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Kiki


 
 
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Klemens_Fitte
Geschlecht:männlichSpreu

Alter: 41
Beiträge: 2932
Wohnort: zuckerstudio waldbrunn


Beitrag22.03.2016 17:37
Kiki
von Klemens_Fitte
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Kiki

Von hier oben betrachtet verschwimmen die Hausdächer zu einer milchigen Brühe, legen einen Schleier über die darunterliegende Stadt. Eine Grünfläche bricht durch, wie ausgelaufen, und flirrt vor Hitze. Vom Park ausgehend laufen drei Straßen davon – vorbei an der alten Kapelle, am Bahnhof, am Kaufhaus, an den Eisdielen, am Springbrunnen.
Weiter hinaus dann die Sehenswürdigkeiten: Das Opernhaus, der Neue Bahnhof, der Museumsplatz, die Einkaufsmeile. Schließlich, die schon untergehende Sonne im Rücken, über eine der zahlreichen Brücken. Links hinten, rötlich zwischen den Dächern hervor, ein Fernsehturm.
Hinein in schmale Gassen; Bretter über den Gehsteigen. Gesäumt von braunen Fassaden und Lattenzäunen, von Häusern, die wie gewachsen aussehen, mit kleinen Löchern dunkler Fenster. Bisweilen ein Blitzen und eine Ahnung von Grün und Bäumen aus einem Hinterhof.
Endlich: ausladende Bürgersteige vor Restaurants – indische, chinesische und mehrfach italienische. Ein Leuchten wie von Reklametafeln.
Dann wieder Seitengassen, Zettel, Müll, Glasscherben, abgerissene Plakate, die nichts mehr zu sagen wissen. Mancherorts dringt Dampf aus einer Ecke, mancherorts Mondlicht; schräg in die Gassen schneidend – da löst sich alles in sich überlagernde Flächen von Schwarz und Weiß und hinterlässt eine Ahnung von Oberfläche und Struktur.
Eine hochgewachsene Gestalt, einen Rucksack tragend – näher, bis man ihr fast über die Schulter sehen kann, an der Wange entlang, über die volle, fleischige Unterlippe nach oben, eine leichte Drehung, ein makelloser Nasenrücken; man glaubt sich am Ziel einer langen Reise, wenn man in diese Augen blickt.

Kiki steckte den Zettel zurück in die Hosentasche und zog sich, ein wenig unsicher, den Rucksack über die Schulter. Ein Rucksack, wie er normaler nicht aussehen kann, hatte Drehmer gesagt. Sie hatten im ›Roter Oktober‹ gesessen, und im Hinterhof hatten ein paar Verrückte Karten gespielt, mitten im Regen.
Kiki hatte keine Fähigkeiten. Wer ihn kannte, wusste das; und da Kiki sich länger kannte als sonst jemand, war er der Erste gewesen, dem es aufgefallen war. Wer ihn sonst noch kannte? Dimitri benutzte bisweilen Wörter wie Freundschaft.
Ein Blick auf die Bahnhofsuhr: er hatte noch gut eine Stunde. Vor einiger Zeit war er hier fast in eine Personenkontrolle geraten, seitdem mied er den Bahnhof auf seinen Touren. Zu viele Obdachlose, die lockten die Polizei an.
Kiki glaubte nicht, dass es an diesem Tag Probleme geben würde.
Ständig wechselten Reisegruppen die Züge, manche liefen von einem Gleis zum anderen und wieder zurück; manche zogen Gepäck, andere Kinder hinter sich her. Die Leute bereiteten ihm Sorge. Kiki zündete sich eine Zigarette an, nahm einen tiefen Zug. Im Bahnhofsgebäude herrschte Rauchverbot, er drückte die Zigarette wieder aus. Er wollte nicht auffallen.
Schließlich ging er in die Bierbar, deren Einrichtung genauso aussah wie in anderen Bahnhofskneipen: grün mit Goldrand. Wer sich hinsetzte, fühlte sich seltsam eingerahmt. In Bahnhofskneipen kann man vielen interessanten Menschen begegnen, hatte sich Kiki oft gedacht, aber er glaubte selbst nicht daran. Sein Tisch war ein hochkant stehendes Bierfass, aus dessen Mitte eine künstliche Palme blühte. Und die Getränkekarte ließ ihm die Wahl zwischen vier oder fünf – es waren fünf – Biersorten. Kiki bestellte »einfach nur ein Bier«.
Und einen Schnaps für die Nerven. Die Klimaanlage summte leise vor sich hin, es vermittelte beinahe ein Gefühl von Sicherheit.
Auf dem Weg hierher hatte Kiki darauf geachtet, dass ihm niemand gefolgt war; er verwarf den Gedanken, jemand außer ihm und Drehmer könne Bescheid wissen. Drehmer war lange genug im Geschäft. Kiki konnte nicht einmal sagen, ob Dimitri Bescheid wusste. Er hätte ihm davon erzählen können – und in diesem Moment wollte er das tatsächlich. Dimitri war aber nicht da.
Irgendjemand hatte Kiki erzählt, Drehmer habe einmal ein Verhältnis mit Dimitris Freundin gehabt.

Fortsetzung folgt

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Ithanea
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Beitrag22.03.2016 21:12

von Ithanea
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Hehe. Kiki Verstecken
Das wird interessant.
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hobbes
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Das goldene Aufbruchstück Das goldene Gleis
Der silberne Scheinwerfer Ei 4
Podcast-Sonderpreis


Beitrag23.03.2016 01:07

von hobbes
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Ithanea hat Folgendes geschrieben:
Das wird interessant.

Ich finde ja, das ist schon interessant. So in Hinsicht: was soll das sein, wo will das hin.

Den ersten Absatz habe ich übersprungen. Beschreibungs-Overflow.
Interessant finde ich, dass ich nicht gleich völlig abgesprungen bin. Vielleicht, weil die Beschreibungen in sich durchaus gut zu lesen waren. Mir eben zu gehäuft, aber dafür kannst du im Grunde nichts, ich hab's einfach nicht sonderlich mit Beschreibungen.

Und dann kam ja auch schon Kiki.

Interessant finde ich den Text vor allem auch wegen der Widersprüchlichkeiten. Also sowas:
Zitat:
In Bahnhofskneipen kann man vielen interessanten Menschen begegnen, hatte sich Kiki oft gedacht, aber er glaubte selbst nicht daran.

Käme das nur einmal vor, würde ich ja noch denken, die/der Autor/in schlampt herum, aber in der Häufung wird das ja schon irgendeinen Sinn haben. Hoffe ich.

Die eingestreuten Beschreibungen im zweiten Absatz mag ich übrigens total gern. Was wohl hauptsächlich daran liegt, dass ich dann schon eine Figur zur Hand habe.

Ich bin gespannt auf weiteres.
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Rheinsberg
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Bronzenes Messer


Beitrag23.03.2016 06:42

von Rheinsberg
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Ich glaube, hier gucke ich auch nach mehr zum Weiterlesen - und was daran trash sein soll, erschließt sich mir nicht.

Ich freue mich derzeit besonders, wenn der Schreibstil ein wenig ungewöhnlich ist. Die Beschreibung im ersten Absatz KÖNNTE man sicher ändern, ich habe sie eher mit Interesse gelesen und versucht herauszufinden, welche Stadt es wohl sein könnte ...
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Klemens_Fitte
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Beitrag23.03.2016 08:29

von Klemens_Fitte
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Danke für die Rückmeldungen.

Den ersten Absatz halte ich immer noch für schwierig, wobei ich nicht weiß, ob ich da etwas versucht habe, das grundsätzlich nicht funktioniert, oder ich nur nicht die richtigen Worte gefunden habe. Diese Beschreibungen werden im Weiteren sparsamer. Ob der Rest dafür interessanter ist, kann ich natürlich nicht sagen.

Ich denke, ich mache einfach mal weiter.
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Klemens_Fitte
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Beitrag23.03.2016 08:42

von Klemens_Fitte
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Draußen kündigt sich den Besuchern der Stadt eine wolkenlose Nacht an. Möglicherweise wird es auch die ein oder andere Wolke geben, aber Wolken fallen nachts nur dann auf, wenn sie den Mond verdecken. Es mag ein paar Menschen geben, die dastehen und nach oben sehen und den Mond oder die Sterne suchen. Die meisten aber schlafen – ob in ihren eigenen Betten oder in fremden.

Kiki saß im hintersten Winkel der Bar und keiner konnte sagen, woran er in diesem Moment dachte – er dachte an Jemine, seine Freundin – er lächelte ein wissendes Lächeln.
Vielleicht kam ihm sein Leben ausgereizt vor, seltsam überlebt oder schon einmal gelebt – selbst in Kneipen hatte er oft genug gesessen. Es bereitete ihm zunehmend Kopfschmerzen, immer nur das Naheliegende zu tun. Die Vergangenheit eines Menschen, hatte sich Kiki einmal gedacht, gehört ihm nicht, hat ihm nie gehört.
Zum wiederholten Mal an diesem Tag kam es ihm seltsam vor, so viel Geld für eine einfache Übergabe zu bekommen. Drehmer hatte gelacht, im ›Roter Oktober‹, hatte ihm auf die Schulter geklopft. Kiki hatte nicht gelacht, im ›Roter Oktober‹.
Drüben saß Mariya, die vor einiger Zeit, wie man erzählte, einen Soldaten geheiratet hatte. Einen angehenden Offizier, glaubte Kiki gehört zu haben. Kiki hatte auch gehört, der Soldat habe eine andere und Mariya sei doch nicht schwanger. Mariya sah in das Weinglas, das vor ihr auf dem Tisch stand – sie hatte vor einiger Zeit, hatte Kiki gehört, einen Soldaten geheiratet.
Einmal hatte Kiki mit ihr getrunken und sie hatte die ganze Zeit über gelacht. Als er sie gefragt hatte, weshalb sie lache, hatte sie erwidert: »Weil Weinen nichts für Mädchen ist.«
Kiki dachte nicht weiter daran, die Erinnerung zerfiel ihm in Gefälliges, und Mariya ging, ihr Gesicht drehte sich halb in die Glastür, Kiki konnte nicht sagen, ob sie es war oder ihr Spiegelbild. Der Barkeeper grinste ihn an, den Kopf von herabhängenden Schnapsflaschen eingerahmt.

