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Darkness


 
 
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Autor Nachricht
Haruki Okada
Geschlecht:männlichWortedrechsler

Alter: 62
Beiträge: 66
Wohnort: Holstein


Beitrag17.12.2017 15:38
Darkness
von Haruki Okada
eBook pdf-Datei Antworten mit Zitat

Hallo liebe Mitschreiber-innen,

nach längerer Zeit mal wieder ein eigener Beitrag. Nachfolgende Geschichte ist Teil eines phantastischen Zyklus, der sich im Kern um den gleichen Auslöser dreht. Für kritische Rückmeldungen bin ich dankbar. Ich wünsche Euch allen einen schönen dritten Advent.

Gruß

Haruki


Darkness
Inverness. Schottland. Zunächst fiel Gerlach die Veränderung der Welt nicht auf. Er schrieb das Verblassen der Farben dem von Äquinoktialstürmen heimgesuchten Vorfrühling zu. Jetzt, in der zweiten Hälfte des März trieben die tief über die nördlichen Highlands ziehenden Böen das karge braune Laub des Vorjahres durch die öden Vorgärten. Spröde geworden klammerte es sich an windschiefe Lattenzäune, von denen schon lange die Farbe abblätterte. In schattigen Ecken hatte sich der harsch gewordene Schnee des Winters festgesetzt. Die Sonne zeigte sich ausgesprochen selten und wenn sie sich die Ehre gab, blitzte sie lediglich schemenhaft zwischen den dicken grauen Wolken auf. Sie schien die trostlose Landschaft nur kurz zu ertragen. Überhaupt sah es ganz danach aus, als hätte sie den Kampf gegen die Armada endloser Wolkenbänke längst aufgegeben.  
Nachdem die Natur sich zwei ganze Wochen lang in einem trostlosen, grauen Kleid präsentierte, begannen die farblosen Tage Gerlach auf das Gemüt zu schlagen. Er fühlte sich  zunehmend ermattet und schleppte sich durch eintönige Tage, die sich ebenso wie die Wolken unaufhörlich aneinander zu reihen schienen. Nachts erwachte er häufig und seine Laune verschlechterte sich rapide. Der Übergang vom Winter zum Frühjahr hatte ihn schon in vergangenen Jahren belastet, aber nie so wie in diesem Frühling. Er fühlte sich wie ein Statist in einem grobkörnigen alten Schwarzweiß-Film. Am falschen Platz. In der falschen Zeit. Trübsinnig steigerte er sich in  die fixe Idee, dass das Leben, dass er gemeinhin sein eigenes nannte, anfing, ihm durch die Finger zu rinnen, als wäre es  eine Handvoll Wasser. Und das schlimmste daran: Er konnte nichts dagegen tun. Rein gar nichts.

Ein weiterer trübsinniger Tag neigte sich. Gerlach griff seine Tasche und verließ das Büro im achten Stock. Der dunkle Flur lag schweigend vor ihm. Der Bewegungssensor aktivierte die Beleuchtung. Der Wind drückte kräftig gegen die Scheiben. Gerlach wartete gähnend auf den Fahrstuhl und lauschte  dabei dem Pfeifen und Stöhnen von draußen. Er stand inmitten des langen, schwach beleuchteten Korridors und beobachtete beunruhigt die sich nach innen wölbenden Scheiben. Das Glas knisterte. Ein kalter Hauch lief durch den menschenleeren Flur. Gerlach verspürte Unruhe ins einem Inneren. „Hallo“, rief er. Ist da jemand? Es hörte sich an, als würde irgendwer lachen. Ein zittriges Schnauben folgte. War das der Wind? Nervös drückte Gerlach auf den Fahrstuhlknopf. Einmal, zweimal. Das Licht im Flur flackerte kurz, und erlosch.
„Nicht schon wieder“, ächzte Gerlach. In letzter Zeit gab es in dem Gebäude ständig Probleme mit dem Strom. Er hämmerte gegen den Knopf. „Wo b-l-e-i-b-t das verdammte Ding?“ Er schlug mit der flachen Hand gegen die Tür. Die Schläge hallten durch den Schacht. Gerlach hielt inne und lauschte einige Sekunden, den Kopf gegen den kantigen, kalten Stahl gepresst. Er schreckte zusammen, verwundert darüber, dass er plötzlich derart von Angst erfüllt war. Er dachte nach. Ist doch nichts passiert. Ganz still hier oben. Es schien tatsächlich niemand mehr im Haus zu sein. Nur er. Gerlach. Diese Schlussfolgerung war allerdings nicht dazu angetan, ihn zu beruhigen.
Sein Schlagen gegen die Fahrstuhltür musste im gesamten Gebäude zu hören sein. Der Wind heulte. Schwieg. Heulte. Totenstille. Das ganze verdammte Gebäude schien zu lauschen. Gerlach zuckte zusammen. Gerade erst hatte er gemeint, Stimmen aus dem Wind herauszuhören, der kräftig gegen die Fenster drückte und die großen Scheiben zum Schwingen brachte. Jetzt war es wieder still. Wie im Grab. Kein Laut. Dann ging es von vorne los. Das stöhnende Pfeifen war ganz nah. Er spürte einen kalten Hauch an seinem Ohr und fuhr herum. Vor ihm bewegte sich etwas. Ein großer Schatten. Sehr groß. Dunkel. Er fuhr zusammen. Der Schreck fuhr ihm in die Glieder und sein Nacken versteifte sich. Wie immer, wenn er plötzlichem Stress ausgesetzt war. Er duckte sich in Erwartung eines Schlages. Einer gegen ihn gerichteten Attacke. Da bemerkte er, einige Meter entfernt, eine offene Tür. Sie bewegte sich in den Angeln und schwang hin und her. Ihm fiel ein Stein vom Herzen. Daher der Schatten. Die Tür bewegte sich leicht im Zug. Ein unangenehmer Geruch stieg ihm in die Nase. Es roch nach verfaulten Eiern. Stechend. Streng.
Er überlegte, ob jemand seine Mahlzeit im Büro vergessen hatte. Aber nicht erst heute, dachte er. Eher letzten Monat. Teufel, wie das stinkt. Vielleicht wird hier drinnen einfach nicht genug gelüftet. Er lachte. Unsicher. Widerwillig. Und doch wirkte es befreiend. Hier drinnen stinkt es wie im Puff, dachte Gerlach. Dabei war er noch nie in einem Bordell gewesen. Aber so oder so ähnlich musste es da wohl riechen. Warum ausgerechnet nach schimmligen Eiern war ihm nicht ganz klar. Er war wohl einfach nicht gut drauf. Redete und dachte blödsinniges Zeug.

