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Die Brücke


 
 
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Defector
Schneckenpost


Beiträge: 6



Beitrag21.04.2017 20:06
Die Brücke
von Defector
eBook pdf-Datei Antworten mit Zitat

Es hätte ein langer Tag werden sollen, ein erschöpfender Tag, voll physischer Plackerei um den Körper endlich in den erlösenden Schlaf zu zwingen.
Seit sie gestorben war, hatte er den halben Wald abgeholzt und zu Brennholz verarbeitet. Er hatte sich um ihr Grab gekümmert, war mehrere Male
weinend darauf zusammengebrochen, zwischendurch kilometerweit gerannt, hatte stundenlang auf Parkbänken gesessen und zitternd Löcher in die
Luft gestarrt. Er hatte den Garten umgegraben, den Schuppen aufgebaut, hatte den Zaun repariert, die Hecke geschnitten, die Hauswand neu ange-
strichen und den verschlammten Brunnen ausgepumpt. Doch nichts hatte die Schlaflosigkeit überwältigen können; mehr und mehr versank er in
einem fortbestehenden Dämmerzustand.

Viertel nach fünf und schönes Wetter. Er hackte abermals Eschenstämmen in zwei und es war wahrscheinlich, dass seine Axt bald nicht mehr nur das
Holz treffen würde. Rhythmisch sauste sie nieder, während er, vom Grauen hypnotisiert, den Unfall bei jedem Ausholen vor sich sah.

Das elendige Gedudel des Radios im Hintergrund nahm er kaum wahr, bis es von einer Eilmeldung des Verkehrszentrums unterbrochen wurde.
... Seien Sie vorsichtig: Auf der A7 nähe Heidesheim werden Gegenstände auf die Fahrbahn geworfen. Auf der A7 nähe Heidesheim werden
Gegenstände auf die Fahrbahn geworfen.

Er erstarrte. Phil Collins sang längst weiter, da stand er immer noch da, steif und betäubt und wie in Stein gemeißelt. Doch innerlich hatte eine
explosionsartige Freisetzung von Adrenalin stattgefunden. Seine rechte Hand griff unmerklich fester um den Schaft der Axt.  
In Zeitlupe spürte er die harte Kontraktion seines Herzens. Bum. Bum. Bum. Dann lief er los.

Die Dorfbewohner sahen den Mann, in seinem Holzfällerhemd, dreckig und mit ungepflegtem Haarwuchs durch die Straßen eilen. Er schien entschlossen.
Und er hatte eine Axt in der Hand. Doch mehr als etwas Mitleid weckte das nicht in ihnen. Er konnte ja doch keiner Fliege was zuleide tun und seit
seine Frau bei diesem schrecklichen Unglück ums Leben gekommen war, wütete er sich eben im Wald aus. Sie sahen, wie er durch die Rosenstraße lief,
in die Dreitaubengasse einbog und in Richtung Autobahnbrücke verschwand, die direkt an den nächsten Wald angrenzte. Wahrscheinlich brauchte er noch
mehr Feuerholz für den Winter. Wahrscheinlich brauchte er einfach nur ein bisschen Ablenkung. Wer konnte es ihm schon verübeln.

Schon von weitem hörte er das dreckige Gelächter. Es war Alkohol mit im Spiel und die Flaschen klirrten. Jemand grölte. Er spürte Hass. Seine Schritte
wurden schneller.

Die Jugendlichen sahen ihn erst spät kommen. „Hey, hey!“, rief einer. „Da kommt ein Verrückter.“ Sie schrien ihm irgendwas zu. Spuckten auf den Boden.
Dann sahen sie die Axt.

Der Mann fing an zu rennen. Er hatte den riesigen Stein entdeckt, der nicht weit von der Menge entfernt da lag, ruhig und unschuldig. Wahrscheinlich von
einer nahegelegenen Baustelle. Ein Halbwüchsiger mit einer roten Kappe hatte es sich auf ihm bequem gemacht und auf den konzentrierte er sich.
„Alter, der kommt direkt auf uns zu“, rief jemand. Die Menge stob auseinander. Der Junge auf dem Stein war der langsamste. Er wollte aufstehen und
rennen. Seine Hose rutschte ihm unter den Arsch; er wollte sie festhalten, stolperte, zog sich am Geländer hoch, da packte ihn schon die große, raue
Hand am Hals und drückte seinen Körper in das kalte Metall, die Axt presste mit stumpfer, fester Kraft in den Bauch. Hass und Wut und purer Terror
starrten dem Jungen ins Gesicht, während sich seine Freunde mit großen Lärm entfernten. Er war mit dem Mann allein.