Der Holländer war in der Bar aufgetaucht. Kiki wusste nicht, ob er ihm gefolgt war oder ihn bereits erwartet hatte. Zufall konnte es nicht sein. Der Holländer war einmal, lange vor Kikis Zeit, einer von Dimitris Freunden gewesen; das galt jetzt nicht mehr, und Kiki hatte nie in Erfahrung bringen können, wieso. Auch quer durch die Bar hindurch hatte Kiki gesehen – er hatte es bereits gewusst – dass dem Holländer eine Fingerkuppe fehlte.
Der Holländer hatte Kiki einmal mit einer abgebrochenen Bierflasche angegriffen; da waren sie aber beide betrunken gewesen, hatte sich Kiki danach gesagt, und Dimitri hatte den Holländer zu Boden geschlagen und Kiki danach gesagt, so etwas würde ein Freund eben für einen anderen tun.
Seitdem ließ sich der Holländer nur selten in der Gegend blicken.
Kiki war klar, welches Risiko die Anwesenheit des Holländers bedeutete. Er dachte an die Übergabe und an die Gleise und überlegte sich, was er tun sollte. Er hatte sich zu den Toiletten geflüchtet, um in Ruhe nachdenken zu können und den Holländer nicht mehr im Blickfeld zu haben.
Kiki schien verzweifelt. In Wirklichkeit war er es auch.
In solchen Momenten wartete er oft auf irgendeinen Geistesblitz; und wusste, dass der nicht zu erwarten war.
Unerwartet schnell gab Kiki auf und trat mit grimmigen Gedanken wieder auf den Gang hinaus, der von den Toiletten zur Bar führte. Vielleicht würde ihm der Holländer gar nicht zu den Gleisen folgen. Kiki wusste, dass er das tun würde.
Sie trug einen schwarzen Mantel, der erstens nicht zum Wetter und zweitens nicht zu ihren grün-weißen Turnschuhen passte. Ihre Beine waren strumpfhösern. Zwischen den Fingern – an denen sie drei silberne Ringe trug, deren Wert selbst Kiki nicht ausmachen konnte – hielt sie eine Zigarette. Ihre Lippen waren zusammengepresst, nur wenn sie die Zigarette zum Mund führte, blitzte kurz eine Reihe bläulich schimmernder Zähne auf. Ihre Augen waren nicht zu fixieren, es lag aber eine merkwürdige Dringlichkeit in ihrem Blick.
Sie schien nervös. Ob sie es in Wirklichkeit war, ist nicht zu sagen. Kiki zweifelte keinen Augenblick daran, dass sie auf ihn gewartet hatte. Er hatte sie noch nie zuvor gesehen.
»Geh nicht dort hinaus«, sagte sie irgendwann und deutete mit der Zigarette in Richtung Bar. Kiki nickte nur.
»Er hat Wind von der Sache bekommen, weiß Gott woher«, fuhr sie fort. Mit einem Mal stand ihr Gesicht schräg zu seinem, Kiki meinte, ihren Atem auf seiner Wange zu spüren.
»Wen meinst du?«, fragte er unsicher. »Den Holländer?«
Sie schüttelte den Kopf, als habe er eine Selbstverständlichkeit nicht verstanden. »Drehmer«, sagte sie.
»Drehmer?« Kiki zögerte. »Woher kennen wir uns?«
»Was kümmert es dich, wen ich liebe«, gab sie schroff zurück. Als wollte sie es wiedergutmachen, legte sie ihre Hand an seine Wange. »Wenn du dort hinaus gehst, bringst du uns beide in Gefahr. Vergiss die Übergabe.«
Kiki wagte nichts mehr zu sagen, ihre Stimme duldete keinen Widerspruch. Sie drehte sich von ihm weg, ein Schlüssel blitzte in ihrer Hand; sie stieß die Tür auf, auf der »Kein Zutritt« stand.
»Vergiss die Übergabe«, wiederholte sie. »Nimm den Rucksack und geh nach Hause.«
»Warum …« Kiki stand bereits im Türrahmen.
»Das wolltest du mich schon immer fragen, nicht wahr?« Ihre schmalen Lippen formten ein galliges Lächeln, beinahe schmerzverzerrt. Dann schloss sie die Tür hinter ihm.
Einige Augenblicke stand Kiki allein, dann vergaß er die Übergabe, er vergaß den Bahnsteig, den Holländer und Drehmer, und rannte nach Hause.

Fortsetzung folgt

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Klemens_Fitte
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Beitrag24.03.2016 08:39

von Klemens_Fitte
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Eine Decke auf dem Boden, Bücher und lose Papierbögen darauf, zeugte davon, dass hier jemand wohnte. An den Wänden hingen nur wenige Bilder, und keins von ihnen war gerahmt. Ein großer Kerzenhalter an der Wand, ohne Kerzen. Der Balkon atmete Feuchtigkeit und Kälte. Eine Gasheizung.
Eine hölzerne Truhe, Klamotten darin, ein mannshoher Spiegel im Bad, ein grauer Duschvorhang. Auf der Kommode Postkarten und Holzschnitzarbeiten aus Asien oder Afrika. Ein überfließender Schreibtisch: Notizen, Telefonnummern, Grüße, die niemand mehr beachtete.
Aus dem Arbeitszimmer zurück in den Hausflur gerissen:
»Wo warst du?«, rief Jemine und rannte zu Kiki, der gerade die Wohnung betreten hatte. »Hast du eine Ahnung, was ich mir für Sorgen um dich gemachte habe … warum kommst du so spät nach Hause … mein Gott« – sie hielt kurz inne; in einem Film hätte sie sein Gesicht in beide Hände genommen – »du siehst ja fürchterlich aus, was …«
Kiki legte seinen Zeigefinger – wie in einem Film – auf Jemines Lippen, sein Kopf schmerzte. »Kein Problem, ist alles glatt gelaufen«, murmelte er.
Jemine umarmte, küsste ihn. Dann stutzte sie, als habe sie erst jetzt begriffen, was er gesagt hatte. »Was ist glatt gelaufen?«
Kiki zuckte mit den Schultern, er wusste es selbst nicht zu sagen. Seine braunen Augen waren ausdruckslos – ein wenig erstaunt vielleicht, über sich selbst. Seine Zähne taten ihm weh, sein Kopf, seine Arme. Er schob sich an Jemine vorbei ins Wohnzimmer. Jemine hatte er auf einer Kegelbahn kennengelernt, er war der Einzige gewesen, der nicht gekegelt hatte. Er wusste nicht mehr, was er damals zu ihr gesagt hatte; es mochte erst ein halbes Jahr her sein – und tatsächlich dachte Kiki in diesem Moment: ein halbes Jahr schon.
Er ließ sich auf die Couch fallen und zweifelte nicht daran, nie wieder etwas tun zu können.
Was er tat: er drehte den Kopf zu Jemine, die neben ihm kniete und mit der Hand durch seine Haare fuhr, und sie schien besorgt. Sie versuchte zu lächeln. »Ich weiß nicht«, sagte sie schließlich, »was heute mit dir passiert ist.«
Kiki sah sie an. Aus irgendeinem Grund war sie ihm näher und er ihr ferner als je zuvor. Anscheinend liebte sie ihn. Er machte ihr deswegen keinen Vorwurf.
»Vielleicht sollten wir weg von hier«, sagte sie, in der Tür zum Schlafzimmer stehend. »Wir könnten nach Spanien fahren.«
»In Spanien war ich schon«, log Kiki.

Ein anderes Viertel, Altbauwohnungen mit blumengeschmückten Balkonen, ein Park und ein kleiner See, der träg in die Nacht hineinragt; Bäume mit unbestimmbaren Blüten. Nachts vogelleer und in den Sträuchern Grillen. Abendluft.
Manchmal dreht sich die Erde langsamer, als wir zu fühlen meinen. Man muss uns mit der Nase drauf stoßen, damit wir es wahrnehmen, wenn die Zeit sich überschlägt. Ansonsten glauben wir lediglich zu träumen oder an ein Déjà-vu, wir erfinden Gründe, die nicht existieren; weil unser Denken Falltüren hat. Wir meinen, wir seien mit uns selbst identisch, aber das macht noch keine Aussage über uns.
Keiner denkt an diesem Abend darüber nach, auch der nicht, dem es passiert war, ohne dass er etwas davon mitbekommen hätte. Die Abendluft ist zu warm und das Stimmengewirr zu laut, die Kneipen zu einladend und das Bier zu kühl und die Menschen zu schön, um Anlass zum Nachdenken zu geben. Ab und an mag man heruntergekommene Gestalten sehen, in Hauseingängen oder Hinterhöfen sitzend; aber selbst sie haben an diesem Abend keine Geschichten zu erzählen – und keinen, der sie hören will.

