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Erzählperspektive - Sprachniveau

 
 
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Nordlicht
Geschlecht:weiblichWaldschrätin


Beiträge: 3761



Beitrag21.02.2018 15:50

von Nordlicht
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VwieMargarita hat Folgendes geschrieben:
Nordlicht, ich habe gerade recherchiert und gesehen, dass Stef Penney das Buch schrieb, ohne davor in Kanada gewesen zu sein. Mit dem Beispiel könntest du in dem anderen Thread beitragen, wo es darum geht, ob man als Autor, um eine Handlung an einen bestimmten Ort zu platzieren, unbedingt dort gewesen sein muss. Very Happy


Ja, wobei es ungemein hilft, dass es sich bei ihrem um einen historischen Roman handelt - ich denke, das ist noch mal ganz was anderes, als wenn man ein modernes Setting hat, das Leser wiedererkennen können.


_________________
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VwieMargarita
Geschlecht:weiblichWortedrechsler
V

Alter: 40
Beiträge: 56
Wohnort: Remarque-Stadt


V
Beitrag22.02.2018 17:38

von VwieMargarita
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Stimmt, wohl kaum einer weiß es noch, wie es dort im 19. Jahrhundert war.

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"Sobald du dir vertraust, sobald weißt du zu leben".
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Abari
Geschlecht:männlichAlla breve

Alter: 43
Beiträge: 1838
Wohnort: ich-jetzt-hier
Der bronzene Durchblick


Beitrag22.02.2018 19:04

von Abari
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Hey,

ich weiß nicht so recht.

Argumente wie: "Verlage sehen das als Fehler an" und "Das macht man einfach nicht" reizen mich, es gerade auszuprobieren. Denn Verlage sehen auf Verkaufszahlen und sicher wird so ein Buch vermutlich kein Bestseller, weil er von den Leser_innen viel mehr abfordert als ein in der Perspektive bleibendes. Und was man nicht macht, ist mir wurscht, gelinde gesagt; weil es ganz darauf ankommt, ob es zur Textlogik passt. Es gibt Stoffe, die schreien förmlich nach solchen Brüchen. Da ich ein vorsichtiger Mensch bin, gebe ich keine Beispiele, um nicht eine Debatte über die Wertigkeit und Gefährlichkeit der Stoffe vom Zaun zu brechen. Es sind auf jeden Fall keine feinen.

Ich sehe natürlich die Gefahr, dass es misslingen könnte, weil es entweder schlecht gemacht ist oder noch andere Unsicherheiten in der Bearbeitung des Stoffes liegen. Aber wie gesagt: Gut geplant und gemacht und textimmanent verständlich könnte das durchaus eine literarische Bereicherung darstellen. Allerdings ist dieses Eisen nichts für einasse Anfänger, glaube ich...

Aber haben sich beispielsweise die Kubisten um die Perspektive geschert? Oder Paul Klee? Die beherrschten sie, aber um etwas wirklich Neues zu schaffen, traten sie aus den gewohnten Gleisen heraus. Was können wir denn noch kunstvolles erfinden, was unsere Leserohren öffnet?
Mit Konventionen komme ich da nicht weiter, denn die sind "steif geschlagenes Denken" (E.A.Rauter). Ich möchte dem traditionell geschriebenen Roman nichts absprechen, er hat sehr viele Freunde und wird sicher am Markt gut vorne platzierbar sein. Aber meine Vorstellungen von einem Kunstroman erfüllt er nicht unbedingt. Denn die Aufgabe von Kunst ist nicht, wiederzukäuen, sondern voranzuschreiten. Und da lasse ich mir nicht die Perspektive vorschreiben, nicht einmal von mir selber.

Freilich ist es schön, sich in eine reinzukuscheln und dann aus ihr zu schreiben. Aber das als "richtig" zu postulieren und alles andere als "falsch" abzutun halte ich für einen großen Fehler. Genauso könnte ich den unzähligen Autoren, die eine Perspektive einhalten, Langeweile unterstellen oder mangelnde Kunstfertigkeit. Das wäre genauso dreist.

