ich selber kein Konsument bin, also niemals Teil der Szene war, sondern nur Zuschauer -  besser beschreiben, als Frankfurt - wo ich nie war. Drogen sollen aber in diesem Roman nicht  die Hauptrolle spielen, das wird kein "Kinder von Bahnhof Zoo". Kratom und Co. sind anfangs die Mittel mit denen Nathan Daniel "verführt", was danach kommt, hat wenig damit zu tun.

Zitat:
[ich muss noch einmal darauf zurückkommen: denkst Du wirklich, Unterhaching bietet sich an, es als Anarchostadt darzustellen? Findest Du Unterhaching so viel abgedrehter als DAH, EBE, Neubiberg, Germering etc
.
Nein. Ich werde das auch noch etwas abschwächen, ich wollte nur einen Handlungsort, den ich gut kenne und den ich daher detailliert beschreiben und für die Handlung nutzen kann. Unterhaching ist bei weitem nicht so abgedreht, es ist eher ein langweiliges Kaff, abgesehen von gelegentlichen Randalen durch gelangweilte Jugendliche, - wobei es gefühlt die höchste Dichte an Altersheimen in der "Region" hat. Realität spielt aber in diesem Roman auch nicht so eine große Rolle. Ich habe ja am Anfang geschrieben, dass es ein surrealistischer Roman ist und in die Genrebeschreibung nicht grundlos ScienceFiction eingefügt. Als Horror/Phantastik-Autor fällt es mir schwer, an der Wahrheit zu bleiben und desto weiter die Handlung fortschreitet, desto weniger wird an diesem Roman etwas rational und realistisch bleiben.
Zitat:

Ein Anti-Drogen-Roman wird es eher nicht. Aber reflektierst Du Nathans Drogenkonsum noch? Willst Du die Drogen rein positiv als bewusstseinserweiterndes Mittel darstellen, das Daniel die höhere Erkenntnis bringt?

Erkenntnis wird es in diesem Buch nicht geben, nur ein stetiges Abdriften in einen nihilistischen Wahn. Es ist keine seriöse Literatur, auch wenn Nathan gerne vor sich hindoziert. Deswegen muss ich jetzt auch das Dozieren reduzieren.
 Die negativen Seiten des Konsums werden auch dargestellt, aber prinzipiell wird der Konsum in den Hintergrund rücken. Das Geschwafel wird immer abgehobener, die Ereignisse irriger und die Realität "zerbröckelt" - habe ich nicht oben erwähnt, dass Zombies vorkommen? Und das Necronomicon? Und Jesus? Nur die ersten zwei Kapitel sind halbwegs "sane". Ich habe es irgendwie als Ausgleich zu dem düsteren und ernsten Darkfantasyroman geschrieben, der zurzeit im Korrektorat liegt, und der philosophischen Dystopie, die noch seriöser war, die ich davor geschrieben habe.
Zitat:

 Ich habe sehr große Zweifel, ob Unterhaching eine passend durchgeknalle Drogenszene bietet.

Es müssen ja nicht gleich Heroinjunkies und Crackraucher als Kulisse dienen. Die Banden hoffnungloser Jugendlicher, die sich andauernd mit Kodein, Ritalin, Cannabis, Alkohol, 2CB und MDMA wegknallen, und die man in Haching oft genug sieht, sind auch verrückt. (Heroin wird soweit ich weiß, in dieser Region, fast ausschließlich in Taufkirchen konsumiert und gehandelt, wobei das in Bayern eh rar ist und der Opioidmarkt von Fentanyl, Tramadol und anderen Medikamenten dominiert wird, dafür hat München doppelt so viele Drogentote jedes Jahr wie Frankfurt. Fentanyl ist halt 100mal potenter als Heroin und entsprechend einfach zu dosieren. Ich denke auch nicht, dass das Drogenproblem in München kleiner, als in Frankfurt ist. Die bayrische Polizei geht halt drakonischer vor und drängt alles ins Private zurück, sodass zumindest der Schein einer sauberen Stadt entsteht.) Wobei die jetzt keine große Rolle spielen in der Geschichte, wie gesagt, Drogen allgemein spielen im gesamten Roman eher eine untergeordnete Rolle.
Ich bin froh, nicht mehr Schüler in Unterhaching zu sein. Der Ort hat doch ein paar mehr Löcher im Dach, als die meisten anderen, an denen ich mich seitdem herumgetrieben habe.
Zitat:

Somerset Maugham

Kenne ich nicht. Werde ich vielleicht mal nachholen.
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Abifiz
Geschlecht:männlichEselsohr


Beiträge: 236
Wohnort: Deutschland, in Nähe von Marburg seit 2007


Beitrag06.12.2016 23:46

von Abifiz
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Solltest meiner Meinung nach unbedingt!

Ein fast perfekter Erzähler zynischer Verwicklungen. Könnte Dir durchaus einiges aufzeigen!


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Selanna
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Beitrag07.12.2016 08:06

von Selanna
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Okay. Also spielen Drogen gar keine so große Rolle für den Roman, das hatte ich anders eingeschätzt. Dann vergiss die Kommentare dazu. Ich hatte auch gedacht, dass Unterhaching tatsächlich zu einem zweiten Bahnhof Zoo wird, aber das scheint ja auch nicht der Fall zu sein. Dann streich einfach auch die Anmerkungen dazu Smile

Liebe Grüße
Selanna


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Nur ein mittelmäßiger Mensch ist immer in Hochform. - William Somerset Maugham
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Leveret Pale
Geschlecht:männlichKlammeraffe

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Beiträge: 786
Wohnort: Jenseits der Berge des Wahnsinns


Beitrag07.12.2016 21:43

von Leveret Pale
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So, hier ist Kapitel 2 überarbeitet:

