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Orpheus
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Beitrag25.06.2016 12:30
Länger als Ewig
von Orpheus
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Vor einiger Zeit suchte ich Namen für zwei Protagonisten, die in den 70ger Jahren ein Liebespaar waren. Die Namen habe ich mit eurer Hilfe hier gefunden und die Geschichte nimmt Fahrt auf. Ich veröffentliche hier den Anfang mit der Frage an euch, ob der Spannungsaufbau ausreicht um neugierig zu machen auf mehr.

„Kommen Sie bitte nüchtern zur Aufnahme,“ sagt die Frau bei der telefonischen Anmeldung im Krankenhaus. Als er Tage später die Klinik aufsucht begreift er die Nüchternheit in ihrer ganzen Dimension.
Das evangelische Blau des Foyers wirkt so kalt, dass er zu frieren beginnt, zunächst in der Seele, später am ganzen Körper. Da hat er bereits eine Lungenentzündung, als Folge des Eingriffs, der seinen kleinen Krebs vernichtet hat. Vermutlich ist der aber auch nur erfroren.
Gregor muss viel länger bleiben als erwartet und langweilt sich bei der verordneten Bettruhe.
 
So beginnt er auf seinem kleinen Netbook Geschichten zu schreiben, von sich, seiner Kindheit, seiner Familie, seinen Lehrern und ersten Freunden.

Er fragt sich, wer die Geschichte je lesen wird? Wie von selbst kommt ihm seine Jugendfreundin Anne in den Sinn.

Sie waren vor über 30 Jahren ein Paar und verloren sich schließlich aus den Augen.  
Wie immer, wenn er an sie denkt stimmt es ihn traurig, dass er ihr Leben verpasst hat.
Gedankenverloren ruft er ihre Mail Adresse auf, das Einzige, was er aktuell von ihr besitzt. Nun  schreibt er:


Hallo Anne,
ich liege im Krankenhaus und habe meine Speiseröhre behandeln lassen. Die Schleimhaut wurde  mit Strom verschorft, so dass die Mediziner hoffen, dort den Krebs entfernt zu haben.Trotz allem
fühle ich mich ziemlich entspannt und plane meine Resturlaubstage. Würde gern auf eine Insel fahren, mal sehen.
Ich schreibe dir von "Gregors kleinem Krebs." Also eigentlich schreibe ich Kindheitserlebnisse auf. Keine Ahnung, warum ich dir diese Leseprobe sende.
Denke oft an dich.
Gregor.


Er liest, was er geschrieben hat, stellt eine seiner niedergeschriebenen Erlebnisse in den Anhang und drückt die Entertaste. Seine Mail macht sich auf den Weg in Annes Universum.

Am nächsten Morgen: Gerade will Pfleger Kai ihm Blut abnehmen als vom Netbook ein leises „plink“ ertönt. Der Ton, mit dem  Gregor eine neue Mail angekündigt wird. Er erschrickt dermaßen, dass Kai seine Vene verpasst und ein zweites mal zustechen muss.
Danach geht der Pfleger grußlos.
Obwohl sich in Gregors Ellenbeuge nun ein hässlich blaues Ei bildet, öffnet er aufgeregt seinen Account und findet Annes Antwort:

Lieber Gregor,
vielen Dank für Deine Mail und vor allem für die Teilhabe an Deinem Leben und Deinen Gedanken und Dein Vertrauen, mit mir zu reden. Das freut mich wirklich sehr, sehr, sehr. Allerdings bin ich erschrocken, von deinem Krebs zu hören.
Doch jetzt, in diesem Moment, habe ich das Gefühl, das ich eine ganze Weile nach unserer merkwürdigen Trennung hatte: irgendwann wird alles gut. Jetzt ist alles gut!
Ich musste den Weg gehen, den ich gegangen bin. Du musstest Deinen Weg gehen.
Wir haben unsere Ängste und unsere Fragen kennengelernt, stellen uns dem, was für uns ist.
Ich würde jetzt gern lange Spaziergänge mit Dir machen und über Gott und die Welt und Dich reden. Schade, dass Du so weit weg bist.
Du fehlst.
Anne

„Gut dass ich schon liege,“ denkt er und liest die Worte, die er gar nicht begreift, ein zweites Mal.
Er nimmt sich noch einmal seine gestrige Mail vor, dann die angehängte Geschichte und dann die ihn so verwirrende Mail von Anne ein drittes Mal. Es bleibt dabei, diese Reaktion ist mehr als die Antwort auf seinen Gruß aus dem Krankenhaus.
„Merkwürdige Trennung“ liest er und weiß zwar, wovon sie spricht, kann sich aber an keine Trennung erinnern. Darum war es ja damals so merkwürdig. Anne und Gregor, Gregor und Anne, das war einmal für die Ewigkeit bestimmt, eine Einzweisamkeit, die einfach da war.. Daran denkt er seit über 30 Jahren, mehr, als es ihm lieb ist.
Jetzt hat er es schwarz auf weiß, was Anne ihm nie gesagt hat: Es sind auch für sie Fragen geblieben.
Gregor lehnt sich in seinem Krankenbett zurück und schließt die Augen. Sein Atem wird ruhiger, schläft er?
Unter seinem Fenster hört er die Straßenbahn fahren. Dieses gleichmäßige Tuckern, wenn die Räder über die Bahnschwellen rollen. Im Traum fährt er mit und aus der Straßenbahn wird ein Intercity und es ist der ersten Dienstag im Januar 1979.



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Orpheus
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Diamond
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D
Beitrag25.06.2016 21:53
Re: Länger als Ewig
von Diamond
Antworten mit Zitat

Hallo Orpheus,

ich habe Deinen Anfang gelesen. Du schreibst zwar schön locker und flüssig, aber für meinen Geschmack hast Du die Spannung vergessen. Das finde ich sehr schade.

„Kommen Sie bitte nüchtern zur Aufnahme,“ sagt die Frau bei der telefonischen Anmeldung im Krankenhaus.

Richtig lauten müsste es: eine Frau, weil sie unbestimmt ist.

Als er Tage später die Klinik aufsucht KOMMA begreift er die Nüchternheit in ihrer ganzen Dimension.

Wer ist er? Warum erfahre ich als Leser weder Name, noch andere interessante Dinge, die ihn charakterisieren.

Das evangelische Blau des Foyers wirkt so kalt, dass er zu frieren beginnt, zunächst in der Seele, später am ganzen Körper.

Was ist das evangelische Blau? Lese ich zum ersten Mal.

Da hat er bereits eine Lungenentzündung, als Folge des Eingriffs, der seinen kleinen Krebs vernichtet hat.

- ich finde, dass Du die Situation viel zu schnell abhandelst. Das wirkt sehr gehetzt.
- kleinen Krebs? Eine so schwere Erkrankung mit klein zu verniedlichen, davon würde ich Dir abraten.

Vermutlich ist der aber auch nur erfroren.

Ich bin unsicher - für mich passt das nicht zusammen. Schwere Erkrankung locker nehmen, das tun die Wenigsten. Ich frag mich, ob das so sein soll?

Gregor muss viel länger bleiben als erwartet und langweilt sich bei der verordneten Bettruhe.

Jetzt erfahre ich als Leser, dass Gregor da liegt - 5 Sätze später.
 
So beginnt er auf seinem kleinen Netbook Geschichten zu schreiben, von sich, seiner Kindheit, seiner Familie, seinen Lehrern und ersten Freunden.

Dass ein Netbook nicht sehr groß ist, muss nicht zusätzlich erwähnt werden. Das Wort spricht für sich und braucht das Adjektiv nicht.

Er fragt sich, wer die Geschichte je lesen wird? Wie von selbst kommt ihm seine Jugendfreundin Anne in den Sinn.

Sie waren vor über 30 Jahren ein Paar und verloren sich schließlich aus den Augen.  
Wie immer, wenn er an sie denkt KOMMA stimmt es ihn traurig, dass er ihr Leben verpasst hat.
Gedankenverloren ruft er ihre Mail Adresse auf, das Einzige, was er aktuell von ihr besitzt. Nun  schreibt er:


Hallo Anne,
ich liege im Krankenhaus und habe meine Speiseröhre behandeln lassen. Die Schleimhaut wurde  mit Strom verschorft, so dass die Mediziner hoffen, dort den Krebs entfernt zu haben.Trotz allem
fühle ich mich ziemlich entspannt und plane meine Resturlaubstage. Würde gern auf eine Insel fahren, mal sehen.
Ich schreibe dir von "Gregors kleinem Krebs." Also eigentlich schreibe ich Kindheitserlebnisse auf. Keine Ahnung, warum ich dir - so: Dir diese Leseprobe sende.
Denke oft an dich.
Gregor.


Er liest, was er geschrieben hat, stellt eine seiner niedergeschriebenen Erlebnisse in den Anhang und drückt die Entertaste. Seine Mail macht sich auf den Weg in Annes Universum.

Ist "Erlebnisse in den Anhang" der Beginn des Spannungsaufbaus?

Am nächsten Morgen: - Warum nicht ausformulieren? Das unterbricht den Lesefluss.

Gerade will Pfleger Kai ihm Blut abnehmen KOMMA als vom Netbook ein leises „plink“ ertönt. Der Ton, mit dem  Gregor eine neue Mail angekündigt wird. Er erschrickt dermaßen, dass Kai seine Vene verpasst und ein zweites mal zustechen muss.
Danach geht der Pfleger grußlos.
Obwohl sich in Gregors Ellenbeuge nun ein hässlich blaues Ei bildet, öffnet er aufgeregt seinen Account und findet Annes Antwort:

Lieber Gregor,
vielen Dank für Deine Mail und vor allem für die Teilhabe an Deinem Leben und Deinen Gedanken und Dein Vertrauen, mit mir zu reden. Das freut mich wirklich sehr, sehr, sehr. Allerdings bin ich erschrocken, von deinem Krebs zu hören.
Doch jetzt, in diesem Moment, habe ich das Gefühl, das - so: dass - ich eine ganze Weile nach unserer merkwürdigen Trennung hatte: irgendwann wird alles gut.

Diesen Satz musste ich mehrmals lesen. Ich denke, es wäre für den Lesefluss besser, ihn zu entschachteln.

 Jetzt ist alles gut!
Ich musste den Weg gehen, den ich gegangen bin. Du musstest Deinen Weg gehen.
Wir haben unsere Ängste und unsere Fragen kennengelernt, stellen uns dem, was für uns ist.
Ich würde jetzt gern lange Spaziergänge mit Dir machen und über Gott und die Welt und Dich reden. Schade, dass Du so weit weg bist.
Du fehlst.
Anne

„Gut dass ich schon liege,“ denkt er und liest die Worte, die er gar nicht begreift, ein zweites Mal.
Er nimmt sich noch einmal seine gestrige Mail vor, dann die angehängte Geschichte und dann die ihn so verwirrende Mail von Anne ein drittes Mal.

Es bleibt dabei, diese Reaktion ist mehr als die Antwort auf seinen Gruß aus dem Krankenhaus.
„Merkwürdige Trennung“ liest er und weiß zwar, wovon sie spricht, kann sich aber an keine Trennung erinnern. Darum war es ja damals so merkwürdig. Anne und Gregor, Gregor und Anne, das war einmal für die Ewigkeit bestimmt, eine Einzweisamkeit, die einfach da war..

Daran denkt er seit über 30 Jahren, mehr, als es ihm lieb ist.
Diesen Satz würde ich umschreiben und als Spannungsaufbau am Anfang nutzen, denn auf mich wirkt Gregor als wäre Anne ihm wichtiger als der Krebs.

Jetzt hat er es schwarz auf weiß, was Anne ihm nie gesagt hat: Es sind auch für sie Fragen geblieben.
Gregor lehnt sich in seinem Krankenbett zurück und schließt die Augen. Sein Atem wird ruhiger, schläft er?
Unter seinem Fenster hört er die Straßenbahn fahren. Dieses gleichmäßige Tuckern, wenn die Räder über die Bahnschwellen rollen. Im Traum fährt er mit KOMMA und aus der Straßenbahn wird ein Intercity KOMMA und es ist der ersten Dienstag im Januar 1979.

Gab es 1979 schon Netbook und ICE? Und gab es E-Mails? Ich denke nicht, zumindest nicht für Jedermann, von WLAN ganz zu schweigen.

Insgesamt ist Dein Anfang inhaltlich noch unstimmig, aber das wird. Da bin ich mir sicher. Also auf jeden Fall weiter schreiben.