Der Verkehr auf der Hauptstraße – das ein oder andere Auto, eine leere Straßenbahn, einige Motorroller – flimmerte an Kiki vorbei, gelbe und rote Streifen, die er nicht einzuordnen vermochte; zumeist verschwammen sie mit der Straßenbeleuchtung und den Reklameschildern der Tabakläden.
Am Morgen war die Wohnung bereits leer gewesen – Jemine war fort, wohin auch immer gegangen, vielleicht arbeiten – und die Nacht hatte einen seltsamen Geschmack nach Salz auf seiner Zunge zurückgelassen. Er hatte an irgendetwas gedacht, das er verloren hatte, und er hatte nicht mehr sagen können, was es war. Den ganzen Morgen über hatte ihn dieser Gedanke gequält.
Dagegen war seine Tour am Mittag – ein paar Jugendliche, vielleicht Schüler, vielleicht Studenten, ein älterer Herr im Anzug – doch recht erfolgreich gewesen. Die restliche Zeit bis zum Abend hatte er damit verbracht, von der S-Bahn aus die Stadt zu betrachten: sie war ihm nicht verändert vorgekommen, und das hatte ihn verwundert.
Es war noch nicht zehn Uhr abends und ausnahmslos schöne Menschen gingen die Bürgersteige vor den Kneipen entlang. Menschen, deren Pullover über ihren Schultern hingen, Menschen mit anspruchslosen Gesichtern und makellosen Zähnen. Die Luft roch, wie Frühlingsnächte eben riechen. Zum ersten Mal seit Langem fühlte sich Kiki, als würde er nicht dazugehören.
»Du gefällst mir heute gar nicht«, meinte Dimitri und drückte mit äußerster Sorgfalt seine Zigarette aus.
»Ich hab ja auch schon ne Freundin«, konterte Kiki schwach. Dimitri lachte trotzdem. Er lachte die Art von Lachen, der eine Bitte folgen würde, das spürte Kiki. Er war sich sicher, dass Dimitri niemals auf seine Hilfe angewiesen war.
Kiki drehte ein Streichholz zwischen den Fingern. Das war jetzt bereits die dritte Kneipe an diesem Abend – und in keinem Fall besser als die vorherigen beiden: Nichtssagende Schwarzweißfotografien an den Wänden, eine klischeehaft schummrige Beleuchtung; eine hübsche Bedienung, immerhin. Teures Bier, viel zu teuer und überhaupt: Markenbier. Konsensbier. Ist doch eigentlich gar nicht Dimitris Geschmack, dachte sich Kiki, so eine Kneipe. Grüne Tischdecken und in frischem Braunton gestrichene Wände. Er schüttelte unmerklich den Kopf.
»Weißt du«, meinte Dimitri auf einmal und grinste Kiki schräg an, »ich frage mich, ob du schon einmal im ›Nil‹ warst.«
Kiki war perplex. Natürlich war er noch nie im ›Nil‹ gewesen; das ›Nil‹ war Dimitris Privatclub und hatte einen Türsteher.
»Dort steigt nämlich heute eine Party für mich«, fuhr Dimitri ungerührt fort, »und eben dachte ich mir: nimm doch mal den Kiki mit, der kann ein bisschen gute Laune vertragen.«
Kiki versuchte sich an einem Lächeln.

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KeTam
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Das goldene Gleis Ei 1
Ei 10 Ei 8
Pokapro und Lezepo 2014


Beitrag24.03.2016 08:59

von KeTam
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Lieber Inko,

ich bin beeindruckt. Mir gefällt das sehr gut. Zu Meckern hab ich nichts, will wirklich wissen, wer das hier geschrieben hat.

Lg, KeTam.
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Ithanea
Geschlecht:weiblichReißwolf

Alter: 34
Beiträge: 1062

Ei 3 Pokapro 2017


Beitrag24.03.2016 11:36

von Ithanea
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Inkognito hat Folgendes geschrieben:

Den ersten Absatz halte ich immer noch für schwierig, wobei ich nicht weiß, ob ich da etwas versucht habe, das grundsätzlich nicht funktioniert, oder ich nur nicht die richtigen Worte gefunden habe.

Falls du damit das 'filmische' meinst, bin ich mir sicher, dass es grundsätzlich funktioniert. Ich denke sehr 'filmisch' und stelle mir oft genug (beim Lesen und in Wirklichkeit) vor, wie die Kamera aus mir herausfährt und sich das ganze von woanders anschaut. Oder besonders lange auf ein Detail zoomt.
So lese ich zumindest den ersten Abschnitt: Man nähert sich von oben, von außen dem Ziel, der Figur mit dem Rucksack auf der Schulter.
Ich würde das 'schwierige' am ersten Absatz (ich musste auch erstmal reinkommen) also eher in manchen Worten oder zu vielen Beschreibungen suchen.

Für mich wirds eher schwieriger im zweiten Teil. An den Stellen, an denen du bewusst in Kikis Perspektive gehst und wieder hinaus, oder andersrum.

Inkognito hat Folgendes geschrieben:
keiner konnte sagen, woran er in diesem Moment dachte – er dachte an Jemine, seine Freundin – er lächelte ein wissendes Lächeln.

Inkognito hat Folgendes geschrieben:
Kiki schien verzweifelt. In Wirklichkeit war er es auch.


Das ist gewöhnungsbedürftig. Mal schauen, wie das weitergeht und ob ich mich daran gewöhne.

Den dritten Teil finde ich klasse.
Inkognito hat Folgendes geschrieben:
»Du gefällst mir heute gar nicht«, meinte Dimitri und drückte mit äußerster Sorgfalt seine Zigarette aus.
»Ich hab ja auch schon ne Freundin«, konterte Kiki schwach. Dimitri lachte trotzdem. Er lachte die Art von Lachen, der eine Bitte folgen würde, das spürte Kiki. Er war sich sicher, dass Dimitri niemals auf seine Hilfe angewiesen war.
Kiki drehte ein Streichholz zwischen den Fingern. Das war jetzt bereits die dritte Kneipe an diesem Abend – und in keinem Fall besser als die vorherigen beiden: Nichtssagende Schwarzweißfotografien an den Wänden, eine klischeehaft schummrige Beleuchtung; eine hübsche Bedienung, immerhin. Teures Bier, viel zu teuer und überhaupt: Markenbier. Konsensbier. Ist doch eigentlich gar nicht Dimitris Geschmack, dachte sich Kiki, so eine Kneipe. Grüne Tischdecken und in frischem Braunton gestrichene Wände. Er schüttelte unmerklich den Kopf.

Das ist sehr schön.

Das hier kannst du besser: Zum ersten Mal seit Langem fühlte sich Kiki, als würde er nicht dazugehören.
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Klemens_Fitte
Geschlecht:männlichSpreu

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Beiträge: 2932
Wohnort: zuckerstudio waldbrunn


Beitrag24.03.2016 12:23

von Klemens_Fitte
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KeTam hat Folgendes geschrieben:
Lieber Inko,

ich bin beeindruckt. Mir gefällt das sehr gut. Zu Meckern hab ich nichts, will wirklich wissen, wer das hier geschrieben hat.

Lg, KeTam.


Dankeschön.

Ithanea hat Folgendes geschrieben:
So lese ich zumindest den ersten Abschnitt: Man nähert sich von oben, von außen dem Ziel, der Figur mit dem Rucksack auf der Schulter.


So war es gedacht, ja. Wahrscheinlich ist der Abschnitt deshalb problematisch, weil diese 'Kamerafahrt' noch zusätzlich zur Beschreibung der Stadt – die, wie gesagt, noch öfter aufgegriffen wird – dazukommt. Also ein Problem von Länge und (fehlendem) Fokus.

Ithanea hat Folgendes geschrieben:
Für mich wirds eher schwieriger im zweiten Teil. An den Stellen, an denen du bewusst in Kikis Perspektive gehst und wieder hinaus, oder andersrum.

Inkognito hat Folgendes geschrieben:
keiner konnte sagen, woran er in diesem Moment dachte – er dachte an Jemine, seine Freundin – er lächelte ein wissendes Lächeln.

Inkognito hat Folgendes geschrieben:
Kiki schien verzweifelt. In Wirklichkeit war er es auch.


Das ist gewöhnungsbedürftig. Mal schauen, wie das weitergeht und ob ich mich daran gewöhne.


Da bin ich auch mal gespannt. Es ist schon so, dass ich etwas damit bezwecke. Zumindest hoffe ich, eine Sinnhaftigkeit zu erzeugen, wenn man erst einmal die Novelle als Ganzes vor sich hat.

Ithanea hat Folgendes geschrieben:
Den dritten Teil finde ich klasse.


Danke.

Ithanea hat Folgendes geschrieben:
Das hier kannst du besser: Zum ersten Mal seit Langem fühlte sich Kiki, als würde er nicht dazugehören.


Da gebe ich dir recht smile


_________________
100% Fitte

»Es ist illusionär, Schreiben als etwas anderes zu sehen als den Versuch zur extremen Individualisierung.« (Karl Heinz Bohrer)
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Sue Rovia
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Das bronzene Floß Silbernes Licht


Beitrag24.03.2016 12:50

von Sue Rovia
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Gutes soll nicht ignoriert werden, so lehrte mich zumindest Ithanea.

Die Außenperspektive am Anfang stört mich ebenso wenig wie besagte Ithanea, vielleicht noch ein bisschen weniger -das kann man schwer sagen.
Anders ist es mit dem dritten Teil:

Zitat:
Ein anderes Viertel, Altbauwohnungen mit blumengeschmückten Balkonen, ein Park und ein kleiner See, der träg in die Nacht hineinragt; Bäume mit unbestimmbaren Blüten. Nachts vogelleer und in den Sträuchern Grillen. Abendluft.
Manchmal dreht sich die Erde langsamer, als wir zu fühlen meinen. Man muss uns mit der Nase drauf stoßen, damit wir es wahrnehmen, wenn die Zeit sich überschlägt. Ansonsten glauben wir lediglich zu träumen oder an ein Déjà-vu, wir erfinden Gründe, die nicht existieren; weil unser Denken Falltüren hat. Wir meinen, wir seien mit uns selbst identisch, aber das macht noch keine Aussage über uns.
Keiner denkt an diesem Abend darüber nach, auch der nicht, dem es passiert war, ohne dass er etwas davon mitbekommen hätte. Die Abendluft ist zu warm und das Stimmengewirr zu laut, die Kneipen zu einladend und das Bier zu kühl und die Menschen zu schön, um Anlass zum Nachdenken zu geben. Ab und an mag man heruntergekommene Gestalten sehen, in Hauseingängen oder Hinterhöfen sitzend; aber selbst sie haben an diesem Abend keine Geschichten zu erzählen – und keinen, der sie hören will.