Am dritten Abend der Fahrt hatten wir frei und alle aus unserer Schule gingen zur Spree feiern.
Nun ja, fast alle. David, der auch in meinem Zimmer war, sagte und tat wie immer nichts. Er lag einfach auf seinem Bett und hörte Bach oder Beethoven oder was auch immer. Er war halt ein introvertierter Autist, glaubte ich zumindest damals. Er sprach nie mit irgendjemanden aus unserer Klasse, nur durch seine Meldungen im Unterricht wussten wir, dass er nicht stumm war.
 Und noch jemand wollte nicht mit, nämlich Nathan, was mich irgendwie wunderte. Zum ersten Mal fragte ich mich, was dieses Wesen eigentlich machte, während wir feierten, wohin Nathan verschwand, wenn wir auf Ausflügen waren, und was er dachte und fühlte, und, ob er wirklich so verrückt war, wie wir alle glaubten.
Ich machte mich gerade in unserem Zimmer fertig für die Feier, als mir diese Gedanken kamen. Ich schielte zu Nathan hinüber.
Er lag auf seinem Bett, nur in Boxershorts, in seinem Mundwinkel steckte ein qualmender Joint und auf seiner flachen Brust lag ein Buch. Irvin Yalom, irgendetwas mit Psychoanalyse und Existentialismus.
Luis stand bereits in der Tür, kämmte seine blonden, aufgestylten Haare und betrachtete sich selbst in der Kamera seines iPhones.
„Ähm, Nathan“, fragte ich zögerlich. Es waren die ersten Worte, die ich jemals an ihn gerichtet hatte. Er reagierte nicht. „Kommst du mit zur Spree?“
Ohne von dem Buch aufzusehen, antwortete er: „Wozu?“
„Du weißt schon, saufen, kiffen. Spaß haben. Wir haben Unmengen an Wein und Bier. Ludwig hat sogar Gras, also wenn du mehr willst. Wir machen halt Party.“
„Klingt langweilig“, sagte Nathan, zog an seinem Joint und nahm ihn aus dem Mund, um ihn über einem Aschenbecher, der neben seinem Bett lag, abzutippen. Er sah mich noch immer nicht an, atmete aus und sagte: „Alkohol ist scheiße. Tut euch so einen Dreck nicht an.“
„Saufen ist geil“, rief Luis „Kommst du jetzt? Es ist doch besser, wenn der Irre hier bleibt.“
„Warte“, entgegnete ich und plötzlich durchdrangen mich die leuchtend blauen Augen Nathans. Ich war überrascht, und für einen Moment stockte mein Atem. Ich spürte die sezierende Kälte seines Blicks auf mir und wollte mich abwenden, aber im selben Moment, befahlen mir Nathans Augen weiterzusprechen. Ich gehorchte, wie ich später oft gehorchen sollten, wenn mich der Blick treffen würde. „Was ist daran langweilig? Es macht Spaß. Ich dachte, du wärst ein Partylöwe. Ich habe von der Hausparty bei dir vorletztes Jahr gehört. Das soll der Hammer gewesen sein. Und was ist schlecht an Alkohol?“ Ich konnte es nicht fassen. Der wahrscheinlich größte Junkie der Schule hatte einen Joint im Mundwinkel und erklärte mir, Alkohol wäre Dreck. Ich wollte das nachvollziehen.
Nathans Blick sezierte mich, tiefer. So musste sich eine Zwiebel fühlen, wenn man sie schälte, fürchterlich. Nathan Stimme war scharf und es schwang ein feindseliger Unterton mit: „Alkohol ist ein Gift, es tötet Zellen in deinem ganzen Körper und versetzt dich in ein ekelerregendes Delirium. Es macht dich zu einem dummen, kotzenden Idioten, der keinen gescheiten Satz mehr auf die Reihe bringt. Null Mehrwert.
Und Partys langweilen mich schon seit Jahren. Inhaltlose kollektive Zeitverschwendung, von der ich nur Kopfschmerzen kriege.“
„Sagt der Typ mit einem Joint in der Hand“, rief Luis.
„Ist medizinisches Cannabis. THC-frei, macht nicht high. Es enthält nur gesundes Cannabidiol. Ich rauche das nur wegen dem Geschmack und wegen der gesundheitsfördernden Wirkung.“
„Ah, was auch immer du laberst. Kommen, gehen wir“, drängte Luis. Er war ungeduldig, er wollte saufen und Mädchen aufreißen. Das hatte ich wenige Minuten zuvor auch noch gewollt, aber nun glaubte ich, dass Nathan interessanter sein könnte. Ich hatte das Gefühl an einer Schwelle zu etwas viel Größerem zu stehen, zu einer anderen Welt, in die nur Nathan mich führen konnte. Tief in mir drin sehnte sich irgendetwas schrecklich danach, über diese Schwelle zu treten, wie Alice dem Kaninchen einfach ins Wunderland zu folgen. Ich traf eine Entscheidung.
„Ich bleibe hier“, sagte ich.
 Luis starrte mich an, als hätte ich gerade verkündet, Lepra wäre keine Krankheit, sondern ein geiler Lifestyle. Dann zeigte er mir den Vogel und rief beim Hinausgehen „Du hast dich bei dem Irren mit einem Hirnschaden angesteckt.“ Die Tür des Hotelzimmers krachte zu.
„Idiot“, sagte Nathan „Und warum bleibst du jetzt hier?“
„Ich ... Ich glaube, dass du recht haben könntest, oder so. Ich will wissen, was du jetzt machst und was besser sein soll als eine Party. Ich will etwas Neues erleben, meinen Horizont erweitern und du bist ja ... Ich will dich nicht beleidigen, aber du ist etwas anders, als die meisten und irgendwie macht mich das neugierig.“
„Anderssein ist in einer kranken Gesellschaft wie dieser nicht selten etwas Wunderbares, also danke für das Kompliment“, sagte Nathan, zog an seinem Joint und blätterte eine Seite um. Ich trat von einem Bein auf das andere.
„Wie hast du das mit Herr Maasen eigentlich gemacht?“
„Ein Zauberer verrät niemals den Zuschauern, wie seine Tricks funktionieren, sonst wäre es ja langweilig“, sagte Nathan.
„Und seinen Schülern?“, fragte ich unwillkürlich. Nathan sah auf und musterte mich. In seinen Augen funkelte eine Mischung aus Neugier und raubtierhaftem Hunger.
„Denen schon, sofern sie soweit sind.“
Ich holte tief Luft. „Okay. Kann ich dein Schüler werden? Zumindest für den Abend“, sagte ich und spürte wie das Blut in mein Gesicht schoss. Ich fühlte mich wie ein kleines Kind, lächerlich. Wozu bemühte ich mich überhaupt, mich bei so einem arroganten Arschloch einzuschleimen?
„Warum nicht“, sagte Nathan und zuckte mit den Schultern „Dann bist jetzt halt mein Schüler.“ Ich spürte ein elektrisches Kribbeln aufsteigen, aber Nathan widmete sich wieder seinem Buch und zog an seinem Joint. Ich stand vor ihm, wartete, er blätterte um, runzelte die Stirn, wohl wegen einer komplizierteren Passage. Ich räusperte mich.
„Ähm, Nathan.“
„Hmm.“
„Du liest doch nicht die ganze Zeit, oder?“, fragte ich bestürzt.
„Nein. Ich hatte eigentlich vor mich mit Kratom zu betäuben, bis ihr von euren Feiern zurück seid.“
„Kratom. Was ist das? Eine Droge?“
„Eine Droge.“ Er stand auf, drückte den Joint aus und ging zu seinem Spind.
 Ich spürte das Adrenalin in meinen Adern kribbeln. Ich stand an der Schwelle zum Wunderland, kurz davor zu springen, aber trotzdem noch verunsichert, ob ich das wirklich wollte. Ich fragte: „Was ist das genau? Ist das illegal, also eigentlich, du weißt, ich ... ähm trinke und kiffe nur gelegentlich. Ich nehme keine harten Drogen.“
„Danach wirst du nicht mehr trinken. Und der Begriff harte Drogen ist Bullshit. Wenn überhaupt, dann ist Alkohol eine harte Droge. Das ist doch höchstens als Desinfektionsmittel vernünftig zu etwas zu gebrauchen, die toxischen Effekte überwiegen jeden Nutzen. Es ist nur legal, weil es eine Tradition ist“, er spuckte das Wort Tradition förmlich aus, als würde das Wort sich in Form von braunen Dreck in seinem Mund manifestieren.
„Klar, Alkohol ist schädlich, aber nicht so extrem. Klar, es gibt auch Alkoholsüchtige, aber das ist doch im Vergleich zu anderen Drogen eher harmlos und man wird davon auch nicht irre, wie von irgendwelchen Halluzinogenen. Wenn es wirklich so schädlich wäre, würde es doch bekannt oder sogar verboten sein und alle würden darüber reden“, wandte ich ein.
„Es ist bekannt. Es sitzen mehr Leute mit einer Alkoholpsychose in der Klapse, als wegen Cannabis, auch wenn das in der Öffentlichkeit gern heruntergespielt wird. Google mal Dr. David Nutt oder die Pharmakinetik von Ethanol, oder die Statistiken der Bundesdrogenbeauftragten. Siebenundsiebzigtausend Tote jedes Jahr allein in der BRD, aber die Menschen sind eben ignorant, wenn es um ihr liebstes Betäubungsmittel geht“, sagte Nathan und machte mit einer Handbewegung deutlich, dass das Thema damit für ihn vom Tisch war.
Er griff in den Spind, holte ein Buch hervor und legte es auf dem Tisch. Für einen Herzschlag glaubte ich, es wäre eine Art Zauberbuch oder Lexikon, aber dann las ich verwirrt, dass es ein dicker Reiseführer für Indonesien war.
Er klappte es auf. Innerhalb der Seiten war ein Tresor eingebettet, er schloss ihn auf, nahm ein Tütchen heraus, schloss ihn zu und verstaute das Buch wieder im Spind. Er kam mit dem Tütchen zu mir und hielt es mir vors Gesicht. Kratom stand drauf. Es war gefüllt mit einem bräunlich-grünen Pulver, das mich an Matcha erinnerte.
„Es ist legal, falls dich die Gesetze interessieren“, sagte er, „Es wurde sogar vor paar Jahren von der Bundesopiumstelle durchgewunken, weil es zu harmlos und zu unbekannt ist, als sie darüber diskutiert haben, ob sie es verbieten sollen.“
„Und was ist das jetzt genau, eine Pflanze?“
„Jo, um genau zu sein, die pulverisierten Blätter eines Baumes, der in Südostasien wächst. Die Schlitzaugen konsumieren die Blätter seit Jahrhunderten und in den USA gibt es zurzeit etwa sechs Millionen Kratomkonsumenten. Bisher gab es keinen einzigen bekannten Todesfall, der sich direkt darauf zurückführen lässt. Es ist also recht sicher und erprobt, nur in Europa kennt das irgendwie kein Schwein.“
„Cool. Also ein sicheres Legal High, aber wie wirkt das jetzt? Ich dachte, die meisten dieser legalen Sachen würden nichts taugen.“
„Oh, das Zeug taugt aber richtig. Es Zeug entspannt dich total ohne deine Gedanken zu verwirren, es erhebt dich auf eine Wolke, ohne deinem Körper zu schaden, und du wirst keinen Kater davon haben und nicht kotzen. Glaub mir, das wird dir gefallen.“
„Okay“, sagte ich „klingt gut.“
„Du willst es also probieren?“
„Ja, warum nicht, wenn es sicher ist und zum Schülersein gehört.“
„Keine Ahnung, ob es dazu gehört. Ich war noch nie Lehrer. Eigentlich halte ich auch nichts von solchen Autoritätspersonen, aber heute kann man ja mal eine Ausnahme machen“, sagte Nathan und zuckte mit der Schulter, als ob damit alles gesagt wäre. War es auch irgendwie.
Er zog aus seiner Hosentasche eine Feinwaage und stellte sie zusammen mit drei Pappbechern, die er aus seinem Reisekoffer zauberte, auf den Tisch.
„David, willst auch endlich mal probieren?“, fragte er.
David sah zu uns auf, dann sagte er: „Ja.“
Ich war wie paralysiert. David hatte noch nie mit einem von uns gesprochen.
Er war ein hochintelligenter Eigenbrötler, aber Nathan hatte wohl bereits länger Kontakt mit ihm, dem lockeren Umgangston nach zu schließen.
 Wer sogar mit David sprechen und ihn zum Drogenkonsum animieren konnte, der musste übernatürliche Kräfte besitzen. Dieser Gedanke verwunderte mich aber auch nicht mehr so sehr, schließlich kannte ich Nathan bereits seit zwei Jahren zumindest als stiller Beobachter und spätestens seit dem Vorfall mit Herr Maasen hatte mein Glaube an die Realität Risse bekommen.
Nathan legte einen Fetzen Papier auf die Waage und maß für jeden von uns etwas von dem Pulver ab und schüttete es in die Becher. Dann verschwand er damit im Bad und kam mit drei Bechern voller Schlamm zurück. Aus seiner Taschen zauberte er mehrere Tütchen Kaffeezucker, wohl geklaut aus einem Restaurant, und schüttete sie großzügig in die Brühe.
„Ich habe leider nicht die richtigen Zutaten dabei, aber mit Zimt, Zucker, Kakao und etwas Schokoeis kann man daraus die leckersten Shakes machen. So wird das wie Hundescheiße schmecken, aber ihr werdet es nicht bereuen. Es wird die Pforten eurer Wahrnehmung ein Stückchen weiter öffnen und euch einen angenehmen Abend bescheren“, sagte er und leerte sein Glas in einem Zug.
David und ich nahmen unsere. Ich starrte die Brühe an. Sie roch wie Grüner-Matcha-Tee, sah auch irgendwie so aus. Ich hatte von dem Zeug noch nie zuvor gehört. Möglicherweise war auch alles, was Nathan mir darüber erzählt hatte, Lügen. Es könnte tödliches Gift oder einfach nur eines dieser wirkungslosen Legal Highs sein, wie die Katzenminze, von der Luis mal erzählt hatte und von der er ohne eine echte Wirkung, bis auf Übelkeit, mehrere Joints geraucht hatte.
Es könnte aber einfach wirklich nur getrockneter, wieder aufgeweichter Schlamm sein. Wer wusste schon, was sich dieser Verrückte so gab. Ich fühlte mich an die Szene in Matrix erinnert, in der Morpheus Neo die Blaue Pille des Vergessens und der Konformität anbietet und die Rote Pille des Erwachens in die Realität, gleichzeitig bestand aber auch immer dieses unterschwellige Gefühl, beides könnte fake sein.
 War Nathan ein Erwecker oder ein Betäuber oder ein Illusionist? Waren die Pforten der Wahrnehmung, von denen er sprach, echt oder eine Wahnvorstellung?
Ich würde es erfahren, ich könnte es googlen und mich in langwierige Recherchen verstricken, oder die Sache direkt angehen, wie ein Abenteuer. Ich wählte Letzteres.
Ich nahm einen Schluck, es schüttelte mich und ich musste das Gesicht verziehen. Das Zeug schmeckte wirklich wie Hundescheiße und unendlich bitter.
„Austrinken, komplett“, befahl Nathan. Ich gehorchte. Mit einem Zug leerte ich die ekelhafte Brühe und warf den Becher im hohen Bogen in den Mülleimer. David tat es mir gleich. Es schüttelte mich, und ich spürte, wie sich alles in mir zusammenzog. Nun gab es kein Zurück mehr, ich hatte mich dem Verrückten ausgeliefert, ich hatte Sicherungsschnüre gekappt und stürzte ins Ungewisse. Ich hatte Angst, aber keine Zeit mich darin zu vertiefen, denn Nathan ging bereits wild mit den Armen fuchtelnd und kommandierend an sein Werk.
„David, hast du Pink Floyd auf deinem Smartphone?“, rief er „Bei meinem ist der Akku entladen.“
„Ja“, sagte David und nach einem Zögern: „The Division Bell?“
„The Division Bell, richtig. Das ist mein Mann, fang mit High Hopes an, danach vielleicht das Album Obscured by Clouds, das passt auch und vergiss nicht Comfortably Numb in die Playlist zu tun“, und an mich gerichtet: „Du kennst Pink Floyd wahrscheinlich nicht, oder?“
Ich schüttelte den Kopf. Der Name kam mir bekannt vor, aber ich konnte ihm nichts zuordnen.
„Was für Musik hörst du so?“
„Vor allem Rap. Manchmal auch Pop, aber nur auf Partys halt“, sagte ich.
„Den gleichen Mainstreamrotz wie alle also“, schnaubte Nathan verächtlich.
„Pop ist wirklich meistens Rotz. Aber bei Rap kann man das nicht pauschal sagen. Eminem ist gut und die ersten Alben von Genetikk sind auch okay. Du kannst ein Genre nicht gleich verurteilen, nur weil der Großteil davon schlecht ist“, wandte David ein. Ich kam nicht drumherum ihn anzustarren. Ich hatte ihn vor diesem Tag noch nie normal reden hören, und hier, im Beisein Nathans, bildete er sogar ganze Sätze über so triviale Sachen, wie Musik. War das real oder war ich bereits mitten im halluzinogenen Drogendelirium? Ich zwickte mich, als keiner hinsah, aber es tat weh und änderte nichts an der Situation.
„Ja. Ja, du hast recht, sorry. Ich vergesse immer Eminem. Die alten Alben Genetikk sind auch tatsächlich gut“, sagte Nathan „Da waren sie noch nicht Kommerz, sie waren authentisch und hatten noch etwas Neues, bevor sie auf die langweilige Mainstreamgangstarrapperschiene gewechselt sind. Heutzutage ist aber kaum noch jemand authentisch, alle verbogen und verlogen, Langweiler. Egal. Daniel, hast du eine Musikbox?“
Daniel. Das ist mein Name, Daniel Vogt, ich habe mich ja noch gar nicht vorgestellt.
„Ja, habe ich“, ich ging zu meinem Rucksack und nahm die Box heraus.
„Hat sie Bluetooth?“
„Jep.“
„Gib sie David. David, High Hopes. Wir wärmen uns damit hier auf, bevor wir uns nach draußen verziehen. Ich bereits gestern ein nettes Plätzchen zum Chillen ausgemacht.“
Nathan nahm von einer Stuhllehne ein abgeranztes weißes Shirt. Er schlüpfte hinein wie ein Wiesel.
Plötzlich hörte ich Kirchenglocken läuten und das Surren von Bienen, es kam von allen Seiten, wie ein ätherisches Orchester. Ich war verwirrt, doch dann spielten engelhafte Keyboardklänge, setzte eine göttliche Stimme ein: „Beyond the horizon of the place we lived when we were young“, und ich realisierte, dass das die Musik war, die aus meiner Box kam und mich vom Kratom getragen in ihren magischen Bann zu ziehen begann.
„Setzt euch Leute, lasst die Wirkung kommen“, sagte Nathan und plumpste auf den Boden, lehnte sich an seinen Koffer an und schloss die Augen. Ich setzte mich ihm gegenüber, gelehnt an die Wand, David neben mich. Ich ließ mich von der Musik tragen. Normalerweise hätte mich ein so ruhiges und langsames Lied innerhalb von Sekunden gelangweilt, aber nun genoss ich es. Meine Unsicherheit, Aufregung und mein Misstrauen gegen Nathen begann bald dahinzuschmelzen, wie Schnee im Frühjahr.
Ich spürte, wie das Kratom langsam wirkte, wie Wärme durch meine Adern kroch. Ein Kribbeln stieg in meiner Seele auf und wurde von Minute zu Minute stärker, während ich immer tiefer in mir selbst und der Musik versank. Ich fühlte mich geborgen, als würde mich ein Engel umarmen. Ich sah Nathan an. Er war wie ausgeschnitten, als hätte ihn ein übernatürlicher Künstler in die Collage des chaotischen, mit Kleidungsstücken und Müll überhäuften Hotelzimmers hineingeklebt. Die Musik war herrlich, nie zuvor hatte ich Töne auf diese Art und Weise wahrgenommen. Ich hörte jedes Instrument einzeln, und gleichzeitig ihr harmonisches Zusammenspiel, das wie in Wellen durch meinen Körper drang und alle meine Sinne gleichzeitig verführte. Vor meinen inneren Augen eröffneten sich weite, grüne Wiesen mit leuchtend grünem Gras, stechend blauen Himmel.
Wir schwebten so vor uns hin, sicherlich eine halbe Stunde, vielleicht auch eine ganze, vielleicht auch zwei, wer weiß. Wir hörten mehrere Lieder, aber wir kamen letztendlich zurück zu High Hopes.
„Versteht ihr eigentlich, worum es in diesem Lied geht?“, erklang Nathans Stimme wie die eines Erzählers aus dem Off.
„Drogen?“, fragte ich und lächelte. Ich hatte das Gefühl, auf einer warmen Wattewolke zu schweben.
„Nein. Kindheit“, sagte David.
„Kindheit?“, fragte ich verwundert.
„Kindheit. Es geht um das größte Drama der menschlichen Existenz, das Erwachsenwerden und Abstumpfen.“
„Du redest gern über deine Meinung vor dich hin, kann das sein? So wie vorhin bei Kratom und dann bei Musik“, fragte ich. Nathan sah mich irritiert an.
„Ähm, ja ... Stört dich das?“
„Ne, passt schon. Hatte das nur irgendwie nicht erwartet. Ist aber interessant, mach bitte weiter“, sagte ich „Erinnert mich irgendwie an einen Podcast.“
„Okay. Also wo war ich?“
„Das größte Drama“, sagte David.
„Ah ja, stimmt. Also. Als Kinder sehen wir die Welt als ein einziges Wunder, alles ist verheißungsvoll und interessant, jedes Atom kann uns begeistern und wir ziehen uns alles rein. Doch wir werden irgendwann erwachsen und ernüchtern. All die Wunder werden plötzlich zu kalkulierbaren physikalischen Reaktionen ohne tieferen Sinn. Das Leben erscheint sinnlos, öde und leer.“
„Ist es ja auch“, sagte David.
„Das ist ziemlich zynisch“, sagt ich.
„Eben. David ist ein super Beispiel, aber nicht nur er. Wir alle desillusionieren, geben auf und werden zu einem gewissen Grad zynisch mit der Zeit, nicht alle gleich stark, aber niemand kann sich diesem Prozess ganz entziehen. Manche flüchten sich in dumpfen Konsum oder Religionen oder andere Ideologien, die uns Mystizismus, Sinn oder Heil vorgaukeln. Da ist Zynismus eigentlich noch die gesundeste Form. Er ist zumindest ehrlich, aber auch er tötet innerlich ab und lässt einen erkälten.“
„Lieber kalt wie ein Eiswürfel, als labil wie eine Pfütze“, sagte David.
„Aber wozu das alles überhaupt? So wie du das formulierst, klingt das irgendwie krankhaft, aber das ist doch der ganze normale Prozess des Erwachsenwerdens“, wandte ich ein.
