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Lorraine Klammeraffe
Beiträge: 648 Wohnort: France
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09.11.2017 06:42 Abzweigungen von Lorraine
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a. Dorée
Zu Bahnen verplante Ballen Genügsamt
in Lagern der Väter Mariä Himmelblau und
das bisschen Goldstaub zwischen Planken
auf Mittelstreifen taumeln noch Kreidefragen
von Schiefer auf Stoffe kopiert und Hektografien
der Schnüffelkinder wehen weiter ihr
Wie lange ist es zu spät
b. Dauern
Ein Schnörkelkleid hätte ich schneidern mögen der
verfangenen Gestalt freies Geleit erschleichen
Die wanderte flussaufwärts weiter faulte nicht
in ihren Gräten längst getrennt von Haar und Haut
z. Wischen
(Erstes Strahlen tränkt dir den Rücken)
Siehst du da stehen zwei Türme im Bild. Ein
Wildwuchs entlässt sie streben der Ordnung ganz
oben entgegen stückeln die querenden Linien
teilen deinen Verdacht die wetterseitigen Quader trügen
Flechtengesichter könntest du deuten winkelten
Münder nicht unter Bärten von Moos
Liest du versenkst du die Monde im Fell. Des
träumenden Wächters der Krümmung
zuckende Pfote bedeutet: es mag diesen Weg
durch Schnitte gegeben haben. Doch
wenn du ein blättriges Flüstern zu orten versuchst
krankt die Geschichte an Mauern vertrocknen die
Triebe brechen und fallen bedingt ins Gedicht
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Weitere Werke von Lorraine:
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Literättin Reißwolf
Alter: 58 Beiträge: 1836 Wohnort: im Diesseits
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11.11.2017 08:17
von Literättin
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Dieses hier geht mir seit dem ersten lesen nicht mehr aus dem Kopf, obwohl es voller Rätsel ist, die mir verschlossen bleiben. Von daher kann ich erst einmal nur ein paar Eindrücke hier lassen.
Meine Lieblingsverse:
Nach den ersten (mir verschlossenen) Zeilen:
Lorraine hat Folgendes geschrieben: | das bisschen Goldstaub zwischen Planken | atme ich in dieser regelrecht auf und ich mag die lakonische Kombination aus "das bisschen" und "Goldstaub".
Lorraine hat Folgendes geschrieben: | Ein Schnörkelkleid hätte ich schneidern mögen der
verfangenen Gestalt freies Geleit erschleichen | Ich liebe dieses Schnörkelkleid, insbesondere beim ersten lesen hat es mir dies angetan. Bei jeder weiteren wurde es mir trauriger Weise düsterer, denn ich ahne hier etwas Dunkles, was mich innen schwer werden lässt.
Lorraine hat Folgendes geschrieben: | Liest du versenkst du die Monde im Fell. Des
träumenden Wächters der Krümmung
zuckende Pfote bedeutet: es mag diesen Weg | Einfach rätselhaft schön.
Was ich zu ahnen glaube ist mir sehr schwer. Ist es die Kreidezeichnung auf Straßenasphalt, die ich ahne? Das Schnörkelkleid dazu? Es ist mir so traurig, ich will es hier nicht einmal ausführen.
Düster, geheimnisvoll, tragisch. Die eingestreute leise Leichtigkeit tut richtig weh(mütig) weh.
Manches, das hier Zärtlichkeit in sich trägt mag ich sehr. Insgesamt löst es in mir Trauer aus, keine lichte, sondern schwere, dunkle. Und ganz enträtseln kann ich es nicht.
Gerne gelesen.
_________________ when I cannot sing my heart
I can only speak my mind
- John Lennon -
Christ wird nicht derjenige, der meint, dass "es Gott gibt", sondern derjenige, der begonnen hat zu glauben, dass Gott die Liebe ist.
- Tomás Halík -
Im günstigsten Fall führt literarisches Schreiben und lesen zu Erkenntnis.
- Marlene Streeruwitz - (Danke Rübenach für diesen Tipp.) |
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Lorraine Klammeraffe
Beiträge: 648 Wohnort: France
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14.11.2017 17:21
von Lorraine
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Hallo Literättin,
Literättin hat Folgendes geschrieben: | voller Rätsel | und schließlich Zitat: | ... ganz enträtseln kann ich es nicht |
Mir kommt nicht vor, als sei »Rätsel« hier negativ besetzt, es fällt mir nur ein wenig schwer, nach deinem Kommentar einzuschätzen, ob das Spiel ein (zu) solitäres bleibt, oder ob ein weiteres, zeitversetztes Lesen oder Hören erlaubt, Verbindungen zu knüpfen, ein Netz von Anklängen und Bedeutung entstehen zu lassen.