Beim ersten Lesen, habe ich diesen Absatz komplett ausgelassen. Und -da bin ich mir ziemlich sicher -das wird mir auch zukünftig passieren. Es ist keine böse Absicht, nur eine Art Ungeduld, und ein bisschen Ärger darüber, dass ich mich jetzt von Kiki trennen soll, wo ich mich doch gerade  an  ihn gewöhnt habe.
Kikis Perspektive und die unvorhergesehenen Wechsel hinein und hinaus, machen den Text so unverwechselbar -glaube ich.
Dass das stellenweise schwierig wird, sehe schon auch. Gerade die Stelle, die Ithanea schon einmal aufgegriffen hat.
Zitat:


Inkognito hat Folgendes geschrieben:
keiner konnte sagen, woran er in diesem Moment dachte – er dachte an Jemine, seine Freundin – er lächelte ein wissendes Lächeln.


Keiner konnte sagen... keiner...dann eigentlich Kiki auch nicht, oder? Das wirkt dann leicht wie ein Widerspruch, und ich frage mich, ob du das gewollt hast.

Zitat:

Er ließ sich auf die Couch fallen und zweifelte nicht daran, nie wieder etwas tun zu können.


Die verdoppelte Verneinung wirft mich aus dem Lesen und ich tue mir schwer damit, darauf zu vertrauen, dass du an eben dieser Stelle wirklich willst, was du bewirkst.

Zitat:
Kiki sah sie an. Aus irgendeinem Grund war sie ihm näher und er ihr ferner als je zuvor. Anscheinend liebte sie ihn. Er machte ihr deswegen keinen Vorwurf.
»Vielleicht sollten wir weg von hier«, sagte sie, in der Tür zum Schlafzimmer stehend. »Wir könnten nach Spanien fahren.«
»In Spanien war ich schon«, log Kiki.


Sehr gelungener Text. Auch das Ende des dritten Teiles, aber der wurde von meiner Vorrednerin bereits gelobt.

Vielleicht noch zwei Wortanmerkungen:
Strumpfhösern ist ein ziemlich hässliches Wort. Gallig in gewisser Weise auch, aber gallig scheint in seiner Hässlichkeit an eben der Stelle doch ganz sinnvoll zu sein. Bei Strumpfhösern bin ich mir da nicht so sicher.

Liebe Grüße von einer, die wohl eine Art Narren an Kiki gefressen hat. Vielleicht auch an den Holländer und ganz bestimmt an Mariya.
Auf ein baldiges Wiederlesen
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KeTam
Geschlecht:weiblichUngeduld

Alter: 49
Beiträge: 4952

Das goldene Gleis Ei 1
Ei 10 Ei 8
Pokapro und Lezepo 2014


Beitrag24.03.2016 14:06

von KeTam
Antworten mit Zitat

Warum steht das eigentlich im Trash?
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Sue Rovia
Geschlecht:weiblichKlammeraffe

Alter: 30
Beiträge: 586
Wohnort: Metronom
Das bronzene Floß Silbernes Licht


Beitrag24.03.2016 14:42

von Sue Rovia
Antworten mit Zitat

soviel Textqualität würde das Forum stören
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Klemens_Fitte
Geschlecht:männlichSpreu

Alter: 41
Beiträge: 2932
Wohnort: zuckerstudio waldbrunn


Beitrag24.03.2016 20:28

von Klemens_Fitte
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Nicht wundern. Ich poste den dritten Teil nochmal, da es die Fortsetzungsfunktion unterschlagen hatte. Jetzt sollte alles wieder in der Reihe sein.

Eine Decke auf dem Boden, Bücher und lose Papierbögen darauf, zeugte davon, dass hier jemand wohnte. An den Wänden hingen nur wenige Bilder, und keins von ihnen war gerahmt. Ein großer Kerzenhalter an der Wand, ohne Kerzen. Der Balkon atmete Feuchtigkeit und Kälte. Eine Gasheizung.
Eine hölzerne Truhe, Klamotten darin, ein mannshoher Spiegel im Bad, ein grauer Duschvorhang. Auf der Kommode Postkarten und Holzschnitzarbeiten aus Asien oder Afrika. Ein überfließender Schreibtisch: Notizen, Telefonnummern, Grüße, die niemand mehr beachtete.
Aus dem Arbeitszimmer zurück in den Hausflur gerissen:
»Wo warst du?«, rief Jemine und rannte zu Kiki, der gerade die Wohnung betreten hatte. »Hast du eine Ahnung, was ich mir für Sorgen um dich gemachte habe … warum kommst du so spät nach Hause … mein Gott« – sie hielt kurz inne; in einem Film hätte sie sein Gesicht in beide Hände genommen – »du siehst ja fürchterlich aus, was …«
Kiki legte seinen Zeigefinger – wie in einem Film – auf Jemines Lippen, sein Kopf schmerzte. »Kein Problem, ist alles glatt gelaufen«, murmelte er.
Jemine umarmte, küsste ihn. Dann stutzte sie, als habe sie erst jetzt begriffen, was er gesagt hatte. »Was ist glatt gelaufen?«
Kiki zuckte mit den Schultern, er wusste es selbst nicht zu sagen. Seine braunen Augen waren ausdruckslos – ein wenig erstaunt vielleicht, über sich selbst. Seine Zähne taten ihm weh, sein Kopf, seine Arme. Er schob sich an Jemine vorbei ins Wohnzimmer. Jemine hatte er auf einer Kegelbahn kennengelernt, er war der Einzige gewesen, der nicht gekegelt hatte. Er wusste nicht mehr, was er damals zu ihr gesagt hatte; es mochte erst ein halbes Jahr her sein – und tatsächlich dachte Kiki in diesem Moment: ein halbes Jahr schon.
Er ließ sich auf die Couch fallen und zweifelte nicht daran, nie wieder etwas tun zu können.
Was er tat: er drehte den Kopf zu Jemine, die neben ihm kniete und mit der Hand durch seine Haare fuhr, und sie schien besorgt. Sie versuchte zu lächeln. »Ich weiß nicht«, sagte sie schließlich, »was heute mit dir passiert ist.«
Kiki sah sie an. Aus irgendeinem Grund war sie ihm näher und er ihr ferner als je zuvor. Anscheinend liebte sie ihn. Er machte ihr deswegen keinen Vorwurf.
»Vielleicht sollten wir weg von hier«, sagte sie, in der Tür zum Schlafzimmer stehend. »Wir könnten nach Spanien fahren.«
»In Spanien war ich schon«, log Kiki.

Ein anderes Viertel, Altbauwohnungen mit blumengeschmückten Balkonen, ein Park und ein kleiner See, der träg in die Nacht hineinragt; Bäume mit unbestimmbaren Blüten. Nachts vogelleer und in den Sträuchern Grillen. Abendluft.
Manchmal dreht sich die Erde langsamer, als wir zu fühlen meinen. Man muss uns mit der Nase drauf stoßen, damit wir es wahrnehmen, wenn die Zeit sich überschlägt. Ansonsten glauben wir lediglich zu träumen oder an ein Déjà-vu, wir erfinden Gründe, die nicht existieren; weil unser Denken Falltüren hat. Wir meinen, wir seien mit uns selbst identisch, aber das macht noch keine Aussage über uns.
Keiner denkt an diesem Abend darüber nach, auch der nicht, dem es passiert war, ohne dass er etwas davon mitbekommen hätte. Die Abendluft ist zu warm und das Stimmengewirr zu laut, die Kneipen zu einladend und das Bier zu kühl und die Menschen zu schön, um Anlass zum Nachdenken zu geben. Ab und an mag man heruntergekommene Gestalten sehen, in Hauseingängen oder Hinterhöfen sitzend; aber selbst sie haben an diesem Abend keine Geschichten zu erzählen – und keinen, der sie hören will.

Der Verkehr auf der Hauptstraße – das ein oder andere Auto, eine leere Straßenbahn, einige Motorroller – flimmerte an Kiki vorbei, gelbe und rote Streifen, die er nicht einzuordnen vermochte; zumeist verschwammen sie mit der Straßenbeleuchtung und den Reklameschildern der Tabakläden.
Am Morgen war die Wohnung bereits leer gewesen – Jemine war fort, wohin auch immer gegangen, vielleicht arbeiten – und die Nacht hatte einen seltsamen Geschmack nach Salz auf seiner Zunge zurückgelassen. Er hatte an irgendetwas gedacht, das er verloren hatte, und er hatte nicht mehr sagen können, was es war. Den ganzen Morgen über hatte ihn dieser Gedanke gequält.
Dagegen war seine Tour am Mittag – ein paar Jugendliche, vielleicht Schüler, vielleicht Studenten, ein älterer Herr im Anzug – doch recht erfolgreich gewesen. Die restliche Zeit bis zum Abend hatte er damit verbracht, von der S-Bahn aus die Stadt zu betrachten: sie war ihm nicht verändert vorgekommen, und das hatte ihn verwundert.
Es war noch nicht zehn Uhr abends und ausnahmslos schöne Menschen gingen die Bürgersteige vor den Kneipen entlang. Menschen, deren Pullover über ihren Schultern hingen, Menschen mit anspruchslosen Gesichtern und makellosen Zähnen. Die Luft roch, wie Frühlingsnächte eben riechen. Zum ersten Mal seit Langem fühlte sich Kiki, als würde er nicht dazugehören.
»Du gefällst mir heute gar nicht«, meinte Dimitri und drückte mit äußerster Sorgfalt seine Zigarette aus.
»Ich hab ja auch schon ne Freundin«, konterte Kiki schwach. Dimitri lachte trotzdem. Er lachte die Art von Lachen, der eine Bitte folgen würde, das spürte Kiki. Er war sich sicher, dass Dimitri niemals auf seine Hilfe angewiesen war.
Kiki drehte ein Streichholz zwischen den Fingern. Das war jetzt bereits die dritte Kneipe an diesem Abend – und in keinem Fall besser als die vorherigen beiden: Nichtssagende Schwarzweißfotografien an den Wänden, eine klischeehaft schummrige Beleuchtung; eine hübsche Bedienung, immerhin. Teures Bier, viel zu teuer und überhaupt: Markenbier. Konsensbier. Ist doch eigentlich gar nicht Dimitris Geschmack, dachte sich Kiki, so eine Kneipe. Grüne Tischdecken und in frischem Braunton gestrichene Wände. Er schüttelte unmerklich den Kopf.
»Weißt du«, meinte Dimitri auf einmal und grinste Kiki schräg an, »ich frage mich, ob du schon einmal im ›Nil‹ warst.«
Kiki war perplex. Natürlich war er noch nie im ›Nil‹ gewesen; das ›Nil‹ war Dimitris Privatclub und hatte einen Türsteher.
»Dort steigt nämlich heute eine Party für mich«, fuhr Dimitri ungerührt fort, »und eben dachte ich mir: nimm doch mal den Kiki mit, der kann ein bisschen gute Laune vertragen.«
Kiki versuchte sich an einem Lächeln.

