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Michel Bücherwurm
Alter: 52 Beiträge: 3374 Wohnort: bei Freiburg
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01.12.2016 20:00 Im Schleudergang von Michel
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Ein letzter Händedruck, dann nimmt er den Koffer auf und verlässt die Rezeption. Draußen. Wie heißt es, wenn die Kliniktür erst auf und dann zu ist? Egal.
Nicht egal. Überhaupt nicht egal.
Er zieht seinen Koffer hinter sich her, an der Schlange der wartenden Taxis vorbei in die Stadt, deren gleichmütiges Rauschen ihn empfängt, ohne ihn zu erkennen. Ohne ihn willkommen zu heißen.
Leute. Wie heißen Leute, wenn sie –
Passanten.
Training ist alles, behaupten sie. Also sagt er sich die Namen der Dinge vor, die ihm begegnen. Kackhaufen, Blumenbeete, Markisen, noch mehr Passanten, Schuhe, Regenschirme, Mäntel, Autos, Fahrräder, Bodenplatten, Bäckereien, Hundeleinen, Reisebusse, U-
U-Bahn. Ganz einfach.
Treppenstufen, Rollstufen? Er kommt nicht darauf.
Adjektive für Blicke: Abfällig, erschrocken, abwehrend, nichtssagend, leer, mitleidig, angeekelt, abgestoßen, angestrengt neutral.
Die Hand fährt in die Manteltasche. Taschentuch. Speichelfaden, Feuchte, Leinen, Karos, Bügelfalte, Beschämung, Demütigung. Mit der gesunden Hand packt er den Koffergriff und geht weiter, in diesem schwankenden Schleudergang, wie eine grotesk überfüllte Waschmaschine, die durch den Keller hüpft, oder als hätte er Jahrzehnte damit verbracht, sich auf Monty Python's Flying Circus vorzubereiten. Ministry of Silly –
Silly –
Walks. Englisch ist also auch weg. Das war der Logopädin gar nicht aufgefallen.
Kramers Stimme in der Physio, ungerührt: Das oder gar nichts. Nehmen Sie, was noch geht, und vergessen Sie den Rest. Viel wird da nicht mehr kommen, glauben Sie mir. Arbeiten Sie an der Sprache, die ist wichtiger als Walzertanzen.
Den Rest vergessen? Der weiß überhaupt nicht, was Vergessen ist. Kann es nicht wissen. Wie auch?
Wenn von einem –
Moment. Genau.
Wenn von einem Moment zum anderen ein Universum einfach erlischt. Wenn Telefonnummern weg sind, Adressen, der eigene Name, das Wort für das runde Ding an der Tür, das Wort für das eckige Ding mit den Tasten, das Wort für „Wort“. Weg, einfach weg, als hätte es sie nie gegeben. Stattdessen Schwindel, Verwirrung, Stammeln, Speichelfaden, Notarzt, Trage, Krankenhaus. Wie heißen Sie? Können Sie mich verstehen? Halbseitiges Nicken.
Er fährt die Rollstufen wieder nach oben. Keine U-Bahn heute. Lieber den Koffer einziehen – nachziehen? –, sich über die Räder ärgern. Splitt, Blockade, Schleifspur. Taube. Taubenkacke, nein: Kot.
Alles neu lernen, wie in der Klinik: Löffel halten, Mund zuhalten, Schlürfen, Sitzen, Stehen, Pinkeln, Urin heinhalten, Schleudergang, Sprache. Oder jedenfalls das bis zur Unkenntlichkeit verknappte Surrogat, das ihm geblieben ist, ein paar armselige, genuschelte Worte als Ersatz für das Universum, in dem er lebte. Von dem er lebte. Das er lebte. Hörsäle, Neonlicht, Seminare, blitzgescheite junge Menschen und jede Menge dumme. Diskussionen, Wortschlachten – nein, Wort-
Wortgefechte, das war es. Die eine oder andere erotische Phantasie des dirty old man, der er längst geworden ist, unerfüllt, aber egal. Sublimiert in Wort-
Gefechte.