VG Diamond [/b]
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Orpheus
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Beitrag25.06.2016 22:21

von Orpheus
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Liebe Diamond,
Vielen Dank für die phantastische Arbeit, die du dir gemacht hast. Ich kann nicht alles verstehen, was du schreibst, aber erhalte viele wichtige Hinweise.
So z.B. gibt es nicht das evangelische sondern das diakonische Blau.
Interpunktion ist unumstritten, die Schnelligkeit, die den Beginn antreibt ist beabsichtigt. Wenn sie jedoch verwirrt, dann muss ich das ändern. Dass du wenig über Gregor erfährst ist  meine Absicht. Du wirst ihm oft begegnen und am Ende der Geschichte kennst du ihn in jedem Detail. Wenn das allerdings dazu führt, dass niemand zu Ende liest, ist das natürlich am Ziel vorbei.
Ja, das mit dem kleinen Krebs ist so eine Sache: ich war selbst einmal an Krebs erkrankt, was mich überhaupt erst auf die Idee zu dieser Geschicht brachte. Und ja, Anne ist ihm in dieser Geschichte viel wichtiger, als sein Krebs.
Dass du das Ende verstehst, als wolle Gregor 1979 Mails schreiben, verwirrt nun mich. Wo ist der Punkt, dass du es so deutest? Gregor lehnt sich zurück, hört die Straßenbahn, schläft ein und sieht sich an das Jahr 1979 erinnert. Nun beginnt ein Rückblick, in dem wir den Figuren das erste Mal Nähe kommen. Wie kann ich das besser einleiten?

Danke für deine Arbeiten, ich werde einiges zu berücksichtigen haben.


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Orpheus
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Beitrag26.06.2016 00:15

von Orpheus
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Ich habe auf Anregung von Diamond etwas am Text gearbeitet und bin ein Kapitel weiter gegangen. Hier das Ergebnis:

„Kommen Sie bitte nüchtern zur Aufnahme,“ sagt eine Frau bei der telefonischen Anmeldung im Krankenhaus. Als Gregor Tage später die Klinik aufsucht, begreift er die Nüchternheit in ihrer ganzen Dimension.
Das diakonische Blau des Foyers wirkt so kalt, dass er zu frieren beginnt, zunächst in der Seele, später am ganzen Körper. Da hat er bereits eine Lungenentzündung, als Folge des Eingriffs, der seinen kleinen Krebs vernichtet hat. Vermutlich ist der aber auch nur erfroren.
Gregor muss viel länger bleiben als erwartet und langweilt sich bei der verordneten Bettruhe.
 
So beginnt er auf seinem Netbook Geschichten zu schreiben, von sich, seiner Kindheit, seiner Familie, seinen Lehrern und ersten Freunden.

Er fragt sich, wer die Geschichten je lesen wird? Wie von selbst kommt ihm seine Jugendfreundin Anne in den Sinn.

Sie waren vor über 30 Jahren ein Paar und verloren sich schließlich aus den Augen.  
Wie immer, wenn er an sie denkt, stimmt es ihn traurig, dass er ihr Leben verpasst hat.
Gedankenverloren ruft er ihre Email Adresse auf. Sie ist das Einzige, was er aktuell von ihr besitzt. Nun  schreibt er:


Hallo Anne,
ich liege im Krankenhaus und habe meine Speiseröhre behandeln lassen. Die Schleimhaut wurde  mit Strom verschorft, so dass die Mediziner hoffen, dort den Krebs entfernt zu haben.Trotz allem
fühle ich mich ziemlich entspannt und plane meine Resturlaubstage. Würde gern auf eine Insel fahren, mal sehen.
Ich schreibe dir von "Gregors kleinem Krebs." Also eigentlich schreibe ich Kindheitserlebnisse auf. Keine Ahnung, warum ich dir diese Leseprobe sende.
Denke oft an dich.
Gregor.

Er liest, was er geschrieben hat, stellt eine seiner Lebensabschnittsgeschichten in den Anhang und drückt die Entertaste. Seine Email macht sich auf den Weg in Annes Universum.

Am nächsten Morgen will Pfleger Kai ihm gerade Blut abnehmen, als vom Netbook ein leises „plink“ ertönt. Der Ton, mit dem  Gregor eine neue Email angekündigt wird. Er erschrickt dermaßen, dass Kai seine Vene verpasst und ein zweites mal zustechen muss.

Obwohl sich in Gregors Ellenbeuge nun ein hässlich blaues Ei bildet, öffnet er aufgeregt seinen Account und findet Annes Antwort:

Lieber Gregor,
vielen Dank für Deine Mail. Du lässt mich an deinem Leben teilhaben und schreibst mir von deinen  Gedanken. Du hast das Vertrauen wieder, mit mir zu reden. Das freut mich wirklich sehr, sehr, sehr. Allerdings bin ich erschrocken, von deinem Krebs zu hören.
Doch jetzt, in diesem Moment, habe ich das Gefühl, das ich eine ganze Weile nach unserer merkwürdigen Trennung hatte: irgendwann wird alles gut. Jetzt ist alles gut!
Ich musste den Weg gehen, den ich gegangen bin. Du musstest Deinen Weg gehen.
Wir haben unsere Ängste und unsere Fragen kennengelernt, stellen uns dem, was für uns ist.
Ich würde jetzt gern lange Spaziergänge mit Dir machen und über Gott und die Welt und Dich reden. Schade, dass Du so weit weg bist.
Du fehlst.
Anne
„Gut dass ich schon liege,“ denkt er und liest die Worte, die er gar nicht begreift, ein zweites Mal.
Er nimmt sich noch einmal seine gestrige Mail vor, dann die angehängte Geschichte und dann die ihn so verwirrende Mail von Anne ein drittes Mal. Es bleibt dabei, diese Reaktion ist mehr als die Antwort auf seinen Gruß aus dem Krankenhaus.
„Merkwürdige Trennung“ liest er und weiß zwar, wovon sie spricht, kann sich aber an keine Trennung erinnern. Darum war es ja damals so merkwürdig. Anne und Gregor, Gregor und Anne, das war damals für die Ewigkeit bestimmt, eine Einzweisamkeit, die einfach da war. Daran denkt er seit über 30 Jahren, mehr, als es ihm lieb ist.
Jetzt hat schwarz auf weiß, was Anne ihm nie gesagt hat: Es sind damals auch für sie Fragen offen geblieben.
Gregor lehnt sich in seinem Krankenbett zurück und schließt die Augen. Sein Atem wird ruhiger, schläft er?
Unter seinem Fenster hört er die Straßenbahn fahren. Dieses gleichmäßige Tuckern, wenn die Räder über die Bahnschwellen rollen. Im Traum fährt er mit und aus der Straßenbahn wird ein Intercity und es ist der ersten Dienstag im Januar 1979.


Januar 1979
Wie ein rasend schneller Film flog die tief verschneite hügelige Landschaft an Gregor vorbei. Dabei  hatte er das Gefühl, dass mit jedem Kilometer Weg sich sein bisheriges Leben weiter entfernte. Er saß im Intercity, der ihn in eine neue unbekannte Stadt brachte. Es hatte in den letzten Tagen unaufhaltsam geschneit, so dass Gregors kleiner Käfer zu Hause bleiben musste.
„Zu Hause, wie das klingt,“ dachte Gregor und sprach es laut aus. Die Mitreisenden im vollbesetzten  Abteil schauten auf, überrascht, ohne Neugierde.
Nur Anne lächelte und nahm seine Hand.
„Ich bin in mir selbst zu Hause,“ erklärte er ihr und sie nickte.
Heute machte er es wirklich wahr. Gregor hatte Brücken abgebrochen, ein großes Abschiedsfest gegeben, seine Gitarre eingepackt und war nun auf dem Weg zu seiner neuen Arbeitsstelle, 450 km entfernt. Nur Anne war mitgekommen, so wie sie auf irgendeine Weise immer dabei gewesen war, in den letzten Jahren. Doch heute war es anders.
Während der langen Zugfahrt erzählte sie ihm von ihrer Praktikumsstelle und vom Chef ihrer Praktikumsstelle. Später, als sie in der Wohnung waren, die Gregors neuer Arbeitgeber ihm für die erste Zeit zur Verfügung gestellt hatte, wurde sie deutlicher. Da, als sie zusammen im schmalen Bett lagen, als er sie im Arm hielt, setzte sie sich plötzlich auf, schaute zur Wand, dahin wo der Gasofen stand und sagte mit fester Stimme: „ich habe mit ihm geschlafen.“
Das war dieser eine absolut stille Momente, nach dem man, wenn er vorbei ist, eine ergreifende Abhandlung über die Explosion eines Gasofens schreiben konnte.
Gregor hatte noch nie Sex mit Anne. Er schlief mit  Freundinnen, die in den Jahren, die er Anne kannte, häufiger gewechselt hatten. Aber mit seiner Freundin Anne hatte er keinen Sex.

Erst vor kurzer Zeit war er Arm in Arm mit ihr über die Kirmes seines Heimatortes gezogen. Da hatte er sich gesellschaftlich erklärt. Da hatte Gregors Freund Albert fragend bemerkt, ob das jetzt endlich fest sei. Gregor hatte mit den Achseln gezuckt und die Antwort offen gelassen.
Jetzt nach dieser still dröhnenden Gasofenexplosion musste er sich wieder erklären.
Gregors Erklärung war die, dass er sie fester an sich drückte, sie streichelte, sie auszog und nun endlich Geschlechtsverkehr mit ihr hatte. Es geschah unausgesprochen wie alles, was sie gemeinsam betraf.
Es geschah hastig, wild und planlos, nicht einmal richtig, wie sie später feststellten, aber eben so, als sollte dem hier und jetzt ein Siegel aufgedrückt werden.
Vor einiger Zeit hatte Anne Gregor eine kleine gelbe Wachskerze in einem wunderschönen handgefertigten Halter geschenkt. Er hatte das Geschenk lange betrachtet.
Als er sich bedankte fügte er hinzu: wenn die Kerze eines Tages abgebrannt sein wird, dann werden wir uns verloren haben.
Während Anne und Gregor sich liebten, hatte diese Kerze viel zu nahe am Gasofen gestanden und sich verformt.
Das bemerkte er, als Anne am Montag zurück gefahren war. Die Kerze würde nicht mehr abbrennen können. Sie würden sich nie verlieren können.


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Beitrag26.06.2016 06:49

von Diamond
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Hallo Orpheus,

damit deutlicher aus dem Text hervorgeht, dass er sich nach 1979 zurückgeträumt hat, könntest Du zB schreiben: träumte ich / habe ich mich zurückgeträumt nach 1979, aber da in diesem Satz alles im Präsens geschrieben ist, verleitet mich das zu der Annahme ("ist Dienstag ... 1979"), das der Erzähler aus diesem Jahr erzählt. Das bedeutet, dass im Nebensatz die Zeitform geändert werden müsste, denn das wäre ein deutlicher Hinweis an den Leser.
Aber ich würde Dir auch empfehlen, noch ein paar andere Meinungen abzuwarten, vielleicht hat jemand auch eine bessere Idee oder eine andere Lösung. Ich werde später auch nochmal über die Korrekturen lesen, jetzt wollte ich zuerst Deine Frage beantworten.

VG Diamond
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Beitrag26.06.2016 08:26

von Orpheus
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Liebe Diamond
Ich weiß was du meinst und halte es für eine super Idee

Dieses gleichmäßige Tuckern, wenn die Räder über die Bahnschwellen rollen. Im Traum fährt er mit und aus der Straßenbahn wird ein Intercity und er schläft sich im Traum zurück in die Zeit, in der Anne und er ihre Liebe entdeckten. Es war der erste Dienstag im Jahre 1979..

So müsste es doch gehen?

Ich Danke dir für deine Begleitung und würde mir wünschen, mich mit dir Stück für Stück voran zu arbeiten.

Sag mir bitte wenn es dir zu viel wird.


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Beitrag26.06.2016 17:51

von Diamond
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Hallo Orpheus,

ich habe Deine Korrektur gelesen. Die erste Korrektur hatte ich mit dem Handy vorgenommen, da war der Überblick etwas schlechter.

Orpheus hat Folgendes geschrieben:

„Kommen Sie bitte nüchtern zur Aufnahme,“ sagt eine Frau bei der telefonischen Anmeldung im Krankenhaus.


Den ersten Satz finde ich gut, er deutet etwas an, und das baut Spannung auf.

Als Gregor Tage später die Klinik aufsucht - Wie wäre es mit: betritt? statt aufsucht, dann steckt mehr Bewegung im Wort, - begreift er die Nüchternheit in ihrer ganzen Dimension.