„Weißt du wer ich bin?“ fauchte der ihn an.
„Nein“, kam es wie ein Piepsen aus dem Jungen heraus.
„Ich weiß aber, wer du bist“, sagte der Mann und spuckte ihm ins Gesicht. „Du hast meine Frau umgebracht.“
„Was?“
„Du hast den Stein geworfen. Der Stein, der in ihre Windschutzscheibe geknallt ist. Ihr Auto hat sich überschlagen. Sie hat sich gedreht, sich geschleudert,
ist in den Gegenverkehr geknallt und kein Airbag und kein Anschnallgurte konnten sie davor schützen, dass sich die Metallstange eines Lasters durch ihren
Kopf geschoben hat. Genau hier.“ Er gab ihm eine Kopfnuss vor die Stirn. „Genau da.“ Er legte seine Stirn an die seine und starrte ihn an. „Einmal durchs
Auge durch, du scheiß Bastard. Hab sie kaum noch erkennen können.“ Sein Gesicht verzog sich zu einer Grimasse. „Zwei Monate hat sie gekämpft.“
„Das tut mir Leid,“ stotterte der Junge. „Aber ich war das nicht!“
„Ach ja, und was machst du dann hier?“
„Wir haben hier nur getrunken.“
„Lüg nicht!“, schrie den Mann und drückte fester zu. Die Axt schob sich tiefer in den Bauch des Jungen und die Hand krallte sich in seinen Kehlkopf.
Röchelnd hing er über dem Geländer der Brücke und die Autos rasten unter ihm hindurch. Jemand hupte.
„Hat euch ein Leben nicht gereicht, ja? Müsst ihr noch mehr unschuldige Leben zerstören, weil euer eigenes so stinkt und fault. Ihr verdient es nicht
zu leben, ihr Parasiten.“
„Ich hab Ihrer Frau nichts getan! Ich war vorher nie hier!“
„Sie hat deine Kappe gesehen. Deine scheiß rote Kappe. Ihr habt mir alles genommen, du und deine Schweine von Freunden. Du bist nur der erste,
keine Sorge. Ich krieg euch alle.“

Er wollte ihm den Kopf abhacken. Jetzt. Hier. Doch bevor er ihn losließ gab er ihm einen Stoß und der Hass gab ihm so viel Kraft, dass der Junge das
Gleichgewicht verlor und kopfüber von der Brücke stürzte. Panisch schrie der, wirbelte mit seinen Armen und klatschte dann in die Windschutzscheibe
eines VW Polo. Die Scheibe barst. Das Auto überschlug sich, drehte sich, knallte in die Absperrung. Ein LKW schlug in das gedrehte kleine Auto ein.
Teile flogen über die ganze Straße, überall Vollbremsungen, Schlenker, Manöver, mehrere andere Autos krachten ineinander. Der Junge lag
bewusstlos am Straßenrand.

Der Mann auf der Brücke stand da und starrte. Alles Leben war aus ihm gewichen. Die Axt lag neben ihm auf dem Boden. Er war zu weit gegangen.
Seine Frau war einen VW Polo gefahren. Er sah das Chaos und er sah nur sie. Jetzt würde er in die Hölle kommen. Jetzt würde er brennen. Und sie,
sie war im Himmel. Er würde sie nie wieder sehen.

Er würde nicht mehr länger warten auf das Nachlassen des Schreckens, das würde nicht kommen. Wie sollte er ertragen, was nicht zu ertragen war?
Ein einziger fester Schlag war die Antwort.

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Vina
Geschlecht:weiblichWortedrechsler
V


Beiträge: 69
Wohnort: Bayern


V
Beitrag24.04.2017 00:14
Re: Die Brücke
von Vina
Antworten mit Zitat

Hallo Defector,

zunächst ist das natürlich ein Text, den man erst mal verdauen muss.
 
Ich finde du bringst das wirklich so rüber, dass man sich in den Mann mit der Axt hineinfühlt. Im Verlauf möchte man ihn dann aufhalten und kann letztendlich nur noch mit Entsetzen zusehen, wie das Schicksal seinen Lauf nimmt. Du beschreibst warum manche Menschen einfach irgendwann nicht mehr können und austicken. Eine grauenhafte Vorstellung, aber wie ich finde, auf den Punkt.

So und nun noch die ganz wenigen Fehlerchen, die mir aufgefallen sind:
Defector hat Folgendes geschrieben:
Es hätte ein langer Tag werden sollen,beziehst du das darauf, dass er schon um viertel nach Fünf  diese Radiosendung hört und nicht weiter Holz hackt, oder warum "hätte"? ein erschöpfender Tag, voll physischer Plackerei um den Körper endlich in den erlösenden Schlaf zu zwingen.