Er fühlte sich wirklich nicht besonders wohl. Das lag nicht nur an der unheimlichen Atmosphäre und dem Stromausfall. Es lag vor allem daran, dass ihn der Schatten, der sich als  Tür entpuppt hatte, an seinen Traum erinnerte. Den Traum, in dem er versank wie in einem alles verschlingenden, unersättlichen Sumpf. Er träumte, er würde  verschwinden. Gab es etwas schlimmeres als sich einfach aufzulösen. Plötzlich nicht mehr da zu sein. Er war weg. Nicht aus Schottland, dem Land in das seine Urgroßeltern vor fünfundsiebzig Jahren aus Deutschland emigriert waren. Damals war noch keine Rede davon, dass er ein Vierteljahrhundert später das Licht der Highlands erblicken würde. Geboren und aufgewachsen in Ullapool am Loch Broom. Nein, er träumte, dass er aus der Welt verschwinden würde. Ganz und gar. Einfach so. Als würde er aus einem schief aufgehängten Bild herausrutschen. Dieses Bild war sein Leben. Gab es etwas entsetzlicheres, als plötzlich fort zu sein. In einem anderen Raum. Einer anderen Welt. Als hätte es ihn nie gegeben. Vielleicht gab es ihn tatsächlich nicht. Möglicherweise bildete er sich seine jetzige Existenz nur ein. Diese morbiden Gedanken! Das war typisch für seinen gegenwärtigen Zustand. So etwas im Kopf zu bewegen. Zersetzende Gedanken wie einen scharfen und schartigen Stein durch weiches, warmes Fleisch zu ziehen. Aber so war sein Traum nun einmal. Daran führte kein Weg vorbei. Das er eigentlich gar nicht da war und das hier nur denken würde. Dann müsste er ja jemand ganz anderes sein, der wiederum ihn, Gerlach, von Anfang bis Ende denken würde. Leck mich, dachte Gerlach. Ich hab sie doch nicht mehr alle. Schluss jetzt. Der Traum war jedenfalls real. Aber nicht der Inhalt. Das hoffte er jedenfalls. Real war die Tatsache, dass er diesen Horror immer öfter durchlitt. Wie genau das mit dem Verschwinden in seinem Traum vor sich ging, konnte  er nicht einmal sagen. Jedes Mal war da dieser gewaltige Schatten. Unglaublich groß und dunkel. Der schwärzeste Schatten, den es überhaupt geben konnte. Schwarz ist nicht gleich Schwarz, dachte Gerlach. Zunächst war alles gut ins einem Traum. Er befand sich irgendwo in den Highlands. Der Mond stand voll und prall am Himmel und tauchte die Umgebung in wunderbares silbriges Licht. Die Vegetation war deutlich zu erkennen. Ebenso die großen Felsen, die sich hinter ihm befanden. Er erinnerte sich, dass er inmitten der verzauberten Landschaft stand und alle Sorgen von ihm abfielen. Die Last des Alltages wich  und er fühlte sich leicht und unbeschwert. Glücklich. Entspannt. Eine Zeitlang schwelgte er in diesem Gefühl. Dann änderte sich die Szenerie. Der Schatten war plötzlich da und er, Gerlach, wich vor ihm zurück. Das Auftauchen des Schattens auf der Bühne seines Traumes empfand er jedes Mal wie einen schmerzhaften Peitschenhieb. Dahin war die Entspannung. Friede wandelte sich in Furcht. Der Schatten war wie ein gefährliches Tier mit einem furchterregendem Gebiss und scharfen Krallen. Ein klarer Widerspruch zur Natur eines Schattens. Das war ihm, während er träumte, bewusst. Aber es war ein Traum. Er hatte nicht darum gebeten. Dummerweise schien alles furchtbar real, so dass er, auch wenn er eigentlich wusste, das er schlief, vor Furcht schlotterte. Dazu trugen besonders die großen gelben Augen des Schattens bei. Diese versetzten ihn in große Angst. Gerlach erinnerte sich, dass die Pupillen senkrecht verliefen. Er wünschte sich nur eines: Eine möglichst große Distanz zwischen sich und diesem Ding. So schnell wie möglich. Jetzt. Sofort. Er stolperte  einen dunklen Weg hinunter, der vor einer Höhle endete. Dort hockte er sich in den Schutz großer Felsen und betete inständig, dass das von seinem wild durch den Körper jagenden Blut verursachte Rauschen in seinen Ohren endlich aufhören möge, damit er hören konnte, ob der Schatten ihn verfolgte. Das konnte er nämlich gerade nicht. Er war taub.  Der Mond leuchtete direkt in die bizarre Felslandschaft hinein.  Unerbittlich hell. Der Mond leuchtete wie ein Bühnenscheinwerfer das absurde Stück aus. Gerlach fühlte sich da unten wie auf dem Präsentierteller, zumal er jetzt nicht Statist, sondern eindeutig einer der Hauptdarsteller war. Abwechselnd schwitzte und fror er. Als ganz in seiner Nähe Steine den Hang hinunter rollten, es kam ihm vor wie Donnern, hielt er es nicht länger aus. Er drückte sich den Felsen entlang, bis er in eine Art Spalt gelangte. Er erinnerte sich, dass ihn heftiger Schwindel befiel. Er torkelte einige Schritte und plötzlich konnte er sich nicht mehr bewegen. Um ihn kreiste und rauschte es. In seinem Traum sah er sich  auf dem Boden liegen. Paralysiert. Festgenagelt. Gefangen in einem unsichtbaren riesigen Spinnennetz. Nicht den kleinen Finger konnte er rühren. Dann verschwand er jedes Mal, als habe ihn jemand mit dem Zauberstab berührt. Der felsige Boden war  leer. In diesem Moment wechselte er die Perspektive und sah sich von ziemlich weit oben. Eben lag er noch auf dem Boden, jetzt war er fort. Gerlach war aus der Welt gefallen. Das war einfach furchtbar. Er hatte die Bühne verlassen und existierte nicht mehr. Gegangen. Wohin auch immer. Das war das Schlimmste. Das Gefühl, nicht mehr zu existieren. Nicht in dieser Welt jedenfalls. Seiner Welt. Hier erwachte er jedes Mal. Obwohl er den Traum kannte, brauchte er lange, um wieder einzuschlafen. Es war so realistisch. Nicht die Handlung. So etwas konnte es nicht geben. Aber die Bilder. So echt. Sie brannten sich in sein Gehirn.

Gott, war das kalt im Gebäude. Er begann zu zittern und ging auf und ab, wobei er die Arme gegen den Körper schlug. Vorhin hatte er nicht gefroren. Vielleicht hatte er sich eine Erkältung eingefangen. Die Scheiben klirrten leise. Es hörte sich an wie die Glocke eines über hart gefrorenen Schnee fahrenden Schlittens.
Er gab die Hoffnung auf, dass der Fahrstuhl kommen könnte. Der Stromausfall musste das Netz komplett lahmgelegt haben. Normalerweise sprang das Notstromaggregat an. Für solche Fälle war es vorgesehen. Heute schien sich alles gegen ihn verschworen zu haben. Es gab Tage...
Er lehnte sich an die Brüstung. Die zentralen Korridore in dem Gebäude waren als schmale Brücken über dem Abgrund der darunter Stockwerke angelegt und verbanden die Seiten des Gebäudes miteinander, in denen die Büro- und Geschäftsräume lagen. Jede Etage war von einem solchen Brückenkorridor durchzogen. Bis hinauf zur zehnten Etage, dem höchsten Stockwerk des Hauses. Der Blick in die Tiefe löste ein Prickeln aus, dass unangenehm über den Rücken perlte. Welcher Idiot denkt sich so eine Konstruktion aus. Wenn hier jemand nach unten stürzt. Vorsichtig schaute Gerlach über das brusthohe Geländer in die schwach beleuchtete Tiefe. Acht Stockwerke schwindelnde Leere. Er sah den Fußboden der schwach beleuchteten Lobby. Wie die Fliesen auf dem Grund eines riesigen Schwimmbeckens. Etwas Dunkles glitt über die Steinplatten. Ellroy, der Portier war nicht so schnell. Bei dem Gewicht. Vielleicht sein Schatten. Gerlach dachte kurz daran, nach Ellroy zu rufen, ließ es dann aber bleiben. Er hätte ihn gerne gefragt, was es mit dem Stromausfall auf sich hatte, fürchtete aber, sich lächerlich zu machen, zumal er wirklich Angst hatte. Angst vor der Dunkelheit, vor dem Knarren, Schleifen und Knacken im Gebäude. Der Schatten hatte ihn aus dem Gleichgewicht gebracht. Womöglich zitterte seine Stimme, wenn er mit dem Portier sprach und Ellroy würde sich über ihn lustig machen und am Montag allen erzählen, was für ein Feigling Gerlach sei. Nein, so war Ellroy nicht. Er tat ihm unrecht, wenn er so von ihm dachte. Ellroy redete nie schlecht über jemanden. Eine bewundernswerte Eigenschaft. Gerlach wünschte sich, er wäre auch so. Gerecht und tolerant. Das war er aber nicht. Ja, Ellroy war vertrauenswürdig. Dennoch rief er nicht nach ihm. Er starrte einige Sekunden in die dunkle Leere des Abgrunds, bis er fürchtete, es würde ihn über die Brüstung nach unten ziehen. Wer oder was es auch immer war. Die Tiefe hypnotisierte ihn auf eine widerwärtige Weise. Sie lockte ihn. Komm doch. Lehn dich nur ein wenig weiter nach vorne. Er fürchtete sich vor der Höhe. Eine weitere Furcht. Die Angst ist ein Arschloch, dachte er. Sie macht mit einem, was sie will. Nistet sich überall ein. Was sollte er machen. Er war nicht schwindelfrei. Obwohl, wenn er es recht bedachte, hatte er  keine Angst vor der Höhe an sich. Vor dem Fallen, dem Stürzen, dem Verlust der Kontrolle dagegen ängstigte er sich. Mir fehlt das Urvertrauen, dachte er. Wiege mich in dem Gefühl der trügerischer Sicherheit meines selbstgestrickten Alltags und fürchte den Kontrollverlust wie der Teufel das Weihwasser.
Er griff mit der Hand zum Hals und lockerte den Kragen. Die schwindelnde Leere unter sich empfand er mehr und mehr als  bleiernes Gewicht. Nicht zum Aushalten. Einen Augenblick sperrte er sich  gegen die immer tiefer in ihn hinein kriechende Angst. Die dunkle Verlockung. Er hielt fast eine  Minuten lang dagegen. Seine Beine zitterten. Er ertrug es nicht länger. Gerlach riss sich vom Geländer los und steuerte mit schnellen energischen Schritten das Treppenhaus an.