Das diakonische Blau des Foyers wirkt so kalt, dass er zu frieren beginnt, ich würde vorschlagen, dass Du irgendwas mit Gänsehaut schreibst, weil kalt wirken + frieren auf mich doppelt gemoppelt wirkt.

zunächst in der Seele, später am ganzen Körper. Da hat er bereits eine Lungenentzündung, als Folge des Eingriffs, der seinen kleinen Krebs vernichtet hat. Vermutlich ist der aber auch nur erfroren.
Gregor muss viel länger bleiben als erwartet und langweilt sich bei der verordneten Bettruhe.

An dieser Stelle überlege ich gerade, ob ich Dir den Ich-Erzähler empfehlen soll. Ich denke, gerade bei dieser Geschichte, drängt der sich zwangsläufig auf. Ich kann mir auch vorstellen, dass Dir diese Erzählform beim Beschreiben hilft, weil Du ja üer Dich schreibst. Da ist es doch naheliegend auch bei Dir zu bleiben (Innenperspektive), anstatt von außen auf die Situation zu blicken.
 
So beginnt er auf seinem Netbook Geschichten zu schreiben, von sich, seiner Kindheit, seiner Familie, seinen Lehrern und ersten Freunden.

Er fragt sich, wer die Geschichten je lesen wird? Wie von selbst kommt ihm seine Jugendfreundin Anne in den Sinn.

Sie waren vor über 30 Jahren ein Paar und verloren sich schließlich (braucht der Satz nicht) aus den Augen.  
Wie immer, wenn er an sie denkt, stimmt es ihn traurig, dass er ihr Leben verpasst hat.
Gedankenverloren ruft er ihre Email Adresse auf. Sie ist das Einzige, was er aktuell von ihr besitzt. Nun  schreibt er:


Hallo Anne,
ich liege im Krankenhaus und habe meine Speiseröhre behandeln lassen. Die Schleimhaut wurde  mit Strom verschorft, so dass die Mediziner hoffen, dort den Krebs entfernt zu haben.Trotz allem
fühle ich mich ziemlich entspannt und plane meine Resturlaubstage. Würde gern auf eine Insel fahren, mal sehen.
Ich schreibe dir von "Gregors kleinem Krebs." Also eigentlich schreibe ich Kindheitserlebnisse auf. Keine Ahnung, warum ich dir diese Leseprobe sende.
Denke oft an dich.
Gregor.

Er liest, was er geschrieben hat, stellt eine seiner Lebensabschnittsgeschichten in den Anhang und drückt die Entertaste. Seine E-Mail macht sich auf den Weg in Annes Universum.

Am nächsten Morgen will Pfleger Kai ihm gerade Blut abnehmen, als vom Netbook ein leises „plink“ ertönt. Der Ton, mit dem  Gregor eine neue E-Mail angekündigt wird. Er erschrickt dermaßen, dass Kai seine Vene verpasst und ein zweites mal zustechen muss.

Obwohl sich in Gregors Ellenbeuge nun ein hässlich blaues Ei bildet, öffnet er aufgeregt seinen Account und findet Annes Antwort:

Lieber Gregor,
vielen Dank für Deine Mail. Du lässt mich an deinem Leben teilhaben und schreibst mir von deinen  Gedanken. Du hast das Vertrauen wieder, mit mir zu reden. Das freut mich wirklich sehr, sehr, sehr. Allerdings bin ich erschrocken, von deinem Krebs zu hören.
Doch jetzt, in diesem Moment, habe ich das Gefühl, das ich eine ganze Weile nach unserer merkwürdigen Trennung hatte: irgendwann wird alles gut. Jetzt ist alles gut!
Ich musste den Weg gehen, den ich gegangen bin. Du musstest Deinen Weg gehen.
Wir haben unsere Ängste und unsere Fragen kennengelernt, stellen uns dem, was für uns ist.
Ich würde jetzt gern lange Spaziergänge mit Dir machen und über Gott und die Welt und Dich reden. Schade, dass Du so weit weg bist.
Du fehlst.
Anne
„Gut dass ich schon liege,“ denkt er und liest die Worte, die er gar nicht begreift, ein zweites Mal.
Er nimmt sich noch einmal seine gestrige Mail vor, dann die angehängte Geschichte und dann die ihn so verwirrende Mail von Anne ein drittes Mal. Es bleibt dabei, diese Reaktion ist mehr als die Antwort auf seinen Gruß aus dem Krankenhaus.
„Merkwürdige Trennung“ liest er und weiß zwar, wovon sie spricht, kann sich aber an keine Trennung erinnern. Darum war es ja damals so merkwürdig. Anne und Gregor, Gregor und Anne, das war damals für die Ewigkeit bestimmt, eine Einzweisamkeit, die einfach da war. Daran denkt er seit über 30 Jahren, mehr, als es ihm lieb ist.
Jetzt hat schwarz auf weiß, was Anne ihm nie gesagt hat: Es sind damals auch für sie Fragen offen geblieben.
Gregor lehnt sich in seinem Krankenbett zurück und schließt die Augen. Sein Atem wird ruhiger, schläft er?
Unter seinem Fenster hört er die Straßenbahn fahren. Dieses gleichmäßige Tuckern, wenn die Räder über die Bahnschwellen rollen. Im Traum fährt er mit und aus der Straßenbahn wird ein Intercity und es ist der ersten Dienstag im Januar 1979 vielleicht so: der ihn zurück in eine andere Zeit befördert.

Es so zu formulieren, bereitet den Zeitsprung in der nächsten Zeile besser vor.

]Januar 1979
Wie ein rasend schneller Film flog die tief verschneite hügelige Landschaft an Gregor vorbei. Dabei  hatte er das Gefühl, dass sich mit jedem Kilometer Weg sich sein bisheriges Leben weiter entfernte. Er saß im Intercity, der ihn in eine neue unbekannte Stadt brachte. Es hatte in den letzten Tagen unaufhaltsam geschneit, so dass Gregors kleiner Käfer zu Hause bleiben musste.
„Zu Hause, wie das klingt,“ dachte Gregor und sprach es laut aus. Die Mitreisenden im vollbesetzten  Abteil schauten auf, überrascht, ohne Neugierde.
Nur Anne lächelte und nahm seine Hand.
„Ich bin in mir selbst zu Hause,“ erklärte er ihr und sie nickte.
Heute machte er es wirklich wahr. Gregor hatte Brücken abgebrochen, ein großes Abschiedsfest gegeben, seine Gitarre eingepackt und war nun auf dem Weg zu seiner neuen Arbeitsstelle, 450 km entfernt. Nur Anne war mitgekommen, so wie sie auf irgendeine Weise immer dabei gewesen war, in den letzten Jahren. Doch heute war es anders.
Während der langen Zugfahrt erzählte sie ihm von ihrer Praktikumsstelle und vom Chef ihrer Praktikumsstelle. Später, als sie in der Wohnung waren, die Gregors neuer Arbeitgeber ihm für die erste Zeit zur Verfügung gestellt hatte, wurde sie deutlicher. Da, als sie zusammen im schmalen Bett lagen, als er sie im Arm hielt, setzte sie sich plötzlich auf, schaute zur Wand, dahin wo der Gasofen stand und sagte mit fester Stimme: „ich habe mit ihm geschlafen.“
Das war dieser eine absolut stille Momente, nach dem man, wenn er vorbei ist, eine ergreifende Abhandlung über die Explosion eines Gasofens schreiben konnte.
Gregor hatte noch nie Sex mit Anne. Er schlief mit Freundinnen, die in den Jahren, die er Anne kannte, häufiger gewechselt hatten. Aber mit seiner Freundin Anne hatte er keinen Sex.

Erst vor kurzer Zeit war er Arm in Arm mit ihr über die Kirmes seines Heimatortes gezogen. Da hatte er sich gesellschaftlich erklärt. Da hatte Gregors Freund Albert fragend bemerkt, ob das jetzt endlich fest sei. Gregor hatte mit den Achseln gezuckt und die Antwort offen gelassen.
Jetzt nach dieser still dröhnenden Gasofenexplosion musste er sich wieder erklären.
Gregors Erklärung war die, dass er sie fester an sich drückte, sie streichelte, sie auszog und nun endlich Geschlechtsverkehr mit ihr hatte. Es geschah unausgesprochen wie alles, was sie gemeinsam betraf.
Es geschah hastig, wild und planlos, nicht einmal richtig, wie sie später feststellten, aber eben so, als sollte dem hier und jetzt ein Siegel aufgedrückt werden.
Vor einiger Zeit hatte Anne Gregor eine kleine gelbe Wachskerze in einem wunderschönen handgefertigten Halter geschenkt. Er hatte das Geschenk lange betrachtet.
Als er sich bedankte fügte er hinzu: wenn die Kerze eines Tages abgebrannt sein wird, dann werden wir uns verloren haben.
Während Anne und Gregor sich liebten, hatte diese Kerze viel zu nahe am Gasofen gestanden und sich verformt.
Das bemerkte er, als Anne am Montag zurück gefahren war. Die Kerze würde nicht mehr abbrennen können. Sie würden sich nie verlieren können.[/i][/quote]

Ich frage mich die ganze Zeit, warum Du in den E-Mails das Meiste vorher verrätst, was meiner Meinung nach für später spannender wäre. Ich habe zwei Beispiele fett markiert, die Du gleichermaßen als Konflikt nutzen könntest, damit die Handlung weniger plätschert. Meiner Meinung nach ist das alles viel zu nett geschrieben. Bsp: Blut abnehmen. Bei mir ist es so, dass es mich wahnsinnig aufregt, wenn die Schwester nicht stechen kann.
Aber ich weiß auch, dass es gerade am Anfang sehr schwierig ist, so viele Hinweise richtig umzusetzen. Ich will Dir auch nicht zu viel Input um die Ohren hauen, weil ich denke, dass es Schritt für Schritt einfacher wäre.

VG Diamond
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Beitrag26.06.2016 22:13

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Liebe Diamond,
Ich weiß im Augenblick gar nicht, ob du mein Werk so verstehst, wie ich es meine. Was habe ich in der Mail vorweggenommen?
Was hier passiert ist folgendes: ich erzähle eine Geschichte rückwärts, bis zu einem gewissen Punkt.
Gregor liegt im Krankenhaus und gerade träumt er von der Zeit, als beide das erste Mal miteinander schliefen. Da ist keine Mail, die das beinhaltet.
Ich merke an deiner Reaktion, dass die Geschichte scheinbar zu sehr springt.
Lass uns zunächst eine Pause machen und hoffen,.dass noch jemand Lust hat zu lesen und meine Eingangsfrage zu beantworten.

Danke dir sehr für deine geduldige Begleitung. Ich melde mich wenn es weitergeht.


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Beitrag27.06.2016 09:21

von Diamond
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Hallo Orpheus,

es ist immer wichtig und richtig, auch andere Meinungen zu hören bzw zu lesen. Da bin ich voll und ganz Deiner Meinung und ich bin natürlich auch auf die weitere Entwicklung Deiner Geschichte gespannt.

VG Diamond
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Beitrag27.06.2016 14:59

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Moin Orpheus,

dann schreibe ich auch mal ein wenig hierzu. So ein bisschen kann ich mich in die Geschichte auch reinversetzen. Gut, bei mir waren es 8 Jahre und keine 30 Jahre, aber das Thema ist auf jeden Fall sehr interessant und auch recht unverbraucht. Die Idee ist schonmal gut.

[quote="Orpheus"]„Kommen Sie bitte nüchtern zur Aufnahme,“ sagt eine Frau bei der telefonischen Anmeldung im Krankenhaus. Als Gregor Tage später die Klinik aufsucht, begreift er die Nüchternheit in ihrer ganzen Dimension.
Finde die ersten beiden Sätze unnötig. Fände es besser, wenn die Geschichte mit "Das diakonische Blau..." anfängt.
(...)

Er fragt sich, wer die Geschichten je lesen wird? Wie von selbst kommt ihm seine Jugendfreundin Anne in den Sinn.
Irgendwie stolpere ich über das "Wie von selbst". Das klingt so selbstverständlich. Fände es interessanter, wenn er an sie denken muss, als er gerade das Kapitel über diesen Lebensabschnitt schreibt.

Wie immer, wenn er an sie denkt, stimmt es ihn traurig, dass er ihr Leben verpasst hat.
Den Satz finde ich super!

Gedankenverloren ruft er ihre Email Adresse auf. Sie ist das Einzige, was er aktuell von ihr besitzt.
Warum hat er ihre E-Mail-Adresse? Wenn sie 30 Jahre - also seit 1986 - keinen Kontakt hatten, wundert mich das schon.