Er vermeidet die überfüllte Fußgängerzone und nimmt Seitenstraßen. Backstreets. Dauert länger bis zu Hause, trainiert den Schleudergang und erspart ihm für kurze Zeit die Frage nach dem Danach. Jetzt ist jetzt. Gullyschlitz, Gusseisen, Randsteine, Teerbelag, Dreckpfütze, Schlagdings. Schlagloch.
Dings, das verhasste Wort, wird wohl sein ständiger Begleiter werden. Das gelbe Dings, das kleine Dings, er kann es schon hören, wie er nach Dingsen fragt und diese Blicke erntet. Aufmerksam, angespannt, mitleidig, angenervt, dis-
Diskrimi – dings. Da ist es schon.
Rolltore rasseln nach oben, Lieferwagen verschwinden in den Eingeweiden gesichtsloser Wirtschaftsgebäude oder rangieren rückwärts an Ladebuchten. Gas geben. Kardanwelle. Dieselruß. Sichtfenster. Pilztaster. Notschalter. Warnschilder. Straßenstaub. Spinnweben. Spinnweben? Netze?
Zu Hause nachsehen. Gibt ja sonst nichts zu tun im Moment.
Erst jetzt fällt ihm der Rhythmus auf, in den er sein krankes Bein zwingt. Gesundes Bein aufsetzen. Hüfte hebt sich auf der Gegenseite, gibt den Impuls, lässt das andere Bein nachschwingen. Das kranke Bein, das dünne Bein, schon jetzt. Auf-set-zen, Hüf-te-hoch, Schwing-nach-vorn, Dum-didel-dum. Besser keine Drehung tanzen jetzt, neben all den Pfützen und Schlag-lö-chern. Schleu-der-gang. Geht-doch-gut. Johann Strauß begleitet ihn den Straßenzug entlang und dirigiert die Suche nach dem verlorenen Sprachuniversum. Regenschirm, Unterstand, PKW, Kofferraum, eins-zwei-drei, Einmündung –
Das dünne Bein tritt ins Leere. Ein Arm krault durch die Luft, der andere zuckt nur, will seinen Besitzer abfangen, bereitet sich autonom aufs Unvermeidliche vor und hat doch keine Kraft, den Aufprall abzumildern.
Er wird wohl noch andere Rhythmen benötigen.
Hinterher wehrt er den hilfsbereiten Fahrer eines Transporters ab, der ihn nichtsdestotrotz wieder auf die Beine stellt und ein paar gut gemeinte Witze mit auf den Weg gibt. Nich schon am frühen Morgen picheln gehen, Vatti, oder kommse grade ers heim? Haha. Der Schlag auf die Schulter lässt ihn taumeln, dann braust der Witzbold im Transporter davon. Dieselruß. Pizzadienst. Fettgeruch.
Er sieht an sich herunter. Der Trenchcoat voller Schlammspritzer, die Hose am Knie aufgeschlagen, die Schuhe unversehrt. Immerhin. Noch.
Taschentuch. Spuckfaden. Abschürfung. Brennschmerz.
Brennschmerz? Zu Hause nachsehen.
Johann Strauß lässt ihn im Stich. Er pendelt nicht mehr im Walzerschwung, sondern schleppt sich voran, ein groteskes, holperndes Humpeln. Die Hüfte schmerzt, das Knie schlackert, die Blicke heften sich auf das schmale Asphaltfenster direkt vor seinen Füßen. Schlaglöcher. Aufpassen. Anhalten. Umsehen.
Er befindet sich keine zehn Gehminuten von seiner Wohnung – normale Gehminuten jedenfalls – trotzdem war er noch nicht ein einziges Mal hier. Was hat er zwischen Logistlagerdings und den Rückseiten der Warenhäuser verloren? Nicht seine Welt. Nicht sein Universum. Das wartet zu Hause zwischen Buchdeckeln und hinter dem Bildschirm. Mittlerweile dürften sich Hunderte von Mails angesammelt haben. Studentenanfragen, Sprechstundentermine, Kongresseinladungen, Finanzierungsab-
Absagen. Geht doch.