„Ja eben, das ist ja das Schlimme. Es ist Teil des normalen Werdegangs, man kann sich dem nicht entziehen. Sei doch mal ehrlich, findest du es toll, erwachsen zu werden?“, sagte Nathan.
„Ja, schon, irgendwie. Als Erwachsener ist man freier und erfahrener, hat viel mehr Möglichkeiten.“
„Aber man muss auch mehr machen und man verliert sehr viel, unter anderem die naive Reinheit des Lebens. Jene kindliche Reinheit, die alle Religionen vergöttern. Wenn man erwachsen wird, beginnt man die Welt zu verstehen und wird kritisch. Damit stirbt für einen die Magie, die Welt verliert ihr geheimnisvolles Funkeln. Das Verheißungsvolle, das Neue, die Romantik. Sie alle sterben, und mit ihnen häufig wir als Menschen. Das Leben ist kein Leben mehr, es ist ein langsamer Sterbensprozess, in dem alles immer profaner und kälter wird. Heutzutage beschleunigen Aufklärung und Digitalisierung diesen Prozess noch mehr. Die Menschen leben länger, aber nur, um sich in Jobs abzurackern, mit einer sinnlosen Existenz zu hadern und dann in Altersheimen zu versauern. Bereits als Kinder werden sie mit der harten Naturwissenschaft konfrontiert und sterben innerlich. Ein Vogel ist kein wunderbares Geschöpf mehr, er wird zu einer biochemischen Maschine, Religionen werden zu haltlosen Lügengebilden, das Individuum eine Ressource und Zahl in der globalen Wirtschaft.“
„Das ist aber die Realität“, sagte David.
„Zumindest nehmen wir an, dass es die Realität ist und diese Realität tut weh.“
„Das ist traurig“, sagte ich, auch wenn ich mich nicht traurig fühlte. Ich fühlte mich gut, ich spürte Frieden, ich war losgelöst von allem Negativen und betrachtete es von außen.
 So wie ich da saß, fühlte ich mich wie der Häuptling eines Indianerstammes, der gerade die Friedenspfeife mit der ganzen Welt geraucht hatte, und nun erfüllt und etwas erschöpft in das Feuer der Existenz starrte. Das Feuer war Nathan, und es sprach zu mir, und ich lauschte neugierig. Sämtliche Vorbehalte, sämtliche Hemmungen und Ängste gegenüber diesem Verrückten waren vom Rausch hinweggespült und durch Vertrauen und Respekt ersetzt worden.
„Ja, es ist traurig, aber kein Grund aufzugeben und auch keiner zu weinen. Man muss lernen den Schmerz zu akzeptieren, ja, ihn gar zelebrieren“, sprach mein Prophet „Das Erwachsenwerden ist hart und viele verrohen daran, aber es eröffnet auch tausend neue Türen zur Magie, man muss sie nur finden. Und überhaupt erst suchen und daran scheitern die meiste! Aber nicht ich und genauso wenig ihr! Ich brenne lieber aus, als zu das ich versauere und desillusioniere! Und jetzt haben wir genug herumgesessen und gequatscht, es wird Zeit zu leben!“
Nathan stand plötzlich auf. Er zog sich seinen grauen Hoodie über und setzte eine schwarze Pilotenbrille auf, obwohl draußen bereits die Sonne über den Hausdächern unterging. Das Lied endete.
„Wir gehen raus“, sagte Nathan und griff nach einer Flasche Wasser und einer Packung Tortillachips, bevor er durch die Tür verschwand. Ich hatte keine Möglichkeit zu protestieren. Nun ging ein kleiner Stich durch mein Herz, ich wollte mich nicht von meiner Wolke erheben. Ich fühlte mich zu müde, zu entspannt, aber dann tat ich es doch, und die Wolke folgte mir und machte mich aktiv. Die Müdigkeit und Tiefenentspannung wichen Neugier und Energie. Wie durch einen warmen Nebel glitt ich, während ich Nathan und David die Treppe des Hotels herunterfolgte.
In der Lobby verabschiedeten wir uns von unseren Lehrern, die uns ermahnten, vor 23 Uhr zurück zu sein. Es war erst 19 Uhr.
Draußen war es wunderschön. Beton leuchtete, das Glas glitzerte rotgolden wie Diamanten, im Sonnenuntergang. Die Konturen traten stark hervor, die Farben waren kräftiger, die Klänge sanfter, alles verschmolz zu einer harmonischen Melodie. Ich hatte keine Halluzinationen, alles war eigentlich wie immer, allerdings fielen mir all die kleinen, schönen Details erst jetzt auf. Alles wirkte intensiver, frischer. Ich war gefühlt das erste Mal in der Welt, ich war wieder ein Kind, und Nathan war mein Führer durch die Welt, mein neuer Vater.
„Ich bin plötzlich richtig wach“, sagte ich zu Nathan.
„Das ist auf Kratom immer so. Es verstärkt deine positiven Empfindungen. Wenn du aktiv sein willst, macht es dich aktiver, wenn du dich zurücklehnst, entspannt es dich.“
„Nice“, sagte ich und nickte, dann fragte ich, ohne recht zu wissen, warum: „Ist das die Realität?“
„Ja und Nein. Wir sind, wie auch im Alltag, noch weit davon entfernt. Du hast erst die Tür deiner Lügenblase aufgemacht. Du bist noch nicht einmal wirklich über die Schwelle getreten. Und vergiss nicht, du bist high. Auf Drogen siehst du genauso wenig die Realität, wie nüchtern, du siehst nur eine andere Verzerrung der Realität, andere Phänomene. Es geht meiner Meinung nach darum, möglichst viele verschiedenen Verzerrungen kennenzulernen, und dann daraus die echte Realität zu konstruieren.“
„Zeig mir mehr“, rief ich überschwänglich, obwohl ich mir nicht sicher war, Nathan richtig verstanden zu haben. Ich war euphorisch von der Droge und der adrenalinschwangeren Aufbruchsstimmung, die einen immer packt, wenn man eine Grenze überschreitet und Tabus zerschmettert. Mir gefiel das alles. Ich war keinen ganzen Abend im Bann des Propheten Nathan und war bereits besessen von ihm und seiner exzentrischen Weltsicht.
„Geduld.“
„Was muss ich tun?“, fragte ich und verkniff es mir ein launiges Meister hinzuzufügen. Irgendwie wirkte Nathan plötzlich wie ein Mentor aus einem Kung-Fu Film, aber einen mit animierten, sprechenden Tieren und überdrehten Effekten, keinen seriösen.
„Erst einmal, streich müssen aus deinem Wortschatz. Du bist frei, alles was du tust, tust du, weil du dich dafür entscheidest. Du musst deinen eigenen Weg gehen“, sagte Nathan.
Ich nickte. Plötzlich kam neue Musik aus der Box, sie war rockiger, fetziger, punkiger. Es war Jesus of Suburbia von Green Day. Der Songtext erzählte von einem Typen, der in einer Vorstadt rumgammelte und sich mit Ritalin zudröhnte. Wie passend, denn wie ich später erfahren sollte, verdankte auch unser Messias seinen Wahn nicht nur dem Ritalin, sondern kam auch tatsächlich aus einem Vorstadt, einem wahnsinnigen Vorort Münchens namens Unterhaching, der neben einem verlassenen Flughafen lag und in dem es nur so von Potheads und Spinnern wimmelte. Dazu aber später mehr.
Die Musik ließ mein Herz höherschlagen, die Harmonie zerfiel zu einer energiegeladenen Eufonie der Gefühle. Nathan tanzte über den Bordstein, ich tat es ihm gleich. David lief mit der Box hinterher. Wir kamen zu einem Kinderspielplatz inmitten einer Betonblocksiedlung.
„Zieht euch das rein! Mitten in den öden Wüsten aus Armut, Beton und Hoffnungslosigkeit, ein Brunnen des Friedens, der Kindheit! Lasst uns spielen.“
  Nathan warf sich auf die Schaukel und begann manisch kichernd hin und her zu schwingen. Ich starrte ihn einen Moment lang an. Er war damals 17, ich 16, beide also mindestens ein Jahrzehnt zu alt, um auf einem Kinderspielplatz zu spielen, ohne wie Idioten dazustehen.
Ich zuckte mit den Schultern, mir war total egal, was die Gesellschaft von mir dachte, ich war high, und Spielen klang verlockend. Ich stieg auf die Schaukel neben ihm und begann ebenfalls zu schaukeln. Die Welt tanzte in einem Kaleidoskop, ich lachte, schwang und flog hin und her, immer höher in die Ekstase. Der Wind zerrte erfrischend an meinen Haaren und Klamotten. Nathan schwang neben mir, ebenfalls immer höher und wilder.
„Ist das nicht geil?“, rief Nathan.
„Und wie!“, schrie ich. Das war besser als jede Achterbahn, die ich in den letzten Jahren ausprobiert hatte. High Hopes und Nathan hatten Recht, das Erwachenwerden war ein Drama. Ich dachte daran, wie ich als Kind geglaubt hatte, dass, wenn ich intensiv und lang genug schaukelte, sich die Schaukel überschlagen und ich mit Überschall in eine andere Dimension katapultiert werden würde. Verrückte Kindergedanken, aber plötzlich wirkten sie wieder so nah, und ich schwang, und schwang, und schwang immer höher, und so tat es Nathan. Es war, als könnte er meine Gedanken lesen.
Plötzlich, als wir beide am höchsten Punkt waren, ließen wir synchron los. Die Ekstase entlud sich, wie ein Orgasmus. Ich war ein Vogel, ich flog über den Kinderspielplatz, lachte. Ich breite meine Schwingen in meiner Wolke aus Wärme und Glück aus. Grinsend landete ich in einem Gebüsch und überschlug mich. Ich lachte, ich spürte keinen Schmerz.
„Kommt, lasst uns wieder etwas Musik hören und entspannen“, sagte David, der die ganze Zeit auf einer Bank daneben gesessen und zugeschaut hatte.
Wir liefen zu einem kleinen Rasenfleckchen neben dem Spielplatz und ließen uns nieder. Die ganze Welt schwankte ein bisschen, um mein Sichtfeld herum wuchsen die hässlichen Betonblöcke der Plattenbausiedlung zum Himmel, und ich versank im warmen, kuscheligen Gras. Nun war ich wirklich müde, das Kratom drückte mich richtig in den Boden. Aus der Musikbox liefen abwechselnd David Bowie, Pink Floyd, Green Day und irgendwelche PsyTrance Stücke. Es war wunderschön, die Erde umarmte mich, die Nymphen der Natur säuselten mir die Lieder ins Ohr, ich fühlt mich gut, aber nicht dumm oder verwirrt, nur ruhig und zufrieden, wieder bis in den Kern meiner Seele entspannt. Wir schwiegen, ließen die Tortilias und das Wasser kreisen. Allein beim Geruch der Maischips, kreierte mein Gehirn Bilder von weiten, großen Maisfeldern. Ich kaute langsam, teils aus Trägheit, teils aus Genuss.
Es wurde immer dunkler. Es gab keine Beleuchtung auf dem Spielplatz, sodass wir bald vereinzelte Sterne am Himmel funkeln sahen. Ich dachte nach. Luis und meine anderen Freunde, sie saßen nun an der Spree, lachten über sinnlose Dinge, torkelten verwirrt rum, kotzten und qualmten sich mit Zigaretten voll. Das kam mir auf einmal dreckig und irgendwie abstoßen und dämlich vor. Es war traurig, das Saufen, es war erwachsen und roh. Warum sollte man sich so etwas antun, wenn man doch die Welt so schön mit Kratom genießen, wenn man wieder ein Kind sein konnte ohne die Klarheit der Gedanken zu verlieren? Ich war froh, Nathan gefolgt zu sein. Ich sah zu ihm hinüber. Er starrte träumerisch zum Himmel, als würde er irgendwo da oben zwischen den Sternen eine lang verlorene Heimat sehen können.
„Daniel“, sagte er plötzlich.
„Ja?“, fragte ich.
„Was siehst du, wenn du zu den Sternen aufblickst?“
„Ein paar Sterne, aber nicht alle. Die meisten kann man wegen des Lichts der Stadt nicht sehen.“
„Hmm ... Interessant. Und was symbolisiert die Stadt für dich?“
„Zivilisation, Fortschritt“, sagte ich, ohne nachzudenken, es sprudelte aus mir heraus „Meinst du etwa, dass das Wissen des Fortschritts und unser zivilisiertes Leben uns blenden? Sodass wir nicht mehr die Wahrheit sehen können, nicht mehr die großen erhabenen Dinge, wie die Sterne, die Lichter anderer Welten?“
Was hatte ich da gesagt, was für eine krude Logik hatte mir das Kratom entlockt? Ich wollte mich schon dafür entschuldigen, dass ich Bullshit gelabert hatte, aber Nathan kam mir zuvor.
„Das war nicht das, worauf ich hinauswollte. Aber es ist ein interessanter Gedanke und er ist verwandt mit dem, was ich zuvor über die Wissenschaft als Religion gesagt habe. Unsere Gene sind nicht für die Zivilisation geschaffen, die ganze Technologie, Facebook, Fernsehen, der ganze moderne Konsumismus, sie sprechen unsere Instinkte zwar an, aber fucken uns gleichzeitig einfach zu hart ab. Wir sind blind durch Reizüberflutung und Propaganda, laufen im Kreis, gefangen in einem sinnbefreiten Materialismus und entfremdet von unserer Heimat, der Erde.“
„Ist aber Materialismus nicht richtig?“, wandte David ein.
„Epistemologisch, empirisch und ontologisch gesehen, ja, glaube ich, befürchte ich, aber er kann uns keine Antwort darauf geben, warum und wozu wir existieren. Materialismus allein ist ein fürchterlicher Lifestyle, er hat keinen höheren Lebenssinn. Das ist die traurige Wahrheit unserer Existenzen. Wir träumen von mehr, aber es gibt dort nichts, oder zumindest können wir es nicht sehen.“
„Ist das aber nicht wie bei der Heisenbergsche Unschärferelation?“, wandte David ein. „Man kann die Wahrheit nicht erkennen, denn sobald man sie ansieht, verändert sie sich. Du kannst nicht mit Bestimmtheit sagen, dass Materialismus die Wahrheit ist, genauso wenig, wie du dadurch Metaphysik widerlegen kannst.“
„Das ist aber ein sehr materialistischer Standpunkt, die Unschärferelation auf die Wahrheit anzuwenden und damit den Materialismus in Frage zu stellen, der die Unschärferelation überhaupt erst anwendbar macht. Die Schlange beißt sich in den Schwanz. Es ist ein Widerspruch. Eine Umkehrung aller Werte gegen sich selbst. Fast schon Nihilismus“, sagte Nathan und dann seufzte er: „Und wir wissen wieder nur, dass wir nichts wissen können, und wir müssen glauben und hoffen. Hoffnung ist das Einzige, was bleibt, das süßeste und tödlichste aller Gifte. Die ganze Menschheit, die Industrie, der Kapitalismus, die Wissenschaft, alles läuft auf Hoffnung. Alle hoffen, sagen sich eines Tages, wenn genug Geld da ist oder morgen, nur noch etwas, oder wenn wir das herausfinden, aber sie wissen alle tief in ihrem Inneren, dass das ein Gift ist, eine Lüge, am Ende gibt es kein Ziel, hat man eins erreicht, jagt man das nächste bis der Sensenmann kommt und alles futsch ist.“
Ich war verwirrt, auf einmal kam ich mir wie ein Trottel vor. Was machte ich hier eigentlich? Ich war high auf irgendetwas Absonderlichem. Ich saß mit einem genialen Autisten und einem Propheten auf einem Kinderspielplatz und verstand kein Wort von ihrem philosophischen Gelaber. Ich sprach diese Gedanken leichtsinnig und vom Kratom enthemmt aus.
„Das stimmt nicht“, sagte Nathan scharf und obwohl ich zugedröhnt war, zuckte ich erschrocken zusammen. „Du bist nicht dumm, du bist kein Trottel, hör auf dich selbst zu erniedrigen. Mach dich nicht unnötig klein, das machen andere schon genug.“
„Entschuldigung“, sagte ich perplex, denn ich wusste nicht, was ich sonst sagen sollte, aber das brachte Nathan noch mehr auf die Palme.
„Entschuldige dich nicht bei mir! Fuck, Mann. Du hast dich vor niemandem zu rechtfertigen oder für irgendetwas zu entschuldigen, außer vor dir selbst. Entschuldige dich niemals dafür, wer du bist! Wenn du etwas nicht verstehst, dann frag nach und lerne. Aber heul doch nicht rum, dass du nichts weißt. Das ist doch bescheuert.“
„Er ist nicht so weit“, erklang plötzlich Davids Stimme. Zum ersten Mal glaubte ich, Arroganz in seiner Stimme zu hören. Konnte es sein, dass David nie mit uns anderen sprach, weil er sich für etwas Besseres hielt?
Nathan fokussierte mich.
„Noch nicht“, sagte er.
Die hervorstehenden Wangenknochen und eingefallenen Augenhöhlen ließen düstere Schatten und harte Konturen entstehen. Seine Augen flackerten wie römische Lichter in der Nacht, und ich hatte wieder das Gefühl, sie gäben mir einen Befehl.
„Noch nicht“, wiederholte ich und fügte hinzu: „Aber ich will. Ich will verstehen, wie ihr denkt“, das wollte ich wahrhaftig. Ich kam mir tatsächlich vor, als hätte ich mein ganzes Leben in einem Schuhkarton verbracht und Nathan war derjenige, der mich nicht nur aus dem Schuhkarton herausziehen konnte, nein, er würde mich in die ganze weite Welt führen. Und das wollte ich sehen, ich wollte es erleben.
Ich sagte es ihm, genau so.
Seine Züge entspannten sich, er lächelte.
„Ich habe es dir doch gesagt“, sagte er zu David „Dieser Junge hat was, er ist kein Schaf, er ist ein Wolf wie wir, hungrig nach dem Fleisch des Lebens, keiner, der zu lange das Gras zu seinen Füßen kauen kann, das bereits von der ganzen Herde angeschissen wurde.“
David schwieg.
„Wie kann ich lernen? Worüber habt ihr geredet? Wird Kratom mir den Weg zeigen? Oder andere Drogen?“, fragte ich überschwänglich und vom Rausch enthemmt.
„Nein, Kratom ist höchstens ein schwaches Mittel. LSD könnte dir mehr zeigen, wenn du dich darauf einlässt, aber Drogen sind nur Hilfsmittel. Werkzeuge, die den Lernprozess beschleunigen können, aber nicht zwingend notwendig für ihn sind, im Gegenteil, sie können extrem zerstörerisch sein. Das ist kein Spielzeug. Vergiss das nie. Hierzu gehört viel mehr, als nur Drogen. Es gehört viel Wissen dazu, aber ich kann es dir zeigen, wenn es dich interessiert.“
„Danke“, sagte ich.
„Du bist selber mir gefolgt. Dank dir selber, dafür, dass du diesen Pfad gewählt hast.“
Und so wurde ich ein Apostel des Propheten Nathan, und wie es sich bald zeigen sollte, war ich bei weitem nicht der Letzte. Nathan stand gerade erst am Anfang.
Wir lagen noch sicherlich eine Stunde im Gras, schwebten im Rausch und Nathan erklärte mir alles, was ich nicht vorhin nicht verstanden hatte. Ich kann mich aber, um ehrlich zu sein, nicht mehr wirklich an viel von dem ganzen philosophischen und physikalischen Gerede erinnern. Viel mehr als das interessierte mich nämlich Nathan, wie er dachte, wie er gestikulierte, wie er einfach die Dinge tat und sagte, die er für richtig hielt, ohne sich einen Dreck um Regeln oder die Meinung anderer zu kümmern. Ich mochte den Klang seiner Stimme mehr, als den Inhalt, den sie verkündete.
Ich war angefixt von seinem unkonventionellen Verhalten und seinen Drogen und eingenommen von seinem Charisma.
Als wir ins Hotel zurückkamen, war es bereits 22 Uhr. Ich war schrecklich müde, die Wirkung des Kratoms war bis auf ein schwaches Wohlgefühl verschwunden. Außer uns war noch niemand von unserer Schule zurück, und sie waren es auch nicht, als wir uns nach dem Duschen schlafen legten. Bevor ich mich umdrehte, sah ich noch einmal zu Nathan hinüber. Er lag genauso in seinem Bett, wie vier Stunden zuvor, als ich ihn gefragt hatte, ob er zu der Party gehen würde. Mit dem Joint im Mundwinkel blätterte er sich durch die Psychoanalyse.
„Nathan“, sagte ich. Er sah nicht auf. „Ich glaube, dies ist der Beginn einer wunderbaren Freundschaft.“
Er sah noch immer nicht auf und sagte: „Hast du den Filmen überhaupt gesehen?“
„Welchen Film? Meinst du die Serie Mr. Robot?“
„Dachte ich mir. Typisch Postmoderne. Alles kopieren und miteinander vermixen, bis es jeder kennt, aber niemand mehr weiß, woher es kommt.“
„Woher kommt es denn?“, fragte ich neugierig.
„Casablanca, ein Film von 1942.“
„Hmm“, sagte ich „Danke. Gute Nacht“.
„Gute Nacht.“
Ich drehte mich um und schloss die Augen, aber ich brauchte lange, bis ich wirklich einschlief. In meinem Kopf begann eine Gedankenschleife.
Was, wenn alle Kunst, alle Schrift, alle Filme, alle coolen Zitate nur eine Kopie oder eine veränderte Kopie von einer Kopie von einer Kopie gemischt mit einer Kopie von einer Kopie und so weiter waren? Die Sprüche von heute, die Kopien der von gestern, die Filme von heute, Kopien von Hamlet, Hamlet nur eine modifizierte Kopie von griechischen Dramen, die griechischen Dramen eine Kopie der Göttersagen, die Göttersagen eine veränderte Kopie der Naturreligionen und so weiter und so weiter. Gab es dann überhaupt Originale? Was war noch echt und authentisch und was war nur der Mix allem vorhergegangen? In diesem Gedankenkarussell gefangen, sank ich in einen tiefen Schlaf. Das erste Mal erlebte ich dabei auch die wirren, surrealen Opioidträume, die das Kratom verursacht, aber ich vergaß ihren Inhalt, kaum dass ich die Augen wieder öffnete. Sie hinterließen einen verwirrenden, kunterbunten Nachgeschmack.
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Abifiz
Geschlecht:männlichEselsohr