Wie Ihr seht, finde ich bei längerem Nachdenken die Idee immer verlockender, mit der Perspektive zu spielen. Ob mir das gelingt und das Ergebnis überzeugt, steht auf einem ganz anderen Blatte, nämlich dem beschriebenen. Und ich glaube, ich schreibe vorher erst einmal konventionell, um sicherzustellen, dass ich die Perspektiven alle wirklich beherrsche.


_________________
Das zeigt Dir lediglich meine persönliche, höchst subjektive Meinung.
Ich mache (mir) bewusst, damit ich bewusst machen kann.

LG
Abari
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Ferryberry
Erklärbär


Beiträge: 4



Beitrag03.03.2018 11:45

von Ferryberry
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Ruby Smith hat Folgendes geschrieben:
Als Erzählperspektive werden die drei Erzähltypen bezeichnet: Auktorial (allwissend), Personal (aus der Sicht von Charakteren) und Ich-Erzähler (aus der Sicht eines Charakters).


Und was ist mit dem "eingeschränkt auktorialen Erzähler"? Die Definition in James Freys "Wie man einen verdammt guten Roman schreibt" ist folgende: "Der Autor nimmt für sich ds Recht in Anspruch, in die Köpfe bestimmter Figuren hineinzusehen, und in die anderen nicht. Die auserwählten Figuren [...] bezeichnet man als personale Erzähler." Der Erzähler kann hier (durch das Auktoriale) auch von Ereignissen berichten, die über das Blickfeld des/der personalen Erzähler hinausgehen.

Meine ganz persönliche Meinung zu dem Thema: Lasst den Erzähler erzählen, wie es ihm gefällt. Das passt schon.
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Ruby Smith
Geschlecht:weiblichReißwolf

Alter: 33
Beiträge: 1180
Wohnort: Kenten


Beitrag03.03.2018 12:24

von Ruby Smith
Antworten mit Zitat

Ferryberry hat Folgendes geschrieben:
Ruby Smith hat Folgendes geschrieben:
Als Erzählperspektive werden die drei Erzähltypen bezeichnet: Auktorial (allwissend), Personal (aus der Sicht von Charakteren) und Ich-Erzähler (aus der Sicht eines Charakters).


Und was ist mit dem "eingeschränkt auktorialen Erzähler"? Die Definition in James Freys "Wie man einen verdammt guten Roman schreibt" ist folgende: "Der Autor nimmt für sich ds Recht in Anspruch, in die Köpfe bestimmter Figuren hineinzusehen, und in die anderen nicht. Die auserwählten Figuren [...] bezeichnet man als personale Erzähler." Der Erzähler kann hier (durch das Auktoriale) auch von Ereignissen berichten, die über das Blickfeld des/der personalen Erzähler hinausgehen.

Meine ganz persönliche Meinung zu dem Thema: Lasst den Erzähler erzählen, wie es ihm gefällt. Das passt schon.


Dann ist er immer noch ein personaler Erzähler und kein Auktorialer. Die von dir zitierte Definition sagt auch nichts anderes aus, als dass ein Erzähler, der nur in die Köpfe bestimmter Figuren schaut (sich also auf das Innenleben einzelner Figuren beschränkt) ein personaler Erzähler ist.
Auktorial heißt (wie ich oben schon schrieb [und Fuchsia auch]), dass der Erzähler allwissend ist und von ober herab erzählt.

Ein Beispiel zum klareren Verständnis:

Heribert fühlte sich unwohl in seiner Haut.

[...] (Kapitelende)

Isa wusste nicht, ob sie lachen oder weinen sollte.

Personaler Erzähler.


Heribert fühlte sich unwohl in seiner Haut und bald würde auch klar werden, warum, denn wenige Minuten später fuhr ein roter Passat auf den Parkplatz vor seinem Haus und seine Noch-Ehefrau Elke stieg heraus. Sie hatte nur eines im Sinn, Heribert noch einmal richtig glücklich machen, bevor sie ihm den Todesstoß - die Scheidung - versetzte.