In diesem Moment signalisierte ihm ein glucksendes Geräusch, dass der Fahrstuhl sich in Bewegung setzte. Es hörte sich an, als habe jemand die Klospülung betätigt. Er schreckte zusammen und dachte nach. Ist doch nichts passiert. Ganz still hier oben. Es schien tatsächlich niemand mehr im Haus zu sein. Nur Gerlach. Und vielleicht Ellroy. Diese Schlussfolgerung beruhigte ihn keineswegs.
Sein Schlagen gegen die Fahrstuhltür musste im gesamten Gebäude zu hören gewesen sein.  Gerlach starrte auf die Anzeigetafel über der Tür.  

Wieso war der Fahrstuhl in Betrieb? Das war unmöglich. Im gesamten Gebäude war der Strom ausgefallen.
Das verdammte Ding musste die ganze Zeit im Kellergeschoss gestanden haben. Der Leuchtpunkt auf der elektronischen Stockwerktafel kletterte nach oben, erst auf die 2, dann auf 3. Die 4 glitt vorüber. Keine fünfzehn Sekunden bis zum achten Stockwerk.
Gerlach presste seine Tasche an den Körper und floh ins Treppenhaus. Entsetzen schüttelte ihn. Er lief so schnell er konnte die Treppe hinunter. Im zweiten Stock  wäre er um ein Haar gestürzt.  Er fing sich im letzten Moment, packte das Geländer mit der  linken Hand, die Tasche in der rechten und raste weiter durch das Treppenhaus. Er hielt erst inne, als er aus dem Gebäude heraus und auf dem Parkplatz angelangt war.
Von Ellroy keine Spur. Schwer atmend lehnte er sich gegen seinen Wagen und blickte zurück zu dem Bürogebäude, das sich über ihm auftürmte und an die tiefhängenden, dunklen Wolken zu stoßen schien. Warum hingen die Wolken so tief hin. Oder verzerrte die Dunkelheit seine Wahrnehmung. Jedenfalls konnte er das Ende des Gebäudes und den Anfang der Wolkenformationen, die dicht darüber lagen, nicht unterscheiden. Er überlegte, was genau geschehen war, das ihn veranlasst hatte wie ein ängstliches Kind zu fliehen.
Es ist doch nichts gewesen, dachte er. Ein Schatten, der von einer durch den Wind bewegten Tür an die Wand geworfen wird. Das und die Erinnerung an meinen Traum, verbunden mit der Angst zu fallen, haben mich durcheinander gebracht. Aber warum setzte sich der Fahrstuhl in Bewegung, wenn der Strom ausgefallen war?

Hier unten auf dem Parkplatz fand er seine Flucht aus dem Gebäude bereits lächerlich. Doch auch wenn er dabei war, die Ereignisse, wie er glaubte, ins rechte Licht zu rücken,  schwebte der Schatten des Erlebten über ihm. Eine dunkle Ahnung, dass etwas dabei war, sich zu entladen. Das Stöhnen und Wimmern des Windes. Die großen Scheiben. Haben sie sich nicht  ausgebeult oder war das auch nur eine durch das Spiel von Licht und Schatten hervorgerufene Sinnestäuschung.  Ellroy hatte ihn wohl nicht gesehen. Das hoffte er inständig. Gerlach schnitt eine Grimasse, als er sein Gesicht im Seitenspiegel des Wagens sah. Blass und verzerrt.  Kränklich. Er zwang sich zu einem Lächeln und schüttelte unwillig den Kopf und versuchte erneut, die vergangene halbe Stunde zu rekapitulieren. Er konzentrierte sich auf das, was geschehen war, bemühte sich, die Situation sachlich zu rekapitulieren. Er kam zu keinem anderen Ergebnis. Es war der Wind, sagte er sich. Er sah die dunklen Fensterreihen, sein Blick schweifte an dem Gebäude entlang bis ganz nach oben, zu der Stelle, wo Wolken und Haus verschmolzen. Da, wo sich die Dachtraufe befinden musste.  
Der Mond hing darüber. Aufgebläht und schwer. Mächtig hell. Er zuckte zusammen. Der Vollmond. Sein Traum. Ärgerlich wischte er mit dem Arm durch die Luft, als könnte er auf diese Weise die unliebsamen  Gedanken abschneiden. Der Wind ließ nach. Ganz unvermittelt endete das Wehen und Rütteln. Es war, als hätte ein Riese plötzlich und endgültig ausgeatmet. Gerlach atmete auf. Alles gut, sagte er sich. Er zwang sich, das zu denken. Alles in Ordnung. Nichts passiert.  Eine ganz leichte Brise streunte zwischen den Gebäuden wie ein herrenloser Hund, streifte die Wipfel der Ahornbäume und verlief sich Richtung Beauly Firth, wo die dunklen Wasser des Atlantiks  durch den, das Land zerteilenden, Meeresarm strömten. Er fröstelte. Sein Kopf schmerzte.

Gerlach riss sich vom Anblick des Gebäudes los und startete das Fahrzeug. Der zwölf Jahre alte Motor des VW Passat ruckelte und verstummte.  Er  konnte sich nicht daran erinnern, dass der Wagen ihn auch nur ein einziges Mal im Stich gelassen hatte. Zwischen Mensch und Maschine hatte sich seinem Empfinden nach im Laufe der Jahre eine Art Verhältnis entwickelt, welches nach Gerlachs Ansicht keinesfalls einseitig war. Er und der taubenblaue Wagen vertrauten sich gegenseitig.  Die Farbe war nicht der Hit, sicherlich, aber das war eine Marginalie. Der Wagen hatte nun einmal so und nicht anders beim Händler gestanden. Taubenblau Metallic. Zu einem wirklich günstigen Preis. Bereits nach kurzer Bekanntschaft sprach Gerlach seinen Wagen mit Kumpel an und drückte ihm auf diese Weise seine Wertschätzung aus. Hin und wieder strich er mit der Hand freundschaftlich über den blass werdenden Lack. Gerlach schüttelte betrübt den Kopf. Was war heute nur los. In ängstlicher Erwartung drehte er den Schlüssel ein zweites Mal  im Schloss. Der Motor sprang sofort an. Ein kraftvolles Knurren bezeugte seine grimmige Einsatzbereitschaft. Sein Kumpel hatte ihn nicht im Stich gelassen. Gerlach war gerührt.