Viertel nach fünf und schönes Wetter. Er hackte abermals Eschenstämmen in zwei [/color] ich verstehe, was du meinst, aber der Satz stimmt so nicht und es war wahrscheinlich, dass seine Axt bald nicht mehr nur das
Holz treffen würde.

„Das tut mir Leid leid,“ stotterte der Junge. „Aber ich war das nicht!“
„Ach ja, und was machst du dann hier?“
„Wir haben hier nur getrunken.“
„Lüg nicht!“, schrie den der Mann und drückte fester zu.

Panisch schrie der, vielleicht lieber " panisch schreiend wirbelte er"?wirbelte mit seinen Armen und klatschte dann in die Windschutzscheibe
eines VW Polo.

Er würde nicht mehr länger warten auf das Nachlassen des Schreckens, das würde nicht kommen. Wie sollte er ertragen, was nicht zu ertragen war?
Ein einziger fester Schlag war die Antwort.Den Abschlusssatz finde ich nicht rund, habe aber aktuell keinen besseren Vorschlag.

Mir hat dein Einstand gefallen.

Lieber Gruß,

Vina
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Defector
Schneckenpost


Beiträge: 6



Beitrag24.04.2017 00:55

von Defector
pdf-Datei Antworten mit Zitat

Hallo Vina,

vielen Dank für dein Feedback!

Zitat:

Es hätte ein langer Tag werden sollen,beziehst du das darauf, dass er schon um viertel nach Fünf diese Radiosendung hört und nicht weiter Holz hackt, oder warum "hätte"?


Ich habe hier "hätte" geschrieben, weil der Mann kurze Zeit später Selbstmord begeht und der Tag daher doch schneller endet als gedacht. Aber ich verstehe, dass es nicht unbedingt der schlüssigste Einstieg ist und muss nochmal darüber nachdenken.

Zitat:
Er hackte abermals Eschenstämmen in zwei [/color] ich verstehe, was du meinst, aber der Satz stimmt so nicht

Ja, das stimmt. Er hackt sicher keine ganzen Stämme.

Zitat:
Den Abschlusssatz finde ich nicht rund, habe aber aktuell keinen besseren Vorschlag.

Auch hier bin ich deiner Meinung. Ich habe das Ende mehrmals umgeschrieben, ohne recht zufrieden zu sein und dachte, ich stelle den Text trotzdem rein, da ich doch noch recht wenig Übung mit dem Schreiben habe und es sicher noch einige Zeit dauert, bis ich zufriedenstellende Enden raus habe.

War jedenfalls schon mal sehr schön eine Resonanz zu haben.

Liebe Grüße
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Rainer Prem
Geschlecht:männlichReißwolf
R

Alter: 66
Beiträge: 1271
Wohnort: Wiesbaden


R
Beitrag24.04.2017 12:44

von Rainer Prem
Antworten mit Zitat

Hallo,

sehr gut.

drei Dinge: Einmal wird der Satz mit den Eschenstämmen verständlicher, wenn du "entzwei" schreibst statt "in zwei".

Zum zweiten ist "Seien Sie vorsichtig:" normalerweise nicht der Text im Radio. Ich habe den gerade nicht im Kopf ("Fahren Sie..."?), aber du solltest hier die richtige Formulierung verwenden, weil die jeder deiner Leser kennt.

Zum dritten würde ich mal ausprobieren, wie sich der Text verändert, wenn du "dem Mann" einen Namen gibst.

Grüße
Rainer
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Defector
Schneckenpost


Beiträge: 6



Beitrag25.04.2017 10:34

von Defector
pdf-Datei Antworten mit Zitat

Hallo Rainer,

danke für dein Feedback!
Das Wort 'entzwei' finde ich ganz wunderbar! Klingt gleich viel besser.
In meinem Radio habe ich schon öfter das: "Liebe Autofahrer, seien Sie vorsichtig" gehört, die Idee hatte ich auch genau an dieser Stelle, aber das ist sicherlich deutschlandweit anders.
Das mit dem Namen fällt mir, vor allem in der deutschen Sprache, immer recht schwierig. Ich finde, sehr oft klingen deutsche Namen in einer recht ernsten Geschichte lächerlich, Ulli, Thomas, Jonathan ... oft haben deutsche Namen in meinem Ohr einen verharmlosenden Eindruck.

Werde ich trotzdem mal versuchen.

Liebe Grüße
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