Beiträge: 236
Wohnort: Deutschland, in Nähe von Marburg seit 2007


Beitrag09.12.2016 10:32

von Abifiz
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Ich hab' das Procedere nicht ganz erfaßt: Jetzt geht die Geschichte weiter, aber Kapitel 1 ist noch nicht zurück, oder? Sollte nicht auf Kap. 1 abgewartet werden? Oder hier weitermachen...?

_________________
Meine sehr kluge Signatur befindet sich noch in der Herstellungsphase. Falls keine gravierenden Inkompatibilitätsprobleme auftauchen werden, rechne ich mit ihrer Lieferung für das 1. Quartal 2034. Ich danke Ihnen für Ihr Vertrauen.
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Leveret Pale
Geschlecht:männlichKlammeraffe

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Wohnort: Jenseits der Berge des Wahnsinns


Beitrag10.12.2016 10:31

von Leveret Pale
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sorry, das habe ich vergessen

Kapitel 1
Nathan war ein komischer Kauz.
Das fing bereits bei seinem Aussehen an. Die Haare standen widerspenstig in alle Richtungen ab, die Wangenknochen traten aus dem abgemagerten Gesicht hervor. An dem Grund seiner eingefallenen Augenhöhlen lagen blaue Opale, die einen stechenden, analytischen Blick ausstrahlten. Wenn Nathan einen ansah, konnte man das spüren. Es fühlte sich an, als würde eine kalte Geisterhand in einem herumtasten. Man man zuckte unwillkürlich zusammen und rieb sich am Körper, um das klebrige Gefühl dieser sonderbaren Kälte zu vertreiben.
 Sein Gang war schleppend. Die spinnartigen Beine waren dem Körper immer einen Meter voraus, der bei jedem Schritt etwas in die Knie ging und wieder hochwippte.
Als wir im Deutschunterricht die Ringparabel aus „Nathan der Weise“ von Lessing lasen, fragte unser Deutschlehrer, wohl im Scherz, Nathan, was er von der Ringparabel halten würde. Nathan antwortete ohne mit der Wimper zu zucken in einem sachlichen Ton:
„Statt den Ringen hätte Lessing auch drei Pferdeäpfel nehmen können, das wäre anschaulicher. Die kann man nämlich auch kaum auseinanderhalten, und sie entsprechen deutlich akkurater der Natur solcher Scheißdogmen.“
Die Klasse brach in schallenden Gelächter aus, unser Deutschlehrer erblasste und sagte: „Nathan, nach der Stunde zu mir.“
Und natürlich ging Nathan nach der Stunde einfach nach Hause, statt mit dem Lehrer zu diskutieren. Denn so war Nathan, verrückt, ein Rebell, der einfach machte und sagte, was er wollte.
Wir nannten ihn seitdem oft Nathan der Weise, wie den Typen aus der Ringparabel. Das war eigentlich als Witz gedacht, aber wir lagen damit sicherlich nicht ganz falsch, denn unser Nathan hatte tatsächlich, trotz allem Unsinn, den er trieb, etwas Weises an sich, aber auch etwas Gefährliches und Skrupelloses.
Viele bezeichneten ihn als einen Psychopathen, und spätestens seit dem Vorfall mit Herr Maasen zweifelte kaum jemand daran, dass er einer war.
Der Vorfall ereignete sich letzten Winter. Herr Maasen war damals unser Englischlehrer. Niemand mochte ihn, und er mochte niemanden. Er war ein aufgeblasener Despot, der von allen gefürchtet werden wollte, offensichtlich, um zu kompensieren, dass er wie ein weichgespültes Muttersöhnchen aussah. Anfangs hatten wir den Fehler gemacht, ihn wegen seines Auftretens - kleingebaut, weiche, schwabbelige Statur, fettiges blondes Haar und Quietschestimme - zu unterschätzen und ihm keinen Respekt entgegenzubringen. Nach zwei Schulwochen, zehn Verweisen und zahlreichen Strafarbeiten hatte er uns allen Angst eingehämmert, allen, außer Nathan.
 Herr Maasen gab an dem Tag die letzte Schulaufgabe an die Klasse heraus. Wie bei jedem seiner Tests, war der Notenschnitt fatal. Als der Despot Nathan dessen Schulaufgabe austeilte, lächelte er breit und sagte:
„Nathan. Du hast einen sehr großen Wortschatz und dein Essay ist wirklich ausgezeichnet geschrieben. Wirklich gut. Aber leider hast du das Thema verfehlt. Note Sechs.“ Nathan nahm sie, blätterte durch sein Essay und stand auf. Er ging zum Waschbecken neben der Tafel.
„Nathan, wohin gehst du?“, fragte Herr Maasen.
„Ihr Thema war scheiße und mein Essay besser, als alles, was Sie jemals zustand bringen könnten. Die Note ist inakzeptabel“, sagte Nathan und entzündete mit diesen Worten die Schulaufgabe mit einem Zippo. Die orangenen Flammen zügelten aus dem Waschbecken. Nathan drehte den Wasserhahn auf und das Feuer erlosch zischend, Dampf stieg auf.
Die ganze Klasse sah atemlos zu, selbst diejenigen, die noch gerade wegen ihrer schlechten Noten geschluchzt hatten, erstarrten.
„Spinnst du?“, brüllte Herr Maasen „Feuer in der Schule. Dafür wirst du fliegen!“
„Wenn sie es darauf ankommen lassen wollen“, sagte Nathan stoisch, zuckte mit den Schultern, nahm seinen Schulranzen und ging zur Tür.
„Wohin gehst du? Ich will mit dir nach der Stunde zum Direktor. Das ist Brandstiftung. Gib mir das Feuerzeug!“, brüllte Maasen. Seine Wangen wurden so knallrot, wie jedes Mal, wenn er einen Wutanfall bekam. Sie gaben ihm das Aussehen eines Milchbubis aus einer Zwiebackwerbung. Darüber machten wir uns häufig lustig, aber nur, wenn er außerhalb der Hörweite war.
„Ich nehme mir frei für heute. Das ist mir zu bescheuert“, sagte Nathan und verschwand durch die Tür. Herr Maasen sah ihm wie paralysiert hinterher, dann wirbelte er schlagartig herum und schrie uns an: „Was glotzt ihr so? Diktat! Sofort und auf Note! Die nächsten zwei Stunden und wehe jemand sagt auch nur ein Wort, der fliegt!“
Wir hassten Nathan in diesen Stunden der stillen Qualen, die er uns bereitet hatte, aber als wir am nächsten Morgen in die Schule kamen, war das alles wieder vergeben.
 Ich kann mich noch bildhaft daran erinnern. Bereits vom Weiten konnte ich die kleine Gestalt sehen, die nackt, bis auf die Eierzwicker-Unterhose, auf dem Dach auf und ab sprang und brüllte. Neben ihr stand ein Fiat Punto. Es war Herr Maasen und sein Auto.
Er wollte hinunter, aber von der Schülermasse unten erhielt nichts, als spöttisches Gelächter.
 Die Leiter zum Dach fehlte und als die Feuerwehr endlich Herr Massen mit einem Kran aus seiner Pein befreite, war so durchgefroren, dass er die nächsten drei Wochen im Bett verbringen musste. Bis sein Auto vom Schuldach verschwand, dauerte es fast genauso lange und benötigte wieder die Hilfe der Feuerwehr.
 Alle wusste, dass Nathan, der in einiger Entfernung grinsend auf einer Bank saß und einen Joint rauchte, der Verantwortliche war, aber nicht einmal die Polizei konnte seine Schuld beweisen, noch herausfinden, wie das Auto samt Herr Maasen, der einen Filmriss hatte, auf das Dach gelangt war.
Niemals wieder bekam Nathan an der Schule eine schlechtere Note als eine Zwei und das Verbrennen der Schulaufgabe hatte keine Konsequenzen für ihn, im Gegensatz zu Herrn Maasen. Dieser wagte es nie wieder, ungerechte Noten zu verteilen. Er wurde sogar ein richtig netter und zuvorkommender Lehrer, auch wenn er immer zitterte, wenn Nathan das Wort erhob. Es war fast schon schade, als er am Ende des Schuljahres kündigte.
Als Held feierten wir Nathan trotzdem nicht offen. Er blieb der verschrobene Außenseiter.  Wir machten einen großen Bogen um ihn. Nathan seinerseits, ging auch uns aus dem Weg.
 Er war ein notorischer Schulschwänzer und wenn er mal auftauchte, wirkte er selten nüchtern, noch an uns Mitschülern interessiert. Man sah ihn oft in Büchern vertieft, die für uns so kryptische Titel trugen, wie „Das Sein und das Nichts“, „Entweder - Oder“, „Warum Krieg?“ oder „Naked Lunch“.
Seine Zeugnisse gehörten, trotz seiner notorischen Abwesenheit und Auflehnung, zu der besten der Schule. Er galt als hochintelligent, auch wenn weder Schulpsychologen noch Pädagogen ihn dazu bringen konnten, sich entsprechend zu verhalten.
 Er besaß eine befremdliche Aura, als wäre er nicht von dieser Welt, wie ein Prophet. Und er wusste über Dinge Bescheid, die kaum einer von uns verstand, egal ob es um Quantenphysik oder Psychologie ging, und diskutierte sie bei Gelegenheit oft breit mit unseren Lehrern aus, bis sie vor ihm kapitulierten. Nicht selten vollführte er auch merkwürdige Tricks und Wunder, wie der Streich an Herr Maasen, die sich nicht mit Logik und Physik allein erklären ließen.
 Manchmal habe ich das Gefühl, er wäre ein Messias gewesen, der von Alpha Centauri entsandt worden war, um die menschliche Rasse zu bekehren, aber dann beim Anblick ihrer Dummheit resigniert hatte.
Er hatte mehr mit einem Dämon, als mit einem Menschen gemein. Ich hatte, um ehrlich zu sein, Angst vor ihm. Ich hatte ja auch allen Grund dazu, wenn man bedenkt, wie Herr Maasen ergangen war und wie launisch Nathan zu sein schien.
Ich war zwei Jahre lang mit ihm in einer Klasse und schaffte es ihm die ganze Zeit aus dem Weg zu gehen. Wahrscheinlich hätte ich nie ein Wort mit ihm gewechselt, wenn nicht die Berlinklassenfahrt am Ende des zweiten, gemeinsamen Schuljahres gewesen wäre.
Man teilte mich mit ihm, Luis und dem zweiten Klassensonderling David in ein Zimmer ein, weil Luis und ich es nicht mehr schafften in einem anderen Zimmer unterzukommen.
Nun gab es kein Entkommen mehr vor dieser merkwürdigen Kreatur. Ich machte mich auf alles gefasst, von wilden Drogenorgien in unserem Zimmer bis hin zu Polizeieinsätzen und üblen Streichen. Bald merkte ich aber, dass meine Angst vor ihm großteils unbegründet war. Er war mir gegenüber gleichgültig, vergrub sein Gesicht in Büchern, rauchte Joints, oder verschwand für mehrere Stunden spurlos. Er schien kein Interesse an mir zu hegen, und auch keine daran, uns Schwierigkeiten zu machen. Bald entspannte ich mich in seiner Nähe.
 Es war schließlich die Abschlussfahrt der 10ten Klasse, die letzte Woche vor den Sommerferien, nach denen mit der Oberstufe und dem Abitur der Ernst des Lebens auf uns mit aller Kraft eindreschen sollte. Keiner von uns wollte Stress, ich schon gar nicht.
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Selanna
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Wohnort: Süddeutschland


Beitrag11.12.2016 02:34

von Selanna
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Hallo Leveret Pale,

ich bin das Kapitel noch einmal durchgegangen, habe aber nur noch Kleinigkeiten gefunden, vor allem Flüchtigkeitsfehler. Ich habe schon überlegt, ob ich das hier überhaupt noch einstellen soll, weil es ja eher eine Feinheitenrechtschreibkorrektur und keine inhaltlich-stilistische Kritik ist, aber da ich mir die Arbeit gemacht habe ...

