Das fremde Lied

[Pencake]

Der alte Mann
mit dem abgegriffenen Akkordeon
saß in der Fußgängerzone
und sang auf Russisch.
Neben mir
ließ sich jemand
von einem Freund
übersetzen.

Zwischen Bergketten liegt ein Tal,
das keuchend atmet.
Erschöpft vom Anblick der Jahre,
und will noch immer nichts als leben.

Im Tal stöhnt ein Dorf,
mit Lichtern wie blutige Hände;
sie greifen nach Schornsteinen,
aus denen dumpf Erinnerung steigt.  

Im Dorf dämmern Gassen,
durch schwere Träume tastend.
Die Rinnsteine ausgewaschen
vom Scheuern bleierner Kreuze.

In den Gassen keuchen Häuser
mit vernarbten Mauern,
die sich an Fenster und Türen klammern,
damit sie das dunkle Tier nicht holt.

Unter den Häusern zuckt ein Fluss,
vom Vergessen verfärbt.  
Er wandert ins Herz unserer Heimat,
ein Land, das viele Tränen hat.  

An der Quelle  
eine Mutter,
an der Quelle  
unsere Mutter,
die für immer
Hoffnung
schöpft.

Ich kam auf dem Rückweg erneut
an der Stelle vorbei.
Der alte Mann war weg.
Sein Akkordeon hörte ich immer noch.

[SylviaB]

Meine Güte ist das schön... Ich habe schon lange nicht mehr so Schönes gelesen.

Es ist mir schon fast peinlich aber auch hier kann ich nichts aussetzen. Im Gegenteil...

Danke

[Tayfun]

Da geht es mir wie Sylvia. Einfach gut.
Liebe Grüße, Tayfun

[Taugenichts]

Das ist eines der schönsten Gedichte, die ich meinem ganzen verdammten Leben gelesen habe.

[Pencake]

Danke euch.
Niko

[MosesBob]

Ganz, ganz starke Bilder, Niko, verpackt in einer Atmosphäre, die so dicht ist wie Packeis. Ganz großes Kopfkino!

Applaudierend und jubilierend,

der Martin, der Moses, der Bob

[Michael Lüttke]

Lese mich gerade durch alte Gedichte und fand dieses Juwel hier.
Es ist stimmungsmäßig so sehr auf den Punkt gebracht, dass jede Situation und jede Beschreibung SOFORT zum Bild wird.
Lieber Nico: das ist starke Lyrik.
Danke für den Genuss.

Michael

[Tiefgang]

Danke Michael fürs Ausgraben.
Und danke Niko fürs Schreiben.

[Tausendschön]

Auch ich bin dankbar, dass ich dieses KLeinod lesen durfte. Wundervoll!
Gern wüsste ich, ob das dunkle Tier die Angst ist und ob die Mütter, so unermüdlich sie auch schöpfen mögen, wirklich in der Lage sind, die düsteren Schatten zu vertreiben. Und falls ja, für wie lange? Ich glaube ja, dass niemand sie auf Dauer zu vertreiben vermag, sondern, dass sie immer, immer wiederkehren, selbst dann, wenn die russischen Lieder des alten Mannes längst im Wind verklungen sind.

Gruß
Tausendschön

[Tom Boy]

Ich kann mich sämtlichen Vorrednern nur anschließen. Impeccable, wie man hier sagen würde.

Liebe Grüße

Judith

[Pencake]

Moin,

Dank fürs Ausgraben. Freut mich, wenns noch
ankommt.

Mir kommt das Stück inzwischen etwas
übertrieben vor.

HG, Niko