Hallo Anne,
ich liege im Krankenhaus und habe meine Speiseröhre behandeln lassen. Die Schleimhaut wurde  mit Strom verschorft, (...)

Finde den Einstieg in die E-Mail super! Ich stelle mir gerade vor, wie Anne diese Mail öffnet und das ist das erste, was sie seit 30 Jahren von Gregor hört. Es ist zwar höchst seltsam, dass Gregor die E-Mail so schreibt, sie am Ende dann auch nochmal liest und für gut befindet, aber vielleicht ist er ein verschrobener Kerl oder ihm fällt nichts ein, wie er die E-Mail sonst beginnen könnte.

Am nächsten Morgen will Pfleger Kai ihm gerade Blut abnehmen,
Der Pfleger braucht keinen Namen, finde ich.

Lieber Gregor,
vielen Dank für Deine Mail. Du lässt mich an deinem Leben teilhaben und schreibst mir von deinen  Gedanken. Du hast das Vertrauen wieder, mit mir zu reden. Das freut mich wirklich sehr, sehr, sehr.

Zu viel "sehr", eines reicht.

Anne und Gregor, Gregor und Anne, das war damals für die Ewigkeit bestimmt, eine Einzweisamkeit, die einfach da war. Daran denkt er seit über 30 Jahren, mehr, als es ihm lieb ist.
Zum einen mag ich den Neologismus "Einzweisamkeit" nicht. Er macht diesen eh schon recht kitschigen Satz noch etwas kitschiger. Auch der nächste Satz klingt, als könne er seit 30 Jahren an nichts anderes mehr denken. Vielleicht einfach das "mehr" durch "öfter" ersetzen.
Ich fände es auch besser, wenn er das ganze 25 Jahre lang tief in sich vergraben hätte und es jetzt langsam wieder hochbricht. Aber das ist vielleicht eine Geschmacksfrage...


Januar 1979
Ab dieser Stelle finde ich es schwierig, den Handlungsablauf zu folgen. Ich habe schon verstanden, dass es eine Rückblende ist. Habe beim ersten Lesen aber nicht begriffen, was eigentlich passiert ist.

„Zu Hause, wie das klingt,“ dachte Gregor und sprach es laut aus. Die Mitreisenden im vollbesetzten  Abteil schauten auf, überrascht, ohne Neugierde.
Die beiden Sätze finde ich super! Etwas misanthropisch, aber beschreibt die Gesellschaft ganz gut...

Da, als sie zusammen im schmalen Bett lagen, als er sie im Arm hielt, setzte sie sich plötzlich auf, schaute zur Wand, dahin wo der Gasofen stand und sagte mit fester Stimme: „ich habe mit ihm geschlafen.“
MIT DEM GASOFEN??? DU FLITTCHEN!!!
Okay, sorry. Natürlich nicht. Trotzdem würde ich den Satz umstellen. Auch weiß ich nicht, ob oder warum man einen solchen Satz "mit fester Stimme" sagt. Fällt mir schwer, mir das vorzustellen.


Das war dieser eine absolut stille Momente, nach dem man, wenn er vorbei ist, eine ergreifende Abhandlung über die Explosion eines Gasofens schreiben konnte.
Finde diesen Abschnitt richtig schlecht. Ich vermute, dass du hier mit dem Kontrast Stille/Explosion - große Emotion / Schreiben einer Abhandlung experimentieren willst, aber irgendwie funktioniert das für mich nicht. Würde ich streichen und versuchen, die Stimmung mit 2-3 neuen Sätzen einzufangen.

Gregor hatte noch nie Sex mit Anne. Er schlief mit  Freundinnen, die in den Jahren, die er Anne kannte, häufiger gewechselt hatten. Aber mit seiner Freundin Anne hatte er keinen Sex.
Hier würde mich interessieren, ob Anne das weiß. Und vor allem: Warum?

Jetzt nach dieser still dröhnenden Gasofenexplosion musste er sich wieder erklären.
Die Explosion mag ich nicht und: Warum muss er sich erklären, nachdem sie einen solchen Satz gesagt hat? Verstehe ich nicht.

Gregors Erklärung war die, dass er sie fester an sich drückte, sie streichelte, sie auszog und nun endlich Geschlechtsverkehr mit ihr hatte.
Habe wirklich Probleme, mir das vorzustellen. "Ich habe mit ihm geschlafen" > Stille > Sex. Gut, ich war nie in einer solchen Situation. Aber so ganz ohne Kommunikation oder zumindest einen Satz von ihm als Reaktion finde ich es komisch.
Außerdem ist es vielleicht nicht ideal, nach "Ich habe mit ihm geschlafen" erstmal eine Rückblende zur Kirmes zu machen.


Es geschah unausgesprochen wie alles, was sie gemeinsam betraf.
Es geschah hastig, wild und planlos, nicht einmal richtig, wie sie später feststellten, aber eben so, als sollte dem hier und jetzt ein Siegel aufgedrückt werden.

Das finde ich wiederum gut. Lediglich über das "nicht einmal richtig" bin ich gestolpert... ...wie hat man den richtig Geschlechtsverkehr?

Vor einiger Zeit hatte Anne Gregor eine kleine gelbe Wachskerze in einem wunderschönen handgefertigten Halter geschenkt. Er hatte das Geschenk lange betrachtet.
Als er sich bedankte fügte er hinzu: wenn die Kerze eines Tages abgebrannt sein wird, dann werden wir uns verloren haben.
Während Anne und Gregor sich liebten, hatte diese Kerze viel zu nahe am Gasofen gestanden und sich verformt.
Das bemerkte er, als Anne am Montag zurück gefahren war. Die Kerze würde nicht mehr abbrennen können. Sie würden sich nie verlieren können.

Eigentlich ein gutes Ende, aber ein paar Sachen stören mich doch.
"Vor einiger Zeit" klingt so, als wäre dies noch vor ihrem "ersten Mal" passiert. Okay, merke jetzt nach dem dritten Lesen, dass diese Stelle auch so gemeint ist. Vielleicht, die Kerze schon vorher irgendwo erwähnen, damit es vom zeitlichen Ablauf her passt.
Dann, warum sagt er einen solchen Satz? (Übrigens nach Doppelpunkt immer groß schreiben). Wenn ich meiner Partnerin eine Kerze schenke und sie sagt sowas, würde mich ehrlich gesagt schon etwas stören und nervös machen. Wäre besser, wenn er das nur denkt.


Finde die Kurzgeschichte insgesamt gut, nur an einigen Stellen hätte ich sie anders geschrieben. Hoffe du kannst mit dem Feedback was anfangen.
Eine letzte Sache: Den Titel "länger als ewig" finde ich aus irgendeinem Grund schlimm kitschig und übertrieben. Ich persönlich würde den ändern.

Grüße,
Yvo
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Orpheus
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Beitrag27.06.2016 18:50

von Orpheus
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Lieber Ivo
Da hast du dir sehr viel Arbeit gemacht und dafür bin ich mehr als dankbar. Ich werde ganz viel davon gebrauchen und mache mich an die Arbeit sobald Italien Spanien bei der EM geschlagen hat.
Ein Irrtum unterliegt deine Annahme: Dieses wird keine Kurzgeschichte. Es existieren bereits 80 Seiten und ich habe mir in den Kopf gesetzt, daraus einen Roman zu machen.
Erst mal ging es um den Einstieg. Die vielen Fragen, die da sind z.B. warum Gregor mit anderen Frauen schlief, aber nicht mit Anne, das klärt sich später auf.
Ich würde mir sehr wünschen, wenn du mich weiter begleitest. Kann viel von dir lernen.
Danke!


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Willebroer
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Beitrag27.06.2016 19:07

von Willebroer
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Orpheus hat Folgendes geschrieben:
warum Gregor mit anderen Frauen schlief, aber nicht mit Anne


Mensch, da hast du ja schon einen Titel! Pfiffig Blinzeln

Solche Titel sind zur Zeit in
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Orpheus
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Beitrag27.06.2016 20:10

von Orpheus
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Lieber Willebroer
Das ist eine witzige Idee
Das Känguru von M.Kling würde es als Titel für einen Arthouse Film empfehlen.
Ja ich weiß schon, dass ich mich am Rande vom Kitsch bewege und Gefahr laufe nicht mehr als einen Groschenroman zu schaffen, bin ja selbst gespannt, wo ich lande.
Alles ist ein Gemisch aus eigener Geschichte und der Suche nach einer Botschaft. Als ich begann diese Geschichte zu schreiben spielten die ersten 20 Seiten im Krankenhaus weil ich dort unvorstellbare Gleichgültigkeit erlebt habe. Auch das will ich noch wieder Aufgreifen. Zunächst aber müssen Gregor und Anne sich nach 30 Jahren erst einmal wiedertreffen. Und dazu dient dieser Einstieg.
Nun hat Italien gewonnen und ich mache mich wieder an die Arbeit
Danke für die Anregung


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Beitrag27.06.2016 23:08
Länger als Ewig
von Orpheus
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Für Willebroer, Ivo und Diamond,
ich habe heute abend, während England vermutlich Irland unterliegt an meinem Text gearbeitet und viele Ratschläge befolgt.
Vom "kleinen Krebs" konnte ich mich nicht trennen, liebe Diamond, dass spielt im Verlauf der Geschichte noch eine Rolle.
Und "nicht richtig" miteinander Sex zu haben, lieber Ivo, überlasse ich jedermanns/jederfraus Fantasie. Ich weiß, ich ermüde euch, würde mich trotzdem freuen, weiter von euch und neuen LeserInnen zu hören. Immer auch noch mit meiner Ausgangsfrage: baut die Geschichte Spannung auf und hält sie diese?


Länger als Ewig

Gegenwart
Das diakonische Blau des Krankenhausfoyers wirkt so kalt, dass der 54 jährige Gregor beim Betreten direkt zu frieren beginnt, zunächst in der Seele, später am ganzen Körper. Da hat er bereits eine Lungenentzündung, als Folge des Eingriffs, der seinen kleinen Krebs vernichtet hat. Vermutlich ist der aber auch nur erfroren.
Gregor muss viel länger bleiben als erwartet und langweilt sich bei der verordneten Bettruhe.
 
So beginnt er auf seinem Netbook Geschichten zu schreiben, von sich, seiner Kindheit, seiner Familie, seinen Lehrern und ersten Freunden.

Er fragt sich, wer die Geschichten je lesen wird? Als er zu dem Kapitel seiner Jugendliebe kommt, denkt er wieder einmal an Anne.

Sie waren vor über 30 Jahren ein Paar und verloren sich dann aber, von einigen zufälligen Treffen abgesehen, aus den Augen.  
Wie immer, wenn er an sie denkt, stimmt es ihn traurig, dass er ihr Leben verpasst hat.
Ganz in Gedanken versunken ruft er ihre Mail Adresse auf, die ein gemeinsamer Freund ihm vor ein paar Jahren zukommen ließ.  Sie ist das Einzige, was er aktuell von ihr besitzt. Nun  schreibt er:


Hallo Anne,
ich liege im Krankenhaus und habe meine Speiseröhre behandeln lassen. Die Schleimhaut wurde  mit Strom verschorft, so dass die Mediziner hoffen, dort den Krebs entfernt zu haben.Trotz allem
fühle ich mich ziemlich entspannt und plane meine Resturlaubstage. Würde gern auf eine Insel fahren, mal sehen.
Ich schreibe dir von "Gregors kleinem Krebs." Also eigentlich schreibe ich Kindheitserlebnisse auf. Keine Ahnung, warum ich dir diese Leseprobe sende.
Denke oft an dich.
Gregor.


Er liest, was er geschrieben hat und stellt sich vor, was Anne denkt, wenn sie nach dreißig das erste, was sie von ihm hört, seine Krankengeschichte ist.
Gerade will er einen sanfteren Einstieg formulieren, als sich die Zimmertür öffnet und der Oberarzt samt Gefolge zur Visite aufläuft. Aus Schreck drückt er die Entertaste und kann nun nicht mehr verhindern, dass seine Mail sich auf den Weg in Annes Universum macht.