Absagen. Das Wort begleitet ihn wie zuvor Johann Strauß. Termine absagen. Kongresse absagen. Meetings absagen. Was soll er mit Hängelippe auf einem Symposium? Vermutlich reagieren Studenten auf Behinderungen weit offener als die geschätzten Kollegen, aber er fürchtet sich weniger vor besorgten Gesichtern oder schlecht kaschierter Ungeduld, sondern vor seinem eigenen vernichtenden Urteil, wenn der Herr Professor volle fünf Minuten braucht, um einen einfachen Satz zu stoppeln. Altes Eisen, letztinstanzlich. Was auch sonst? Er sieht es schon vor sich: Blicke, Mitleid, Verlegenheit, Stottern, Speichelfaden, Taschentuch. Alles Gute noch, Herr Professor. Und das gemeinsame Wissen um die ganze Lüge, die aus dem Übersehen der ganzen Wahrheit erwächst.
Das Haus kommt in Sicht, wo seine Wohnung auf ihn wartet. Wahrscheinlich hat die Nachbarin einen Strauß mit Blumen auf den Tisch gestellt, zusammen mit einem Begrüßungskärtchen, und wenn er hinübergeht, um sich zu bedanken, wird sie angestrengt den Speichelfaden übersehen, der ihrem Gegenüber in den Hemdkragen tropft. Gute Besserung, Herr Professor, und lassen Sie mal nicht den Kopf hängen. Das wird schon wieder. Irgendwie wird es immer wieder.
Er wird nicht widersprechen, sondern nicken und sich nuschelnd für die Blumen bedanken. Aber beide werden das Tabu spüren, das wortlos in der Treppenhausluft hängt. Das wird nicht wieder. Es wird keine gute Besserung geben. Ob er will oder nicht, dieser Abschnitt seines Lebens ist mit dem ersten Schwindelanfall unwiderruflich zu Ende gegangen. Er ist ausgestoßen worden aus dem ihm bekannten Kosmos, ist in die Leere gefallen, hat alle Grenzen überschritten, die ihn und seine Umwelt miteinander verbunden hielten.
Pensionär. Ruheständler. Altenteil. Neues Wort. Unpassendes Wort. Auch das wird nicht gehen. Was soll er zu Hause? Folianten abstauben mit der kranken Hand und mittags Essen auf Rädern? Am Rechner dem sich immer weiter von ihm entfernenden wissenschaflichen Diskurs der Kollegen nachlauschen? Was noch nicht in Narbengewebe und liquorgefüllten Hohlräumen verschwunden ist, taugt nicht fürs Rentnerbänkchen. Zu viel Platz zwischen Professur und Parkbank. Viele ungefüllte Jahre zu viel.
Etwas ganz Anderes muss her. Etwas radikal Neues, ein Phoenix, der sich aus der Asche seiner ausgelöschten akademischen Existenz erhebt. Sprachproduktion? Entstehung von Sprache? Alles schon gedacht, alles schon geschrieben. Aber was wäre zum Beispiel mit einem Kriegsbericht von der Front der Neuropathologie? Mit einem Jetzt-Erzählen von der Trümmerlandschaft der atomisierten Sprache, radikal subjektiv? Einer grimmigen Akzeptanz dessen, was ihm passiert ist, einem nicht minder radikalen Ansatz, der genau aus den Beschränkungen, die ihm auferlegt sind, Neues schafft?
Blog. So etwas.
Seine Schritte werden schneller, hektischer. Eins-zwei-drei, eins-zwei-
Scheiß auf den Rhythmus.
Weitere Werke von Michel:
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hobbes Tretbootliteratin & Verkaufsgenie
Moderatorin
Beiträge: 4298
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01.12.2016 22:38
von hobbes
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Das Ende find ich doof. Das davor mag ich. Ich habe allerdings die Vermutung, ich würde es noch mehr mögen, wenn du noch ein paar Zeichen einsparen würdest.
Und beim wiederholten Lesen fällt es dann noch mehr ab. Weil zu viel von allem und die Geschichte hat sich ja schon beim ersten Mal erschlossen. Da ist nicht mehr viel Neues zu entdecken.
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Uwe Helmut Grave Opa Schlumpf
Alter: 69 Beiträge: 1016 Wohnort: Wolfenbüttel
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02.12.2016 19:17
von Uwe Helmut Grave
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Ich konnte mich gut in den Protagonisten hineinversetzen. Besonders gelungen die Nebenszene mit dem hilfsbereiten, belustigten Transporterfahrer, der fest überzeugt ist, einen betrunkenen Spätheimkehrer vor sich zu haben, für den er Verständnis zeigt.