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Klemens_Fitte
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Beitrag24.03.2016 20:46

von Klemens_Fitte
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KeTam hat Folgendes geschrieben:
Warum steht das eigentlich im Trash?


Ich konnte mich nicht zwischen Werkstatt und Feedback entscheiden.

Sue Ulmer hat Folgendes geschrieben:
Anders ist es mit dem dritten Teil:

Zitat:
Ein anderes Viertel, Altbauwohnungen mit blumengeschmückten Balkonen, ein Park und ein kleiner See, der träg in die Nacht hineinragt; Bäume mit unbestimmbaren Blüten. Nachts vogelleer und in den Sträuchern Grillen. Abendluft.
Manchmal dreht sich die Erde langsamer, als wir zu fühlen meinen. Man muss uns mit der Nase drauf stoßen, damit wir es wahrnehmen, wenn die Zeit sich überschlägt. Ansonsten glauben wir lediglich zu träumen oder an ein Déjà-vu, wir erfinden Gründe, die nicht existieren; weil unser Denken Falltüren hat. Wir meinen, wir seien mit uns selbst identisch, aber das macht noch keine Aussage über uns.
Keiner denkt an diesem Abend darüber nach, auch der nicht, dem es passiert war, ohne dass er etwas davon mitbekommen hätte. Die Abendluft ist zu warm und das Stimmengewirr zu laut, die Kneipen zu einladend und das Bier zu kühl und die Menschen zu schön, um Anlass zum Nachdenken zu geben. Ab und an mag man heruntergekommene Gestalten sehen, in Hauseingängen oder Hinterhöfen sitzend; aber selbst sie haben an diesem Abend keine Geschichten zu erzählen – und keinen, der sie hören will.


Beim ersten Lesen, habe ich diesen Absatz komplett ausgelassen. Und -da bin ich mir ziemlich sicher -das wird mir auch zukünftig passieren. Es ist keine böse Absicht, nur eine Art Ungeduld, und ein bisschen Ärger darüber, dass ich mich jetzt von Kiki trennen soll, wo ich mich doch gerade  an  ihn gewöhnt habe.


Ja, verstehe ich. Da könnte dann das Problem sein, dass in diesen Präsens-Abschnitten zwischen die Umgebungsbeschreibungen Dinge eingestreut sind, die für das Verständnis der Handlung wichtig sind – also, nicht unbedingt für das Verständnis der Handlung selbst, sondern für die Zusammenhänge zwischen einzelnen Teilen der Handlung … hm, ich merke grade, ich kriege das nicht erklärt, ohne vorzugreifen. Ich markiere das mal.
Ist halt die Frage, wie man dem Leser klarmachen kann, dass er was Inhaltliches verpasst, wenn er da drüber weg liest. Vielleicht doch die Beschreibungen kürzen …

Sue Ulmer hat Folgendes geschrieben:
Kikis Perspektive und die unvorhergesehenen Wechsel hinein und hinaus, machen den Text so unverwechselbar -glaube ich.
Dass das stellenweise schwierig wird, sehe schon auch. Gerade die Stelle, die Ithanea schon einmal aufgegriffen hat.
Zitat:


Inkognito hat Folgendes geschrieben:
keiner konnte sagen, woran er in diesem Moment dachte – er dachte an Jemine, seine Freundin – er lächelte ein wissendes Lächeln.


Keiner konnte sagen... keiner...dann eigentlich Kiki auch nicht, oder? Das wirkt dann leicht wie ein Widerspruch, und ich frage mich, ob du das gewollt hast.


Im Grunde ist das schon gewollt. Die Frage ist ja: wie bewusst geschieht dieses Denken? Könnte Kiki, wenn man ihn fragte, benennen, woran er gedacht hat? Und dass ihm der Erzähler das quasi aus dem Mund bzw. dem Hirn nimmt, ist halt eine Spielerei mit der Perspektive bzw. der Frage: wer erzählt wen?

Sue Ulmer hat Folgendes geschrieben:
Zitat:

Er ließ sich auf die Couch fallen und zweifelte nicht daran, nie wieder etwas tun zu können.


Die verdoppelte Verneinung wirft mich aus dem Lesen und ich tue mir schwer damit, darauf zu vertrauen, dass du an eben dieser Stelle wirklich willst, was du bewirkst.


Die doppelte Verneinung stört mich jetzt auch. Inhaltlich ist es aber schon so gewollt, der Witz kommt ja dann im nächsten Absatz. Ich versuch's mal so:
Zitat:

Er ließ sich auf die Couch fallen und war sicher, nie wieder etwas tun zu können.
Was er tat
: er drehte den Kopf zu Jemine, die neben ihm kniete und mit der Hand durch seine Haare fuhr, und sie schien besorgt.


Sue Ulmer hat Folgendes geschrieben:

Vielleicht noch zwei Wortanmerkungen:
Strumpfhösern ist ein ziemlich hässliches Wort. Gallig in gewisser Weise auch, aber gallig scheint in seiner Hässlichkeit an eben der Stelle doch ganz sinnvoll zu sein. Bei Strumpfhösern bin ich mir da nicht so sicher.


Momentan steht es 2:1 gegen das "strumpfhösern". Mal schauen.

Sue Ulmer hat Folgendes geschrieben:

Auf ein baldiges Wiederlesen


Sehr gern smile

Geht gleich weiter …


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Klemens_Fitte
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Beitrag24.03.2016 21:23

von Klemens_Fitte
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Die Luft stand. Fast hätte man meinen können, es sei keine da. Ventilatoren mochten ihre Bewegung, eine Strömung vorgaukeln – in Wahrheit rührten sie lediglich eine zähe Masse aus flimmerndem Licht, Qualm und Musik. Ab und an tauchten Menschen wie Leuchtflecke auf, ein kurzes Aufblitzen von Farbe auf Gesichtern, auf Armen, Beinen – nicht auszumachen; betrachtete man diese Körper, den vibrierenden Qualm, eine plötzlich leibhaftig werdende Musik. Manche Menschen schienen sich zu unterhalten, steckten ihre Köpfe zusammen oder formten mit ihren Händen Trichter vor den Mündern – die sich lautlos öffneten und schlossen.
Kiki drängte sich links vorbei. Als hätte er sein ganzes Leben nichts anderes gemacht, schwamm er durch die amorphe Masse wirbelnder Leiber, erkannte das ein oder andere Gesicht, eine Sonnenbrille, eine Tätowierung, Ringe an Händen, die Gläser hielten, Glasscherben von zerbrochenen Flaschen auf dem Boden, eine blutende Nase, weiße und blaue und grünliche Zähne, durchwebt vom Licht wie von Röntgenstrahlen, farbigen, wenn es denn so etwas gab.
Er sah ein Kinn neben sich aufblitzen, Lippen. »Wenn du mich küsst, spüre ich nur deine Zunge, aber Lippen sind keine da«, hörte er jemanden sagen, obwohl die Musik zu laut dafür war.
Dann hatte er die Treppe erreicht, schob sich vorbei an tanzenden Menschen, die sich ans Geländer klammerten, um nicht zu stürzen. Oben war es etwas ruhiger – ruhig genug zumindest, um sich schreiend zu unterhalten. Hinter einem Tisch saß Dimitri auf einem Sofa und einige andere saßen um ihn herum.
Kiki stellte sein Glas auf den Tisch und setzte sich auf einen abgewetzten Sessel. Dimitri grinste ihn an – es wäre korrekter zu sagen: er grinste in Kikis Richtung.
»Hab ich dir doch gesagt«, rief Dimitri ihm zu, »das hier ist deine Welt; dafür bist du geboren.«
Kiki prostete, in seinem Kopf war kein Platz für Gedanken. Dimitri versuchte, ihm über die Musik hinweg ein paar der anderen vorzustellen; die meisten hatte Kiki schon einmal irgendwo gesehen. Pelle stand hinter dem Sofa, er sah Kiki mit unverhohlenem Argwohn an – es muss gesagt werden: Pelle sah für gewöhnlich jeden so an.
Kiki hatte schon viele Geschichten über Pelle gehört, von den unterschiedlichsten Leuten. Beispielsweise die, Pelle habe eine Zeit lang eine leerstehende Bibliothek bewohnt. Oder die, er schlafe in einem Holzsarg, der in einem Hinterhof an eine Wand gelehnt sei. Oder die, Pelle sei mit einem Hund verheiratet, weil er einmal eine Wette verloren habe.
Kiki liebte diese Geschichten – allerdings glaubte er nicht, dass Pelle viel auf sie gab oder auf die, die sie erzählten. Er selbst hatte noch nie mit Pelle zu tun gehabt; und er wusste auch nicht, was Pelle über ihn in Erfahrung gebracht hatte.
Kiki prostete Pelle zu. Provozierend.
Ein blondes Mädchen setzte sich zu ihm auf die Sessellehne und sagte: »Wir haben uns auf der Tanzfläche getroffen.«
Kiki betrachtete sie. »Du lügst«, sagte er schließlich und grinste.
Sie lachte.
Kiki war sich sicher, dass er es sich nie verzeihen würde, wenn er sich mit diesem Mädchen einließe.
»Da hast du dir ja wieder den Richtigen ausgesucht, Mariya«, hörte er Dimitri rufen. »Dieser Junge ist nämlich der kommende Star in unserem kleinen Zirkus hier.«
»Unverschämtheit«, rief Kiki und wusste warum. Er schnappte sich eine Flasche Sekt – es war Sekt, kein Champagner, aber die Tat soll erwähnt sein – und Mariya; und ging. Dimitri applaudierte in seinem Rücken.