Am nächsten Morgen will ein Pfleger ihm Blut abnehmen, als vom Netbook ein leises „plink“ ertönt. Der Ton, mit dem  Gregor eine neue Mail angekündigt wird. Kaum ist er seines Blutes entledigt, greift er aufgeregt zum kleinen Computer öffnet seinen Account und liest:

Lieber Gregor,
vielen Dank für Deine Mail. Du lässt mich an deinem Leben teilhaben und schreibst mir von deinen  Gedanken. Du hast das Vertrauen wieder, mit mir zu reden. Das freut mich wirklich, mehr als du es dir vorstellen kannst. Allerdings bin ich erschrocken, von deinem Krebs zu hören.
Doch jetzt, in diesem Moment, habe ich das Gefühl, das ich eine ganze Weile nach unserer merkwürdigen Trennung hatte: irgendwann wird alles gut. Jetzt ist alles gut!
Ich musste den Weg gehen, den ich gegangen bin. Du musstest Deinen Weg gehen.
Wir haben unsere Ängste und unsere Fragen kennengelernt, stellen uns dem, was für uns ist.
Ich würde jetzt gern lange Spaziergänge mit Dir machen und über Gott und die Welt und Dich reden. Schade, dass Du so weit weg bist.
Du fehlst.
Anne

„Gut dass ich schon liege,“ denkt er und liest die Worte, die er gar nicht begreift, ein zweites Mal.
Er nimmt sich noch einmal seine gestrige Mail vor, dann die angehängte Geschichte und dann diese ihn so verwirrende Mail ein drittes Mal. Es bleibt dabei, diese Reaktion ist mehr als die Antwort auf seinen Gruß aus dem Krankenhaus.
„Merkwürdige Trennung“ liest er und weiß zwar, wovon sie spricht, kann sich aber an keine Trennung erinnern. Er seziert jeden Satz, den Anne ihm präsentiert. Das wirklich merkwürdige an ihrer Trennung war tatsächlich, dass sie nie ausgesprochen wurde. Anne und Gregor, Gregor und Anne, das war damals für die Ewigkeit bestimmt, eine Einzweisamkeit, die einfach da war.
Auch begreift er nicht, wie wenig sie von seinem Krebs wissen will. Sie ist völlig bei sich selbst und schreibt doch so vertraut.  Sie will Zeit mit ihm verbringen
„Irgendwann wird alles gut,“ schreibt sie. Das denkt Gregor seit über 30 Jahren, öfter, als es ihm lieb ist.
Jetzt hat er es schwarz auf weiß, was Anne ihm nie gesagt hat: Es sind damals auch für sie Fragen offen geblieben.
Gregor lehnt sich in seinem Krankenbett zurück und schließt die Augen. Sein Atem wird ruhiger, schläft er?
Unter seinem Fenster hört er die Straßenbahn fahren. Dieses gleichmäßige Tuckern, wenn die Räder über die Bahnschwellen rollen. Im Traum fährt er mit und aus der Straßenbahn wird ein Intercity und es ist der ersten Dienstag im Januar 1979.


Januar 1979
Wie ein rasend schneller Film flog die tief verschneite hügelige Landschaft an Gregor vorbei. Dabei  hatte er das Gefühl, dass mit jedem Kilometer Weg sich sein bisheriges Leben weiter entfernte. Er saß im Intercity, der ihn in eine neue unbekannte Stadt brachte, dahin, wo er künftig arbeiten würde.Dahin, wo für ihn ein neues zu Hause entstehen sollte.
„Zu Hause, wie das klingt,“ dachte Gregor und sprach es laut aus. Die Mitreisenden im vollbesetzten  Abteil schauten auf, überrascht, ohne Neugierde.
Nur Anne lächelte und nahm seine Hand.
„Ich bin in mir selbst zu Hause,“ sagte er leise zu ihr und sie nickte.
Heute machte er es wirklich wahr. Gregor hatte Brücken abgebrochen, ein großes Abschiedsfest gegeben, seine Gitarre eingepackt und war nun auf dem Weg zu seiner neuen Arbeitsstelle, 450 km entfernt.
Nur Anne war mitgekommen, so wie sie immer dabei gewesen war, in den letzten Jahren. Doch heute war es anders. Er kannte Anne nun seit sechs Jahren. Er wusste, sie war seine beste Freundin. Aber eben auch nicht mehr. Jetzt, in den nächsten Tagen, würde er das gern ändern. Doch war er sich nicht sicher, ob es gut war, das Paar Anne und Gregor gegen die beste Freundin einzutauschen.
Während der langen Zugfahrt erzählte Anne ihm von ihrem derzeitigen Praktikum und je länger sie erzählte, desto weiter rückte  sein Traum von einer Beziehung mit ihr in die Ferne. Unaufhörlich liebkosten Annes Erzählungen ihren Chef auf der Praktikumstelle. Sie schwärmte von seinen dunklen Augen, diesen durchdringenden Blick, seine Geduld ihr zuzuhören, seine Kompetenz sie auszubilden. Jedes ihrer Komplimente an diesen Kerl traf Gregor wie ein großes Hagelkorn, aus dem ein regelrechtes Schauer wurde. Als sie ihr Ziel erreichten hatte er das Gefühl, mit Blutergüssen übersät zu sein.  
Später, als sie in der Wohnung waren, die Gregors neuer Arbeitgeber ihm für die erste Zeit zur Verfügung gestellt hatte, wurde Anne deutlicher. Da, als sie zusammen im schmalen Bett lagen, als er sie im Arm hielt, setzte sie sich plötzlich auf, ihre großen Augen schauten ins Leere und sie sagte mit belegter Stimme: „ich habe mit meinem Chef geschlafen.“
Da wurden aus Gregors gefühlten Blutergüssen plötzlich Knochenbrüche und der laute Gasofen, auf den die beiden von ihrem Bett aus schauten, explodierte in seinen Gehörgängen.
Danach setzte eine absolute Stille ein in der Gregor versuchte seine Einzelteile wieder zusammen zu setzen.
Bisher hatten beide nie ernsthaft darüber nachgedacht, ob sie miteinander schlafen wollten. Noch erlaubte es ihnen ihre Jugend, Herzensfreundschaft und große Liebebekenntnisse auch ohne sexuelle Wünsche miteinander zu teilen. Doch hatte Gregor ja vorgehabt, in den nächsten Tagen auszuloten, was sie weiter voneinander würden haben wollen. Auch Anne hatte ihre kleine Affäre nicht ohne Grund erzählt. In dem sie beschlossen hatte, Gregor auf seiner Reise in die neue Heimat für eine Zeit zu begleiten, wollte auch sie wissen, woran sie miteinander waren.
Und so geschah es, wie es immer zwischen diesen beiden jungen Menschen war. Sie schwiegen sich auch jetzt aus. Anne machte keine Anstalten sich aus Gregors Arm zu drehen und auch er hatte nicht vor, sie loszulassen.
Im Gegenteil, beide erklärten sich so, dass sie sich fester drückten, sich streichelten, sich zärtlich gegenseitig entkleideten und endlich miteinander schliefen. Es geschah unausgesprochen wie alles, was sie gemeinsam betraf.
Es war hastig, wild und planlos, nicht einmal richtig, wie sie später feststellten, aber eben so, als sollte dem hier und jetzt ein Siegel aufgedrückt werden, was alles Bisherige Vergangenheit werden ließ.
Noch lange lagen sie erschöpft auf der weichen Matratze. Irgendwann fiel Gregors Blick auf eine kleine gelbe Wachskerze in einem wunderschönen handgefertigten Halter aus Ton. Es war das erste Teil, das er, nachdem sie die Wohnung betreten hatten, aus einer der Taschen holte, um es aufzustellen und der Wohnung seine eigene Note zu geben.
Die Kerze war ein Geschenk von Anne gewesen, irgendwann, spontan, wie alles, was sie schenkte.
Er hatte sie damals lange betrachtet und wusste noch, was er dabei gedacht hatte:
„wenn die Kerze eines Tages abgebrannt sein wird, dann werden wir uns verloren haben.“
Während Anne und Gregor sich liebten, hatte diese Kerze viel zu nahe am Gasofen gestanden und sich nun verformt.
Die Kerze würde nie mehr brennen können. Sie würden sich niemals verlieren.
[u]


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Orpheus
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Beitrag29.06.2016 22:50

von Orpheus
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So wird die Geschichte weitergehen:

Gegenwart[/u]
Jetzt, hier im Krankenhaus überkommt ihn erneut eine Ahnung, dass dieses Missgeschick vor 31 Jahren kein Zufall gewesen ist. Er hat es immer als Zeichen für ihre unauslöschliche Liebe und tiefe Freundschaft gesehen.
Tatsächlich war diese verkümmerte Kerze auch zum Symbol  für  unbegreifliche Verletzung geworden. Das allerdings ahnt er damals, als er die verformte Kerze vom Ofen nahm, nicht im Entferntesten.


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Yvo
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Beitrag30.06.2016 00:06

von Yvo
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Finde das "54jährige Gregor" unschön gelöst. Das Adjektiv wirkt irgendwie "unnatürlich", bzw. "berichtartig". Würde ich beiläufiger einbauen ("Mit seinen 54 Jahren dachte er jetzt zum ersten Mal...")

Wichtiger, als sein gegenwärtiges Alter zu erwähnen, fände ich es, wenn du schreibst, dass er 1979 etwa 17/18 Jahre alt war. Sonst hast du das Problem, das - wenn jemand in vier Jahren die Geschichte liest - Gregor auf einmal erst 14 ist.


"Ich habe mit meinem Chef geschlafen"
-> Ich fände es viel besser, wenn sie "ihm" statt "meinem Chef" sagt. Zum einen macht es mich als Leser neugieriger, zum anderen fände ich es "emotionaler", wenn sie gar nicht sagen braucht, wer "er" ist, weil Gregor es schon weiß oder vermutet.

"Bisher hatten beide nie ernsthaft darüber nachgedacht, ob sie miteinander schlafen wollten. Noch erlaubte es ihnen ihre Jugend, Herzensfreundschaft und große Liebebekenntnisse auch ohne sexuelle Wünsche miteinander zu teilen."
Moment, der Kerl ist 18 Jahre und hat nie darüber nachgedacht? Hat sich die Jugend so verändert? Und "Herzensfreundschaft ohne sexuelle Wünsche miteinander zu teilen." klingt so, als würde ein verklemmter US-Priester Enthaltsamkeitsringe verkaufen wollen.

Doch hatte Gregor ja vorgehabt, in den nächsten Tagen auszuloten, was sie weiter voneinander würden haben wollen.
Nicht "ob da mehr zwischen ihnen ist" oder "wie es mit ihnen nun weitergeht?" sondern "was sie weiter voneinander würden haben wollen?"
Das klingt irgendwie falsch.

Auch Anne hatte ihre kleine Affäre nicht ohne Grund erzählt. In dem sie beschlossen hatte, Gregor auf seiner Reise in die neue Heimat für eine Zeit zu begleiten, wollte auch sie wissen, woran sie miteinander waren.
Die Stelle finde ich gut. Da du dich aber im Kopf von Gregor befindest, würde ich sprachlich zeigen, dass es sich hierbei um Vermutungen Gregors handelt (z. B. Konjunktive, "sicher", "vermutlich", "wahrscheinlich"...) und seinen Namen vermeiden.
BEISPIEL: Auch Anne hatte ihre kleine Affäre sicher nicht ohne Grund erzählt. Sie wäre auch nicht mit ihm gereist, wenn sie nicht wissen wollte, woran sie miteinander waren.

Und so geschah es, wie es immer zwischen diesen beiden jungen Menschen war.
Hier ist der Erzähler plötzlich ganz weit weg von Gregor. Ich dachte, wir sind gerade in seinem Kopf? (Mir fällt auch gerade auf, dass du in dem Abschnitt viel zu oft Gregors Namen erwähnst. Das ist eigentlich unnötig, wenn es in der Szene nur zwei Figuren gibt.)

"Im Gegenteil, beide erklärten sich so, dass sie sich fester drückten,"
Stolpere über "erklärten sich so".

Die Kerze ist jetzt viel besser eingebaut. Gefällt mir richtig gut so, vier Sätze, ein paar zusätzliche Infos über die Figuren und dann ein recht abruptes Ende. Würde ich so lassen.

--------------------------------------

Wie die Geschichte weiter geht, gefällt mir allerdings nicht. Wenn du deine Leser nicht arg dumm hälst, sind sie auf die Gedanken von Gregor schon bei dem Satz "Sie würden sich niemals verlieren." gekommen. Wenn du das jetzt aufgreifst und nochmal erklärst, verliert der Satz - meiner Meinung nach - seine Wirkung.

Achso... ...und 31 Jahre? Dann spielt die Geschichte 2010?
Dann war er 1979 also 23 Jahre?
Bin verwirrt...