Am dritten Abend der Fahrt hatten wir frei und alle aus unserer Schule gingen zur Spree feiern.
Nun ja, fast alle. David, der auch in meinem Zimmer war, sagte und tat wie immer nichts. Er lag einfach auf seinem Bett und hörte Bach oder Beethoven oder was auch immer. Er war halt ein introvertierter Autist, glaubte ich zumindest damals. Er sprach nie mit irgendjemanden[m] aus unserer Klasse, nur durch seine Meldungen im Unterricht wussten wir, dass er nicht stumm war.
 Und noch jemand wollte nicht mit, nämlich Nathan, was mich irgendwie wunderte. Zum ersten Mal fragte ich mich, was dieses Wesen eigentlich machte, während wir feierten, wohin Nathan verschwand, wenn wir auf Ausflügen waren, und was er dachte und fühlte, und, ob er wirklich so verrückt war, wie wir alle glaubten.
Ich machte mich gerade in unserem Zimmer fertig für die Feier, als mir diese Gedanken kamen. Ich schielte zu Nathan hinüber.
Er lag auf seinem Bett, nur in Boxershorts, in seinem Mundwinkel steckte ein qualmender Joint und auf seiner flachen Brust lag ein Buch. Irvin Yalom, irgendetwas mit Psychoanalyse und Existentialismus.
Luis stand bereits in der Tür, kämmte seine blonden, aufgestylten Haare und betrachtete sich selbst in der Kamera seines iPhones.
„Ähm, Nathan“, fragte ich zögerlich. Es waren die ersten Worte, die ich jemals an ihn gerichtet hatte. Er reagierte nicht. „Kommst du mit zur Spree?“
Ohne von dem Buch aufzusehen, antwortete er: „Wozu?“
„Du weißt schon, saufen, kiffen. Spaß haben. Wir haben Unmengen an Wein und Bier. Ludwig hat sogar Gras, also wenn du mehr willst. Wir machen halt Party.“
„Klingt langweilig“, sagte Nathan, zog an seinem Joint und nahm ihn aus dem Mund, um ihn über einem Aschenbecher, der neben [ihm auf dem] seinem Bett lag, abzutippen. Er sah mich noch immer nicht an, atmete aus und sagte: „Alkohol ist scheiße. Tut euch so einen Dreck nicht an.“
„Saufen ist geil“, rief Luis „Kommst du jetzt? Es ist doch besser, wenn der Irre hier bleibt.“
„Warte“, entgegnete ich und plötzlich durchdrangen mich die leuchtend blauen Augen Nathans. Ich war überrascht, und für einen Moment[WW] stockte mein Atem. Ich spürte die sezierende Kälte seines Blicks auf mir und wollte mich abwenden, aber [Komma] im selben Moment[WW], befahlen mir Nathans Augen weiterzusprechen. Ich gehorchte, wie ich später oft gehorchen sollten [sollte], wenn mich der Blick treffen würde. „Was ist daran langweilig? Es macht Spaß. Ich dachte, du wärst ein Partylöwe. Ich habe von der Hausparty bei dir vorletztes Jahr gehört. Das soll der Hammer gewesen sein. Und was ist schlecht an Alkohol?“ Ich konnte es nicht fassen. Der wahrscheinlich größte Junkie der Schule hatte einen Joint im Mundwinkel und erklärte mir, Alkohol wäre Dreck. Ich wollte das nachvollziehen.
Nathans Blick sezierte mich, tiefer. So musste sich eine Zwiebel fühlen, wenn man sie schälte, fürchterlich. Nathan Stimme war scharf und es schwang ein feindseliger Unterton mit: „Alkohol ist ein Gift, es tötet Zellen in deinem ganzen Körper und versetzt dich in ein ekelerregendes Delirium. Es macht dich zu einem dummen, kotzenden Idioten, der keinen gescheiten Satz mehr auf die Reihe bringt. Null Mehrwert.
Und Partys langweilen mich schon seit Jahren. Inhaltlose kollektive Zeitverschwendung, von der ich nur Kopfschmerzen kriege.“
„Sagt der Typ mit einem Joint in der Hand“, rief Luis.
„Ist medizinisches Cannabis. THC-frei, macht nicht high. Es enthält nur gesundes Cannabidiol. Ich rauche das nur wegen dem Geschmack und wegen der gesundheitsfördernden Wirkung.“
„Ah, was auch immer du laberst. Kommen, gehen wir“, drängte Luis. Er war ungeduldig, er wollte saufen und Mädchen aufreißen. Das hatte ich wenige Minuten zuvor auch noch gewollt, aber nun glaubte ich, dass Nathan interessanter sein könnte. Ich hatte das Gefühl an einer Schwelle zu etwas viel Größerem zu stehen, zu einer anderen Welt, in die nur Nathan mich führen konnte. Tief in mir drin sehnte sich irgendetwas schrecklich danach, über diese Schwelle zu treten, wie Alice dem Kaninchen einfach ins Wunderland zu folgen. Ich traf eine Entscheidung.
„Ich bleibe hier“, sagte ich.
 Luis starrte mich an, als hätte ich gerade verkündet, Lepra wäre keine Krankheit, sondern ein geiler Lifestyle. Dann zeigte er mir den Vogel und rief beim Hinausgehen „Du hast dich bei dem Irren mit einem Hirnschaden angesteckt.“ Die Tür des Hotelzimmers krachte zu.
„Idiot“, sagte Nathan „Und warum bleibst du jetzt hier?“
„Ich ... Ich glaube, dass du recht haben könntest, oder so. Ich will wissen, was du jetzt machst und was besser sein soll als eine Party. Ich will etwas Neues erleben, meinen Horizont erweitern und du bist ja ... Ich will dich nicht beleidigen, aber du ist etwas anders, [kein Komma] als die meisten und irgendwie macht mich das neugierig.“
„Anderssein ist in einer kranken Gesellschaft wie dieser nicht selten etwas Wunderbares, also danke für das Kompliment“, sagte Nathan, zog an seinem Joint und blätterte eine Seite um. Ich trat von einem Bein auf das andere.
„Wie hast du das mit Herr Maasen eigentlich gemacht?“
„Ein Zauberer verrät niemals den Zuschauern, wie seine Tricks funktionieren, sonst wäre es ja langweilig“, sagte Nathan.
„Und seinen Schülern?“, fragte ich unwillkürlich. Nathan sah auf und musterte mich. In seinen Augen funkelte eine Mischung aus Neugier und raubtierhaftem Hunger.
„Denen schon, sofern sie soweit sind.“
Ich holte tief Luft. „Okay. Kann ich dein Schüler werden? Zumindest für den Abend“, sagte ich und spürte wie das Blut in mein Gesicht schoss. Ich fühlte mich wie ein kleines Kind, lächerlich. Wozu bemühte ich mich überhaupt, mich bei so einem arroganten Arschloch einzuschleimen?
„Warum nicht“, sagte Nathan und zuckte mit den Schultern „Dann bist jetzt halt mein Schüler.“ Ich spürte ein elektrisches Kribbeln aufsteigen, aber Nathan widmete sich wieder seinem Buch und zog an seinem Joint. Ich stand vor ihm, wartete, er blätterte um, runzelte die Stirn, wohl wegen einer komplizierteren Passage. Ich räusperte mich.
„Ähm, Nathan.“
„Hmm.“
„Du liest doch nicht die ganze Zeit, oder?“, fragte ich bestürzt.
„Nein. Ich hatte eigentlich vor [Komma] mich mit Kratom zu betäuben, bis ihr von euren Feiern zurück seid.“
„Kratom. Was ist das? Eine Droge?“
„Eine Droge.“ Er stand auf, drückte den Joint aus und ging zu seinem Spind.
 Ich spürte das Adrenalin in meinen Adern kribbeln. Ich stand an der Schwelle zum Wunderland, kurz davor zu springen, aber trotzdem noch verunsichert, ob ich das wirklich wollte. Ich fragte: „Was ist das genau? Ist das illegal, also eigentlich, du weißt, ich ... ähm trinke und kiffe nur gelegentlich. Ich nehme keine harten Drogen.“
„Danach wirst du nicht mehr trinken. Und der Begriff harte Drogen ist Bullshit. Wenn überhaupt, dann ist Alkohol eine harte Droge. Das ist doch höchstens als Desinfektionsmittel vernünftig zu etwas zu gebrauchen, die toxischen Effekte überwiegen jeden Nutzen. Es ist nur legal, weil es eine Tradition ist“, er spuckte das Wort Tradition förmlich aus, als würde das Wort sich in Form von braunen[m] Dreck in seinem Mund manifestieren.
„Klar, Alkohol ist schädlich, aber nicht so extrem. Klar, es gibt auch Alkoholsüchtige, aber das ist doch im Vergleich zu anderen Drogen eher harmlos und man wird davon auch nicht irre, wie von irgendwelchen Halluzinogenen. Wenn es wirklich so schädlich wäre, würde es doch bekannt oder sogar verboten sein und alle würden darüber reden“, wandte ich ein.
„Es ist bekannt. Es sitzen mehr Leute mit einer Alkoholpsychose in der Klapse, als wegen Cannabis, auch wenn das in der Öffentlichkeit gern heruntergespielt wird. Google mal Dr. David Nutt oder die Pharmakinetik von Ethanol, oder die Statistiken der Bundesdrogenbeauftragten. Siebenundsiebzigtausend Tote jedes Jahr allein in der BRD, aber die Menschen sind eben ignorant, wenn es um ihr liebstes Betäubungsmittel geht“, sagte Nathan und machte mit einer Handbewegung deutlich, dass das Thema damit für ihn vom Tisch war.
Er griff in den Spind, holte ein Buch hervor und legte es auf dem[n] Tisch. Für einen Herzschlag glaubte ich, es wäre eine Art Zauberbuch oder Lexikon, aber dann las ich verwirrt, dass es ein dicker Reiseführer für Indonesien war.
Er klappte es auf. Innerhalb der Seiten war ein Tresor eingebettet, er schloss ihn auf, nahm ein Tütchen heraus, schloss ihn zu und verstaute das Buch wieder im Spind. Er kam mit dem Tütchen zu mir und hielt es mir vors Gesicht. Kratom stand drauf. Es war gefüllt mit einem bräunlich-grünen Pulver, das mich an Matcha erinnerte.
„Es ist legal, falls dich die Gesetze interessieren“, sagte er, „[e]Es wurde sogar vor [ein] paar Jahren von der Bundesopiumstelle durchgewunken, weil es zu harmlos und zu unbekannt ist, als sie darüber diskutiert haben, ob sie es verbieten sollen.“
„Und was ist das jetzt genau, eine Pflanze?“
„Jo[hätte ich „Yo“ geschrieben], um genau zu sein, die pulverisierten Blätter eines Baumes, der in Südostasien wächst. Die Schlitzaugen konsumieren die Blätter seit Jahrhunderten und in den USA gibt es zurzeit etwa sechs Millionen Kratomkonsumenten. Bisher gab es keinen einzigen bekannten Todesfall, der sich direkt darauf zurückführen lässt. Es ist also recht sicher und erprobt, nur in Europa kennt das irgendwie kein Schwein.“
„Cool. Also ein sicheres Legal High, aber wie wirkt das jetzt? Ich dachte, die meisten dieser legalen Sachen würden nichts taugen.“
„Oh, das Zeug taugt aber richtig. Es Zeug entspannt dich total ohne deine Gedanken zu verwirren, es erhebt dich auf eine Wolke, ohne deinem Körper zu schaden, und du wirst keinen Kater davon haben und nicht kotzen. Glaub mir, das wird dir gefallen.“
„Okay“, sagte ich[Komma] „klingt gut.“
„Du willst es also probieren?“
„Ja, warum nicht, wenn es sicher ist und zum Schülersein gehört.“ [Jetzt kapier ichs erst! Nicht das generelle Schülersein, sondern Daniels Schülersein unter Nathan]
„Keine Ahnung, ob es dazu gehört. Ich war noch nie Lehrer. Eigentlich halte ich auch nichts von solchen Autoritätspersonen, aber heute kann man ja mal eine Ausnahme machen“, sagte Nathan und zuckte mit der Schulter, als ob damit alles gesagt wäre. War es auch irgendwie.
Er zog aus seiner Hosentasche eine Feinwaage und stellte sie zusammen mit drei Pappbechern, die er aus seinem Reisekoffer zauberte, auf den Tisch.
„David, willst auch endlich mal probieren?“, fragte er.
David sah zu uns auf, dann sagte er: „Ja.“
Ich war wie paralysiert. David hatte noch nie mit einem von uns gesprochen.
Er war ein hochintelligenter Eigenbrötler, aber Nathan hatte wohl bereits länger Kontakt mit ihm, dem lockeren Umgangston nach zu schließen.
 Wer sogar mit David sprechen und ihn zum Drogenkonsum animieren konnte, der musste übernatürliche Kräfte besitzen. Dieser Gedanke verwunderte mich aber auch nicht mehr so sehr, schließlich kannte ich Nathan bereits seit zwei Jahren zumindest als stiller Beobachter und spätestens seit dem Vorfall mit Herr Maasen hatte mein Glaube an die Realität Risse bekommen.
Nathan legte einen Fetzen Papier auf die Waage und maß für jeden von uns etwas von dem Pulver ab und schüttete es in die Becher. Dann verschwand er damit im Bad und kam mit drei Bechern voller Schlamm zurück. Aus seiner Taschen zauberte er mehrere Tütchen Kaffeezucker, wohl geklaut aus einem Restaurant, und schüttete sie großzügig in die Brühe.
„Ich habe leider nicht die richtigen Zutaten dabei, aber mit Zimt, Zucker, Kakao und etwas Schokoeis kann man daraus die leckersten Shakes machen. So wird das wie Hundescheiße schmecken, aber ihr werdet es nicht bereuen. Es wird die Pforten eurer Wahrnehmung ein Stückchen weiter öffnen und euch einen angenehmen Abend bescheren“, sagte er und leerte sein Glas in einem Zug.
David und ich nahmen unsere. Ich starrte die Brühe an. Sie roch wie Grüner-Matcha-Tee, sah auch irgendwie so aus. Ich hatte von dem Zeug noch nie zuvor gehört. Möglicherweise war auch alles, was Nathan mir darüber erzählt hatte, Lügen. Es könnte tödliches Gift oder einfach nur eines dieser wirkungslosen Legal Highs sein, wie die Katzenminze, von der Luis mal erzählt hatte und von der er ohne eine echte Wirkung, bis auf Übelkeit, mehrere Joints geraucht hatte.
Es könnte aber einfach wirklich nur getrockneter, wieder aufgeweichter Schlamm sein. Wer wusste schon, was sich dieser Verrückte so gab. Ich fühlte mich an die Szene in Matrix erinnert, in der Morpheus Neo die Blaue Pille des Vergessens und der Konformität anbietet und die Rote Pille des Erwachens in die Realität, gleichzeitig bestand aber auch immer dieses unterschwellige Gefühl, beides könnte fake sein.
 War Nathan ein Erwecker oder ein Betäuber oder ein Illusionist? Waren die Pforten der Wahrnehmung, von denen er sprach, echt oder eine Wahnvorstellung?
Ich würde es erfahren, ich könnte es googlen und mich in langwierige Recherchen verstricken, oder die Sache direkt angehen, wie ein Abenteuer. Ich wählte Letzteres.
Ich nahm einen Schluck, es schüttelte mich und ich musste das Gesicht verziehen. Das Zeug schmeckte wirklich wie Hundescheiße und unendlich bitter.