_________________ U.H.G. - Freude am Lesen
"Wie sind des Kaisers neue Kleider unvergleichlich!" - "Aber er hat ja gar nichts an!" (Hans Christian Andersen) - Die Welt ist anders(en) als sie es dir erzählen. |
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gold Papiertiger
Beiträge: 4943 Wohnort: unter Wasser
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03.12.2016 13:59
von gold
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Hallo Inko,
naja, "Scheiß auf den Rhythmus", das ist ein zu abrupter, radikaler Wechsel.
Das geht zu schnell. Erst der Gedanke eines Wissenschaftlers an einen Blog und dann sein Schwenken zur Fäkalsprache...
Ansonsten gerne und bewundernd gelesen. Bewundernd deshalb, weil ich finde, dass dir das Sichhineindenken und -fühlen in einen Menschen, der eine Hirnschädigung erlitten hat (wodurch auch immer, das bleibt offen, braucht man als Leser auch nicht zu wissen),sehr gut gelungen ist. Dieses Suchen nach Sprache. Und das Unangenehm-Betroffensein seiner Umwelt, auch die Hilfosigkeit und die Besserungsfloskeln.
Aber alles ist nicht verloren, die Worte sind nicht verstümmelt, er ist noch fähig, sich an wissenschaftliche Worte zu erinnern. Das lässt ihn hoffen und an einen Neubeginn denken.
Der Titel, den ich hier sehr wichtig finde, weil er den Text aufzulockern vermag, ist originell gewählt.
Liebe Grüße
gold
_________________ es sind die Krähen
die zetern
in wogenden Zedern
Make Tofu Not War (Goshka Macuga)
Es dauert lange, bis man jung wird. (Pablo Picasso) |
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firstoffertio Show-don't-Tellefant
Beiträge: 5854 Wohnort: Irland
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03.12.2016 21:58
von firstoffertio
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Das gefallt mir, doch bin ich auch zwiegespalten.
Mir gefällt, welche Rolle Sprache hier spielt, und wie der Protagonist sie sich immer wieder aufsagt, dabei durchaus kreativ ist.
Dann jedoch klingen mir die längeren reflexiven oder erklärenden Sätze auch aus seiner Sicht geaeussert. Und das passt dann irgendwie nicht.
Trotzdem ein interessanter Text, der Thema und Vorgaben auf seine Art entspricht.
"Er befindet sich keine zehn Gehminuten von seiner Wohnung – normale Gehminuten jedenfalls – trotzdem war er noch nicht ein einziges Mal hier"
In diesem Niemandsland kennt er sich nicht aus. er spürt, das etwas neu, anders werden muss. Klammert sich am Alten, das er noch weiß, fest.
Dieses Befinden sehe ich auf eigenwillige Art beschrieben.
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MoL Quelle
Beiträge: 1838 Wohnort: NRW
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03.12.2016 23:11
von MoL
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6 Federn von mir.
Was soll ich sagen, lieber Autor?
Die Themen sauber und glaubhaft "abgearbeitet", ein Protagonist, der mich berührt, mit dem ich mitfiebere und dessen Einstellung ich bewundere. Ganz toller Schluß. Gefällt mir sehr gut!
LG, MoL
_________________ NEU - NEU - NEU
gemeinsam mit Leveret Pale:
"Menschen und andere seltsame Wesen"
----------------------------------
Hexenherz-Trilogie: "Eisiger Zorn", "Glühender Hass" & "Goldener Tod", Acabus Verlag 2017, 2019, 2020.
"Die Tote in der Tränenburg", Alea Libris 2019.
"Der Zorn des Schattenkönigs", Legionarion Verlag 2021. |
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Constantine Bücherwurm
Beiträge: 3311
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04.12.2016 02:13
von Constantine
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Bonjour,
ich machs kurz:
Eine traurige und zugleich positive Geschichte.
Feine Interpretation der Themenvorgabe.
Sprachlich abwechslungsreich, gut lesbar, überzeugend, stark.
Du hast es in meine Top Ten geschafft: dix points.