Du hast mir deine »Lieblingsstellen« genannt, vom Aufatmen oder von Schwere und Traurigkeit geschrieben, ich kann das alles recht gut nachempfinden, denke (aber) auch, dass solche Stellen den Leserblick möglicherweise trüben oder auch so ermüden, dass Eigenes, mitgebrachtes Assoziieren und Austausch nicht beweglich bleiben? Ich weiß es nicht. Jedenfalls hast du mir ein konkretes Beispiel genannt, das eine Verschiebung oder eine Bewegung vom/zum Text weg/hin illustriert:
Literättin hat Folgendes geschrieben: | Was ich zu ahnen glaube ist mir sehr schwer. Ist es die Kreidezeichnung auf Straßenasphalt, die ich ahne? |
Das Wort »Kreide« ist hier das einzige aus dem Text übernommene, und so kann ich nachvollziehen, was es ist, das dir als Leserin mehr eine Ahnung verschafft, als ein Bild oder Bilder entstehen zu lassen. Gleichzeitig bestätigst du mir, dass dieser (erste) Teil macht, was er soll, nämlich: es nicht zu weit treiben
Na ja, ich will das nicht beschneiden, andererseits, denn ich glaube schon, dass »a. dorée« ein recht weitwinkliger (Unter-)Titel ist, durch den man sich den Verzweigungen auf unterschiedliche Weise nähern kann.
Vielen Dank, Literättin, für dein Herkommen und deine kurze Weg-Beschreibung durchs Gedichtete.
L.
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Literättin Reißwolf
Alter: 58 Beiträge: 1836 Wohnort: im Diesseits
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14.11.2017 17:39
von Literättin
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Nein, überhaupt nicht negativ besetzt, nur dass ich dann gerne einmal Tomaten auf den Augen habe.
Wie hier z.B.: schon bei den Überschriften edit: Mein Augenmerk lag z.B. sofort auf dem vermeintlichen Hinweis, was da alles zwischen b. und z. geschehen sein mag. Das passiert, wenn meine lyrische Staubsauger-Lesart auf schön rätselhafte Schwere trifft.
... da kann ich dann gerade noch mal von vorn anfangen ...
Also auf alle Fälle bin ich in solch rätselhaft schönen Gedichten offenkundig unterbelichtet.
Jedenfalls: Die Bilder sind unvergesslich und einmalig, irgendwie düster barock und gleichzeitig schwer und schwebend und schön. Von einer Entschlüsselung aber bin ich immer noch weit entfernt.
_________________ when I cannot sing my heart
I can only speak my mind
- John Lennon -
Christ wird nicht derjenige, der meint, dass "es Gott gibt", sondern derjenige, der begonnen hat zu glauben, dass Gott die Liebe ist.
- Tomás Halík -
Im günstigsten Fall führt literarisches Schreiben und lesen zu Erkenntnis.
- Marlene Streeruwitz - (Danke Rübenach für diesen Tipp.) |
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firstoffertio Show-don't-Tellefant
Beiträge: 5854 Wohnort: Irland
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15.11.2017 22:40
von firstoffertio
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Auch mir fällt dieser Text nicht leicht. Und auch ich finde ihn schön.
Was er bei mir erst mal auslöst:
a. Dorée
Zu Bahnen verplante Ballen Genügsamt
in Lagern der Väter Mariä Himmelblau und
das bisschen Goldstaub zwischen Planken
auf Mittelstreifen taumeln noch Kreidefragen
von Schiefer auf Stoffe kopiert und Hektografien
der Schnüffelkinder wehen weiter ihr
Wie lange ist es zu spät
Ich denke an eine Rokoko oder barocke Kirche, aber auch an ein altes Buch, oder an ein altes Kleid, wegen der Ballen und Stoffe. Bedrucktes. Die Schnueffelkinder Weiß ich noch nicht zu bestimmen. Aber ich denke an den Geruch von altem "Zeug"
Die Frage: Wie lange ist es zu spät beeindruckt mich.
b. Dauern
Ein Schnörkelkleid hätte ich schneidern mögen der
verfangenen Gestalt freies Geleit erschleichen
Die wanderte flussaufwärts weiter faulte nicht
in ihren Gräten längst getrennt von Haar und Haut
Jetzt ist da tatsächlich ein Kleid. Ich denke aber nun an Fische, Lachse vielleicht, die auch metallisch schimmern.
z. Wischen
(Erstes Strahlen tränkt dir den Rücken)
Siehst du da stehen zwei Türme im Bild. Ein
Wildwuchs entlässt sie streben der Ordnung ganz
oben entgegen stückeln die querenden Linien
teilen deinen Verdacht die wetterseitigen Quader trügen
Flechtengesichter könntest du deuten winkelten
Münder nicht unter Bärten von Moos
Jetzt bin ich wieder bei einer Kirche, Ruine aber nun.