Isa wusste nicht, ob sie lachen oder weinen sollte, denn der Brief ihres Partners André, welcher sich just in diesem Moment mit einer anderen Frau vergnügte, war voller romantischer Botschaften und Liebesbeweise. Isa war so glücklich mit André, doch das machte ihr Angst. Nichtsdestoweniger würde sie ihn in wenigen Stunden um seine Hand bitten, ohne jedoch zu wissen, dass er sie abweisen würde.

Auktorialer Erzähler


_________________
I'd like to add some beauty to life. I don't exactly want to make people know more... though I know that is the noblest ambition, but I'd love to make them have a pleasanter time because of me... to have some little joy or happy thought that would never have existed if I hadn't been born.

(Anne Shirley - Anne of Green Gables, Lucy Maud Montgomery)
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Ferryberry
Erklärbär


Beiträge: 4



Beitrag03.03.2018 15:37

von Ferryberry
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Hallo Ruby und alle anderen Mitleser!

Auktorial heißt allwissend, klar.
Unter "personaler Erzähler" verstehe ich, dass der Erzähler in einen Kopf schauen kann, von dem berichten kann, was diese Person tut, was sie sieht ..., aber auch, was sie denkt. Also so was wie ein Ich-Erzähler, nur halt in der dritten Person.
Aber kann ein personaler Erzähler auch von Ereignissen erzählen, die über sein Blickfeld hinausgehen? Zum Beispiel: "Am anderen Ende der Stadt fiel gerade ein Sack Reis um"? Da war mein Verständnis bisher anders.
Der "eingeschränkt auktoriale Erzähler" kann das. Weil er halt allwisssend ist. Er ist zwar allwissend, aber er erzählt nicht alles, was er weiß, sondern er schränkt sich auf personale Sicht von einer oder mehreren Personen ein und gibt noch Informationen von außen hinzu.
Der rein auktoriale Erzähler weiß alles und erzählt auch alles, aus den Köpfen von allen Personen.

Zu den bisher genannten Erzählperspektiven kommen auch noch andere. Oder hattet ihr die "objektive Erzählperspektive" schon? Das wäre die reine Außensicht, Reportersicht, kein in-die-Köpfe-schauen.

Grüße,
Ferry
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Ruby Smith
Geschlecht:weiblichReißwolf

Alter: 33
Beiträge: 1180
Wohnort: Kenten


Beitrag03.03.2018 21:25

von Ruby Smith
Antworten mit Zitat

Ferryberry hat Folgendes geschrieben:
Hallo Ruby und alle anderen Mitleser!

Auktorial heißt allwissend, klar.
Unter "personaler Erzähler" verstehe ich, dass der Erzähler in einen Kopf schauen kann, von dem berichten kann, was diese Person tut, was sie sieht ..., aber auch, was sie denkt. Also so was wie ein Ich-Erzähler, nur halt in der dritten Person.
Aber kann ein personaler Erzähler auch von Ereignissen erzählen, die über sein Blickfeld hinausgehen? Zum Beispiel: "Am anderen Ende der Stadt fiel gerade ein Sack Reis um"? Da war mein Verständnis bisher anders.
Der "eingeschränkt auktoriale Erzähler" kann das. Weil er halt allwisssend ist. Er ist zwar allwissend, aber er erzählt nicht alles, was er weiß, sondern er schränkt sich auf personale Sicht von einer oder mehreren Personen ein und gibt noch Informationen von außen hinzu.
Der rein auktoriale Erzähler weiß alles und erzählt auch alles, aus den Köpfen von allen Personen.

Zu den bisher genannten Erzählperspektiven kommen auch noch andere. Oder hattet ihr die "objektive Erzählperspektive" schon? Das wäre die reine Außensicht, Reportersicht, kein in-die-Köpfe-schauen.