---------------------------------------

Hoffe, ich konnte dir ein paar Denkanstöße geben.
Die Idee finde ich gut. Obwohl ich kein großes Freund von so "Liebesgeschichten" bin, gibt es da genug Punkte, wo ich sage "Ok, was ist da passiert?" oder "Warum hat das jetzt nicht funktioniert mit den beiden?"
Auch die Figuren - zumindest Gregor, über Anne erfährt man kaum etwas - finde ich gut. Aber vom Stil her gibt es noch ein paar Haken, wo ich rausfliege...

Yvo
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Kalyptra
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Beitrag30.06.2016 01:15

von Kalyptra
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Hallo Orpheus,

ich möchte auch noch etwas zu deinem Text sagen, da ich ihn sehr schön finde. Ich beziehe mich dabei auf die neuste Version die hier gepostet wurde.

Das diakonische Blau des Krankenhausfoyers wirkt so kalt, dass der 54 jährige Gregor beim Betreten direkt zu frieren beginnt, zunächst in der Seele, später am ganzen Körper.
Ich finde den Einstiegssatz gut, stolpere nur über das '54 jährige Gregor'. Diese konkrete, unverpackte Information stört meiner Meinung nach etwas den Fluss des Satzes.

Da hat er bereits eine Lungenentzündung, als Folge des Eingriffs, der seinen kleinen Krebs vernichtet hat. Vermutlich ist der aber auch nur erfroren.
Ich musste den letzten Satz einige Mal lesen bis ich verstanden habe, dass es um den Krebs geht. Kann man vielleicht sagen: "Vermutlich war dieser aber auch nur erforen." ?

Gregor muss viel länger bleiben als erwartet und langweilt sich bei der verordneten Bettruhe.
Ich finde dieser Satz steht etwas im Gegensatz zu den vorherigen. Dieser Wechsel von: "Seele friert, Krebs vernichtet, mir ist langweilig" kommt für mich etwas überraschend. Du hattest geschrieben, dass du diese Langeweile selber erlebt hattest, und ich finde es toll, dass du das hier mit reinbringst. Vielleicht könnte man das noch etwas anschaulicher verpacken, und dieses Gefühl der endlosen Wartezeiten in diesem kalten Raum kurz beschreiben?


So beginnt er auf seinem Netbook Geschichten zu schreiben, von sich, seiner Kindheit, seiner Familie, seinen Lehrern und ersten Freunden.

Er fragt sich, wer die Geschichten je lesen wird?
Vielleicht könntest du hier etwas näher an den Protagonisten rangehen, indem du schreibst: "Wer würde die Geschichte jemals lesen? fragte er sich."

Als er zu dem Kapitel seiner Jugendliebe kommt, denkt er wieder einmal an Anne.
Hat er den Text schon nach Kapiteln geordnet? Er hat ja eigentlich gerade erst angefangen. Das kommt mir schon sehr strukturiert vor.

Sie waren vor über 30 Jahren ein Paar und verloren sich dann aber, von einigen zufälligen Treffen abgesehen, aus den Augen.
Wirst du von diesen Treffen im späteren noch Berichten?

Wie immer, wenn er an sie denkt, stimmt es ihn traurig, dass er ihr Leben verpasst hat.
Schön!

Ganz in Gedanken versunken ruft er ihre Mail Adresse auf, die ein gemeinsamer Freund ihm vor ein paar Jahren zukommen ließ. Sie ist das Einzige, was er aktuell von ihr besitzt.
Warum hat er sie sich zukommen lassen, ihr dann aber nicht geschrieben? Und auch bei den vorherigen zufälligen Treffen, warum hat er da nicht weiter die Initiative getroffen? Hat er sich nicht getraut? Bereut er das? Hatte er damals eine andere Beziehung? Was ist jetzt anders als bei diesen Gelegenheiten?

Nun schreibt er:
Hallo Anne,
ich liege im Krankenhaus und habe meine Speiseröhre behandeln lassen. Die Schleimhaut wurde mit Strom verschorft, so dass die Mediziner hoffen, dort den Krebs entfernt zu haben.Trotz allem
fühle ich mich ziemlich entspannt und plane meine Resturlaubstage. Würde gern auf eine Insel fahren, mal sehen.
Ich schreibe dir von "Gregors kleinem Krebs." Also eigentlich schreibe ich Kindheitserlebnisse auf. Keine Ahnung, warum ich dir diese Leseprobe sende.
Denke oft an dich.
Gregor.
Finde ich gut.

Er liest, was er geschrieben hat und stellt sich vor, was Anne denkt, wenn sie nach dreißig das erste, was sie von ihm hört, seine Krankengeschichte ist.
Gerade will er einen sanfteren Einstieg formulieren, als sich die Zimmertür öffnet und der Oberarzt samt Gefolge zur Visite aufläuft. Aus Schreck drückt er die Entertaste und kann nun nicht mehr verhindern, dass seine Mail sich auf den Weg in Annes Universum macht.
Auch gut. Nur da als nächstes gleich der Sprung zum nächsten morgen gemacht wird, würde ich mir hier wünschen, dass der letzte Satz etwas abschließender klingt. Zum Beispiel: Aus Schreck drückt er die Entertaste und kann es nun nicht mehr verhindern: Seine Mail macht sich auf den Weg in Annes Universum.
Am nächsten Morgen will ein Pfleger ihm Blut abnehmen, als vom Netbook ein leises „plink“ ertönt. Der Ton, mit dem Gregor eine neue Mail angekündigt wird.
Ich glaube das plink ist sehr eindeutig und muss nicht weiter erklärt werden.

Den Rest der Gegenwart finde ich gut.





Januar 1979
Wie ein rasend schneller Film flog die tief verschneite hügelige Landschaft an Gregor vorbei. [...]
Danach setzte eine absolute Stille ein in der Gregor versuchte seine Einzelteile wieder zusammen zu setzen.
Bisher hatten beide nie ernsthaft darüber nachgedacht, ob sie miteinander schlafen wollten.
Hier findet ein plötzlicher Perspektivwechsel statt, der mich etwas verwirrt. Eigentlich sind wir doch durch Gregors Traum hier in die Vergangenheit geglitten, wieso erfahren wir nun plötzlich auch was Anne denkt? Willst du das Buch von beiden Seiten erzählen? Ich finde, dann müsste der Wechsel etwas anders eingeleitet werden.

[...]
Und so geschah es, wie es immer zwischen diesen beiden jungen Menschen war. Sie schwiegen sich auch jetzt aus.
Ich finde das letzte 'auch jetzt' überflüssig.


Anne machte keine Anstalten sich aus Gregors Arm zu drehen und auch er hatte nicht vor, sie loszulassen.
Im Gegenteil, beide erklärten sich so, dass sie sich fester drückten, sich streichelten, sich zärtlich gegenseitig entkleideten und endlich miteinander schliefen. Es geschah unausgesprochen wie alles, was sie gemeinsam betraf.
Es war hastig, wild und planlos, nicht einmal richtig, wie sie später feststellten, aber eben so, als sollte dem hier und jetzt ein Siegel aufgedrückt werden, was alles Bisherige Vergangenheit werden ließ.
???? Die sind doch immer noch im Zug? Edit: Nein, entschuldige, sind sie nicht mehr. Ich fände es gut, wenn du ein paar Absätze machen könntest, dass es etwas übersichtlicher wird. Zum Inhalt: Schlafen die wirklich miteinander fast direkt nachdem sie ihm gesagt hat, dass sie mit einem anderen geschlafen hat?

Im Allgemeinen: Ich finde Inhalt gut und er hat viele Elemente, die den Spannungsbogen aufrecht erhalten. Ich denke nur, manchmal ist der Text wie eine Inhaltsangabe geschrieben. Ist das so, weil du dir ersteinmal zurecht schreiben willst, was alles passiert oder soll er in dieser Form bleiben?

Bin gespannt wie es weitergeht.
Liebe Grüße


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Beitrag01.07.2016 16:56

von Orpheus
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Ihr lieben
Gerade die letzten beiden  eitrige haben mich auf etwas gestoßen, was mir gar nicht so bewußt war. Die Geschichte erzählt sich tatsächlich aus Gregors Sicht.
Es wäre doch spannend sich mal in Anne hineinzuversetzten in dem Moment, als sie diese email liest.
Ich würde mir gern etwas Zeit nehmen um einen neuen Versuch zu machen, beide Protagonisten zu Wort kommen zu lassen
Also bis später!
Natürlich freue ich mich in der Zwischenzeit über weitere Rückmeldungen zu der Grundfrage, ob die Geschichte Lust auf mehr macht.


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Beitrag17.07.2016 18:22
Länger als ewig (Neu)
von Orpheus
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Ich weiß nicht, ob ich hier endlos neue Versionen eingeben darf. Aber auf die ersten Versuche, meine Geschichte zu erzählen, habe ich so viele gute Anregungen erhalten, dass ich das Gefühl hatte, es denen, die sich soviel Mühe mit dem Feedback gegeben haben, hier noch einmal etwas Neues anzubieten, das viele der guten Vorschläge aufgreift.

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Beitrag20.07.2016 21:55

von Orpheus
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Länger als ewig

2011: Gregor
Das diakonische Blau des Krankenhausfoyers wirkt so kalt, dass Gregor beim Betreten direkt zu frieren beginnt, zunächst in der Seele, später am ganzen Körper. Da hat er bereits eine Lungenentzündung, als Folge des Eingriffs, der seinen kleinen Krebs vernichtet hat. Vermutlich ist dieser aber auch nur erfroren.
Gregor muss viel länger bleiben als erwartet und ärgert sich über die verordneten Bettruhe. Denn er selbst merkt gar nichts, von seiner Lungenentzündung. So bekommt er täglich eine Infusion sowie einen neuen Krankheitskollegen, wortkarg, ängstlich und müde.

So beginnt er auf seinem Netbook Geschichten zu schreiben, von sich, seiner Kindheit, seiner Familie, seinen Lehrern und ersten Freunden.

Wer würde die Geschichten jemals lesen, diese ungeordneten unvollständigen Puzzle? Als er über  Jugendlieben schreibt, denkt er wieder einmal an Anne. Er selbst ist heute 54 Jahre alt und es ist über 30 Jahre her, dass sie ein Paar waren. Gregor lebt heute in Norddeutschlands, sie im Süden.  Abgesehen von einigen zufälligen Treffen aus Anlässen von Geburtstagen und Hochzeiten gemeinsamer Freunde, verlieren sie sich nach und nach aus den Augen. Eines ihrer zufälligen Treffen ist ihm besonders in Erinnerung:

2009
Bei einem ihrer letzten Begegnungen sahen Anne und Gregor sich zufällig an einem Samstag im Frühjahr, als er auf dem Marktplatz seiner Heimatstadt einen  Espresso trank und die ersten Sonnenstrahlen nach einem endlos erscheinenden Winter genoss. Er hatte gerade einer Kellnerin zugewunken, um zu bezahlen.