Er fuhr auf die A 9 Richtung Raigmore und nahm die Brücke über den Beauly Firth, durch den gewaltige dunkle Wasser zogen wie eine Herde prähistorischer Tiere. Er folgte dem Schild Richtung Ullapool, dem Ort, an dem er seit frühester Kindheit lebte. Seine Gedanken begannen sich von dem dunklen Gebäude zu lösen und konzentrierten sich auf das Haus am Wasser. Sein Haus. Er dachte an das flackernde Kaminfeuer, das ihn erwartete. Wenn er nur daran dachte, glaubte er, bereits ein Nachlassen des Fröstelns zu verspüren. Er bemerkte, dass die Sitzheizung auf die höchste Stufe eingestellt war und musste über sich selbst lachen. Weichei, dachte er. Er sah Nina vor sich, seine Frau, wie sie das Abendessen bereitete und zwischen Küche und dem wohlig warmen Wohnzimmer geschäftig hin und herlief. Er stellte sich vor, wie sie zwei Gläser Maltwhisky eingoss und die Gläser prüfend vor ihrem Auge schwenkte. Das Feuer flackerte im Kamin und der helle Schein spiegelte sich in den beiden schweren Tumblern. Voller Vorfreude klopfte er auf das Lenkrad.

Dreißig Kilometer noch. Seine Kopfschmerzen wurden stärker. Es zog vom Nacken in den Hinterkopf. Dort verwandelte sich der Schmerz in ein  scharfes Stechen, das seinen Schädel mehr und mehr zu durchdringen schien. Heute blieb ihm wirklich nichts erspart. Gerlach konzentrierte sich darauf, tief einzuatmen. Bauchatmung. Beim Ausatmen zählte er langsam bis sechs. So ließ sich der Schmerz bändigen.  Er fuhr durch die Nacht. Hin und wieder blendete er ab, wenn ihm ein einzelnes Fahrzeug entgegenkam. Die Scheinwerfer wirkten sich ungünstig auf den Kopfschmerz aus, der erneut aufflackerte wie ein Feuer im Kamin. Zum Glück war auf der Strecke um diese Zeit nicht viel los.  Der Mond stand steil am Himmel. Gerlach beugte sich vor und schielte durch die Windschutzscheibe nach oben. Die Landschaft war in fahles Licht getaucht, welches heute besonders hell erschien. Das mochte daran liegen, dass die Gegend einsam war und von  keinerlei künstlichen Lichtquellen erhellt wurde. Das Firmament war von Sternen übersät. Dazwischen hing der Mond wie ein drohendes Zeichen. Es sah aus, als wäre er gewachsen, seit er ihn vom Parkplatz aus das letzte Mal aus beobachtet hatte. Warum sollte der Mond wachsen? Ein Erdtrabant, der sich aufblähte und das Gefüge von Raum und Zeit zwischen sich und der Erde durcheinander brachte. Als würden die Götter Bowling spielen. Die Kugel räumt einige Pins ab und das Bild ändert sich. Gerlach amüsierte sich über seine Gedanken. Ich denke, also bin ich. Aber was und wo bin ich? Er ahnte nicht, wie sehr dies auf ihn und seine Situation zutraf.

Von Zeit zu Zeit fuhr er durch einen kleinen Ort, um mit Passieren des Ortsausganges sofort wieder in die unberührten Wälder und moorigen Wiesen einzutauchen. Bei Torc bog Gerlach auf die A 835 und hielt sich Richtung Maryburgh. Er fuhr an Travie und Loch Garve vorbei. Dies war der einsamste Teil des Streckenabschnitts, den er tagtäglich bewältigte. Oft begegnete er auf diesem Stück keinem einzigen Fahrzeug. Eine halbe Stunde lang. Die Straße verlief ca. acht Kilometer parallel zu dem matt im Mondschein glitzernden Loch Glascarnoch.
Er passierte Inverbroom Lodge, erreichte Loch Broom und kurze Zeit darauf Leckmelm, einen kleinen dunklen, von wenigen Menschen bewohnten Flecken entlang der Strecke. Kein Licht in  der Handvoll Häuser. Dabei war es erst acht Uhr. Er drehte den Kopf ruckartig nach rechts, weil er am Straßenrand eine Bewegung wahrnahm. Sofort schoss ihm der Schmerz in pulsierenden Wellen in  den Schädel. Es fühlte sich an, als würde ihm jemand ein glühendes Eisen in den Kopf stoßen. Er stöhnte auf und ihm wurde speiübel. Vor seinen Augen flackerte es. Undeutlich konnte er die Lichter von Ullapool erkennen. Er bremste und hielt den Wagen kurz vor der Ortseinfahrt an, wo er kurz auf der Straße stehenblieb. Er brauchte frische Luft. So würde er sich nicht ins Bett legen können. Das einzige was half, war ein Spaziergang. Gerlach tastete in der Jacketttasche nach einer Paracetamol. Zwei Stück waren noch in der zerdrückten Packung. Er nahm beide und spülte die Tabletten mit stillem Wasser herunter. Eine Flasche hatte er stets dabei. Man wusste nie, was passierte.  Der Wagen konnte eine Panne haben und dann würde es lange dauern bis Hilfe kam. Die Strecke war einfach zu wenig befahren. Wasser war wichtig. Die Dehydrierung war der größte Feind des aus Wasser bestehenden menschlichen Organismus.
Die Scheibe beschlug. Er wischte mit dem Ärmel drüber und bog  rechts ab in einen einspurigen, gepflasterten Wirtschaftsweg, der zum Ullapool Hillwalk führte und kurz vor dem Wald an einem Wildgatter endete.

Er stoppte den Wagen vor dem Gatter, zog die Handbremse und stellte den Motor ab. Die Luft war frisch und klar. Eine Zeitlang blieb er ohne sich zu bewegen bei geöffneter Tür sitzen.  Dann stieg er aus und massierte langsam die Schläfen. Er atmete tief und gleichmäßig und beschloss, ein Stück bergauf zu gehen. Die Sicht war ausgezeichnet. Eine klare Nacht. Keine Spur von dem Nebel, der die Gegend um diese Zeit so oft heimsuchte und sich wie ein unbeholfener Liebhaber schwerfällig auf das Land legte. Er öffnete das Gatter und ging auf leisen Sohlen durch den Wald. Dazu benötigte er keine fünf Minuten. Unter seine Schuhen knirschten die kleine Steine. Am zweiten Gatter verließ er den von hohen Fichten beschirmten Weg und wandte sich in Richtung der hohen Felsen, die seitlich vor Loch Achall lagen. Er ließ den Baumbewuchs hinter sich und folgte dem wenig mehr als zwanzig Zentimeter breiten Pfad, der durch feuchtes Heidekraut führte, das immer wieder seine Hose streifte, bis sie nach kurzer Zeit unterhalb der Knie durchnässt war. Doch das störte ihn nicht. Die kühle Feuchtigkeit belebte ihn. Er schritt fest und gleichmäßig aus und spürte wie die Kopfschmerzen ihren eisernen Griff lösten. Mit ihnen schienen seine Ängste und Sorgen abzufallen und insgeheim beglückwünschte er sich zu seinem Entschluss, diesen Weg eingeschlagen zu haben. Den Ullapool Hill Walk.  Spielplatz seiner Kindheit. Wie oft war er mit seinen Freunden durch den Wald und über die Heide gelaufen. Zwischen die Felsen geklettert. Hier hatte er Nina das erste Mal geküsst. Das war, er musste kurz überlegen, im Mai 1983 nach einer Feier im Seaforth gewesen. Solange waren sie schon zusammen. Er lächelte, als er an sie dachte. Ich liebe dich, dachte er und er spürte einen angenehmen Stich im Herzen. Nach den ganzen Jahren liebe ich dich noch immer, dachte er.  

Er zuckte zusammen, als er einen Schatten unterhalb der Felsen bemerkte. Ein großen Schatten, der sich schnell bewegte. Sofort kehrte die Unruhe zurück. Unsicher blieb er stehen und sah sich um. Er schaute nach oben. Eine Wolke segelte träge am Mond vorbei. Gerlach stieß den Atem aus und schüttelte den Kopf. Vielleicht brauchte er wirklich eine Pause. Er sollte zu dem alten Milner gehen und sich für eine Woche krank schreiben lassen. Gleich morgen früh.  Er ging weiter, doch der sorglose Zustand war ebenso wie die große dunkle Wolke vorbei gezogen. Vor ihm glitzerte Loch Achall im Mondlicht. Wenigstens war er die Kopfschmerzen los. Er beschloss, bis zu den rechts von ihm liegenden Felsen zu gehen und dann umzukehren. Es war schon recht spät.