Liest du versenkst du die Monde im Fell. Des
träumenden Wächters der Krümmung
zuckende Pfote bedeutet: es mag diesen Weg
durch Schnitte gegeben haben. Doch
wenn du ein blättriges Flüstern zu orten versuchst
krankt die Geschichte an Mauern vertrocknen die
Triebe brechen und fallen bedingt ins Gedicht
Und nun wieder beim Buch (Tagebuch?). Oder etwas, was man lesen kann wie ein Buch, etwa eine Ruine, eine Kirche, einen Fisch, ein Kleid.
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Lorraine Klammeraffe
Beiträge: 648 Wohnort: France
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16.11.2017 23:03
von Lorraine
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Guten Abend, firstoffertio und Literättin
firstoffertio hat Folgendes geschrieben: | Auch mir fällt dieser Text nicht leicht. Und auch ich finde ihn schön.
Was er bei mir erst mal auslöst:
a. Dorée
Zu Bahnen verplante Ballen Genügsamt
in Lagern der Väter Mariä Himmelblau und
das bisschen Goldstaub zwischen Planken
auf Mittelstreifen taumeln noch Kreidefragen
von Schiefer auf Stoffe kopiert und Hektografien
der Schnüffelkinder wehen weiter ihr
Wie lange ist es zu spät
Ich denke an eine Rokoko oder barocke Kirche, aber auch an ein altes Buch, oder an ein altes Kleid, wegen der Ballen und Stoffe. Bedrucktes. Die Schnueffelkinder Weiß ich noch nicht zu bestimmen. Aber ich denke an den Geruch von altem "Zeug"
Die Frage: Wie lange ist es zu spät beeindruckt mich. |
Tief Luft holen, denke ich mir, und meine Zeit heute so stückeln, dass irgendwann etwas Brauchbares zu diesem kleinen Zyklus auf meinem Bildschirm steht, denn ja, mir sind diese drei Teile (eine Strophe, eine halbe und noch zwei) inzwischen so vertraut, dass ich die Gelegenheit nutze, mir ein paar Dinge festzuhalten, die den Text zu dem haben werden lassen, was er jetzt ist.* Damit ich nicht vergesse, was ich heute dazu zu denken habe und irgendwann überprüfen kann, ob er standhält.
Ich stelle fest, wie schwierig es ist, einerseits ganz bei mir und dem Text zu bleiben und gleichzeitig solche Lese-Eindrücke oder Bruchstücke von Lesearten wie die von dir oder Literättin darüber zu legen. Und mir wird (mal wieder) klar, warum ich das, was ich in und mit Gedichten mache, in keiner anderen Form tun könnte, ohne sehr weit ausholen zu müssen oder kleinteilig zu erzählen, womit ich viel geschrieben, aber nicht mehr gesagt hätte; auch nicht: genauer oder gar besser.
Jedes Wort, das ich belade (vor allem Komposita wie »Schnüffelkinder«, »Genügsamt« oder »Schnörkelkleid« ) kann nur deshalb viel aushalten, weil keins allein bleibt; weil alles näher oder ferner mit ihm - und damit untereinander - verknüpft ist und sich eine innere Logik und eine von außen lesbare entsprechen (sollen).
Das kann erschwert sein, denke ich, wenn der Lesende erwartet, geführt zu werden oder dem Text nicht traut; oder wenn sich überschneidet, was man als zu verschiedenen Metaphern zugehörig wahrnimmt und dadurch beim Leser ein Eindruck des Zerfaserns entsteht – oder eben einer rätselhaften Undurchsichtigkeit.
Inzwischen sehe ich das nicht mehr als Problem. Wohl, weil es genug Texte/Gedichte gibt, in denen sich Motive und wechselnde Standpunkte finden und wiederfinden; auch meine Art des Spielens mit Verwandtschaft, Anklang und Materialien. Klar, dass ich mit alldem – so verstreut, wie es halt ist – keinen Anspruch auf Anerkennung des Ganzen erhebe oder daraus einzelnen, unfertigen oder schief geratenen Texten Entschuldigungsschreiben kritzle. Ich hab auch keine Ahnung, wieso das hier zum Manifest ausartet, aber jetzt bin ich halt mal dabei.