Grüße,
Ferry


Ein personaler Erzähler kann nur das sehen, was in ihm ist und was innerhalb seines Umkreises passiert (also alles in Sichtweite, sozusagen).  Harry Potter ist dafür ein gutes Beispiel, denn der Erzähler erzählt nur auf der Basis des Wissenstandes der Figur, deren Geschichte er gerade erzählt, und was diese gerade erlebt, weiß aber nicht, was zu diesem Zeitpunkt in einem anderen Charakter oder an einem anderen Ort vorgeht.

Es gibt keine "eingeschränkte auktoriale Erzählperspektive". Der Erzähler ist und bleibt auktorial, denn er ist immer noch allwissend. Nur weil er nicht alles erzählt, beschränkt er sich ja nicht (und er muss auch nicht alles erzählen, was er weiß). Sobald er eine personale Sicht einnimmt, wird er zum personalen Erzähler und damit kann er nicht mehr auktorial sein, ergo nicht mehr allwissend und von oben herab.

Die "objektive Erzählperspektive" ist ebenfalls der auktorialen Erzählperspektive zuzuordnen, denn der Erzähler ist hier ebenfalls allwissend, denn er weiß alles, was um ihn herum passiert (er teilt nur nicht mit, was im inneren der Charaktere vorgeht) und schaut von oben herab auf das Geschehen (neben allwissend ist dies ebenfalls ein Indiz für einen auktorialen Erzähler).


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Ferryberry
Erklärbär


Beiträge: 4



Beitrag05.03.2018 14:02

von Ferryberry
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Hallo!

Es gibt keine "eingeschränkte auktoriale Erzählperspektive"? Dann ist also alles Quatsch, was James N. Frey in seinem Schreibratgebern erzählt? Der Mann hat ja nur Creative Writing an amerikanischen Unis gelehrt - was kann der denn wissen, nicht?

Ich sehe schon, diese Diskussion ist sinnlos.
Entweder decken sich unsere Begrifflichkeiten nicht (ich definiere vermutlich die Perspektiven anders als du, auktorial, nach Frey: "Wenn dargestellt wird, was sich in den Köpfen sämtlicher Figuren abspielt, wird die Geschichte von einem allwissenden/auktorialen Erzähler erzählt." Sämtlicher!), oder du bist wirklich davon überzeugt, dass der Erzähler, der einen Sack Reis am anderen Ende der Stadt umfallen sieht, nicht gleich darauf in die Gedanken- und Gefühlswelt eines personalen Erzählers eintauchen darf. So was machen ja nur unzählige Autoren in unzähligen Büchern.

Ich klinke mich aus dieser Diskussion aus.

Grüße,
Ferry
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Murmel
Geschlecht:weiblichSchlichter und Stänker

Alter: 68
Beiträge: 6380
Wohnort: USA
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Beitrag05.03.2018 15:01

von Murmel
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Ah, ja, die Unterschiede zwischen der Lehre und der Anwendung, aber auch, was in USA und in Deutschland gelehrt wird.

Der auktoriale Erzähler ist immer allwissend, er ist der Märchenerzähler, der eine Geschichte im Rückblick erzählt, sie nach eigenem Gutdünken färbt und den Figuren Gedanken und Gefühle aus seiner Sicht zuschreibt. Diese kann zutreffen - oder auch nicht.

Wenn er sich nun einschränkt, ändert das nichts an der Tatsache, dass er allwissend ist.

Im amerikanischen Bereich ist das "Headhopping" verpönt, dafür sehen Verlage gerne den "deep POV". Alles Begriffe, die wir im deutschen Sprachraum nicht haben. Deutsche oder französische Abhandlungen über Theorien der Perspektive nützen in USA nichts. Daher entstehen dort eigene Interpretationen, ob die nun richtiger oder falscher sind?  Schon wenn ich Stenzel und Genette miteinander vergleiche, komme ich zu dem Schluss, dass Autoren die Perspektive wählen sollten, die am besten zu ihrer Geschichte passt.