»Was meinst du«, rief Mariya ihm zu, als sie aus einem der Waggons sprang, »wohin uns diese Züge bringen würden?«
Kiki warf Steine zwischen die Abstellgleise. »Diese Züge fahren schon lange nicht mehr«, sagte er.
Mariya schüttelte lachend den Kopf über ihn. »Aber wenn sie noch fahren würden – wohin würden wir dann mit ihnen fahren?«
Kiki hob die Schultern. »Für so etwas fehlt mir die Fantasie. – Wahrscheinlich nicht allzu weit. Das sind Nahverkehrszüge«, fügte er schwach hinzu.
»Vielleicht gefällt mir das an dir«, meinte Mariya und setzte sich neben ihn auf die Bahnsteigkante.
»Was?«
»Dass du der erste vernünftige Mensch bist, den ich in Dimitris Gesellschaft getroffen habe.«
Kiki fragte sich, wie viele Menschen sie in Dimitris Gesellschaft bereits getroffen hatte. Ihr Kompliment jedenfalls bedeutete ihm nicht allzu viel; für ihn war Vernunft das Gegenteil geistiger Flexibilität. Insofern, das musste er zugeben, hatte sie sogar recht.
»Wo hast du Dimitri eigentlich kennengelernt?«, fragte Mariya und reichte ihm die beinah leere Flasche Sekt. Kiki trank hastig.
Fast hätte er ihr die Geschichte von der Kegelbahn erzählt, aber das war jemand anderes gewesen. So sicher wusste Kiki gar nicht zu sagen, wo er Dimitri das erste Mal getroffen hatte. Vielleicht in irgendeiner Kneipe, dachte er sich – aber wie viele Leute lernt man schon in Kneipen kennen? Und gemeinsam auf die Schule waren sie nicht gegangen.
Stattdessen entschied er sich dafür zu lügen. »Im Krankenhaus.«
Mariya lachte kurz auf, ein helles schneidendes Lachen, von dem Kiki nicht sagen konnte, was davon zu halten war. »Im Krankenhaus?«, fragte sie schließlich.
»Ich war dort, weil ich mir in die Hand geschnitten hatte«, meinte Kiki.
»Und Dimitri?«
Kiki grinste. »Der hat seine Mutter besucht.«
Mariya stieß ihn mit dem Ellbogen. »Du lügst.«
»Dann steht es jetzt unentschieden«, sagte Kiki ein klein wenig bitter – es muss gesagt werden: diese Bitterkeit war ihm selbst unangenehm.
Irgendwo – im Osten wahrscheinlich – würde demnächst die Sonne aufgehen; der Horizont trat bereits hervor. Kiki warf die leere Flasche ins Halbdunkel. Mariya versuchte ihn zu küssen.

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Klemens_Fitte
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Beitrag25.03.2016 14:23

von Klemens_Fitte
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»Das ist mehr als Regen.« Jemine seufzte auf und sah zum Fenster des Cafés hinaus.
Kiki starrte in den schwarzen Abgrund seiner Kaffeetasse. Er hatte keinen Sinn für das Wetter; oder für Erzählungen von gestern oder heute Vormittag; oder Geschichten über Menschen, die er schon lange nicht mehr gesehen hatte.
Natürlich entging Jemine das nicht. »Du wirst heute Abend mit Dimitri unterwegs sein, stimmt’s?« Ihre Frage begleitete dieser Blick, dem Kiki nicht auszuweichen vermochte.
Vor dem Fenster rannten Leute durch den Regen und hielten sich Zeitungen über ihre Köpfe, um nicht nass zu werden; als ob ihre Köpfe mehr wert seien als die Zeitungen.
»Ja«, meinte Kiki schließlich und starrte wieder in seine Tasse.
Jemine sagte nichts mehr, weil es zu diesem Thema nichts mehr zu sagen gab. Unzählige Male hatten sie darüber diskutiert, später hatten sie sich deswegen gestritten und jetzt – jetzt gab es dazu eben nichts mehr zu sagen.

Links gähnte die Leere des Flugfelds ins Halbdunkel. Vor etwa einer halben Stunde hatte es aufgehört zu regnen. Die Landebahnen schienen sich, von hier betrachtet, in einem heillosen Durcheinander zu überkreuzen. Flugzeuge waren keine in Sicht, sie wären auch eher störend gewesen.
Rechts Industriegebiet, hohe Klinkerfassaden mit kleinen Einbuchtungen und Fenstern in gefälligen, genau bemessenen Abständen; Fenster, hinter denen kein Licht brannte. An manchen Hauswänden Werbetafeln, von hier in ihrer Größe nicht zu bemessen. Straßenkreuzungen, wenig befahren, mit Eckkneipen hinter Blumenbeeten aus Sperrholzsaat. Schilder, die »Dart« oder »Billard« besagten. Die wenigen Autos tauchten auf und verschwanden unter den Brücken, über die die S-Bahn fuhr.
Geräusche, im Rattern der S-Bahn auszumachen: eine Hupe oder eine Alarmanlage oder ein aufheulender Motor oder eine Sirene. Taxis waren noch unterwegs und hinterließen das Zittern der Straßenbeleuchtung in Schlaglochpfützen. An Bushaltestellen saß man noch, zertretene Zigaretten oder Erbrochenes zu den Füßen.
Das Schaukeln des Waggons ließ Kiki schläfrig werden. Kurz dachte er an zu Hause und an ein warmes Bett und an Jemine.
Man kann sagen: Er war nicht wirklich glücklich über diese Nacht.

Dimitri war natürlich nicht pünktlich gewesen. Zu allem Überfluss hatte er eine Tour durch die Clubs im Kiez auf den Plan gesetzt; Kiki hatte gar nicht versucht, seinen Missmut darüber zu verbergen. Nicht dass es Dimitri interessierte. Er konnte das: sich auf das Wesentliche konzentrieren.
Es war einer dieser Clubs, die nicht wirklich gut besucht waren. Die, in denen sich auf der Tanzfläche fünf Männer um eine Frau stritten. Mit dürftigen Mitteln – wie Kiki feststellte, während er mit dem Rücken zum Tresen saß. An einem anderen Tag wäre er aufgestanden und hätte getanzt. Natürlich brauchte es mehr als Musik, um Kiki zum Tanzen zu bringen – aber wenn er tanzte, dann tanzte er. Und nur er.
Heute nicht.
Unauffällig – der Bereich um den Tresen, wenngleich nicht die Bar selbst, lag im Dunkeln – überprüfte er den Inhalt seiner Jackentaschen. Genug am heutigen Tag, um Dimitri zufriedenzustellen. Seltsam: seit er sich nicht mehr dafür interessierte, wie erfolgreich er war, lief das Geschäft besser als je zuvor. Es sei ihre Zeit, hatte Dimitri einmal gesagt und Kiki hatte nicht gewusst, ob er ihm glauben sollte. Aber Kiki wusste ohnehin nicht, was er tat; ein Klischee erfüllen, so kam es ihm bisweilen vor.
Dort drüben stand Dimitri, winkte Kiki zu sich mit einem Gesichtsausdruck, der nichts Gutes verhieß. Die Musik war zu laut, um sich zu verständigen – Dimitri wies ihm zwei Typen auf der Tanzfläche aus und Kiki blieb nichts anderes übrig, als zu nicken.
Was folgte, war Routine. Zu wenige Leute hier, viel zu wenige Leute, dachte sich Kiki, während er mit Dimitri zur Tanzfläche schritt. Dachte sich: langsam wird Dimitri übermütig. Fuhr sich durch sein schweißnasses Haar. Dann rempelte er einen der beiden an, und bevor der sich umgedreht hatte, stieß er den anderen zu Boden. Dimitri war natürlich bereits in Richtung Ausgang unterwegs.
Kiki, das Klischee, trottete ihm hinterher.
Die Nachtluft in der Gasse tat gut; kühl und nass vom Regen. Kiki atmete mehrmals tief durch – er hätte auch zählen können – und setzte sich dann auf ein paar leere Getränkekisten. Ein Lächeln fuhr um Dimitris Lippen. »Die lassen sich aber Zeit.« Vielleicht, dachte Kiki, zählt er.
Kiki hasste diese Momente: genau zu wissen, was kommen würde – und in diesem speziellen Moment, ganz kurz nur, hasste er Dimitri. Dann endlich öffnete sich die Tür. Kiki achtete nur noch auf: zwei Hände, die sich in sein T-Shirt krallten, seine Füße, die gegen etwas traten, einmal, zweimal, einen Hebel suchten, den Griff, der sich lockerte, im Fallen. Kiki war über ihm, schlug zu, vielleicht: einmal, zweimal, dann spürte er Dimitris Hand – er wusste sofort, dass es Dimitris Hand war – auf seiner Schulter und ließ von ihm ab. Kiki blutete ein wenig, am Mund, und konnte nicht sagen, warum.
Dimitri sagte etwas übers Geschäft, es war Kiki egal.
Als sie nicht übermäßig eilig aus der Gasse traten, begann Dimitri zu singen.

Jemine lag auf der Couch, die Augen geschlossen. Kiki nahm ihr nicht ab, dass sie schlief, trotzdem tat er so, als wollte er sie nicht wecken, und schlich sich ins Badezimmer. Kiki befand: er sah bei weitem nicht so schlimm aus, wie er sich fühlte. Seine Unterlippe war aufgesprungen, nichts allzu Dramatisches.
Seine Kehle war trocken, die Zunge pelzig; er trank hastig einige Schlucke Leitungswasser. Wie spät es war – er wollte nur noch schlafen – vielleicht drei oder vier Uhr morgens. Früh also. Ob Jemine gearbeitet hatte oder morgen arbeiten würde: es war müßig, darüber nachzudenken.
Er duschte. Heiß und kalt und wieder heiß. Das Wasser schien eine ganze Schicht Salz und Schmutz von seiner Haut zu waschen.
Er dachte an gar nichts.
Seine Zähne schmerzten, versehentlich stieß er den Zahnputzbecher um, seine Hände zitterten. Zu lange nicht geschlafen, sagte er sich, um an nichts denken zu müssen.
In den Spiegel blickte er nicht mehr.
Mit nassen Haaren legte er sich ins Bett, ohne sich danach merklich besser zu fühlen. Als Jemine ins Zimmer kam, war er bereits eingeschlafen.

