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Autor |
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Anoa Leseratte
A Alter: 67 Beiträge: 143 Wohnort: Berlin
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A 13.12.2017 10:41 Die kleine Irre von Anoa
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Der Berliner Krankenhauspfarrer Neumann erzählt seinen Kindern vor dem Schlafengehen gerne folgende Geschichte:
Es ist nicht lange her, keine zehn Jahre. Da kam er eines Morgens wieder einmal zu den armen Leuten in der geschlossenen Abteilung seines Krankenhauses.
Dort herrschten Unordnung und Aufruhr. Die Fussböden waren von Wasser überströmt und die Türen zu den Badezellen und Toiletten weit geöffnet. Er wusste kaum, wo er hintreten sollte.
Er fragte einen Pfleger, was denn geschehen sei. Der Pfleger zeigte auf eine ganz junge Frau, die soeben an ihnen vorbei in einen Raum geführt wurde, der für unruhige Patienten bestimmt war.
„Die muss überall das Wasser aufdrehen,“ sagte der Pfleger, „die fühlt sich nur wohl, wenn es läuft. Komplett durch den Wind“
Der Pfarrer mochte die Formulierung „durch den Wind“, weil sie nach frischer Luft klang und den Patienten der geschlossenen Abteilung fehlte. Er ging in den besonderen Raum und sah sich die junge Frau an. Sie kämpfte vor einem Bett stehend gegen zwei Krankenschwestern, die sie zwingen wollten, sich hinzulegen. Sie war klein und dünn und hatte lange rote Haare, die offen herunterhingen.
„Sie sind also eine Wasserfee!“ sagte der Pfarrer und trat näher. „Wozu brauchen Sie soviel Wasser?“
Die Schwestern zogen Gesichter: „Die redet nicht!“
Das Wassermädchen jedoch sah den Pfarrer aufmerksam an und lächelte plötzlich. Es war ein verschmitztes, strahlendes Lächeln.
„Dann kommen Sie mal mit!“ sagte der Pfarrer und nahm ihren Arm.
Die Schwestern sahen erstaunt, wie sich die beiden friedlich von ihnen entfernten.
Das Krankenhaus hatte einen kleinen Park mit Bäumen und Büschen und einem halb zugewachsenen Teich. Dorthin führte der Pfarrer die Wassersüchtige. Er gab sie frei und setzte sich auf eine Bank und beobachtete sie.
Sie kniete am Ufer nieder und hielt eine Hand ins Wasser, ganz still. Bis jetzt hatte sie noch kein Wort geredet. Sie liess die Hand durch das Wasser gleiten. Sie sagte andächtig: „Mutter!“ Und der Himmel verdunkelte sich. Es fielen ein paar erste Regentropfen. Das Wasser begrüsste sein Kind.
Der Pfarrer liess seine Wasserfee eine Weile gewähren und wurde gelassen nass. Dann stand er auf und sagte: „Wir müssen zurück!“
Es gab keine Schwierigkeiten mehr. Die Kleine folgte ihm und setzte sich willig zum Mittagessen.
Am nächsten Tag kam er wieder und ging mit ihr an den See. Dies blieb so, bis sie sprechen konnte. Da sagte sie: „Ich will nach Hause.“ Und damit war nicht das Wasser gemeint. Auch die Wasserfee hatte in der Menschenwelt Eltern.
Die Wasserfee war geheilt. Sie hatte auch nie wieder das Wasser laufen lassen.
„Nehmen Sie Ihre Tabletten!“ antwortete der Pfarrer. „Sonst kommen Sie hier nie wieder raus!“
Er sagte das nicht zum ersten Ml zu einer Patientin und oft genug umsonst. Aber die Wasserfee hörte auf ihn, da sie ihm vertraute, und zwei Wochen später sah er sie mit ihrem Koffer in der Krankenhauseinfahrt stehen, bei einem erleichtert und dabei ernst wirkenden älteren Ehepaar.
„Machs gut!“ sagte der Pfarrer.
Nachbemerkung der Autorin: Wer den Menschen unbefangen entgegentritt, hilft ihnen am besten
_________________ Mona Ullrich, Berlin |
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Isa Leseratte
Beiträge: 153 Wohnort: München
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13.12.2017 14:41
von Isa
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Hallo Anoa,
mir gefällt die kleine Geschichte.
Ich persönlich würde einen anderen Titel wählen, wie vielleicht "Die kleine Wasserfee." Ich finde es grundsätzlich nicht gut, psychische Auffälligkeiten so negativ zu behaften.
Mich würde auch interessieren, warum sie wassersüchtig ist bzw. warum sie mit Wasser ihre Mutter verbindet. Welche Gefühle erweckt der Kontakt mit Wasser in ihr?
Zitat: | Die Schwestern zogen Gesichter: „Die redet nicht!“ |
verzogen die Gesichter
Zitat: | Der Pfarrer liess seine Wasserfee eine Weile gewähren und wurde gelassen nass. |
... und nahm es gelassen hin, dass er nass wurde.
Zitat: | „Nehmen Sie Ihre Tabletten!“ antwortete der Pfarrer. „Sonst kommen Sie hier nie wieder raus!“ |
... riet ihr der Pfarrer (ich kann da kein vorausgegangenes Gespräch erkennen.)
Zitat: | bei einem erleichtert und dabei ernst wirkenden älteren Ehepaar.
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Da stolpere ich ein bisschen, erleichert und gleichzeitg ernst wirkend? Passt das im gleichen (Gefühls) Moment zusammen?
Auf jeden Fall gerne gelesen.
LG Isa
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Kaffeetante0606 Gänsefüßchen
Alter: 40 Beiträge: 24 Wohnort: Deutschland
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14.12.2017 21:15
von Kaffeetante0606
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Hallo Anoa,
ich habe deine Geschichte sehr gerne gelesen hätte aber eine Anmerkung:
Du schreibst, dass der Pfarrer die Geschichte seinen Kindern erzählt. Ich würde danach wahrscheinlich einen Ich-Erzähler wählen, weil das für mich logischer wäre.
Die Anmerkung meines Vorredners würde ich auch empfehlen, so klingt es einfach runder.
Sonst finde ich die Geschichte schön geschrieben.
LG,
Kaffeetante0606
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