Ich bin ein Fan der personalen, und zwar strikt, und doch füge ich ab und an einen theoretischen (oder diskutierbaren) Perspektivbruch hinzu, wenn es die Geschichte erfordert. Da die deutschen Leser hauptsächlich mit dem auktorialen Erzähler gefüttert werden, fällt ihnen das nicht einmal auf. Behaupte ich mal.
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Willi Wamser
Gänsefüßchen


Beiträge: 47



Beitrag05.03.2018 20:25
Perspektivenstaffelung - Erlebte Rede im "Doppelgänger" von Dostojewski
von Willi Wamser
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Perspektivenstaffelung und Überlagerung - Erlebte Rede im "Doppelgänger" von Dostojewski

Bitte den germanistischen Code halbwegs akzeptieren... Sad

(1) Erzähler, Akteur/Figur, Innenschau

Wir haben es in der folgenden Passage mit einem Er-Erzähler zu tun, ein Ich spricht über ein Fremd-Ich. Beim Rezipieren  finden wir bei diesem Ich eine gewisse Überschau und auch einen Rückblick, wir haben nicht den Eindruck, dass hier der Akteur G spricht. Dem fehlt jegliches Zeichen des Erzählens, vielmehr ist G eine Art Reflektorfigur, ohne Erzählbewusstsein, er steckt ja mitten in den Ereignissen drin. Von einem Erzähler G  im weiteren Verlauf zu sprechen wirkt da ein wenig befremdlich.

Zitat:
Wenden wir uns lieber Herrn Goljadkin zu, dem einzigen und wahren Helden unserer durchaus wahrheitsgetreuen Erzählung. Die Sache ist die, dass er sich jetzt in einer sehr seltsamen Lage, um nicht mehr zu sagen, befindet. Er ist, meine Herrschaften, auch hier, das heißt: nicht direkt auf dem Ball, aber doch so gut wie auf dem Ball; er ist, meine Herrschaften, ganz in Ordnung; er befindet sich, wenngleich er ein Mensch für sich ist, in dieser Minute auf einem nicht ganz geraden Weg; er steht jetzt – es ist sogar seltsam, das zu sagen –, er ...


Unser (auktorialer) Erzähler nimmt ja - das ist die differentia specifica - erkennbar Kontakt mit dem Leser ("Herrschaften") auf, spricht von einer "Geschichte" und besitzt so - das ist unsere implizite Folgerung - das Wissen um die Person und den Verlauf der Ereignisse. Allerdings schöpft er diese Überschau nicht aus. Vielmehr deutet er allenfalls an, wie es um die Figur des G steht. Und er konzentriert sich - trotz seines Wissens um die Geschichte - im Präsens ganz auf die aktuelle Szene.

Immerhin könnte es sein, dass wir uns hier nicht nur in der Perspektive des Erzählers befinden, sondern eben auch in der Perspektive des Akteurs, aber wieder nicht in einer Perspektive, die den Kommunikationsraum zwischen Erzähler und Rezipient nutzt. Vielmehr ist sein, des Akteurs, Gedankengang überformt vom Erzähler. Der hat offensichtlich Zugang zur Innenwelt seiner Figur:

Zitat:
er kann, meine Herrschaften, auch eintreten… warum auch nicht? Er braucht nur einen Schritt zu tun, und er tritt ein, tritt höchst geschickt ein.


(2) Direktheit und Indirektheit

Wenn das so ist, dann gibt sich der Erzähler in seinem Interesse zu erkennen, den Akteur und seine Psyche zu entfalten, ihn psychographisch transparent zu machen, ohne dabei das Heft ganz aus der Hand zu geben.