Also … »Zu Bahnen verplante Ballen Genügsamt« - was haben die Väter da auf Lager? Ballen von Stoff einer ganz bestimmten Farbe, Symbol-Farbe für die Frau, die verehrt und vergöttert (adorée) wird, unantastbar ist und doch allen gehört, die angebetete Vermittlerin, aufopferungsvolle Mutter und Nährerin usw. - Ein ganzes Programm, nicht schlecht, was es da alles zu verplanen gibt, vorzuzeichnen, zuzuschneiden, wenn da Bahnen dieses kleidsamen, weich fallenden Stoffs (man beachte den Faltenwurf) den Kindern, Mädchen einer Generation zugedacht werden; schön, wenn die Erwartungen sich dann in gewissen Grenzen halten, und nein, das hier ist nicht das Spätmittelalter und schließlich steht diesen Mädchen ja alles himmelweit offen, nicht wahr und es kann losgehen, Schule, die Auffahrt zur Autobahn des Lebens, Pursuit of Happiness, keine braucht zurückbleiben, noch Fragen? Den Hals nicht zu voll kriegen, bitteschön, sich begnügen können mit dem, was erreichbar ... - »Schnüffelkinder«, »Hektografien«, das sind Ergebnisse des Versuchs, das ganze zeitlich, generationsmäßig in meine eigene Schulzeit einzuordnen, schnüffeln, kiffen, Schmuddelkinder, und mit wem spielst du?, die Gedichte und Textauszüge, die Deutsch- und Geschichtslehrer verteilten, noch keine Fotokopien, sondern diese Blätter mit blauvioletter, unscharfer Schrift, an denen man schnüffelte, wenn sie frisch aus dem Vervielfältiger kamen.
Ich bin jetzt nah am Text geblieben, und dieses »Wie lange ist es zu spät« … bewaffnete Konflikte seit 1945, RAF, Three Mile Island, »Waldsterben«, Thatcher, Reagan … überlasse ich euch und euren eigenen Angstmachern für jetzt, wie es da steht und aus der Zeit, aus dem a.Text herüberweht.
Grüsse von hier, morgen geht's nach D-Land, ich melde mich ggf. noch Mal, wenn ich zurück bin
L.
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Literättin Reißwolf
Alter: 58 Beiträge: 1836 Wohnort: im Diesseits
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17.11.2017 09:51
von Literättin
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Und ich hing ganz woanders fest: an diesem Kreidestaub, weil ich die Bahnen verplanten Genügsamt nicht irgendwie einordnen konnte. Ich war bildlich ganz woanders: draußen auf gemähter Heuwiese Bahnen und Samt und Ballen in Bahnen gewickelten Heus. Das machte mein Hirn aus Genügsamt, weil diese gemähten Bahnen in Heuwiesen wie Samt aussehen und ich in den nächsten Zeilen draußen bin, irgendwo am Feldrand zwischen Planken und Mittelstreifen, Gold- und Kreidestaub... Und gleichzeitig konnte mein Bild vom Heu nicht stimmen. Ich hing also fest. Denn was hatte mein Heu mit Mariä Himmelblau zu tun? Es hätte in meiner Logik eher Johannis sein müssen (Sommer, Juni, erste Heuernte). Und noch etwas, das mich da festhängen ließ war einfach dieses Heu, das im Sommer über die Straßen weht. Dieses Wehen.
Mein Hirn, meine Bilder, und beides recht zielstrebig an deinem Text vorbei . Und weiter ging es:
Für mich blieb die Ahnung ein Bild von etwas unheimlich still-schönem und etwas schrecklichem, das geschehen sein musste.
Mich wehte immer wieder das Bild von Kreidestaub auf Asphalt an "auf Mittelstreifen taumeln noch Kreidefragen" (Unfall-Kreidezeichnung), "faulte nicht in ihren Gräten längst getrennt von Haar und Haut", da kam ich nicht mehr von los. Dieses Vergänglich-Flüchtige, verwehender Gold- und Kreidestaub, das Schnörkelkleid (ich sah es im Flusswasser schnörkelnd zerfließen) und alle diese "meine" Bilder im Kopf konnte ich nicht mit dem Gedicht zusammenbringen, denn es schien mir gleichzeitig völlig rätselhaft von ganz anderem zu sprechen.