Er summte die Melodie von Wish you were here. Bei Pink Floyd konnte er am besten entspannen. Er liebte das Album mit dem Song Shine on you crazy diamond. Gerlach fiel ein, dass die Gruppe dieses Werk ihrem Gründer und vormaligen spiritus rector, Syd Barrett, gewidmet hatte, der  stets ein wenig seltsam war und schließlich komplett verrückt wurde. Herrgott, das waren die sechziger Jahre, es wurde eine Menge Stoff konsumiert. Barrett experimentierte mit LSD. Von einem Trip kam er nicht mehr als der zurück, der er zuvor gewesen war. Der Stern, der in ihm leuchtete, war erloschen und statt seiner etwas Dunkles, nicht greifbares erschienen. Ein aus der Unendlichkeit von Zeit und Raum gerissenes Etwas. Ein schwarzer Monolith. Dieses Ding hatte von ihm Besitz ergriffen und war bis zu seinem Tod im Jahr 2006 nicht von ihm gewichen. Von der Reise in den Wahnsinn handelte Shine on you crazy diamond. Mehr oder weniger. Gerlach hatte Fotoaufnahmen von Barrett vor und nach seinem unheimlichen letzten Trip gesehen. Die einst leuchtenden Augen hatten sich danach in stumpfe schwarze Perlen verwandelt, verschleiert von dunklen lockigen Haaren. Wie ein Vorhang vor einer verwirrten Seele. Nein, kein Vorhang, eine Wegscheide. Eine Begrenzung zwischen dem Hier und Dort. Wo immer dieses Dort liegen mochte. Die Musik von Barrett wandelte sich radikal von ehemals experimentellen, innovativen Klängen in halb akustische, rudimentäre Fragmente. Oft verweilte er auf der Bühne und spielte eine halbe Stunde lang lediglich einen einzigen Ton auf seiner Gitarre. Die Band trennte sich von ihm, ließ ihn jedoch immerhin für den Rest seines kurzen Lebens an den Tantiemen partizipieren.

Er bekam ein Deja Vu. Gerlach dachte an Loch Broom und daran, wie er mit nackten Füßen, an denen die Wellen leckten, im Wasser stand. Die Sonne schien, der Himmel war azurblau wie in einem Werbeprospekt. Keine Toskana. Urlaub in Schottland. Ohne Regen. Er spürte die Wärme im Nacken. Es musste Hochsommer sein. Er bekam einen Sonnenbrand. Ich hätte mich eincremen sollen, dachte Gerlach.
Wann war das gewesen? Er war ein Kind. War das wirklich passiert? Es war unbedeutend, trotzdem war er unangenehm berührt. Er war ein Kind und er stand im Wasser und grub mit den Zehen im Sand. Dabei beobachtete er etwas, was weit draußen auf dem Wasser zu tanzen schien. Etwas großes und Dunkles. Er konnte nicht erkennen, was es war. Seine Eltern glaubten ihm nicht.

Er erreichte die Felsen und lehnte sich mit dem Rücken gegen festen, rauen Stein. Von hier hatte er eine guten Blick über Loch Achall. Das vom Mond reflektierte Licht der Sonne lag als silbriger Schein auf dem Wasser. Eine Postkartenidylle. Es war so friedlich hier. Nur der sanft über die Ebene streichende Wind war zu hören. Ein leichtes leises Wispern. Er schloss die Augen und konzentrierte sich auf die Stimme des Windes.

Gerlach zuckte zusammen, wie es ihm mitunter widerfuhr, wenn er sich während des Einschlafens auf die Seite drehend im freien Fall wähnte.
Ein imaginärer Sturz ins Bodenlose. Er musste eingenickt sein. Halb sitzend, halb stehend lehnte er an der schroffen Wand, die ungefähr zehn Meter über seinen Kopf ragte. Er sah auf die Uhr und konnte es nicht glauben. Er hatte über eine Stunde in dieser Position geschlafen. Es war kurz nach halb zehn. Nina machte sich bestimmt große Sorgen. Er tastete nach seinem Smartphone. Es war aus. Er schaltete das Gerät ein.  Auf dem Display las er, dass die Akkuleistung sehr schwach sei und das Gerät aufgeladen werden müsse. Es piepte und das Display wurde  dunkel. Das war's, dachte Gerlach verärgert. Stöhnend stieß er sich von der Felswand ab. Der Schmerz fuhr ihm in den Rücken. Er war völlig verspannt. Das rechte Bein war eingeschlafen und er hüpfte eine Weile herum, bis das Blut zurückkehrte. Es war höchste Zeit nach Hause zu fahren.
Ihm fiel auf, wie hell es war. Das durch den Mond reflektierte Licht flutete die ganze Gegend. Die Felsen, die Ebene, alles um ihn badete im Licht. Nicht so grell wie im hellen Sonnenschein, sondern gedämpft, als wäre es ein klein wenig gedimmt. Dennoch war das die hellste Nacht, die er je erlebt hatte. Staunend registrierte er die kleinsten Details. Die  Spalte im Fels, den Wegweiser, der bestimmt dreihundert Meter entfernt und dennoch deutlich zu erkennen war. Unglaublich. Es war. Wie. In seinem Traum. Die Erinnerung berührte ihn mit eiskalter Hand.

Da spürte er, dass er nicht allein war. Ein Stück entfernt lehnte eine Gestalt an einer kleinen durch den Wind gekrümmten Fichte. Es überlief ihn eiskalt und er bereute, den einsamen Hillwalk eingeschlagen zu haben. Er kniff die Augen zusammen, um besser sehen zu können und es dauerte einen Moment, bis er verstand, warum er die Umrisse der Gestalt trotz einer Distanz von höchstens dreißig Meter und der außergewöhnlichen Helligkeit so schwer erkennen konnte. Als er es endlich begriff, löste sich ein Schluchzen aus seiner trockenen Kehle. Er vermochte nicht, es  zu unterdrücken und versuchte es auch gar nicht. Zu groß war das Entsetzen, dass über ihn kam. Die Gestalt war nicht scharf begrenzt, weil sie keinen Körper besaß. Jedenfalls nicht im eigentlichen Sinne. Es war ein großer Schatten, der sich in der hellen Nacht noch viel dunkler ausnahm. Eine pechschwarze Wolke. Das Schlimmste waren die großen gelben Augen, die ihn aus senkrechten Pupillen anstarrten. Der Blick dieser Augen drang ihm ins Mark. Kalt und mitleidlos. Die Wolke veränderte ständig ihre  Form. Sie pulsierte und schien zu wachsen. Plötzlich fuhr etwas aus ihr hervor. Eine Flammenlanze. Die Flamme züngelte einige Meter durch die Luft, bevor sie in die Wolke zurückkehrte.