In der ersten Fassung des Romanes hat Dostojewski sehr viel expliziter gearbeitet und seinen Erzähler hat er entsprechend den  Leser stärker informieren lassen:

Zitat:
Wir wollen hier beiläufig eine kleine Besonderheit des Herrn Goljadkin vermerken. Es handelt sich darum, dass er es sehr liebte, manchmal gewisse poetische Überlegungen bezüglich seiner selbst anzustellen, dass er es liebte, sich zuweilen zum Helden eines höchst verwickelten Romans zu ernennen, sich in Gedanken in verschiedene Intrigen und Schwierigkeiten zu verstricken, um sich schließlich – alle Hindernisse beseitigend, die Schwierigkeiten meisternd und seinen Feinden großmütig verzeihend – aller Unannehmlichkeiten mit Ehre zu entledigen. (Der Doppelgänger, 1. Fassung 1846).


Eben diese starke Überschau hat der Autor in der zweiten Fassung vermieden, so ist uns mehr an Entdeckungsarbeit und Entdeckungsvergnügen überlassen. Aber wir haben trotzdem einige Hinweise, die uns nicht ganz im Ungewissen und  dann total irritiert lassen.

 Der Titel „Dvonik“ deutet ja berits sehr früh die Existenz von zwei Ichen an, die sich sehr ähnlich sehen. Dass dabei die herkömmliche Semantik von „Doppelgänger“ – zwei Figuren, zwei Iche,  im Aussehen verwechselbar ähnlich – leicht unterlaufen wird, ist durchaus möglich.  Zwei Iche in einer Figur, diese Vermutung  dürfte jedenfalls beim Leser unter der Prämisse des Romantitels und der genaueren Lektüre der folgenden Passage an Geltungskraft gewinnen:

Zitat:
(1) Da wartet er nun, meine Herrschaften, mucksmäuschenstill und wartet geschlagene zweieinhalb Stunden.
(2) Weshalb sollte er auch nicht warten?
(3) Hat doch selbst Villèle abgewartet.
(4)„Was soll hier der Villèle!“ dachte Herr Goljadkin, „was hat das mit Villèle zu tun?
(5) Wie wenn ich jetzt da einfach mal … reingehen würde?…
(6) Ach, du Figurant, du verdammter! […]“. (Dostoevskij, I, 132)


Die These von den latenten Hiweisen auf eine psychische Deformation  wird auch leise unterstützt von der Semantik des sprechenden Namens.  Das russische golod: Hunger, golyj: nackt, kahl signalisiert einen armen Schlucker, der sich sozial und mental in einer bedrückenden Lage befindet und vielleicht eben deswegen in seinen Handlungen und Gedankengängen den Ausweg in illusionären Vorstellungen sucht, deren Realitätsgehalt  zumindest sehr zweifelhaft ist.

(3) Skalierung in der Erzählperspektive

Akzeptiert man dies, also die Gefahr einer Verkennung der inneren und äußeren Lage (Hamartia),so ist auch bereits vor der figureneigenen Entdeckung und Anagnorisis recht wahrscheinlich, dass sich in der oben zitierten Passage in (1) der Er-Erzähler vergleichsweise dominant äußert, dass er in den folgenden Sätzen seinen Anteil reduziert und zurücktritt, immerhin  noch ein wenig spürbar in der erlebten Rede von (2) und (3). Dann in der direkten Gedankenrede von (4) bis (6) noch weiter sich zurücknehmend.

Nun sind die Passagen von (2) und (3) explizit widersprüchlich zu (4) bis (6). Das kann nun einfach ein dialektischer, prüfender Gedankengang  derselben Figur sein, das kann aber  ein Beleg für das das doppelgängerisch-kontradiktorische Figurenmodell sein, das sich im Titel andeutet und im Verlauf der Erzählung immer wahrscheinlicher wird.

Die Schlussepisode mit unserem (Cool) deutschen Doktor Krest’jan Ivanovič Rutenšpic (Rutenspitz) zeigt denn auch die wohl jetzt vorhandene Kenntnis der psychiatrischen Situation und die Vorahnungen unserer Hauptfigur in der Ereigniskette, die uns der Autor mit Hilfe seines Er-Erzählers und dessen psychographischen Erzählens nahe gebracht hat. Uns so endet der Roman  mit einer "double voice" und in der erlebten Rede:

O weh! Das hatte er schon lange geahnt!