Dies nur noch mal als Rückmeldung.
Und ich hoffe, Du lässt dich durch meine recht "eigenwillige" Lesart nicht abbringen, weiteres einzustellen!
_________________ when I cannot sing my heart
I can only speak my mind
- John Lennon -
Christ wird nicht derjenige, der meint, dass "es Gott gibt", sondern derjenige, der begonnen hat zu glauben, dass Gott die Liebe ist.
- Tomás Halík -
Im günstigsten Fall führt literarisches Schreiben und lesen zu Erkenntnis.
- Marlene Streeruwitz - (Danke Rübenach für diesen Tipp.) |
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firstoffertio Show-don't-Tellefant
Beiträge: 5854 Wohnort: Irland
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18.11.2017 00:25
von firstoffertio
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Vielleicht ist es so:
Je mehr ein Autor Sprache so verwendet, dass sie ganz Bestimmtes für ihn selbst einfängt, und er eben nicht wie z.B. in üblicher Prosa eine Geschichte erfindet und erzählt, die er ja vom Leser miterlebt haben will, je mehr er also ganz eigenwillig mit den Worten werkelt, um so abstrakter, aber auch offener wird der Text für den Leser, oder auch: umso mehr verselbständigt sich der Text als Text, so paradox das klingen mag. Und umso mehr machen Leser dann mit ihm, was sie wollen, oder eben Können, weil sie ihn mit ihrem Hintergrund, den sie mitbringen, und der sich von dem des Autor natürlich unterscheidet, lesen und sie dann eben hineinstecken und herauslesen, was ihnen nahe liegt.
Da gibt es so ein Kontinuum, und die Frage, was will der Autor mir sagen, ist an einem Ende davon wahrscheinlich sinnlos.
Die andere Seite der Medaille ist, dass Leser (auch hier im Forum) meist erwarten, dass ein Autor gefälligst so zu schreiben hat, dass sie seine Intentionen für einen bestimmten Sprachgebrauch nachvollziehen können. Was sicher so grundsätzlich nicht zu erwarten ist.
Diese Verselbstständigung des Textes, und ich empfinde sie als tolles Phänomen, wird vielleicht bei einem wie diesem, und oft bei Lorraines Gedichten, nur deutlicher als sonst. Ist aber doch auch bei einem Roman gegeben, prinzipiell und erfahrungsgemäß. Und ist der Grund für einfache Aussagen wie: gefällt mir/gefällt mir nicht.
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Lorraine Klammeraffe
Beiträge: 648 Wohnort: France
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21.11.2017 07:43
von Lorraine
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firstoffertio hat Folgendes geschrieben: | Vielleicht ist es so:
Je mehr ein Autor Sprache so verwendet, dass sie ganz Bestimmtes für ihn selbst einfängt, und er eben nicht wie z.B. in üblicher Prosa eine Geschichte erfindet und erzählt, die er ja vom Leser miterlebt haben will, je mehr er also ganz eigenwillig mit den Worten werkelt, um so abstrakter, aber auch offener wird der Text für den Leser, oder auch: umso mehr verselbständigt sich der Text als Text, so paradox das klingen mag. |
Abstraktion wäre demnach aber kein vorhandenes, im Text gewolltes oder gestaltetes Reduzieren. Dann gäbe es ein Wesentliches im Vers oder im Gedicht gar nicht, es müsste erst produziert werden, beim Lesen oder vom Leser selbst.
Wenn also etwas, was sich als nicht (direkt) zugänglich zeigt, einen Leser dazu brächte, im Zweifelsfall nicht der Sprache zu begegnen, wie sie dort geformt wurde, sondern dem eigenen Sprach-Gebrauch, dann wäre ein Vers oder ein Gedicht auf die Wirkung reduziert, die er/es auf den einzelnen Leser hat?
Lesen hat mit der Erwartung zu tun, die an Texte gestellt werden. Das Phänomen der "Verselbstständigung", wie du es beschreibst, könnte ein Zeichen für die Beliebigkeit sein, im Umgang mit Sprache. Ob die beim Schreiben stattfindet oder beim Lesen; ob eine Begegnung mit einem Text nicht über die des Lesenden mit sich selbst hinaus geht - mein Einfluss als Autorin auf die Art des Lesens ist begrenzt. Wie ich einen Vers oder ein Gedicht gestalte, das liegt dagegen ganz in meiner Hand.
Bis später (und: danke)
L.