Gerlach gelang es, sich aus der Erstarrung, die ihn überkommen hatte, zu lösen und er wandte sich eilig auf den einige Meter entfernten Pfad, der entlang der Felswand nach unten führte und vor einer Art Eingang in die Felswand endete. Dies war der Beginn einer Höhle, die Gerlach und seine Freunde als Kinder einst beim Spielen entdeckten. Sie hatten sich nur wenige Meter hinein gewagt, da die Höhle sich verzweigte und weit in den Berg hineinzuführen schien. Er erinnerte sich, dass es seltsam roch. Stechend. Nach Ammoniak oder verfaulten Eiern. Schwefelhaltig. Das war es.  Die Luft war abgestanden und faulig. Sie hatten sich gegruselt und auch wenn es keiner vor den anderen zugegeben hätte, traute sich auch später niemand hinein. Es war der Selbsterhaltungstrieb, der sie davon abhielt, sich einer Gefahr auszusetzen, die sie ahnten, ohne sie zu kennen oder gar zu begreifen. Doch jetzt war keine Zeit für solche Überlegungen. Gerlach stolperte den Pfad hinunter wie von tausend Teufeln gejagt.  In diesem Augenblick verstand er, dass der Traum sich aus einem Erlebnis in seiner Kindheit nährte.
Das ist gar kein Traum, rief eine Stimme in seinem Kopf. Es ist geschehen. Die Dinge sind in Bewegung geraten. Warum er das dachte, wusste er nicht. Es war eine Art gefühltes Wissen. Ahnungswissen. So wie sie als Kinder die Präsenz einer Bedrohung in dem in den Berg führenden verzweigten Höhlensystem empfunden hatten. Er drehte sich während des Laufens nicht um, da er wusste, dass es ihn Zeit kosten würde, die er nicht hatte. Hinter ihm knisterte und knackte es wie bei einer größeren elektrischen Entladung. Gerlach standen die Haare zu Berge. Er lief so schnell er konnte und erreichte den Eingang der Höhle.  Hier war er seit dreißig Jahren nicht  gewesen. Irgendetwas hatte ihn die ganzen Jahre davon abgehalten, diesen Ort noch einmal aufzusuchen. Aber jetzt war ihm die Entscheidung aus der Hand genommen.  Der Eingang lag vor ihm wie von einem Scheinwerfer angestrahlt. Er merkte, dass ihm etwas aus der Hosentasche glitt und zu Boden fiel, doch er wagte nicht, anzuhalten. Er lief hinein und drehte sich zum ersten Mal um. Der Schatten befand sich einige Meter oberhalb seiner eigenen Position und kam nicht näher. Das war gut. Das er hier vorläufig festsaß, war hingegen gar nicht gut. Sein Herz schlug wie eine Trommel. Nach Atem ringend tastete er nach der Gesäßtasche und stellte fest, das sein Portemonnaie fehlte. Das ließ sich jetzt nicht ändern. Es musste irgendwo kurz vor dem Eingang liegen aber es erschien ihm ein zu großes Risiko, die Höhle zu verlassen.

Überrascht stellt Gerlach fest, das die Angst von ihm gewichen war. Im Augenblick höchster Gefahr wurde er ruhig und entschlossen. Er, den zeitlebens die unterschiedlichsten Ängste quälten, fühlte sich frei. So wie vor wenig mehr als einer Stunde, als er den Berg hinauf gegangen und seine Sorgen mitsamt der Kopfschmerzen von ihm abgefallen waren.
Er war also noch in der Lage, sich selbst zu überraschen. Er sah nach draußen und konnte den dunklen Schatten, die Wolke, nicht sehen. Dann hörte er wieder das elektrostatische Knacken und Knistern. Etwas näher als vorhin. Der Schatten war wenig mehr als fünf Meter entfernt. Die Flammenpeitsche züngelte am Fels. Gerlach biss sich auf die Lippen. Na gut, dachte er. Du versperrst mir den Weg zurück. Dann gehe ich weiter. Festnageln wirst du mich nicht. Er zog sich tiefer in das Innere zurück und  gelangte schließlich an eine Kreuzung. Ein Weg führte nach rechts, der andere nach links. Er drehte sich um. Die schwarze schattige Wolke befand sich vor dem Eingang. Sie bewegte sich nicht. Die schrecklichen gelben Augen mit den geschlitzten Pupillen beobachteten ihn. Kalt und starr beäugten sie ihn. Gerlach versuchte es zunächst mit dem rechten Gang. Hier roch es schlecht. So wie er es in Erinnerung hatte. Faulige Luft. Er entschied sich daher für den linken Gang. Erstaunlicherweise entsprach die Sicht der in einem schwach beleuchteten Raum. Er hatte befürchtet, in totaler Finsternis durch den engen Gang irren zu müssen. Das Gestein glitzerte träge. Das diffuse Licht erlaubte es ihm, sich zu orientieren, ohne sich in die Gefahr zu begeben, zu stolpern oder sich an den in den Raum ragenden Felsen zu verletzen. Wie leicht konnte er sich den Schädel einrennen. Wenn er hier unten liegen blieb, würde ihn vielleicht erst nach Jahren jemand finden. Wenn überhaupt. Dies schien kein sonderlich populärer Ort zu sein. Alle paar Meter blieb er stehen und horchte auf das Geräusch einer elektrostatischen Entladung. Doch da war nichts und er überlegte bereits, ob er umkehren sollte. Da gelangte er unvermittelt in einen sich öffnenden großen Raum mit einer Deckenhöhe von mindestens zwanzig Metern. Durch einen schmalen Spalt weit oben fiel das Licht des Mondes.
Er blieb staunend stehen. Der Boden hatte die Größe eines Handballfeldes, Nahezu die gesamte Fläche war von einem kleinen See bedeckt. Gerlach kniete nieder und blickte in das Wasser. Ihm wurde schwindelig. Er befürchtete, das die Kopfschmerzen ihn überwältigten, doch dann merkte er, dass der Schwindel eine andere Ursache haben musste. Vor seinen Augen drehte es sich. Er taumelte zurück, um nicht in das Wasser zu fallen. Er war verwirrt. Die Luft war ganz frisch. Das konnte nicht sein.
Seine Gedanken überschlugen sich. Was geschah mit ihm? Warum konnte er nur verschwommen sehen? Ihm war, als würde ein Wasserwirbel aus dem See emporsteigen und sich zur Decke hinauf schrauben, wobei er unablässig um die eigene Achse rotierte. Schneller und schneller. Plötzlich hatte er die Vision einer alten Frau in einem bunten Sommerkleid auf einem Holzsteg an einem Strand. Er hatte die Frau nie zuvor gesehen. Sie trug eine große weiße Sonnenbrille und sah aus wie ein exotisches Insekt. Hinter der Frau lag das Meer. Die Greisin drehte sich. Schneller und schneller. Dabei stieß sie einen hohen Ton aus. Gleichzeitig drehte sich die Wassersäule vor ihm mit zunehmender Geschwindigkeit. In diesem Augenblick begriff Gerlach, dass es keine Vision war. Es geschah. Jetzt. Die alte Frau steuerte, was in Bewegung geraten war wie ein Steinschlag, der sich löste und in einer größer werdenden Gerölllawine den Berg hinab polterte. Und es musste eine Menge in Bewegung sein. Das Gefüge, dachte Gerlach. Es ist durcheinander geraten. Die Greisin in dem bunt schillernden Kleid legte den Kopf in den Nacken und lachte. Ein raues und doch herzhaftes Lachen. Gerlach merkte, dass er sich nicht bewegen konnte. Nicht einen einzigen Finger.
Er lag schräg gegen die Wand der Höhle gelehnt und beobachtete ungläubig die Frau aus einer anderen Welt, die ein Teil seiner eigenen wurde. Sein Herz schlug ruhig und gleichmäßig und er dachte daran, dass seine Angst tatsächlich verschwunden war. Sie hatte sich wie die Fähigkeit zur Steuerung seiner Körperfunktionen verflüchtigt. Wenn die Wolke kommt, bin ich erledigt dachte er, doch er dachte dies, wie über einen anderen. Mit ihm, Gerlach, schien das nichts zu tun zu haben.  
Aber die Wolke kam nicht. Er beobachtete weiter die Frau auf dem Steg wie durch ein großes Objektiv inmitten eines  wachsenden Wasserwirbels. Der Ausschnitt des Bildes vergrößerte sich und er sah einen Mann auf einer Bank vor einem Waldrand. Der Mann starrte genauso wie er gebannt auf die alte Frau, die um die eigene Achse wirbelte und jetzt einen sehr hohen Ton ausstieß, der in den Augen schmerzte. Er hat Angst, dachte Gerlach. Der Mann ist starr vor Angst. Ich nicht, dachte Gerlach. Ich habe keine Angst. Das machte ihn glücklich. Vor der Bank mit dem Mann standen zwei Jungen. Sie sahen aus, als wären sie im Lauf schockgefroren. Erstarrt. Der erste Frost des Winters. Er musste lachen. Was für Gedanken ihm durch den Kopf gingen. Tatsächlich verharrten die Jungen mitten in der Bewegung. Das rechte Bein des Größeren war angewinkelt wie bei einem Sprinter. Die Jungen trugen nichts außer Badehosen, aus denen das Wasser auf den staubigen Weg tropfte. Gerlach sah, dass sie keine Augen hatten. Er sah die blutigen leeren Augenhöhlen und wurde traurig. Das haben sie nicht verdient, dachte er. Es sind Kinder. Das hat niemand verdient. Die Frau drehte sich rasend schnell. Er konnte keine festen Konturen mehr ausmachen.  Ihr Körper kreiselte mit einer unglaublichen Geschwindigkeit. Die Farben des Kleides blitzten auf wie Lichtreflexe. Der Wasserwirbel schraubte sich zur Decke empor und Gerlach spürte, dass etwas an ihm zu saugen begann. Er konnte nichts dagegen tun. Nicht verhindern, dass es ihn emporhob und in den Wirbel saugte. Ihm wurde schwarz vor Augen. Es war vorbei. Gerlach war aus der Welt gefallen. Er hatte das Bild verlassen und war fort.