Anne besuchte ihre Heimatstadt, weil sie sich gerade neu verliebt hatte, auf einer Party ihrer Freundin. Der Mann, dem sie dort begegnet war hieß Anton, und er war ihr aufgefallen, weil er niemand war, der auffiel. Das hatte ihr gefallen, denn der Mann, den sie vor 16 Jahren geheiratet hatte und mit dem sie vier Kinder zusammen bekam, war jemand, der immer da, wo er auftauchte der Mittelpunkt gewesen war. Nun war sie nach einem langen erbittert geführten Kampf geschieden. Sie sehnte sich nach Stille und nach einem Mann, der einfach nur da war, nicht aufdringlich, nicht fordernd, sondern eher beschützend und fürsorglich sein wollte. Denn das brauchte sie, wie nichts sonst auf der Welt. Sie kämpfte gerade für sich und ihre Kinder ums nackte Überleben. Kein Job, keine Unterhaltszahlungen, die Angst vor dem Absturz aus ehemals großer Höhe. So lebte sie ihre Realität. Anton war in diesem Lebenschaos zum Rettungsanker geworden. Nicht die große Liebe, aber davon hatte Anne gerade einmal die Nase voll.
An diesem Frühlingswochenende hatte Anton sie und ihre vier Kinder erstmals zu sich eingeladen. Er selbst konnte trotz seiner 60 Jahre keine eigene Familie vorweisen, und so tat er alles, um seine Gäste zu einem regelrechten Einkaufsrausch zu animieren. Während es die jungen Leute sichtbar genossen, freizügig und ohne Limit Klamotten zu kaufen, bekam Anne das erste Mal Angst vor diesem Mann an ihrer Seite, davor dass ihr fürsorglicher Beschützer sie in eine Abhängigkeit zwingen würde, die sie überhaupt nicht wollte.
Das ging ihr durch den Kopf, als sie sich gerade im samstäglichen Stadtgewühl wiedergefunden hatten und nun zusammen Eis essen wollten. Sie standen mitten in der Fußgängerzone, noch unschlüssig, welche Richtung sie einschlagen sollten, als Anne plötzlich vielleicht 50 Meter entfernt von ihr, einen Mann sich aus dem Stuhl eines Straßencafés erheben sah.
Sie brauchte nicht eine Sekunde nachzudenken, wer da gerade im Begriff war, die Fußgängerzone zu verlassen. Sie dachte jetzt weder an Anton, noch an ihre Kinder geschweige denn an die etwa tausend Passanten, die verfolgen würden, was jetzt geschah. Anne rief, rief lauter, schrie bis sie endlich von ihm bemerkt wurde.
Gregor hörte zwar, aber er verstand nicht, was  gerufen wurde. Erst beim dritten Mal, als sich die Stimme fast überschlug, bemerkte er, dass da jemand seinen Namen rief und zwar eine sehr vertraute Stimme. Suchend schaut er sich um, bis sein Blick bei einem Pulk von Einkaufstüten hängen blieb, in dem er vier junge Leute, einen grauhaarigen, unscheinbaren Mann und eine schlanke, kleine temperamentvolle Frau entdeckte. Es war Anne, keine Frage.
Ungläubig ging er auf sie zu.
„Was machst du denn hier,“ fragte er ziemlich dümmlich.
„Vielleicht demnächst wieder hier leben,“ antwortete sie ohne zu überlegen.
Gregor war sprachlos. Instinktiv setzten Fluchtgedanken ein. Aber er blieb wie angewurzelt stehen, so dass ihm in den nächsten Minuten eine komplette Familie vorgestellt wurde. Zunächst Annes drei Kinder im schon fortgeschrittenem jugendlichen Alter, dann das neunjährige Nesthäkchen und nach einer kurzen peinlichen Pause dieser ältliche Herr.
„Und das ist mein Freund Anton, der Grund, warum es mich vielleicht wieder hierher zieht,“ sagte Anne, die unentwegt am reden war, jede Atempause mit kehligen Lauten zu überbrücken versuchte und auf Gregor völlig überdreht wirkte.
Als die Vorstellungsrunde vorbei war, stand Gregor noch immer regungslos da, jetzt allerdings umringt von all den Plastiktüten.
„Tja, du siehst, ich war nur einen Kaffee trinken,“ sagte er, nachdem er sich langsam aus seiner Starre lösen konnte.
Mehr hatten sie sich damals nicht zu sagen gehabt, als er sich mit einer Floskel schnell verabschiedete.

2011
In Gregors Krankenzimmer ist es still. Sein Bettnachbar schläft und atmet ruhig, ein weiteres Bett ist im Augenblick leer. Wenn er jetzt an dieses Treffen mit Anne denkt, schämt er sich ob seines damaligen Abgangs, der alles andere als Souverän war.
Aber wie absurd ist es auch, eine Frau, die in seinen Gedanken noch immer höchstens 25 Jahre alt ist, mit 4 fast erwachsenen Kindern und einem grauhaarigen Mann zu sehen. Sie haben sich nach dieser Begegnung noch zweimal getroffen, so dass er weiß, dass aus Annes damaligen Plänen nichts geworden ist.
Wie immer, wenn Gregor in Gedanken bei Anne ist, stimmt es ihn traurig, dass er ihr Leben verpasst hat.
Er ruft ihre Mail Adresse auf und schreibt:

Hallo Anne,
ich liege im Krankenhaus und habe meine Speiseröhre behandeln lassen. Die Schleimhaut wurde mit Strom verschorft, so dass die Mediziner hoffen, dort den Krebs entfernt zu haben.Trotz allem
fühle ich mich ziemlich entspannt und plane meine Resturlaubstage. Würde gern auf eine Insel fahren, mal sehen.
Ich schreibe dir von "Gregors kleinem Krebs." Also eigentlich schreibe ich Kindheitserlebnisse auf. Keine Ahnung, warum ich dir diese Leseprobe sende.
Denke oft an dich.
Gregor.


Er liest, was er geschrieben hat und hängt eine Datei an, in der er eine seiner Kindheitsgeschichten erzählt. Warum, das weiß er selbst nicht so genau. Dann stellt er sich vor, was Anne denkt, wenn sie von seiner Krankheit erfährt.
Gerade will er einen sanfteren Einstieg formulieren, als sich die Zimmertür öffnet und der Oberarzt samt Gefolge zur Visite aufläuft. Aus Schreck drückt er die Entertaste und kann nun nicht mehr verhindern, dass seine Mail sich auf den Weg in Annes Universum macht.

Gut 500 km weiter im Süden sitzt Anne an ihrem Computer und arbeitet an einem Konzept zur Gründung ihrer Praxis für Ergotherapie. Der PC meldet, sie habe eine neue Email erhalten, was Anne in diesem Moment ärgert, da sie sich ganz auf ihr Konzept konzentriert.
Sie beschließt die Mail später zu öffnen und vertieft sich wieder in ihre Arbeit. Es ist für sie im Augenblick die einzig realistische Perspektive, beruflich und finanziell wieder auf die Beine zu kommen. Nach ihrem furchtbaren Scheidungskrieg, der auch heute, nach 4 Jahren noch immer wütet, hat sie lange gebraucht, um wieder Land unter die Füße zu bekommen.
Die 16 Jahre, die sie mit ihrem Exmann eine Familie gründete, waren von zunehmendem  Wohlstand und Anerkennung in der bayrischen Kleinstadt begleitet. Anne hatte ihren Exmann bei seiner beruflichen Karriere unterstützt, die ihn zunächst bis in den bayrischen Landtag gehievt hatte, danach in das Gesundheitsministerium und schließlich in den Vorstand eines angesehenen Chemiekonzerns.
Nun wäre sie nicht sie selbst, hätte sie nicht neben der Familie und der Karriere ihres Mannes auch eigene Themen und berufliche Ziele verfolgt. Und doch stand sie vor dem Nichts, als sie sich trennte und er ihr und den Kindern jegliche Geldquelle entzogen hatte, selbst in dem Wissen, sich damit tatsächlich in den eigenen Ruin zu stürzen.
Anne will daran nicht denken. Sie war mit soviel Hass und Erbarmungslosigkeit  verfolgt worden, und tatsächlich hatte ihr Exmann sich dabei vernichtet. Suizidversuche, Klinikaufenthalte Weltreisen auf Kosten der Staatskanzlei und Strafverfahren, mit all dem war Anne in den letzten Jahren konfrontiert. Die Kinder hatten sich völlig vom Vater abgewendet.
Irgendwann hatte sich der ehemalige Staatssekretär und Vorstand dann nach Asien abgesetzt.
Anne war fest davon überzeugt, dass es ein langfristiger strategischer Plan gewesen war, sie und die Kinder mittellos zurückzulassen so unglaublich hassgesteuert war er in den letzten zwei Jahren gewesen. Er selbst hatte es sicherlich geschafft, einen Teil seines Vermögens in Sicherheit zu bringen, um sich dem zu widmen, was schon immer seine größte Leidenschaft war: schönen Frauen.
Erst am späten Abend öffnet Anne ihre Emails und liest fassungslos was Gregor ihr geschrieben hat. Tränen rinnen ihr die Wangen entlang, sammeln sich am Kragen ihrer Bluse und benetzen bald Hals und Brust. Sie selbst mag nicht zu sagen, ob es der schreckliche Gedanke ist, ihr alter Freud könne bald sterben, der sie weinen lässt, oder ob es wieder einmal das Gefühl ist, was sie stets beim Gedanken an Gregor überkommt, mit ihm das Leben verpasst zu haben.
Nebenan ruft ihre Tochter, sie ignoriert es, traurig und wütend über den Mann, einem der wenigen Menschen, der in der Lage gewesen war, sie tage- und nächtelang in ihr Kissen weinen zu lassen.
Das Ende ihrer Beziehung konnte sie auf zweierlei Weise erzählen.
In der einen Geschichte lagen sie zusammen unter einem Baum und schauten durch die noch lichten Blätter in den Frühlingshimmel.
„Woran dachtest du, als wir uns das erste mal trafen?“ fragte sie ihn.
„Weiß ich nicht, und du?“
„Ich dachte, du siehst aus, wie ein komischer Purzelbaum.“
„Warum denkst du gerade daran?“
„Ach, ich glaube wenn etwas zu Ende geht denkt man daran, wie alles begann.“
Das waren ihre Worte gewesen und sie dachte tatsächlich noch heute oft an den Jungen, der im Gewühl des allgemeinen Straßenverkehrs, eine Jacke auf der Straße ausbreitete und Purzelbäume schlug. Dabei ignorierte er die warnenden Hupen wütender Autofahrer.
Warum nur hatte ich dort das Gefühl, es könne bald vorbei sein, fragte sie sich, denn obwohl er ihr gerade erzählte, dass er vorhabe, nach Süddeutschland zu ziehen, hatte sie bereits abgesteckt, was sie bereit sein würde für ihre Liebe zu tun.
In der zweite Geschichte herrschte bis heute Sprachlosigkeit. Jedenfalls konnte sie es nicht anders begreifen und hatte es über die Jahre zu ermüdend gefunden, dafür Worte zu suchen.
Nun aber sah sie plötzlich alles mit ganz klaren Augen. Sie widmete sich wieder ihrem Computer und antwortete auf seine Mail:  

Lieber Gregor,
vielen Dank für Deine Mail. Du lässt mich an deinem Leben teilhaben und schreibst mir von deinen Gedanken. Du hast das Vertrauen wieder, mit mir zu reden. Das freut mich wirklich, mehr als du es dir vorstellen kannst. Allerdings bin ich erschrocken, von deinem Krebs zu hören.
Doch jetzt, in diesem Moment, habe ich das Gefühl, das ich eine ganze Weile nach unserer merkwürdigen Trennung hatte: irgendwann wird alles gut. Jetzt ist alles gut!
Ich musste den Weg gehen, den ich gegangen bin. Du musstest Deinen Weg gehen.
Wir haben unsere Ängste und unsere Fragen kennengelernt, stellen uns dem, was für uns ist.
Ich würde jetzt gern lange Spaziergänge mit Dir machen und über Gott und die Welt mit dir reden. Schade, dass Du so weit weg bist.
Du fehlst.
Anne


Am nächsten Morgen nimmt ein Pfleger bei Gregor Blut ab. Plötzlich erklingt vom Netbook her ein leises „plink“.  Kaum ist er seines Blutes entledigt, greift er aufgeregt zum kleinen Computer öffnet seinen Account und liest:
„Gut dass ich schon liege,“ denkt er und liest die Worte, die er gar nicht begreift, ein zweites Mal.
Er nimmt sich noch einmal seine gestrige Mail vor, dann die angehängte Geschichte und dann diese ihn so verwirrende Mail ein drittes Mal. Es bleibt dabei, diese Reaktion ist mehr als die Antwort auf seinen Gruß aus dem Krankenhaus.
„Merkwürdige Trennung“ liest er und weiß zwar, wovon sie spricht, kann sich aber an keine Trennung erinnern. Er seziert jeden Satz, den Anne ihm präsentiert. Das wirklich merkwürdige an ihrer Trennung war tatsächlich, dass sie nie ausgesprochen wurde. Anne und Gregor, Gregor und Anne, das war damals für die Ewigkeit bestimmt, eine Einzweisamkeit, die einfach da war.
Auch begreift er nicht, wie wenig sie von seinem Krebs wissen will. Sie ist völlig bei sich selbst und schreibt doch so vertraut. Sie will Zeit mit ihm verbringen
„Irgendwann wird alles gut,“ schreibt sie. Das denkt Gregor seit über 30 Jahren, öfter, als es ihm lieb ist.
Jetzt hat er es schwarz auf weiß, was Anne ihm nie gesagt hat: Es sind damals auch für sie Fragen offen geblieben.
Gregor lehnt sich in seinem Krankenbett zurück und schließt die Augen. Sein Atem wird ruhiger, schläft er?
Unter seinem Fenster hört er die Straßenbahn fahren. Dieses gleichmäßige Tuckern, wenn die Räder über die Bahnschwellen rollen. Im Traum fährt er mit und aus der Straßenbahn wird ein Intercity und es ist der ersten Dienstag im Januar 1979.