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Lorraine Klammeraffe
Beiträge: 648 Wohnort: France
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25.11.2017 18:52
von Lorraine
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Hallo nochmals,
Literättin hat Folgendes geschrieben: | Und ich hing ganz woanders fest: an diesem Kreidestaub, weil ich die Bahnen verplanten Genügsamt nicht irgendwie einordnen konnte. Ich war bildlich ganz woanders: draußen auf gemähter Heuwiese Bahnen und Samt und Ballen in Bahnen gewickelten Heus. Das machte mein Hirn aus Genügsamt, weil diese gemähten Bahnen in Heuwiesen wie Samt aussehen und ich in den nächsten Zeilen draußen bin, irgendwo am Feldrand zwischen Planken und Mittelstreifen, Gold- und Kreidestaub... Und gleichzeitig konnte mein Bild vom Heu nicht stimmen. Ich hing also fest. Denn was hatte mein Heu mit Mariä Himmelblau zu tun? Es hätte in meiner Logik eher Johannis sein müssen (Sommer, Juni, erste Heuernte). Und noch etwas, das mich da festhängen ließ war einfach dieses Heu, das im Sommer über die Straßen weht. Dieses Wehen. |
Schon nach deinem ersten Kommentar glaubte ich, verstanden zu haben, dass du "woanders" gelandet warst und ich konnte auch nachvollziehen, wie du zu einer, wie du sagst, "eigenwilligen" Lesart kamst. Das setzt sich hier (konsequent) fort und ich habe diesen Abschnitt zitiert, weil klar wird, dass "Mariä Himmelblau" bei dir nicht als Farbe ankommt, sondern als jahreszeitlicher Hinweis. Mit anderen Worten: du hast »Mariä Himmelblau« als »Mariä Himmelfahrt« gelesen, bzw. es abgeleitet. Ich glaube schon, dass man einem Gedicht erstmal mit Assoziieren näher kommen, oder es einfach auf eine Weise lesen kann, die dem eigenen Empfinden, dem eigenen Umgang mit Wörtern entspricht, dagegen gibt es gar nichts zu sagen. Das schließt aber manchmal, denke ich, mit ein, dass so eine »Umleitung« nicht wieder zum Text führt, denn wenn irgendwann versucht wird, über die Assoziation der Assoziation zu dem zurückzufinden, was da eigentlich steht, stellt man wahrscheinlich fest, dass man von Abzweigung zu Abzweigung eben »ganz woanders« gelandet sein muss.
Wenn hier von »Kreidefragen« die Rede ist und von »Goldstaub«, kommt nicht jeder zwingend bei »Kreidezeichnung« oder »Kreidestaub« an. Wenn Ballen von Stoff »zu Bahnen verplante« sind, dann gibt es diese Bahnen noch nicht als zugeschnittene, oder? In »Genügsamt« steckt sowohl »genügsam« als auch »Samt«. Synonyme von »genügsam« sind z.B. »bescheiden, anspruchslos, zurückhaltend, zufrieden, bedürfnislos« - wenn man das so ein wenig mitbedenkt, könnte man vielleicht »ahnen«, was die »Väter« da so auf Lager und in Planung haben?
Ich gehe so ausführlich auf deine Rückmeldung ein, weil ich zwar durchaus verstehe, wie es dir geht oder gehen kann, wenn du einen Text entdeckst, ich aber auch zeigen will, dass man auf Abwegen oder über Umleitungen zu einer Lesart kommen kann, die für sich genommen ihre (für den Leser) persönliche Gültigkeit hat, dem Text selbst aber nicht unbedingt gerecht wird. Wobei das nicht sicher ist … denn am Ende hat kein Verfasser die Kontrolle über jede implizite, weitere Bedeutung oder Assoziation, die in Ansätzen »mitgeliefert« wird. Wenn ich mit »Väter« allein durch die Erwähnung der (Jungfrau) Maria die Assoziation »Kirchenväter« mitliefere, dann ist das »Kirchenjahr« nicht weit, das ist auch mir klar.
Andererseits könnte ich erwarten (und erwarte es auch), dass man genau hinschaut, wenn man schon ertasten will (besser: sich mit einem Ertasten nicht zufrieden gibt), wie es zu der einen oder der anderen Lesart kommt; und auch überprüft, ob standhält, was man einem Text zuweilen »andichtet«, weil man sich in einer besonders empfänglichen Stimmung für diese oder jene Richtung befindet, in die man selbst gern mal geht? Und klar, Texte funktionieren (auch) so: mit Triggern, mit Angelhaken, mit Stolpersteinen und Hinweisen, die es erlauben, von bloßer Vieldeutigkeit zur Vielschichtigkeit zu gelangen, auch Lesarten »nebeneinander« gültig sein lassen zu können, bzw. genau das ja erreichen zu wollen. Das alles aber fällt nur bedingt ins Gewicht, wenn man sich seiner Sache sicher genug ist; wenn ein Gedicht auch »für sich«, als geformtes Stück Sprachwerk stehen kann.