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Ithanea
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Beitrag25.03.2016 16:03

von Ithanea
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Ich sage da nichts neues, aber es ist schon richtig gut, wenn ein Text mehr von dem lebt, was er weglässt, als von dem, was drin steht. Das finde ich in Teil 4, 2.Abschnitt und Teil 5, 3+4 besonders.
Die Mischung aus surreal-abgedrehtem, gedanklichem und 'klassischer' Handlung finde ich gerade sehr spannend.
Die Beschreibungen - bleiben schwierig. Die werden für die Handlung wichtig sein, sagst du, aber noch würde es mir wie Sue gehen, dass ich darüber hinweglese.



Edit: Dass du jetzt beim Thema "Beschreibungen auslassen" diesen Satz oben blau markierst, gibt mir zu denken. Ich hatte mich gerade auf ganz andere Beschreibungen bezogen. Die der Straßen, Lichter, Kneipen ... Umgebungsbeschreibungen halt. Dass die wichtig sind, um sich zu orientieren, wo wir mit Kiki jetzt sind, ist klar. Dazu reichen mir aber die Schlagworte ("Straße", Kneipe", "Körper", "Musik"), das 'zwingt' mich also noch nicht automatisch zum Lesen der bschreibeneden Teile.
Der blaue Satz ist aber ein ganz anderer. Der scheint mir nicht die Handlungsteile zu verbinden - sondern einen Ausblick auf das eigentliche Thema vorwegzunehmen. Der ist natürlich wichtig, gelesen zu werden. Aber inwiefern hat das mit dem Zusammenhängen der Handlungsteile zu tun?
Wobei - vielleicht erfahre ich das ja noch.



Nochmal edit: Ahja. Jetzt hab ichs kapiert, glaub ich. Zeit.


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Beitrag25.03.2016 17:55

von Klemens_Fitte
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Ithanea hat Folgendes geschrieben:
Die Mischung aus surreal-abgedrehtem, gedanklichem und 'klassischer' Handlung finde ich gerade sehr spannend.


Dankeschön.

Ithanea hat Folgendes geschrieben:
Die Beschreibungen - bleiben schwierig. Die werden für die Handlung wichtig sein, sagst du, aber noch würde es mir wie Sue gehen, dass ich darüber hinweglese.



Edit: Dass du jetzt beim Thema "Beschreibungen auslassen" diesen Satz oben blau markierst, gibt mir zu denken. Ich hatte mich gerade auf ganz andere Beschreibungen bezogen. Die der Straßen, Lichter, Kneipen ... Umgebungsbeschreibungen halt. Dass die wichtig sind, um sich zu orientieren, wo wir mit Kiki jetzt sind, ist klar. Dazu reichen mir aber die Schlagworte ("Straße", Kneipe", "Körper", "Musik"), das 'zwingt' mich also noch nicht automatisch zum Lesen der bschreibeneden Teile.
Der blaue Satz ist aber ein ganz anderer. Der scheint mir nicht die Handlungsteile zu verbinden - sondern einen Ausblick auf das eigentliche Thema vorwegzunehmen. Der ist natürlich wichtig, gelesen zu werden. Aber inwiefern hat das mit dem Zusammenhängen der Handlungsteile zu tun?
Wobei - vielleicht erfahre ich das ja noch.



Nochmal edit: Ahja. Jetzt hab ichs kapiert, glaub ich. Zeit.


Ja, Zeit (unter anderem). Wobei das vielleicht, denke ich mir grade, etwas ist, das erst für einen zweiten Lektüredurchgang relevant wird; also dann, wenn man sich fragt: Was habe ich da eigentlich gelesen?
Die Umgebungsbeschreibungen, ja, die sollen eher für Atmosphäre sorgen. Und im Grunde habe ich kein Problem damit, wenn die quergelesen/überflogen werden. Nur, diese zwischendrin eingestreuten Sätze, die braucht man fürs Verständnis des Ganzen. Da sollte ich vielleicht aufpassen, dass die nicht zu sehr von den Umgebungsbeschreibungen überlagert werden.


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Beitrag26.03.2016 11:06

von Klemens_Fitte
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»Waren vielleicht Leute vom Holländer. In der Gegend nicht unwahrscheinlich«, mutmaßte Magnus. Kiki hob die Schultern: es war ihm egal. Sie saßen in einer Kneipe, die gestern eröffnet hatte, die einhundertdreizehnte im Kiez. Magnus war der Meinung gewesen, man müsse sich zumindest einmal ansehen, was das für ein Laden sei, der sich ›Roter Oktober‹ nannte.
Kiki sah sich um. Sind einen Tag alt und machen einen auf Kommunismus, dachte er abschätzig. Ansonsten der übliche Kram, der in solcherlei Kneipen zu finden war: Ein paar Plakate mit geradezu plakativen Aussagen, Schilder, kleine Schwarzweißfotografien. Wände, die so schlecht gestrichen waren, dass man meinen sollte, die Farbe sei schon Jahrzehnte alt. Wacklige Stühle und zerschlissene Sofas. Kiki fühlte sich wohl hier – er hätte es nie zugegeben.
Magnus lümmelte in auffallend lässiger Pose auf dem Sofa und knabberte sein Russisch Brot, das zu bestellen er sich nicht hatte entblöden können.
»Ich weiß auch nicht«, sagte er nach einigen Minuten, die beide in einem angenehmen – für einen von beiden angenehmen – Schweigen verbracht hatten. »Die ganze Zeit wart ich drauf, dass Dimitri mich auch mal zu so was mitnimmt – aber ich glaube, wenn’s dann so weit wäre, hätte ich zu viel Schiss.«
Kiki behielt seinen nichtssagenden Gesichtsausdruck bei.
»Möchte nicht wissen«, fuhr Magnus dessen ungeachtet fort, »was Dimitri und Pelle noch so alles drehen. Können wir uns wahrscheinlich gar nicht vorstellen, solange wir nicht dabei sind.«
Demonstrativ blickte Kiki auf seine Uhr und stand auf, genau in dem Moment, als die Bedienung kam und die leeren Bierflaschen abräumte.

Die Stadt stank. Eine ungewöhnlich trockene Hitze – bedenkt man die Jahreszeit und die geografische Lage – presste von oben herab, die Sonne zerfloss am Himmel und das Pflaster sah aus wie gesprungenes Horn. Der letzte Geruch des gestrigen Gewitters war aus dem Gras, dem Holz der Parkbänke verschwunden. Zurück blieb eine Kruste aus Salz.
An den Schuhen sah man Staub aufwirbeln, darüber braungebrannte Beine, rasiert, Hosen: zumeist weiß. Die ganze Stadt schien unterwegs und zugleich regungslos, zu Boden gedrückt.
Die Häuser standen schief und krümmten die Giebel.
Das Schlimmste für Kiki waren nicht diese Menschen mit ihren weißen Hosen, sondern: dass er dazugehörte. Er war nicht derjenige, der in einem vollklimatisierten Raum saß oder in einem schattigen Hinterhof; nein, er hatte ja unbedingt nach draußen gehen müssen – abgesehen davon war weder seine Wohnung klimatisiert noch der Hinterhof schattig.
Dabei war es bereits Nachmittag, fast Abend. Um die Mittagszeit hätte er sich nicht nach draußen gewagt.
Jemine hatte ihm einen Zettel am Kühlschrank hinterlassen: »Denk an dich.«
Kiki wusste nicht, wie er das verstehen sollte.
Zur Rechten verliefen sich die letzten Ausläufer des Einkaufszentrums, der Flaniermeile: ein paar desolate Cafés mit nichtssagenden Namen, kaum besucht, die Scheiben zur Straße hin getönt. Die Sonne schlug an die Glasfassaden der Bürogebäude und die Glasfassaden der Bürogebäude schlugen sie zurück und zitterten vor Hitze.
Kiki flüchtete sich nach links in den S-Bahnhof, jemand verkaufte Blumen. Kiki dachte nach und rechnete: Zwei Touren mit der gelben Bahn und eine mit der blauen Bahn hatte er hinter sich, für einen Tag wie heute sollte das doch reichen. Jemines Zettel fiel ihm ein, er betrachtete für einen Moment die Blumen – Kiki hatte keine Ahnung von Blumen – und kaufte einen Strauß mit Gelb und Blau.

»Wahrscheinlich musste Dimitri dich noch zurückhalten«, sagte Jemine und ihr Lächeln betrog sie. Vor ihr – zwischen ihnen – standen die Blumen in der einzigen Vase, die sie hatten finden können.
Kiki trankt einen Schluck Tee, war froh, beim Trinken nicht reden zu müssen.
»Ich habe gehört, er hat eine neue Freundin«, meinte Jemine irgendwann und starrte weiter in den Blumenstrauß.
»Wer? Dimitri?«
»Hm-hm.«
Kiki lachte auf. Er wusste nicht, wie oft er diesen Satz schon gehört hatte: Dimitri habe eine neue Freundin. Es hielt meist nicht lange. Ein halbes Jahr schon – dachte er beiläufig.
»Wie heißt sie denn?«, fragte er, um etwas gefragt zu haben.
»Nastassja, glaub ich.«
»Hab ich irgendwann schon mal gehört, den Namen.« Sicher war er sich nicht.
»Von mir nicht«, sagte Jemine.

Es war in genau dieser Nacht, dass Kiki Jemine nicht mehr als Jemine erkannte; wie sie neben ihm lag, das Gesicht zu ihm gewendet, im Halbdunkel: es schien nicht ihr Gesicht zu sein.
Kiki wusste nicht, was er vergessen hatte – vielleicht, sagte er sich, sich selbst.
So einfach ist es aber nicht im Leben; dass man nur sich selbst vergessen muss, um andere nicht mehr zu erkennen.