Tiefes Wasser. Dunkelheit. Auftauchen, um Luft zu holen. Tageslicht. Das erste, was er registrierte, waren grobe harte Streben direkt vor seinen Augen. Es roch nach imprägniertem Holz. Er blinzelte und sah, dass er auf einem Steg lag. Dahinter ein Sandstrand und noch weiter das Meer. Vor ihm die alte Frau in einem knallbunten Sommerkleid mit einer großen weißen Sonnenbrille. Sie war riesig und erinnerte ihn an ein mutiertes exotisches Insekt. An einen großen Schmetterling vielleicht. Er sah die Krampfadern auf ihren sonst wohlgeformten Beinen. Gerlach versuchte sich zu bewegen. Es gelang und er stützte sich schwerfällig auf die Knie. Die alte  Frau lächelte und reichte ihm die Hand. Er ergriff sie. Sie war glatt und fest. Die Frau zog ihn mühelos in die Höhe. Er stand wackelig auf den Beinen, doch das verging. Die alte Frau nahm die Brille ab und lächelte  freundlich. Da sah er, dass sie keine Augen hatte. Die Höhlen waren leer und blutig.



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Selanna
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Beitrag18.12.2017 13:14

von Selanna
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Hallo Haruki,

Zitat:
Darkness
Inverness. Schottland. Hier einen Absatz, weil das eine die Ortsangabe, das andere die Geschichte ist Zunächst fiel Gerlach die Veränderung der Welt nicht auf. Er schrieb das Verblassen der Farben dem von Äquinoktialstürmen heimgesuchten Vorfrühling zu. Jetzt, in der zweiten Hälfte des März Komma trieben die tief über die nördlichen Highlands ziehenden Böen das karge braune Laub des Vorjahres durch die öden Vorgärten. Spröde geworden Wortwiederholung klammerte es sich an windschiefe Lattenzäune, von denen schon lange die Farbe abblätterte. In schattigen Ecken hatte sich der harsch gewordene Wortwiederholung Schnee des Winters festgesetzt. Die Sonne zeigte sich ausgesprochen selten und wenn sie sich die Ehre gab, blitzte sie lediglich schemenhaft zwischen den dicken grauen WW Wolken auf. Sie schien die trostlose WW Landschaft nur kurz zu ertragen. Überhaupt sah es ganz danach aus, als hätte sie den Kampf gegen die Armada endloser Wolkenbänke längst aufgegeben.   

Du hast Deinen eigenen Stil, sehr viele Adjektive und Adverbien, häufig beides in Kombination und dazu noch Partizipialkonstruktionen und Nominalisierungen. Statt: Er glaubte, die Farben verblassten, weil der Frühling von Äquinoktialstürmen heimgesucht wurde - schreibst Du: Er schrieb das Verblassen [Nominalisierung] der Farben dem von Äquinoktialstürmen heimgesuchten [Partizipialkonstruktion] Vorfrühling zu. Im nächsten Satz folgt dann schon die nächste Partizipialkonstruktion: die tief über die nördlichen Highlands ziehenden, usw. Du nutzt manchmal gleich zwei Adjektive, bei Dir ist das Laub nicht braun, sondern braun und karg; die Wolken nicht nur grau oder nur dick, sondern grau und dick. Etc. Das macht den Text sehr satt, sehr dicht, Du musst sehr aufpassen, dass Du den Text nicht überlädst und der Leser irgendwann zu viel hat. Zum Anderen ist es durch die Partizipialkonstruktionen ein anspruchsvoller Text, das liest sich nicht so einfach runter. Das kann sehr positiv sein, aber wenn man es zu häufig einsetzt, kann es auch ermüdend werden. Und man muss aufpassen, dass es nicht zu steif und hochgestochen wirkt. Du vermeidest mit den „geworden“-/“heimgesucht“-Konstruktionen Nebensätze, bei Dir überwiegen somit die Hauptsätze. Inwiefern Du das bewusst einsetzt, kann ich nicht beurteilen, aber hin und wieder ist ein Nebensatz vllt eine gute Alternative zu einer Partizipialkonstruktion

Zitat:
Nachdem die Natur sich zwei ganze Wochen lang in einem trostlosen WW , grauen WW Kleid präsentierte, begannen die farblosen Tage Gerlach auf das Gemüt zu schlagen. Er fühlte sich  zunehmend ermattet und schleppte sich durch eintönige Tage, die sich ebenso wie die Wolken unaufhörlich aneinander zu reihen schienen. Nachts erwachte wenn man häufig wach wird, ist das eher aufwachen als erwachen, würde ich sagen er häufig und seine Laune verschlechterte sich rapide. Der Übergang vom Winter zum Frühjahr hatte ihn schon in vergangenen Jahren belastet, aber nie so wie in diesem Frühling. Er fühlte sich wie ein Statist in einem grobkörnigen alten Schwarzweiß-Film. Am falschen Platz. In der falschen Zeit. Trübsinnig WW steigerte er sich in  die fixe Idee, dass das Leben, dass er gemeinhin sein eigenes nannte, anfing, ihm durch die Finger zu rinnen, als wäre es  eine Handvoll Wasser. Und das schlimmste daran: Er konnte nichts dagegen tun. Rein gar nichts.

Das ist jetzt eine ganz persönliche Meinung, die nicht böse gemeint, aber ehrlich ist: Die Beschreibung der Trostlosigkeit ist mir zu viel, ich fange an, es satt zu haben: …Verblassen der Farben … karge braune … öden … Spröde … windschiefe …schon lange die Farbe abblätterte… schattigen …harsch gewordene Schnee …Sonne … ausgesprochen selten …lediglich schemenhaft … dicken grauen Wolken …trostlose … endloser Wolkenbänke längst aufgegeben.   
… trostlosen, grauen … farblosen … ermattet … eintönige … unaufhörlich …grobkörnigen alten Schwarzweiß-Film ... Trübsinnig …
Das ist schon sehr viel von demselben: verblasste Farben, abblätternde Farben, farblos, schwarzweiß, grau, grau, braun … auch wenn Du das dezenter schreibst, hätte der Leser denselben Eindruck, nur weniger redundant.