In diesem Sinne:
Literättin hat Folgendes geschrieben: | Und ich hoffe, Du lässt dich durch meine recht "eigenwillige" Lesart nicht abbringen, weiteres einzustellen! |
Wo denkst du hin?
firstoffertio hat Folgendes geschrieben: | ... etwas, was man lesen kann wie ein Buch, etwa eine Ruine, eine Kirche, einen Fisch, ein Kleid. |
Das hängt mir nach, und auch der Geschmeid-Frau aus "b. Dauern".
Vielen Dank euch beiden,
Grüsse vom L.
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firstoffertio Show-don't-Tellefant
Beiträge: 5854 Wohnort: Irland
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25.11.2017 22:18
von firstoffertio
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Zitat: | Also … »Zu Bahnen verplante Ballen Genügsamt« - was haben die Väter da auf Lager? Ballen von Stoff einer ganz bestimmten Farbe, Symbol-Farbe für die Frau, die verehrt und vergöttert (adorée) wird, unantastbar ist und doch allen gehört, die angebetete Vermittlerin, aufopferungsvolle Mutter und Nährerin usw. - Ein ganzes Programm, nicht schlecht, was es da alles zu verplanen gibt, vorzuzeichnen, zuzuschneiden, wenn da Bahnen dieses kleidsamen, weich fallenden Stoffs (man beachte den Faltenwurf) den Kindern, Mädchen einer Generation zugedacht werden; schön, wenn die Erwartungen sich dann in gewissen Grenzen halten, und nein, das hier ist nicht das Spätmittelalter und schließlich steht diesen Mädchen ja alles himmelweit offen, nicht wahr und es kann losgehen, Schule, die Auffahrt zur Autobahn des Lebens, Pursuit of Happiness, keine braucht zurückbleiben, noch Fragen? Den Hals nicht zu voll kriegen, bitteschön, sich begnügen können mit dem, was erreichbar ... - »Schnüffelkinder«, »Hektografien«, das sind Ergebnisse des Versuchs, das ganze zeitlich, generationsmäßig in meine eigene Schulzeit einzuordnen, schnüffeln, kiffen, Schmuddelkinder, und mit wem spielst du?, die Gedichte und Textauszüge, die Deutsch- und Geschichtslehrer verteilten, noch keine Fotokopien, sondern diese Blätter mit blauvioletter, unscharfer Schrift, an denen man schnüffelte, wenn sie frisch aus dem Vervielfältiger kamen. |
Auf das, was du hinsichtlich Frau und Mädchen ausfuhrst, wäre ich nicht gekommen.
Auf das Schnüffeln an den ausgeteilten "Kopien" (wie nannten wir die nur?) hätte ich kommen können. Habe ich gemacht. Aufs Kiffen nicht, habe ich nicht gemacht.
Und das liegt mir ganz fern, darauf hat mich das Gedicht nicht gebracht:
Zitat: | bewaffnete Konflikte seit 1945, RAF, Three Mile Island, »Waldsterben«, Thatcher, Reagan … |
Ich bin mir echt sehr unsicher, ob ich mit mehr Arbeit mehr von dem, was du hineingearbeitet hast, hätte heraus hohlen können.
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Literättin Reißwolf
Alter: 58 Beiträge: 1836 Wohnort: im Diesseits
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26.11.2017 10:07
von Literättin
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Das freut mich, dass dich mein Verfahren auf den Abzweigungen nicht abhalten kann, denn ich mag deine Lyrik, auch wenn ich sie oft anders empfange als sie abgesendet wurde .
Das mit dem genügsam und Samt, das hatte ich schon verstanden. Mein Landei-Dasein hat mir Heu daraus gebastelt. Mitsamt den Vätern und dem Goldstaub. (Die ein oder andere Heuernte mitgemacht, mit den alten Leuten über "damals" geredet, den verwehten Goldstaub (die Reste der Ernte) über die Landstraßen geweht unter den Reifen gespürt. Dann der Kreidestaub, alles meins, ich weiß ...)