Zitat:
,, Sie bekommen vom Staat Wohnung, mit Brennholz, Licht und Bedienung, wessen Sie gar nicht wert sind “, ertönte streng und furchtbar, wie ein Urteil, die Antwort Krest’jan Ivanovičs. Unser Held schrie auf und griff sich an den Kopf. O weh! Das hatte er schon lange geahnt! (Der Doppelgänger, 2. Fassung 1866; Dostoevskij, I, 229)






Bonustrack Nivea und Doppelgänger

https://youtu.be/Dw6wHOlRP3M?t=12


ww
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Willi Wamser
Gänsefüßchen


Beiträge: 47



Beitrag07.03.2018 22:43
Praxis der Perspektiven- und Standortreise
von Willi Wamser
Antworten mit Zitat

Vielleicht kann man hier das Spiel mit der Perspektive/Fokalisierung zeigen und damit die variable Kameraführung erzählender Präsentation:

Zitat:
Der alte Mann saß in der Früh leicht verkatert am Schreibtisch. Ach ja, die halbe Flasche Wein von gestern Abend. Oder doch eine ganze? Er war halt nicht mehr der Jüngste. Gedächtnis, Kondition. All das. Er öffnete, um sich vom Kopfweh abzulenken, den Laptop, griff dann zu Kaffeetasse daneben. Auf dem Bildschirm erschien die Internetausgabe der Neuen Züricher Zeitung, seriös, staubtrocken, schweizerisch-penibel – von Politik über Feuilleton bis hin zum Sportteil. Nüchtern-ernüchternd. Sowas brauchte er jetzt. Vorsichtig schlürfte er den heißen Kaffee und setzte aufmerksam geworden die Tasse ab, als er auf folgende Passage stieß:


Der alte Mann saß in der Früh leicht verkatert am Schreibtisch.
Ein Er-Erzähler (Ein Ich erzählt dem Leser über ein Fremdich, heterodiegetischer Erzähler), setzt das Imperfekt, hat also einen gewissen Überblick durch Rückblick. Bringt keine Raffung oder Kommentare wie es auktoriale Er-Erzähler mittels Null-Fokalisierung gerne machen. Also szenische/neutrale Darstellung/externe Fokalisierung überwiegend.

Ach ja, die halbe Flasche Wein von gestern Abend.
Emotionale Interjektion, Verzicht auf ein Verb und das präteritale Tempussignal, also Vergegenwärtigung. In der Sprache eine gewisse Saloppheit. Also nimmt sich der überformende, durchformulierende Er-Erzähler des Anfangs zurück.

Oder doch eine ganze?
Wieder die Ellipse des Verbs. Eine Frage, die sich der Akteur stellt, der Erzähler gibt das nur wieder, was dem Akteur durch den Kopf geht. Stille Gedankenrede.

Er war halt nicht mehr der Jüngste. Gedächtnis, Kondition. All das.
Rückkehr des Präteritums in "war" und damit eine gewisse Rückkehr der Überschau und des Rückblickes, aber das Redensartliche, die drei bis vier  folgenden Stichworte Gedächtnis, Kondition. All das zeigen für diesen Teil der Passage deutlich, kaum mehr szenisch/neutrales Erzählen, dafür personales erzählen, entsprechende Fokalisierung (interne Fokalisierung), Introspektion/Innenschau, zeitdeckende Psychographie.

Er öffnete, um sich vom Kopfweh abzulenken, den Laptop, griff dann zu Kaffeetasse daneben. Auf dem Bildschirm erschien die Internetausgabe der Neuen Züricher Zeitung, seriös, staubtrocken, schweizerisch-penibel – von Politik über Feuilleton bis hin zum Sportteil.
Raus aus der Introspektion, eher szenische Präsentation.

Nüchtern-ernüchternd. Sowas brauchte er jetzt.
Anklänge von psychographischer Präsentation und erlebter Rede.