Zitat:
Ein weiterer trübsinniger WW Tag neigte sich. Gerlach griff seine Tasche und verließ das Büro im achten Stock. Der dunkle Flur lag schweigend vor ihm. bis der Bewegungssensor… sonst wirkt das so abgehakt Der Bewegungssensor aktivierte die Beleuchtung. Der Wind drückte kräftig gegen die Scheiben. Gerlach wartete gähnend auf den Fahrstuhl und lauschte  dabei dem Pfeifen und Stöhnen von draußen. Er stand inmitten des langen, schwach beleuchteten Korridors und beobachtete beunruhigt die sich nach innen wölbenden Scheiben. Komma Das Glas knisterte. Ein kalter Hauch lief durch den menschenleeren Flur. Gerlach verspürte Unruhe ins einem in seinem Inneren. „Hallo“, rief er. Ist da jemand? Es hörte sich an, als würde irgendwer lachen. Ein zittriges Schnauben folgte. War das der Wind? Nervös drückte Gerlach auf den Fahrstuhlknopf. Einmal, zweimal. Das Licht im Flur flackerte kurz, und erlosch.
„Nicht schon wieder“, ächzte Gerlach. In letzter Zeit gab es in dem Gebäude ständig Probleme mit dem Strom. Er hämmerte gegen den Knopf. Kann man gegen einen Knopf hämmern? Das geht doch eher bei großflächigen Gegenständen wie Wänden oder Türen „Wo b-l-e-i-b-t das verdammte Ding?“ Er schlug WW   mit der flachen Hand gegen die Tür. Die Schläge WW - außerdem: schlägt er jetzt einmal oder mehrmals? hallten durch den Schacht. Gerlach hielt inne und lauschte einige Sekunden, den Kopf gegen den kantigen, kalten Stahl gepresst. Er schreckte zusammen, verwundert darüber, dass er plötzlich derart von Angst erfüllt war. Er dachte nach. Ist doch nichts passiert. Ganz still hier oben. Es schien tatsächlich niemand mehr im Haus zu sein. Nur er. Gerlach er ist klar, dass er Gerlach ist. Lass das „Gerlach“ weg . Diese Schlussfolgerung war allerdings nicht dazu angetan, ihn zu beruhigen.

Du willst hier die Stimmung, die Atmosphäre vor dem Gruselmoment schildern und schilderst sie deshalb wirklich sehr ausgiebig. In Deinem Stil widersprechen sich aber die Detaillierheit mit den kurzen Parataxen. Außerdem ist diese detailverliebte Schilderung von Landschaft, Wetter und Büroflur mE eher episch breit und nicht so sehr geeignet, die Spannung zu steigern. (Und ich zweifle, dass Leser, die gerne Horrorelemente lesen, auch so gerne komplexere Partizipialkonstruktionen lesen…)

Zitat:
Sein Schlagen gegen die Fahrstuhltür musste im gesamten Gebäude zu hören sein. Der Wind heulte. Schwieg. Heulte. Totenstille. Das ganze verdammte Gebäude schien zu lauschen. Gerlach zuckte zusammen. Gerade erst hatte er gemeint, Stimmen aus dem Wind herauszuhören, der kräftig gegen die Fenster drückte und die großen Scheiben zum Schwingen brachte. Jetzt war es wieder still. Wie im Grab. Kein Laut. Dann ging es von vorne los. Das stöhnende Pfeifen war ganz nah. Er spürte einen kalten Hauch an seinem Ohr und fuhr herum. Das Stöhnen und Preifen, auch den kalten Hauch, das Knistern der Scheiben, das Zusammenzucken Gerlachs, alles das hattest Du schon im Absatz davor. Auch wenn es sich in der Geschichte wiederholt, musst Du es nicht noch einmal komplett im Text erzählen, das ist redundant Vor ihm bewegte sich etwas. Ein großer Schatten. Sehr groß. Dunkel. Er fuhr zusammen. Der Schreck fuhr ihm in die Glieder Wenn man zusammenzuckt, fährt einem doch der Schreck in die Glieder, außerdem zuckt Gerlach viel zusammen/fährt herum etc. und sein Nacken versteifte sich. Wie immer, wenn er plötzlichem Stress ausgesetzt war. Er duckte sich in Erwartung eines Schlages. Einer gegen ihn gerichteten Attacke Ein Schlag gegen jemand ist doch eine gegen diesen Jemand gerichtete Attacke. Das ist eine Wiederholung mit anderen Worten . Da bemerkte er, einige Meter entfernt, eine offene Tür. Sie bewegte sich in den Angeln und schwang hin und her. Ihm fiel ein Stein vom Herzen. Daher der Schatten. Die Tür bewegte sich leicht im Zug A: Du hast zweimal „bewegen“ kurz hintereinander. B: Du hast zweimal kurz hintereinander, dass sich die Tür bewegt. Ein unangenehmer Geruch stieg ihm in die Nase. Es roch nach verfaulten Eiern. Stechend. Streng.
Er überlegte, ob jemand seine Mahlzeit im Büro vergessen hatte. Aber nicht erst heute, dachte er. Eher letzten Monat. Teufel, wie das stinkt. Vielleicht wird hier drinnen einfach nicht genug gelüftet. Er lachte. Unsicher. Widerwillig. Und doch wirkte es befreiend. Das sind sehr viele Gefühle für ein kurzes Lachen, gleich drei Stück Hier drinnen stinkt es wie im Puff warum sollte es im Puff nach Schwefel = faule Eier riechen? , dachte Gerlach. Dabei war er noch nie in einem Bordell gewesen Auch wenn er noch nie in einem Puff war, ist der Vergleich unpassend. Lass es weg. . Aber so oder so ähnlich musste es da wohl riechen. Warum ausgerechnet nach schimmligen Eiern war ihm nicht ganz klar Du erklärst hier in 4 Sätzen, dass es in Bordellen evtl. nach Schwefel riechen könnte, der Prota es aber nicht weiß. Wo soll das hinführen? Streich den Vergleich und das Rumgeeiere besser komplett (und schimmlige und faule Eier sind etwas Unterschiedliches . Er war wohl einfach nicht gut drauf. Redete und dachte blödsinniges Zeug. Ja, allerdings. Das wolltest Du mit dem Eier-Gedanken wohl auch zeigen, aber - tut mir leid - mich hat es nur genervt.

Ich habe ab hier nicht weitergelesen. Das mag daran liegen, dass ich kein Leser von „Mensch-trifft-Teufel“-Plots bin, aber auch Dein Schreibstil gefiel mir leider nicht. Er ist auch nicht einheitlich, erst schreibst Du sehr anspruchsvoll und kompliziert und, sobald Gerlach im Büro ist, in einem sehr schlichten Stil, mit teils Einwortsätzen, vermutlich um die Spannung zu steigern, aber das dann gleich zweimal in einem Absatz. Überhaupt kam mir Deine Art, eine Geschichte zu erzählen, sehr redundant vor, Du erzählst viel zweimal, reitest sehr lange auf Gegebenheiten herum. Das ginge wahrscheinlich noch wenn Du ein Familienepos oder ein Zeitengemälde schreibst, aber in einer Horrorgeschichte sollte man, denke ich, nicht so viel wiederholen.

Es tut mir leid, dass das Feedback nicht so positiv ausfiel. Ich denke, Du hast durchaus Potential, Du kannst Stimmungen beschreiben, aber den Stil dem Genre anpassen; wenn Du etwas Ungewöhnliches schreiben willst, musst Du zumindest einen einheitlicheren Stil suchen. Du hast offenbar ein breites Repertoire an Sprache und Konstruktionsmöglichkeiten, wenn Du Dir dessen bewusst bist und daran feilst, kannst Du sicher tolle Texte schreiben.

Liebe Grüße
Selanna


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Haruki Okada
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Beitrag18.12.2017 18:48

von Haruki Okada
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Liebe Selanna,

ich danke Dir für die ausführliche Kritik und die Zeit, die Du Dir dafür genommen hast. Ich werde Deine Anregungen überdenken.

Gruß

Haruki


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Haruki Okada
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Beitrag20.12.2017 15:21

von Haruki Okada
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@Selana,

manchmal bedarf es eines Trittes von außen. Zum Glück nicht sehr oft, aber mitunter sieht man selbst den Wald vor lauter Bäumen nicht.
Der Text ist total überladen und strotzt teilweise vor Redundanz. Das würde dem Verlag nicht gefallen.
Ich danke Dir. Bin bei der Überarbeitung und stelle den Text in Kürze noch einmal korrigiert ein.

Gruß

Haruki


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Selanna
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Wohnort: Süddeutschland


Beitrag20.12.2017 15:42

von Selanna
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Hallo Haruki,

freut mich sehr, wenn was Hilfreiches dabei war! Dann wünsch ich Dir viel Inspiration und Elan!

Liebe Grüße
Selanna


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