Ich kam nicht mehr los von meinem Heuernte- Landstraßen-Bild. Weil es so überzeugend für mich war: Was ist genügsamerer Samt als das schimmernde Frühsommergras, in Bahnen geschnitten, zu Ballen gepresst und sorgsam planend eingelagert von den Vätern ...
Aber ich kann es auch anders lesen, kann auch jetzt deinen Bildern folgen. Und sowieso kann ich es wieder und neu und noch anders lesen, weil es so schön und so geheimnisvoll ist.
Nur den echten, den Stoffsamt habe ich, glaube ich, direkt ausgeschlossen, weil Samt so gar nicht genügsam ist, sondern sehr kostbar und nach Samt und Seide, nach edler Schneiderei klingt. Und die brachte ich auch nicht mit den Vätern in Verbindung. Aber: das Kostbare von Samt, das transportiert dieses schön-geheimnisvolle Stück.
_________________ when I cannot sing my heart
I can only speak my mind
- John Lennon -
Christ wird nicht derjenige, der meint, dass "es Gott gibt", sondern derjenige, der begonnen hat zu glauben, dass Gott die Liebe ist.
- Tomás Halík -
Im günstigsten Fall führt literarisches Schreiben und lesen zu Erkenntnis.
- Marlene Streeruwitz - (Danke Rübenach für diesen Tipp.) |
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Lorraine Klammeraffe
Beiträge: 648 Wohnort: France
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26.11.2017 10:49
von Lorraine
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Hm.
Deine Anmerkung, bzw. das Zitat hieraus:
Zitat: | Ich bin jetzt nah am Text geblieben, und dieses »Wie lange ist es zu spät« … bewaffnete Konflikte seit 1945, RAF, Three Mile Island, »Waldsterben«, Thatcher, Reagan … überlasse ich euch und euren eigenen Angstmachern für jetzt, wie es da steht und aus der Zeit, aus dem a.Text herüberweht. |
möchte ich ungern so stehen/unbeantwortet lassen.
Wenn ich schrieb, ich sei nah am Text geblieben, meinte ich (und da habe ich mich offensichtlich nicht klar ausgedrückt): "bis jetzt", und "dieses
Wie lange ist es zu spät -> überlasse ich euch und euren eigenen Angstmachern ...
Die Aufzählung, die du zitierst, besteht aus Beispielen - ich wollte damit nicht sagen, dass all dies direkt aus dem Text abzuleiten wäre. Es ging um diese Frage, die den Text beschliesst; eine Doppelfrage, szs., die auch zum nächsten Text überführt, überdauert.
Eine Art Lebensgefühl, ein Argwöhnen; etwas, was das Urvertrauen, welches man - wenn man es eben denn mitbekommen hat - bis zum Misstrauen hin beeinträchtigt wurde: Wird es mich ein Leben lang begleiten, dieses Gefühl, sich knapp am Abgrund entlang bewegen zu müssen?
-
Es ist nicht ganz leicht, über einen eigenen Text zu schreiben und innerhalb der Grenzen des Nachvollziehbaren zu bleiben, ich werde künftig versuchen, das (mich) etwas im Zaum zu halten.
Grüsse vom L.
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Lorraine Klammeraffe
Beiträge: 648 Wohnort: France
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26.11.2017 12:21
von Lorraine
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Noch rasch dazu:
(von mir eingefettet)
Literättin hat Folgendes geschrieben: |
Ich kam nicht mehr los von meinem Heuernte- Landstraßen-Bild. Weil es so überzeugend für mich war: Was ist genügsamerer Samt als das schimmernde Frühsommergras, in Bahnen geschnitten, zu Ballen gepresst und sorgsam planend eingelagert von den Vätern ...
Aber ich kann es auch anders lesen, kann auch jetzt deinen Bildern folgen. Und sowieso kann ich es wieder und neu und noch anders lesen, weil es so schön und so geheimnisvoll ist.
Nur den echten, den Stoffsamt habe ich, glaube ich, direkt ausgeschlossen, weil Samt so gar nicht genügsam ist, sondern sehr kostbar und nach Samt und Seide, nach edler Schneiderei klingt. Und die brachte ich auch nicht mit den Vätern in Verbindung. Aber: das Kostbare von Samt, das transportiert dieses schön-geheimnisvolle Stück. |
->
Zitat: | b. Dauern
Ein Schnörkelkleid hätte ich schneidern mögen der
verfangenen Gestalt freies Geleit erschleichen
Die wanderte flussaufwärts weiter faulte nicht
in ihren Gräten längst getrennt von Haar und Haut |
Danke wieder, fürs Lesen und Be-schreiben.
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