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Beitrag20.07.2016 22:04

von Orpheus
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Länger als Ewig
Kapitel 2

Januar 1979
Wie ein rasend schneller Film flog die tief verschneite hügelige Landschaft an Gregor vorbei. Dabei hatte er das Gefühl, dass mit jedem Kilometer Weg sich sein bisheriges Leben weiter entfernte. Er saß im Intercity, der ihn in eine neue unbekannte Stadt brachte, dahin, wo er künftig arbeiten würde.Dahin, wo für ihn ein neues zu Hause entstehen sollte.
„Zu Hause, wie das klingt,“ dachte Gregor und sprach es laut aus. Die Mitreisenden im vollbesetzten Abteil schauten auf, überrascht, ohne Neugierde.
Nur Anne lächelte und nahm seine Hand.
„Ich bin in mir selbst zu Hause,“ sagte er leise zu ihr und sie nickte.
Heute machte er es wirklich wahr. Gregor hatte Brücken abgebrochen, ein großes Abschiedsfest gegeben, seine Gitarre eingepackt und war nun auf dem Weg zu seiner neuen Arbeitsstelle, 450 km entfernt.
Nur Anne war mitgekommen, so wie sie immer dabei gewesen war, in den letzten Jahren. Doch heute war es anders. Er kannte Anne nun seit sechs Jahren. Er wusste, sie war seine beste Freundin. Aber eben auch nicht mehr. Jetzt, in den nächsten Tagen, würde er das gern ändern. Doch war er sich nicht sicher, ob es gut war, das „Paar Anne und Gregor“ gegen „die beste Freundin“ einzutauschen.   
Annes große Frage dagegen war: „wie schaffe ich es ihn für eine gemeinsame Beziehung zu gewinnen, ohne dass er merkt, dass ich sie will.“ Sie wusste, dass sie sich damit aus jede Verantwortung stehlen wollte, etwas, über das sie selbst erschrocken war. Denn in ihrem eigenen Moralindex stand „Verantwortung übernehmen“ ganz weit oben.

So begann sie ihn während der langen Zugfahrt zu testen, in dem sie von ihrem derzeitigen Praktikum erzählte.  Unaufhörlich liebkosten ihre Erzählungen ihren Chef auf der Praktikumsstelle. Sie schwärmte von seinen dunklen Augen, diesen durchdringenden Blick, seine Geduld ihr zuzuhören, seine Kompetenz sie auszubilden. Annes Plan war simpel: Sie wollte Gregor eifersüchtig machen. Sie wollte ihn brechen, ihn endlich zwingen, Stellung zu beziehen.
 
Gregor hörte ihr äußerlich gelassen zu. Doch innerlich merkte er, dass je länger sie erzählte, desto weiter sein Traum von einer Beziehung mit ihr in die Ferne rückte.
Jedes ihrer Komplimente an diesen Kerl traf Gregor wie ein Hagelkorn, aus dem ein regelrechtes Schauer wurde. Als sie schließlich aus dem Zug stiegen, hatte er das Gefühl, mit Blutergüssen übersät zu sein. Das aber würde er niemals eingestehen.
Anne hatte ihn aufmerksam beobachtet und all seine Regungen jubelnd zur Kenntnis genommen. Ja, er war wirklich verliebt in sie und es freute und beunruhigte sie gleichermaßen. Denn sie musste ihm ihre Geschichte nun zu Ende erzählen.
Später, als sie in der Wohnung waren, die Gregors neuer Arbeitgeber ihm für die erste Zeit zur Verfügung gestellt hatte, traute Anne sich. Da, als sie zusammen im schmalen Bett lagen, als er sie im Arm hielt, setzte sie sich plötzlich auf, ihre großen Augen schauten ins Leere und sie sagte mit belegter Stimme: „ich habe mit ihm geschlafen.“
Da wurden aus Gregors gefühlten Blutergüssen plötzlich Knochenbrüche und der laute Gasofen, auf den die beiden von ihrem Bett aus schauten, explodierte in seinen Gehörgängen.
Danach setzte eine absolute Stille ein in der Gregor versuchte seine Einzelteile wieder zusammen zu setzen.

Und dann geschah es so, wie es immer zwischen ihnen war. Anne machte keine Anstalten sich aus Gregors Arm zu drehen und auch er hatte nicht vor, sie loszulassen.
Im Gegenteil, beide drückten sich fester aneinander, sie streichelten sich zärtlich, zogen einander aus und endlich schliefen sie miteinander. Es geschah unausgesprochen wie alles, was sie gemeinsam betraf.
Es war hastig, wild und planlos, nicht einmal richtig, wie sie später feststellten, aber eben so, als sollte dem hier und jetzt ein Siegel aufgedrückt werden, was alles Bisherige Vergangenheit werden ließ.
Noch lange lagen sie erschöpft auf der weichen Matratze. Irgendwann fiel Gregors Blick auf eine kleine gelbe Wachskerze in einem wunderschönen handgefertigten Halter aus Ton. Es war das erste Teil, das er, nachdem sie die Wohnung betreten hatten, aus einer der Taschen holte, um es aufzustellen und der Wohnung seine eigene Note zu geben.
Die Kerze war ein Geschenk von Anne gewesen, irgendwann, spontan, wie alles, was sie schenkte.
Er hatte sie damals lange betrachtet und wusste noch, was er dabei gedacht hatte:
„wenn die Kerze eines Tages abgebrannt sein wird, dann werden wir uns verloren haben.“
Während Anne und Gregor sich liebten, hatte diese Kerze viel zu nahe am Gasofen gestanden und sich nun verformt.
Die Kerze würde nie mehr brennen können. Sie würden sich niemals verlieren.


2011
Jetzt, hier im Krankenhaus überkommt ihn erneut eine Ahnung, dass dieses Missgeschick vor 31 Jahren kein Zufall gewesen ist. Er hat es immer als Zeichen für ihre unauslöschliche Liebe und tiefe Freundschaft gesehen.
Tatsächlich war diese verkümmerte Kerze gleichermaßen zum Symbol für eine große Liebe und unbegreiflicher Verletzung geworden. Das allerdings ahnt er damals, als er die verformte Kerze vom Ofen nahm, nicht im Entferntesten.

Annes heutige Email ist mehr, als sie jemals zuvor an Initiative gezeigt hat. Entschlossen richtet er sich im Krankenbett auf. Wie von selbst rasen seine Finger über die kleine Tastatur. Er will jetzt schreiben, nicht mehr Korrekturlesen und schon gar nicht darüber nachdenken, ob es ein Fehler ist noch einmal zu schreiben.
Kurze Zeit später ist er fertig, die roten gestrichelten Linien in seinem Dokument deuten auf jede Menge Tippfehler hin. Egal, Klick, und die Nachricht ist unwiederbringlich abgeschickt.

Liebe Anne,
ich musste lange über deine Reaktion auf meine Email aus dem Krankenhaus nachdenken.
Wenn es so ist, wie ich sie verstehe, suchen wir beide bis heute Antworten auf die Frage, was damals mit uns passiert ist. Ich lebe mein Leben mit all den Höhen und Tiefen . Irgendwo das weiß ich, ist da diese „Insel Anne,“ zu der ich gedanklich flüchten kann, wenn diese Momente kommen, in denen ich nicht mehr weiß, auf welchem Weg ich mich befinde.
Ich habe regelrechte „Anne-Altäre“ als Illusionen sozusagen. Es sind meine kleinen Fluchten.
Mir geht es wie dir, ich würde gern lange Spaziergänge mit dir machen und über das Leben philosophieren. Ich frag mich ob dass ein Traum bleiben muss ,oder ob ich (wir) den Mut habe(n), es zu tun.
Warum verbiete ich mir das?
Die ganze Zeit habe ich im Kopf, dass ich noch viele Urlaubstage habe.....
Nein, wieder verbiete ich mir das zu Ende zu denken. Und du?
Ach Anne, mir geht es doch wirklich gut. Mein Krebs ist vorläufig weggefressen, ich habe Projekte auf die ich mich freue und kann Pläne machen.
Es ist so schön, dass es dich gibt, lass uns schauen, was wir uns trauen.
Gregor.

Annes Antwort lässt auf sich warten. Die Reaktion dauert länger als Gregors Genesungsprozess. Immer wieder liest er seine letzte Email. War darin irgend etwas anzüglich abschreckendes zu finden?
„Vermutlich hat sie kalte Füße bekommen,“ denkt er und gesteht sich ein, dass sich „Anne-Altäre“ und „Anne-Insel“ ganz schön krass anhören. Schließlich ist er kein Teenager mehr. Vermutlich hätte sie es ihm nicht einmal damals durchgehen lassen.

In Wirklichkeit plagen Anne ganz andere Probleme. Sie ist beim Mountainbike fahren gestürzt und hat sich das Schlüsselbein gebrochen. Der Heilungsprozess verläuft nicht ohne Komplikationen und sie wird ein zweites Mal operiert werden müssen.
Außerdem braucht sie dringend eine Bleibe für ihre beiden Söhne, die im Mai ihr Abbi machen werden und dann studieren wollen.
Gregors Email hat sie gelesen. Wer aber so wie sie mit dem täglichen Problemen kämpft, entwickelt nicht gerade einen Draht zu melancholischer Poesie, selbst wenn diese schmeichelhaft ist. Sie ist nicht mehr die Frau mit 22, für die jemand Altäre errichtet. Was für ein Schwachsinn.
Zwei Tage später denkt sie bereits wieder anders darüber. So hat alles seine Zeit. Zeit sich zu orientieren, Zeit, den Tatsachen ins Auge zu blicken und den Alltag zu regeln und dann wieder Zeit alte vertraute Sehnsucht zu spüren. In einem dieser Momente entschließt Anne sich, Gregor zu antworten.
Nach einem normalen Arbeitstag, schaut Gregor am Abend routinemäßig in seinen Email-Ordner. Er ist lange aus dem Krankenhaus entlassen und geht wieder seiner Arbeit nach, als sei nichts gewesen. Die Beseitigung der vereinzelt aufgetretenen Krebszellen ist so schonend und doch wirksam gewesen, dass die Ärzte eine Nachbehandlung nicht für indiziert halten.
Seinen Lebensunterhalt bestreitet Gregor als Bereichsleiter für Qualität und Fortbildung an einer Universitätsklinik. Die Arbeit ist interessant, abwechslungsreich und wird gut bezahlt. Rein statistisch gesehen, gehört er zu den 10 Prozent, der glücklichsten Deutschen.
Was ihm fehlt ist eine Familie. Seine Ehe ist daran gescheitert, dass seine Frau keine Kinder haben wollte und eine neue feste Beziehung hat sich bisher nicht ergeben.
In seinem Email-Ordner liest er folgendes:

Lieber Gregor,
da habe ich es einfacher als Du. Ich verbiete mir im Moment nichts, mache  mir viele Gedanken über mein Leben bis hierher und die Zeit, die noch bleibt. Manchmal habe ich noch viel vor und manchmal komme ich kaum über ein paar Tage hinaus. Eines weiß ich sicher, Abstand nehmen und nachdenken und reden tut mir immer gut. Ich kann mir gut vorstellen, ein paar Tage Zeit mit Dir zu verbringen und zu reden und zu suchen.....
Liebe Grüße Anne


Gregors in die Jahre gekommene Herz schlägt Purzelbäume. Spontan ruft er in einem Wellnesshotel  an und erkundigt sich nach freien Zimmern. Er ist aufgeregt, seine Gedanken rasen.
„Wir werden Regeln benötigen,“ denkt er „oder zumindest uns Fragen beantworten.
„Will ich Sex mit ihr?“ fragt er sich und weiß, dass diese Frage aus der Zeit rührt, als er von seiner Krebserkrankung erfuhr und sich damals diese Frage stellte.
"Ist sie jetzt noch wichtig?
Nein!
Also Regel Nummer eins: „Sex ist kein Thema.“
Oder sagen wir „eher nicht.“

Auf jeden Fall will er zwei Einzelzimmer buchen. Er braucht Rückzugsmöglichkeiten und Anne wird es nicht anders gehen.

Der Email-Verkehr zwischen Gregor und Anne nimmt in der nächsten Zeit Fahrt auf. Er schreibt jeden Tag, sie antwortet einmal die Woche.
„Das hat sie immer schon getan,“ fällt Gregor ein. Es ist eine ihn in den Wahnsinn treibende Marotte, genauso wie die, dass Anne nie auf Fragen antwortet.


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Beitrag20.07.2016 22:42

von Orpheus
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ich habe keine Ahnung was ich mit dem Button "wie geht es weiter" anfangen soll. Kann mir das jemand erklären? Ansonsten meine Frage:
Erzeugt der Einstieg einen Spannungsbogen der euch neugierig macht was weiter geschieht?


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