Vorsichtig schlürfte er den heißen Kaffee und setzte aufmerksam geworden die Tasse ab, als er auf folgende Passage stieß:
szenische Präsentation





Hektor sieht durch seine Helmschlitze Achilles.
Ein spezieller Fall interner Fokalisierung: personengebundene Wahrnehmung der Außenwelt.
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pna
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Paterson
Beitrag04.04.2018 11:50

von pna
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Fuchsia hat Folgendes geschrieben:
Wenn du einmal die Geschichte aus der Erzählperspektive eines auktorialen Erzählers gestartet hast, dann kannst du diesen Erzähler nicht mehr wechseln: er ist es, der die ganze Geschichte erzählt, nicht die Figuren. Er kann sich hineinversetzen in diese Figuren und in der wörtlichen Rede und in den Gedanken der Figuren hören, dass diese einen anderen Sprachschatz benutzen als er, aber die gesamte Geschichte muss im Duktus und Sprachfluss dieses einen, übergeordneten Erzählers bleiben.

Wenn du das nicht möchtest, empfehle ich dir, die Geschichte aus abwechselnden personalen Perspektiven (die Figuren erzählen ihre eigene Geschichte und wechseln sich dabei ab) zu erzählen.



Das ist so nicht richtig. Gerade das Wechseln der Erzählperspektive und der erzählenden Person ist ein literarisches Stilmittel, ohne das die Literatur ziemlich fad aussähe.

Allein bei Moby Dick gibt es den Wechsel von der ersten Person in den auktorialen Erzähler mit dem Satz: Nennt mich Ismael.

Der vom Schriftsteller eingesetzte virtuelle Erzähler ist beweglich und flexibel. Er kann außerhalb des Handlungsbogens sein oder innerhalb, er kann in der Zeit springen und von Person zu Person, er kann nahe sein oder fern - und natürlich kann ertrügersich und unzuverlässig sein (Peter Straub: Das Haus der bllinden Fenster)

Lasst Euch nicht von hanebüchenen Schreibratgebern stilistisch einengen Smile

Liebe Grüße,
Peter
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pna
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Alter: 59
Beiträge: 1610
Wohnort: Wien, Ottakring


Paterson
Beitrag04.04.2018 11:55

von pna
Antworten mit Zitat

Ferryberry hat Folgendes geschrieben:
Hallo!

Es gibt keine "eingeschränkte auktoriale Erzählperspektive"? Dann ist also alles Quatsch, was James N. Frey in seinem Schreibratgebern erzählt? Der Mann hat ja nur Creative Writing an amerikanischen Unis gelehrt - was kann der denn wissen, nicht?

Ich sehe schon, diese Diskussion ist sinnlos.
Entweder decken sich unsere Begrifflichkeiten nicht (ich definiere vermutlich die Perspektiven anders als du, auktorial, nach Frey: "Wenn dargestellt wird, was sich in den Köpfen sämtlicher Figuren abspielt, wird die Geschichte von einem allwissenden/auktorialen Erzähler erzählt." Sämtlicher!), oder du bist wirklich davon überzeugt, dass der Erzähler, der einen Sack Reis am anderen Ende der Stadt umfallen sieht, nicht gleich darauf in die Gedanken- und Gefühlswelt eines personalen Erzählers eintauchen darf. So was machen ja nur unzählige Autoren in unzähligen Büchern.

Ich klinke mich aus dieser Diskussion aus.

Grüße,
Ferry


Sorry, aber wer Frey ernst nimmt und sich an seinen Plattitüden orientiert, hat nichts besseres verdient, als eindimensionale Langeweile. Der hat sich nur deshalb so gut verkauft, weil er den Schreibanfängern durch seine o815-Tipps suggerierte, dass das Verfassen von Literatur (Sei es nun Spannungs- oder ernste Literatur) nicht komplizierter sei als das, was er mit seinen Taschenspielertricks abzudecken vermag. Als Schriftsteller von Literatur ist er jedenfalls nie auffällig geworden.

Liebe Grüße,
Peter
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