„Austrinken, komplett“, befahl Nathan. Ich gehorchte. Mit einem Zug leerte ich die ekelhafte Brühe und warf den Becher im hohen Bogen in den Mülleimer. David tat es mir gleich. Es schüttelte mich [erneut], und ich spürte, wie sich alles in mir zusammenzog. Nun gab es kein Zurück mehr, ich hatte mich dem Verrückten ausgeliefert, ich hatte Sicherungsschnüre gekappt und stürzte ins Ungewisse. Ich hatte Angst, aber keine Zeit mich darin zu vertiefen, denn Nathan ging bereits wild mit den Armen fuchtelnd und kommandierend an sein Werk.
„David, hast du Pink Floyd auf deinem Smartphone?“, rief er[Punkt] „Bei meinem ist der Akku entladen.“
„Ja“, sagte David und nach einem Zögern: „The Division Bell?“
„The Division Bell, richtig. Das ist mein Mann, fang mit High Hopes an, danach vielleicht das Album Obscured by Clouds, das passt auch und vergiss nicht Comfortably Numb in die Playlist zu tun[packen/stellen]“, und an mich gerichtet: „Du kennst Pink Floyd wahrscheinlich nicht, oder?“
Ich schüttelte den Kopf. Der Name kam mir bekannt vor, aber ich konnte ihm nichts zuordnen.
„Was für Musik hörst du so?“
„Vor allem Rap. Manchmal auch Pop, aber nur auf Partys halt“, sagte ich.
„Den gleichen Mainstreamrotz wie alle also“, schnaubte Nathan verächtlich.
„Pop ist wirklich meistens Rotz. Aber bei Rap kann man das nicht pauschal sagen. Eminem ist gut und die ersten Alben von Genetikk sind auch okay. Du kannst ein Genre nicht gleich verurteilen, nur weil der Großteil davon schlecht ist“, wandte David ein. Ich kam nicht drumherum[Komma] ihn anzustarren. Ich hatte ihn vor diesem Tag noch nie normal reden hören, und hier, im Beisein Nathans, bildete er sogar ganze Sätze über so triviale Sachen, wie Musik. War das real oder war ich bereits mitten im halluzinogenen Drogendelirium? Ich zwickte mich, als keiner hinsah, aber es tat weh und änderte nichts an der Situation.
„Ja. Ja, du hast recht, sorry. Ich vergesse immer Eminem. Die alten Alben Genetikk sind auch tatsächlich gut“, sagte Nathan „Da waren sie noch nicht Kommerz, sie waren authentisch und hatten noch etwas Neues, bevor sie auf die langweilige Mainstreamgangstarrapperschiene gewechselt sind. Heutzutage ist aber kaum noch jemand authentisch, alle verbogen und verlogen, Langweiler. Egal. Daniel, hast du eine Musikbox?“
Daniel. Das ist mein Name, Daniel Vogt, ich habe mich ja noch gar nicht vorgestellt.
„Ja, habe ich“, ich ging zu meinem Rucksack und nahm die Box heraus.
„Hat sie Bluetooth?“
„Jep.“
„Gib sie David. David, High Hopes. Wir wärmen uns damit hier auf, bevor wir uns nach draußen verziehen. Ich [hab] bereits gestern ein nettes Plätzchen zum Chillen ausgemacht.“
Nathan nahm von einer Stuhllehne ein abgeranztes weißes Shirt. Er schlüpfte hinein wie ein Wiesel.
Plötzlich hörte ich Kirchenglocken läuten und das Surren von Bienen, es kam von allen Seiten, wie ein ätherisches Orchester. Ich war verwirrt, doch dann spielten engelhafte Keyboardklänge, setzte eine göttliche Stimme ein: „Beyond the horizon of the place we lived when we were young“, und ich realisierte, dass das die Musik war, die aus meiner Box kam und mich vom Kratom getragen[WW]  in ihren magischen Bann zu ziehen begann. [ich hab mal gelesen, dass manche Lektoren die Wendung „etwas beginnt zu“ hassen. Du könntest schreiben: „in ihren magischen Bann zog“]
„Setzt euch Leute, lasst die Wirkung kommen“, sagte Nathan und plumpste auf den Boden, lehnte sich an seinen Koffer an und schloss die Augen. Ich setzte mich ihm gegenüber, gelehnt an die Wand [gelehnt][WW], David neben mich. Ich ließ mich von der Musik tragen[WW]. Normalerweise hätte mich ein so ruhiges und langsames Lied innerhalb von Sekunden gelangweilt, aber nun genoss ich es. Meine Unsicherheit, Aufregung und mein Misstrauen gegen Nathen begann [wieder „beginnt zu“] bald dahinzuschmelzen, wie Schnee im Frühjahr.
Ich spürte, wie das Kratom langsam wirkte, wie Wärme durch meine Adern kroch. Ein Kribbeln stieg in meiner Seele auf und wurde von Minute zu Minute stärker, während ich immer tiefer in mir selbst und der Musik versank. Ich fühlte mich geborgen, als würde mich ein Engel umarmen. Ich sah Nathan an. Er war wie ausgeschnitten, als hätte ihn ein übernatürlicher Künstler in die Collage des chaotischen, mit Kleidungsstücken und Müll überhäuften Hotelzimmers hineingeklebt. Die Musik war herrlich, nie zuvor hatte ich Töne auf diese Art und Weise wahrgenommen. Ich hörte jedes Instrument einzeln, und gleichzeitig ihr harmonisches Zusammenspiel, das wie in Wellen durch meinen Körper drang und alle meine Sinne gleichzeitig verführte. Vor meinen inneren Augen [ich denke, man sagt das im Singular: vor meinem inneren Auge] eröffneten sich weite, grüne[WW] Wiesen mit leuchtend grünem[WW] Gras, stechend blauen Himmel.
Wir schwebten so vor uns hin, sicherlich eine halbe Stunde, vielleicht auch eine ganze, vielleicht auch zwei, wer weiß. Wir hörten mehrere Lieder, aber wir kamen letztendlich zurück zu High Hopes.
„Versteht ihr eigentlich, worum es in diesem Lied geht?“, erklang Nathans Stimme wie die eines Erzählers aus dem Off.
„Drogen?“, fragte ich und lächelte. Ich hatte das Gefühl, auf einer warmen Wattewolke zu schweben.
„Nein. Kindheit“, sagte David.
„Kindheit?“, fragte ich verwundert.
„Kindheit. Es geht um das größte Drama der menschlichen Existenz, das Erwachsenwerden und Abstumpfen.“
„Du redest gern über deine Meinung vor dich hin, kann das sein? So wie vorhin bei Kratom und dann bei Musik“, fragte ich. Nathan sah mich irritiert an.
„Ähm, ja ... Stört dich das?“
„Ne, passt schon. Hatte das nur irgendwie nicht erwartet. Ist aber interessant, mach bitte weiter“, sagte ich[Punkt] „Erinnert mich irgendwie an einen Podcast.“
„Okay. Also wo war ich?“
„Das größte Drama“, sagte David.
„Ah ja, stimmt. Also. Als Kinder sehen wir die Welt als ein einziges Wunder, alles ist verheißungsvoll und interessant, jedes Atom kann uns begeistern und wir ziehen uns alles rein. Doch wir werden irgendwann erwachsen und ernüchtern. All die Wunder werden plötzlich zu kalkulierbaren physikalischen Reaktionen ohne tieferen Sinn. Das Leben erscheint sinnlos, öde und leer.“
„Ist es ja auch“, sagte David.
„Das ist ziemlich zynisch“, sagt ich.
„Eben. David ist ein super Beispiel, aber nicht nur er. Wir alle desillusionieren, geben auf und werden zu einem gewissen Grad zynisch mit der Zeit, nicht alle gleich stark, aber niemand kann sich diesem Prozess ganz entziehen. Manche flüchten sich in dumpfen Konsum oder Religionen oder andere Ideologien, die uns Mystizismus, Sinn oder Heil vorgaukeln. Da ist Zynismus eigentlich noch die gesundeste[gesündeste] Form. Er ist zumindest ehrlich, aber auch er tötet innerlich ab und lässt einen erkälten[erkalten].“
„Lieber kalt wie ein Eiswürfel, als labil wie eine Pfütze“, sagte David.
„Aber wozu das alles überhaupt? So wie du das formulierst, klingt das irgendwie krankhaft, aber das ist doch der ganze normale Prozess des Erwachsenwerdens“, wandte ich ein.
„Ja eben, das ist ja das Schlimme. Es ist Teil des normalen Werdegangs, man kann sich dem nicht entziehen. Sei doch mal ehrlich, findest du es toll, erwachsen zu werden?“, sagte Nathan.
„Ja, schon, irgendwie. Als Erwachsener ist man freier und erfahrener, hat viel mehr Möglichkeiten.“
„Aber man muss auch mehr machen und man verliert sehr viel, unter anderem die naive Reinheit des Lebens. Jene kindliche Reinheit, die alle Religionen vergöttern. Wenn man erwachsen wird, beginnt man die Welt zu verstehen und wird kritisch. Damit stirbt für einen die Magie, die Welt verliert ihr geheimnisvolles Funkeln. Das Verheißungsvolle, das Neue, die Romantik. Sie alle sterben, und mit ihnen häufig wir als Menschen. Das Leben ist kein Leben mehr, es ist ein langsamer Sterbensprozess, in dem alles immer profaner und kälter wird. Heutzutage beschleunigen Aufklärung und Digitalisierung diesen Prozess noch mehr. Die Menschen leben länger, aber nur, um sich in Jobs abzurackern, mit einer sinnlosen Existenz zu hadern und dann in Altersheimen zu versauern. Bereits als Kinder werden sie mit der harten Naturwissenschaft konfrontiert und sterben innerlich. Ein Vogel ist kein wunderbares Geschöpf mehr, er wird zu einer biochemischen Maschine, Religionen werden zu haltlosen Lügengebilden, das Individuum eine Ressource und Zahl in der globalen Wirtschaft.“
„Das ist aber die Realität“, sagte David.
„Zumindest nehmen wir an, dass es die Realität ist und diese Realität tut weh.“
„Das ist traurig“, sagte ich, auch wenn ich mich nicht traurig fühlte. Ich fühlte mich gut, ich spürte Frieden, ich war losgelöst von allem Negativen und betrachtete es von außen.
 So wie ich da saß, fühlte ich mich wie der Häuptling eines Indianerstammes, der gerade die Friedenspfeife mit der ganzen Welt geraucht hatte, und nun erfüllt und etwas erschöpft in das Feuer der Existenz starrte. Das Feuer war Nathan, und es sprach zu mir, und ich lauschte neugierig. Sämtliche Vorbehalte, sämtliche Hemmungen und Ängste gegenüber diesem Verrückten waren vom Rausch hinweggespült und durch Vertrauen und Respekt ersetzt worden.
„Ja, es ist traurig, aber kein Grund aufzugeben und auch keiner zu weinen. Man muss lernen[Komma] den Schmerz zu akzeptieren, ja, ihn gar zelebrieren“, sprach mein Prophet[Punkt] „Das Erwachsenwerden ist hart und viele verrohen daran, aber es eröffnet auch tausend neue Türen zur Magie, man muss sie nur finden. Und überhaupt erst suchen und daran scheitern die meiste![meisten]. Aber nicht ich und genauso wenig ihr! Ich brenne lieber aus, als zu das ich versauere und desillusioniere! [it's better to burn out than to fade away Wink]Und jetzt haben wir genug herumgesessen und gequatscht, es wird Zeit zu leben!“
Nathan stand plötzlich auf. Er zog sich seinen grauen Hoodie über und setzte eine schwarze Pilotenbrille auf, obwohl draußen bereits die Sonne über den Hausdächern unterging. Das Lied endete.
„Wir gehen raus“, sagte Nathan und griff nach einer Flasche Wasser und einer Packung Tortillachips, bevor er durch die Tür verschwand. Ich hatte keine Möglichkeit zu protestieren. Nun ging ein kleiner Stich durch mein Herz, ich wollte mich nicht von meiner Wolke erheben. Ich fühlte mich zu müde, zu entspannt, aber dann tat ich es doch, und die Wolke folgte mir und machte mich aktiv. Die Müdigkeit und Tiefenentspannung wichen Neugier und Energie. Wie durch einen warmen Nebel glitt ich, während ich Nathan und David die Treppe des Hotels herunterfolgte.
In der Lobby verabschiedeten wir uns von unseren Lehrern, die uns ermahnten, vor 23 Uhr zurück zu sein. Es war erst 19 Uhr.
Draußen war es wunderschön. Beton leuchtete, das Glas glitzerte rotgolden wie Diamanten, im Sonnenuntergang. Die Konturen traten stark hervor, die Farben waren kräftiger, die Klänge sanfter, alles verschmolz zu einer harmonischen Melodie. Ich hatte keine Halluzinationen, alles war eigentlich wie immer, allerdings fielen mir all die kleinen, schönen Details erst jetzt auf. Alles wirkte intensiver, frischer. Ich war gefühlt das erste Mal in der Welt, ich war wieder ein Kind, und Nathan war mein Führer durch die Welt, mein neuer Vater.
„Ich bin plötzlich richtig wach“, sagte ich zu Nathan.
„Das ist auf Kratom immer so. Es verstärkt deine positiven Empfindungen. Wenn du aktiv sein willst, macht es dich aktiver, wenn du dich zurücklehnst, entspannt es dich.“
„Nice“, sagte ich und nickte, dann fragte ich, ohne recht zu wissen, warum: „Ist das die Realität?“
„Ja und Nein. Wir sind, wie auch im Alltag, noch weit davon entfernt. Du hast erst die Tür deiner Lügenblase aufgemacht. Du bist noch nicht einmal wirklich über die Schwelle getreten. Und vergiss nicht, du bist high. Auf Drogen siehst du genauso wenig die Realität, wie nüchtern, du siehst nur eine andere Verzerrung der Realität, andere Phänomene. Es geht meiner Meinung nach darum, möglichst viele verschiedenen Verzerrungen kennenzulernen, und dann daraus die echte Realität zu konstruieren.“
„Zeig mir mehr“, rief ich überschwänglich, obwohl ich mir nicht sicher war, Nathan richtig verstanden zu haben. Ich war euphorisch von der Droge und der adrenalinschwangeren Aufbruchsstimmung, die einen immer packt, wenn man eine Grenze überschreitet und Tabus zerschmettert. Mir gefiel das alles. Ich war keinen ganzen Abend im Bann des Propheten Nathan und war bereits besessen von ihm und seiner exzentrischen Weltsicht.
„Geduld.“
„Was muss ich tun?“, fragte ich und verkniff es mir ein launiges Meister hinzuzufügen. Irgendwie wirkte Nathan plötzlich wie ein Mentor aus einem Kung-Fu Film, aber einen mit animierten, sprechenden Tieren und überdrehten Effekten, keinen seriösen.
„Erst einmal, streich müssen aus deinem Wortschatz. Du bist frei, alles was du tust, tust du, weil du dich dafür entscheidest. Du musst deinen eigenen Weg gehen“, sagte Nathan.
Ich nickte. Plötzlich kam neue Musik aus der Box, sie war rockiger, fetziger, punkiger. Es war Jesus of Suburbia von Green Day. Der Songtext erzählte von einem Typen, der in einer Vorstadt rumgammelte und sich mit Ritalin zudröhnte. Wie passend, denn wie ich später erfahren sollte, verdankte auch unser Messias seinen Wahn nicht nur dem Ritalin, sondern kam auch tatsächlich aus einem Vorstadt, einem wahnsinnigen Vorort Münchens namens Unterhaching, der neben einem verlassenen Flughafen lag und in dem es nur so von Potheads und Spinnern wimmelte. Dazu aber später mehr.