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Beitrag27.03.2016 10:54

von Klemens_Fitte
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Ein großes Haus am Ende einer gewundenen, leicht ansteigenden Straße, die von Bäumen gesäumt ist, von Hecken; zurechtgeschnittenen Hecken. Die Haustür nicht ebenerdig – hinter einem Tor in einem weißen Zaun eine Treppe mit niedrigen, breiten Stufen. Links und rechts davon Blumenbeete zur Straße hin. Eine braune Holztür in einer weißen Wand.
Das Haus selbst wie die Treppenstufen: weiß, breit, niedrig. Nicht zu erkennen, was hinter dem Haus liegt. Fenster, die bis zum Boden reichen, von der Straße nicht zu sehen: eine Dachluke.
Ein schnörkelloser, fast leerer Hausflur, ein paar Schuhe, eine kleine Kommode, ein braungrüner Läufer. Zwei oder drei wertvolle Bilder an den Wänden, ein Fernseher.
Eine Küche in weiß und schwarz, noch unbenutzt.
Eine rote Couch, ausziehbar, ein Sessel, schwarze und grüne Schränke, zwei Bücherregale – ein paar interessante Bücher, wissenschaftliche; viele Schundromane, ein paar teure Bildbände, kaum einmal aufgeschlagen und das wenigste davon je gelesen – eine Lampe mit Dimmschalter, ein paar Pflanzen, widerstandsfähig, ein etwa vierzig Jahre alter Mann, die Schläfen grau, in einem maßgeschneiderten Anzug.

Mia war schon seit einer halben Stunde im Badezimmer – das Badezimmer: groß, in einer Mischung aus weiß und schwarz; eine riesige Badewanne, kaum benutzt, eine Dusche, oft benutzt – und Erik fragte sich, ob sie nicht durchs Fenster gestiegen und quer über die Felder, die hinter dem Haus lagen, geflohen war. Vielleicht hatte sie ihm ja eine Nachricht hinterlassen, einen Zettel, der ihm sagte, sie habe es nicht mehr mit ihm ausgehalten und sei zu ihrer Mutter. Oder noch besser: zu Daniel, den er nicht kannte. Oder noch besser: zu Daniel, der einmal sein Arbeitskollege gewesen sei; der, zu dessen Geburtstagsfeier sie gegangen seien – damals habe es angefangen mit Daniel und ihr, drei Jahre sei das jetzt schon her – zu Daniel, weil sie diese Lügen nicht mehr ausgehalten habe und Eriks fragende Blicke, wenn sie wieder spät oder gar nicht nach Hause gekommen sei; und nun habe sie einen Schlussstrich gezogen.
Erik dachte manchmal solche Dinge, und je nach Stimmung fand er sie unheimlich oder belustigend – er fand sie nie belustigend – je nachdem, ob er sich selbst glaubte oder nicht, ob es Daniel war, den es nie gegeben hatte und auf dessen Geburtstagsfeier sie nie gewesen waren, oder ein anderer, ihm noch Unbekannter … oder jemand, den er in diesem Moment zum ersten Mal im Verdacht hatte. Meist führte ein solcher Gedanke zum anderern, so, wie Bier zu Whisky führt, und am Ende lag Erik angeekelt und schlaflos im Bett. Mia schlief immer gut und tief, und Erik glaubte nicht, dass sie jemals Albträume hatte.
Er wollte nicht warten, bis sie aus dem Bad kam. Heute würde er bis spät abends arbeiten.

Er hätte nicht hierher kommen sollen. Sein Entschluss: abends in eine Kneipe zu gehen, statt zu Hause zu warten, bis Mia irgendwann von der Arbeit kommen würde oder von etwas, das sie ihm gegenüber als Arbeit ausgab. Manche hatten ihm damals davon abgeraten, eine jüngere Frau zu heiraten.
Aber hierher hätte er nicht kommen sollen. Hier war Platz für junge Menschen – und jung fühlte er sich schon lange nicht mehr. Es war eine dieser Bars mit Goldrand; eine, in der man kein Bier bestellte, sondern Drinks; eine, die auf ihre Schilder »Caipirinha’s« schrieb; eine mit grünen Kerzen statt roten, eine, in der Rauchen verboten war – nein, unerwünscht.
Es war nicht so, als wäre Erik nicht schon oft hier gewesen.
Die Bedienung kam und steckte eine neue Kerze in den Kerzenständer. Erik sah von seinem Glas auf. Sie lächelte ihn an, als würde sie gern seinen Namen erfahren. Erik hasste Kneipen, in denen man seinen Namen kannte, selbst wenn es nur der Nachname war – nein, im Grunde war das ja noch schlimmer. Die Vorstellung, einer der Barkeeper könnte ihn mit »Herr Albert« begrüßen, widerte ihn an.

Auf dem Tisch stand eine angebrochene Flasche Rotwein. Erik vergewisserte sich, dass nur ein Glas in der Spülmaschine stand. Er war nicht betrunken, wäre es nur gern gewesen. Mia schlief bereits und Erik wollte sich nicht zu ihr ins Bett legen.
Letzten Endes schlief er auf der Couch, ohne sie auszuziehen.

»Der Himmel guckt genauso grimmig wie du«, scherzte Mia, ohne zu lachen. Erik hörte sie kaum, in den Bäumen sangen Vögel. Der Morgen trug eine Erik ganz und gar unerträgliche frühlingshafte Fratze. Dabei ist der, meteoroligisch gesehen, doch schon vorbei, dachte er sich.
Mia frühstückte mit einer geradezu provozierenden Langsamkeit, schien sich ganz auf die Frage zu konzentrieren: Orangensaft oder Milch?
Erik hätte gern geraucht. Er sah von der Terrasse hinunter auf die Stadt; vielleicht drei Kilometer, vielleicht mehr. Ab und zu fuhr ein Auto die Straße entlang. Keine Fahrräder, die gab es hier oben nicht – dazu waren die Häuser zu weiß und hatten zu große Garagen.
Das Wochenende war erst wenige Stunden alt und ödete ihn bereits an.
Mia nippte an ihrem Kaffee. »Gestern war ein gewisser Dimitri hier.«
Erik drehte sich um, wollte etwas sagen, stand nur da mit offenem Mund.
»Wollte zu dir«, fuhr Mia fort, sie schien ihn nicht bemerkt zu haben. »Ich hab ihm gesagt, du seist nicht da.«
Sie blickte auf, inzwischen hatte er sich wieder gefasst; äußerlich.
»Na ja, das stimmte ja auch, nicht wahr?«, sagte sie tonlos.
»Und dann?«, war das einzige, was Erik hervorbrachte.
»Er hat gesagt, du könntest ihn im ›Nil‹ treffen – weißt du, was das ist?«
Erik hob die Schultern und ging – nicht zu langsam und nicht zu schnell – ins Haus. Dimitri. Dimitri wusste, wo er wohnte, war bei ihm zu Hause aufgetaucht, mehr noch: hatte seine Frau belästigt.
Gott weiß, was er von mir will, dachte Erik. Er erinnerte sich ans ›Nil‹, an die ganzen alten Geschichten, von denen Mia keinen blassen Schimmer hatte.

Fortsetzung folgt

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Sue Rovia
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Beiträge: 586
Wohnort: Metronom
Das bronzene Floß Silbernes Licht


Beitrag27.03.2016 14:36

von Sue Rovia
Antworten mit Zitat

man kann sagen... es sei gesagt... es muss gesagt werden...  diese Dreistigkeit, es sei ein Kopf weniger wert als eine Zeitung...
Naja... dass Mariya auftaucht, wenn man sich denkt... nein, Mariya, tauche du jetzt bitte nicht auf... dass sie genau das tut, von dem man denkt, tue alles aber das nicht... und so etwas ähnliches lässt sich ebenso gut über die meisten anderen Personen (oder sind es Figuren) sagen.
Man sehe von Eric ab und seiner reizenden Mia, die sich in gewohnter Weise dem berechenbaren Handeln widmen. Und das sollte ihnen ja eigentlich ganz gut zu Gesichte stehen.

Die Präsens-Abschnitte lese ich nach wie vor am Schluss. Sie erinnern mich an lästige Fliegen, die gegen meine Scheiben surren, wenn ich gerade damit beschäftigt bin zu denken.

Im Übrigen wäre ich vielleicht wahrscheinlich die Erste, die noch ein paar Geschichten über Pelle zu erzählen hätte. Er habe seine kleine Schwester drei Jahre lang in einer Mülltonne aufbewahrt, um sie das Philosophieren zu lehren... und das würde ich so lange und so ausgiebig tun, bis ich genug Menschen getroffen hätte, die bereitwillig über mich Geschichten erzählen.

Zitat:
Es war in genau dieser Nacht, dass Kiki Jemine nicht mehr als Jemine erkannte; wie sie neben ihm lag, das Gesicht zu ihm gewendet, im Halbdunkel: es schien nicht ihr Gesicht zu sein.
Kiki wusste nicht, was er vergessen hatte – vielleicht, sagte er sich, sich selbst.
So einfach ist es aber nicht im Leben; dass man nur sich selbst vergessen muss, um andere nicht mehr zu erkennen.


Das war die Stelle mit der größten Bindungskraft beim ersten Lesen.



Zitat:
Die doppelte Verneinung stört mich jetzt auch. Inhaltlich ist es aber schon so gewollt, der Witz kommt ja dann im nächsten Absatz. Ich versuch's mal so:
Zitat:

Er ließ sich auf die Couch fallen und war sicher, nie wieder etwas tun zu können.
Was er tat: er drehte den Kopf zu Jemine, die neben ihm kniete und mit der Hand durch seine Haare fuhr, und sie schien besorgt.


Eine sinnvolle Verbesserung, denke ich. Vor allem gerät man nicht in Versuchung, den eigentlichen Witz zu überlesen, weil man sich an der doppelten Verneinung festbeißt (und sich fragt, was du damit eigentlich bezwecken willst)
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