Die Musik ließ mein Herz höherschlagen, die Harmonie zerfiel zu einer energiegeladenen Eufonie der Gefühle. Nathan tanzte über den Bordstein, ich tat es ihm gleich. David lief mit der Box hinterher. Wir kamen zu einem Kinderspielplatz inmitten einer Betonblocksiedlung.
„Zieht euch das rein! Mitten in den öden Wüsten aus Armut, Beton und Hoffnungslosigkeit, ein Brunnen des Friedens, der Kindheit! Lasst uns spielen.“
  Nathan warf sich auf die Schaukel und begann manisch kichernd hin und her zu schwingen. Ich starrte ihn einen Moment lang an. Er war damals 17, ich 16, beide also mindestens ein Jahrzehnt zu alt, um auf einem Kinderspielplatz zu spielen, ohne wie Idioten dazustehen.
Ich zuckte mit den Schultern, mir war total egal, was die Gesellschaft von mir dachte, ich war high, und Spielen klang verlockend. Ich stieg auf die Schaukel neben ihm und begann ebenfalls zu schaukeln. Die Welt tanzte in einem Kaleidoskop, ich lachte, schwang und flog hin und her, immer höher in die Ekstase. Der Wind zerrte erfrischend an meinen Haaren und Klamotten. Nathan schwang neben mir, ebenfalls immer höher und wilder.
„Ist das nicht geil?“, rief Nathan.
„Und wie!“, schrie ich. Das war besser als jede Achterbahn, die ich in den letzten Jahren ausprobiert hatte. High Hopes und Nathan hatten Recht, das Erwachenwerden war ein Drama. Ich dachte daran, wie ich als Kind geglaubt hatte, dass, wenn ich intensiv und lang genug schaukelte, sich die Schaukel überschlagen und ich mit Überschall in eine andere Dimension katapultiert werden würde. Verrückte Kindergedanken, aber plötzlich wirkten sie wieder so nah, und ich schwang, und schwang, und schwang immer höher, und so tat es Nathan. Es war, als könnte er meine Gedanken lesen.
Plötzlich, als wir beide am höchsten Punkt waren, ließen wir synchron los. Die Ekstase entlud sich, wie ein Orgasmus. Ich war ein Vogel, ich flog über den Kinderspielplatz, lachte. Ich breite meine Schwingen in meiner Wolke aus Wärme und Glück aus. Grinsend landete ich in einem Gebüsch und überschlug mich. Ich lachte, ich spürte keinen Schmerz.
„Kommt, lasst uns wieder etwas Musik hören und entspannen“, sagte David, der die ganze Zeit auf einer Bank daneben gesessen und zugeschaut hatte.
Wir liefen zu einem kleinen Rasenfleckchen neben dem Spielplatz und ließen uns nieder. Die ganze Welt schwankte ein bisschen, um mein Sichtfeld herum wuchsen die hässlichen Betonblöcke der Plattenbausiedlung zum Himmel, und ich versank im warmen, kuscheligen Gras. Nun war ich wirklich müde, das Kratom drückte mich richtig in den Boden. Aus der Musikbox liefen abwechselnd David Bowie, Pink Floyd, Green Day und irgendwelche PsyTrance [Bindestrich]Stücke. Es war wunderschön, die Erde umarmte mich, die Nymphen der Natur säuselten mir die Lieder ins Ohr, ich fühlt mich gut, aber nicht dumm oder verwirrt, nur ruhig und zufrieden, wieder bis in den Kern meiner Seele entspannt. Wir schwiegen, ließen die Tortilias [Tortillas]und das Wasser kreisen. Allein beim Geruch der Maischips, kreierte mein Gehirn Bilder von weiten, großen Maisfeldern. Ich kaute langsam, teils aus Trägheit, teils aus Genuss.
Es wurde immer dunkler. Es gab keine Beleuchtung auf dem Spielplatz, sodass wir bald vereinzelte Sterne am Himmel funkeln sahen. Ich dachte nach. Luis und meine anderen Freunde, sie saßen nun an der Spree, lachten über sinnlose Dinge, torkelten verwirrt rum, kotzten und qualmten sich mit Zigaretten voll. Das kam mir auf einmal dreckig und irgendwie abstoßen und dämlich vor. Es war traurig, das Saufen, es war erwachsen und roh. Warum sollte man sich so etwas antun, wenn man doch die Welt so schön mit Kratom genießen, wenn man wieder ein Kind sein konnte [Komma]ohne die Klarheit der Gedanken zu verlieren? Ich war froh, Nathan gefolgt zu sein. Ich sah zu ihm hinüber. Er starrte träumerisch zum Himmel, als würde er irgendwo da oben zwischen den Sternen eine lang verlorene Heimat sehen können.
„Daniel“, sagte er plötzlich.
„Ja?“, fragte ich.
„Was siehst du, wenn du zu den Sternen aufblickst?“
„Ein paar Sterne, aber nicht alle. Die meisten kann man wegen des Lichts der Stadt nicht sehen.“
„Hmm ... Interessant. Und was symbolisiert die Stadt für dich?“
„Zivilisation, Fortschritt“, sagte ich, ohne nachzudenken, es sprudelte aus mir heraus „Meinst du etwa, dass das Wissen des Fortschritts und unser zivilisiertes Leben uns blenden? Sodass wir nicht mehr die Wahrheit sehen können, nicht mehr die großen erhabenen Dinge, wie die Sterne, die Lichter anderer Welten?“
Was hatte ich da gesagt, was für eine krude Logik hatte mir das Kratom entlockt? Ich wollte mich schon dafür entschuldigen, dass ich Bullshit gelabert hatte, aber Nathan kam mir zuvor.
„Das war nicht das, worauf ich hinauswollte. Aber es ist ein interessanter Gedanke und er ist verwandt mit dem, was ich zuvor über die Wissenschaft als Religion gesagt habe. Unsere Gene sind nicht für die Zivilisation geschaffen, die ganze Technologie, Facebook, Fernsehen, der ganze moderne Konsumismus, sie sprechen unsere Instinkte zwar an, aber fucken uns gleichzeitig einfach zu hart ab. Wir sind blind durch Reizüberflutung und Propaganda, laufen im Kreis, gefangen in einem sinnbefreiten Materialismus und entfremdet von unserer Heimat, der Erde.“
„Ist aber Materialismus nicht richtig?“, wandte David ein.
„Epistemologisch, empirisch und ontologisch gesehen, ja, glaube ich, befürchte ich, aber er kann uns keine Antwort darauf geben, warum und wozu wir existieren. Materialismus allein ist ein fürchterlicher Lifestyle, er hat keinen höheren Lebenssinn. Das ist die traurige Wahrheit unserer Existenzen. Wir träumen von mehr, aber es gibt dort nichts, oder zumindest können wir es nicht sehen.“
„Ist das aber nicht wie bei der Heisenbergsche Unschärferelation?“, wandte David ein. „Man kann die Wahrheit nicht erkennen, denn sobald man sie ansieht, verändert sie sich. Du kannst nicht mit Bestimmtheit sagen, dass Materialismus die Wahrheit ist, genauso wenig, wie du dadurch Metaphysik widerlegen kannst.“
„Das ist aber ein sehr materialistischer Standpunkt, die Unschärferelation auf die Wahrheit anzuwenden und damit den Materialismus in Frage zu stellen, der die Unschärferelation überhaupt erst anwendbar macht. Die Schlange beißt sich in den Schwanz. Es ist ein Widerspruch. Eine Umkehrung aller Werte gegen sich selbst. Fast schon Nihilismus“, sagte Nathan und dann seufzte er: „Und wir wissen wieder nur, dass wir nichts wissen können, und wir müssen glauben und hoffen. Hoffnung ist das Einzige, was bleibt, das süßeste und tödlichste aller Gifte. Die ganze Menschheit, die Industrie, der Kapitalismus, die Wissenschaft, alles läuft auf Hoffnung. Alle hoffen, sagen sich eines Tages, wenn genug Geld da ist oder morgen, nur noch etwas, oder wenn wir das herausfinden, aber sie wissen alle tief in ihrem Inneren, dass das ein Gift ist, eine Lüge, am Ende gibt es kein Ziel, hat man eins erreicht, jagt man das nächste bis der Sensenmann kommt und alles futsch ist.“
Ich war verwirrt, auf einmal kam ich mir wie ein Trottel vor. Was machte ich hier eigentlich? Ich war high auf irgendetwas Absonderlichem. Ich saß mit einem genialen Autisten und einem Propheten auf einem Kinderspielplatz und verstand kein Wort von ihrem philosophischen Gelaber. Ich sprach diese Gedanken leichtsinnig und vom Kratom enthemmt aus.
„Das stimmt nicht“, sagte Nathan scharf und obwohl ich zugedröhnt war, zuckte ich erschrocken zusammen. „Du bist nicht dumm, du bist kein Trottel, hör auf dich selbst zu erniedrigen. Mach dich nicht unnötig klein, das machen andere schon genug.“
„Entschuldigung“, sagte ich perplex, denn ich wusste nicht, was ich sonst sagen sollte, aber das brachte Nathan noch mehr auf die Palme.
„Entschuldige dich nicht bei mir! Fuck, Mann. Du hast dich vor niemandem zu rechtfertigen oder für irgendetwas zu entschuldigen, außer vor dir selbst. Entschuldige dich niemals dafür, wer du bist! Wenn du etwas nicht verstehst, dann frag nach und lerne. Aber heul doch nicht rum, dass du nichts weißt. Das ist doch bescheuert.“
„Er ist nicht so weit“, erklang plötzlich Davids Stimme. Zum ersten Mal glaubte ich, Arroganz in seiner Stimme zu hören. Konnte es sein, dass David nie mit uns anderen sprach, weil er sich für etwas Besseres hielt?
Nathan fokussierte mich.
„Noch nicht“, sagte er.
Die hervorstehenden Wangenknochen und eingefallenen Augenhöhlen ließen düstere Schatten und harte Konturen entstehen. Seine Augen flackerten wie römische Lichter in der Nacht, und ich hatte wieder das Gefühl, sie gäben mir einen Befehl.
„Noch nicht“, wiederholte ich und fügte hinzu: „Aber ich will. Ich will verstehen, wie ihr denkt“, das wollte ich wahrhaftig. Ich kam mir tatsächlich vor, als hätte ich mein ganzes Leben in einem Schuhkarton verbracht und Nathan war derjenige, der mich nicht nur aus dem Schuhkarton herausziehen konnte, nein, er würde mich in die ganze weite Welt führen. Und das wollte ich sehen, ich wollte es erleben.
Ich sagte es ihm, genau so.
Seine Züge entspannten sich, er lächelte.
„Ich habe es dir doch gesagt“, sagte er zu David „Dieser Junge hat was, er ist kein Schaf, er ist ein Wolf wie wir, hungrig nach dem Fleisch des Lebens, keiner, der zu lange das Gras zu seinen Füßen kauen kann, das bereits von der ganzen Herde angeschissen wurde.“
David schwieg.
„Wie kann ich lernen? Worüber habt ihr geredet? Wird Kratom mir den Weg zeigen? Oder andere Drogen?“, fragte ich überschwänglich und vom Rausch enthemmt.
„Nein, Kratom ist höchstens ein schwaches Mittel. LSD könnte dir mehr zeigen, wenn du dich darauf einlässt, aber Drogen sind nur Hilfsmittel. Werkzeuge, die den Lernprozess beschleunigen können, aber nicht zwingend notwendig für ihn sind, im Gegenteil, sie können extrem zerstörerisch sein. Das ist kein Spielzeug. Vergiss das nie. Hierzu gehört viel mehr, als nur Drogen. Es gehört viel Wissen dazu, aber ich kann es dir zeigen, wenn es dich interessiert.“
„Danke“, sagte ich.
„Du bist selber mir gefolgt. Dank dir selber, dafür, dass du diesen Pfad gewählt hast.“
Und so wurde ich ein Apostel des Propheten Nathan, und wie es sich bald zeigen sollte, war ich bei weitem nicht der Letzte. Nathan stand gerade erst am Anfang.
Wir lagen noch sicherlich eine Stunde im Gras, schwebten im Rausch und Nathan erklärte mir alles, was ich nicht [„nicht“ streichen] vorhin nicht verstanden hatte. Ich kann mich aber, um ehrlich zu sein, nicht mehr wirklich an viel von dem ganzen philosophischen und physikalischen Gerede erinnern. Viel mehr als das interessierte mich nämlich Nathan, wie er dachte, wie er gestikulierte, wie er einfach die Dinge tat und sagte, die er für richtig hielt, ohne sich einen Dreck um Regeln oder die Meinung anderer zu kümmern. Ich mochte den Klang seiner Stimme mehr, als den Inhalt, den sie verkündete.
Ich war angefixt von seinem unkonventionellen Verhalten und seinen Drogen und eingenommen von seinem Charisma.
Als wir ins Hotel zurückkamen, war es bereits 22 Uhr. Ich war schrecklich müde, die Wirkung des Kratoms war bis auf ein schwaches Wohlgefühl verschwunden. Außer uns war noch niemand von unserer Schule zurück, und sie waren es auch nicht, als wir uns nach dem Duschen schlafen legten. Bevor ich mich umdrehte, sah ich noch einmal zu Nathan hinüber. Er lag genauso in seinem Bett, wie vier Stunden zuvor, als ich ihn gefragt hatte, ob er zu der Party gehen würde. Mit dem Joint im Mundwinkel blätterte er sich durch die Psychoanalyse.
„Nathan“, sagte ich. Er sah nicht auf. „Ich glaube, dies ist der Beginn einer wunderbaren Freundschaft.“
Er sah noch immer nicht auf und sagte: „Hast du den Filmen überhaupt gesehen?“
„Welchen Film? Meinst du die Serie Mr. Robot?“
„Dachte ich mir. Typisch Postmoderne. Alles kopieren und miteinander vermixen, bis es jeder kennt, aber niemand mehr weiß, woher es kommt.“
„Woher kommt es denn?“, fragte ich neugierig.
„Casablanca, ein Film von 1942.“
„Hmm“, sagte ich „Danke. Gute Nacht“.
„Gute Nacht.“
Ich drehte mich um und schloss die Augen, aber ich brauchte lange, bis ich wirklich einschlief. In meinem Kopf begann eine Gedankenschleife.
Was, wenn alle Kunst, alle Schrift, alle Filme, alle coolen Zitate nur eine Kopie oder eine veränderte Kopie von einer Kopie von einer Kopie gemischt mit einer Kopie von einer Kopie und so weiter waren? Die Sprüche von heute, die Kopien der von gestern, die Filme von heute, Kopien von Hamlet, Hamlet nur eine modifizierte Kopie von griechischen Dramen, die griechischen Dramen eine Kopie der Göttersagen, die Göttersagen eine veränderte Kopie der Naturreligionen und so weiter und so weiter. Gab es dann überhaupt Originale? Was war noch echt und authentisch und was war nur der Mix allem vorhergegangen[en]? In diesem Gedankenkarussell gefangen, sank ich in einen tiefen Schlaf. Das erste Mal erlebte ich dabei auch die wirren, surrealen Opioidträume, die das Kratom verursacht, aber ich vergaß ihren Inhalt, kaum dass ich die Augen wieder öffnete. Sie hinterließen einen verwirrenden, kunterbunten Nachgeschmack.

Ich finde, die Dialogüberarbeitung tut Nathan als Charakter gut, aber auch dem Lesefluss. Die Art, wie Nathan nun sein Wissen vermittelt, gefällt mir viel besser!

Liebe Grüße
Selanna


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Nur ein mittelmäßiger Mensch ist immer in Hochform. - William Somerset Maugham
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Leveret Pale
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Beitrag13.12.2016 21:08

von Leveret Pale
Antworten mit Zitat

Zitat:
ich bin das Kapitel noch einmal durchgegangen, habe aber nur noch Kleinigkeiten gefunden, vor allem Flüchtigkeitsfehler. Ich habe schon überlegt, ob ich das hier überhaupt noch einstellen soll, weil es ja eher eine Feinheitenrechtschreibkorrektur und keine inhaltlich-stilistische Kritik ist, aber da ich mir die Arbeit gemacht habe ...


Vielen Dank für die Mühe! Das hat dich sicherlich einiges an Zeit gekostet und mich noch mal auf einige der kleinen Fehler aufmerksam gemacht. Anhand des Ganzen kann ich mich jetzt sehr gut durch den Rest arbeiten.

Sorry für die seltenen Antworten und dafür, dass ich mich momentan nicht mit Textkritik bei euren Texten revanchieren kann, aber ich stecke gerade nicht nur, wie wir alle, im Weihnachts- sondern auch im Klausurenstress und in der Familie gehts gerade auch etwas turbulent zu.

LG
Leveret
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Selanna
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Beiträge: 1146
Wohnort: Süddeutschland


Beitrag14.12.2016 12:33

von Selanna
Antworten mit Zitat

Viel Erfolg bei den Klausuren! Und eine schöne Adventszeit Smile

Liebe Grüße
Selanna


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