Merci beaucoup,
Constantine
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Babella Klammeraffe
Alter: 61 Beiträge: 890
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04.12.2016 10:08
von Babella
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Professor verlässt nach Schlaganfall die Klinik und geht schwankend nach Hause. Ihm fehlen viele Begriffe, aber ansonsten weiß er, was mit ihm los ist. Er überdenkt seine Lage, sucht nach Möglichkeiten, zieht etwas Neues in Erwägung.
Eindringlich geschildert, ich las ohne Mühe bis zum Ende (das ging mir nicht bei allen Texten so), und wenn man sich eingelesen hat: Stimmig.
Ich hatte das Thema "Vergessen" mehr aufgefasst als ein selbstbestimmtes Vergessen ("zu Brei schlagen"), dies hier ist erzwungenes und ungewolltes Vergessen.
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Seraiya Mondsüchtig
Beiträge: 924
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04.12.2016 20:36
von Seraiya
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Hallo Inko,
Ich empfand den Text als temporeich und wurde mitgerissen. Die Gedanken kamen Knall auf Fall und für mich hat es gepasst. Hat mir gut gefallen.
LG,
Seraiya
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Oktoberkatze Eselsohr
Alter: 58 Beiträge: 314
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06.12.2016 22:17
von Oktoberkatze
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Thema: seh ich im geistigen Zustand des Protas umgesetzt
Motto: seh ich in der ständigen Suche nach dem richtigen Wort erfüllt
Inhalt: behutsamer Aufbau, gibt immer mehr vom Prota preis und gewinnt dadurch immer mehr an Intensität
Fazit: die Entwicklung von trockener Verzweiflung über erzwungenes Hinnehmen der Situation bis zur trotzigen Motivation hat mich sofort gepackt, sehr gern gelesen, 6 Punkte
_________________ Die meisten Denkmäler sind innen hohl |
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Heidi Reißwolf
Beiträge: 1425 Wohnort: Hamburg
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07.12.2016 11:16
von Heidi
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Das ist soweit gut geschrieben, aber ab der Mitte wird es langweilig, weil sich das Elend deines Erzählers immer und immer wiederholt. Ab da hab ich begriffen, wie scheiße es ist, wenn man alles vergessen hat, von einer Krankheit/Unfall dazu gezwungen wurde, wieder von vorne anzufangen.
So ganz umgesetzt finde ich das Motto alleine dadurch auch nicht, mir fehlt das Ringen darum, das Vergessene wieder "hervorzuholen" - also eher auf einer existenziellen Ebene, wie ein innerer Kampf.
So, wie ich die Geschichte wahrnehme, scheint es, als hätte dein Protagonist sich seinem Schicksal ergeben und wollte lediglich seinen Jammer darüber loswerden, was dazu führt, dass mein Mitleid mit ihm sehr schnell an seine Grenzen kommt. Natürlich ist das meine subjektive Auslegung und ich will nicht allzu streng sein, wäre das Thema besser umgesetzt, dann würde ich über die Motto-Umsetzung hinwegsehen, aber auch das Niemandsland kommt mMn in deiner Geschichte zu kurz, wird erst ganz zum Schluss angedeutet mit folgenden Sätzen:
Zitat: | Das wird nicht wieder. Es wird keine gute Besserung geben. Ob er will oder nicht, dieser Abschnitt seines Lebens ist mit dem ersten Schwindelanfall unwiderruflich zu Ende gegangen. Er ist ausgestoßen worden aus dem ihm bekannten Kosmos, ist in die Leere gefallen, hat alle Grenzen überschritten, die ihn und seine Umwelt miteinander verbunden hielten. |
Und auch hier, anhand des Bildes:
Zitat: | Etwas ganz Anderes muss her. Etwas radikal Neues, ein Phoenix, der sich aus der Asche seiner ausgelöschten akademischen Existenz erhebt. Sprachproduktion? Entstehung von Sprache? Alles schon gedacht, alles schon geschrieben. Aber was wäre zum Beispiel mit einem Kriegsbericht von der Front der Neuropathologie? Mit einem Jetzt-Erzählen von der Trümmerlandschaft der atomisierten Sprache, radikal subjektiv? Einer grimmigen Akzeptanz dessen, was ihm passiert ist, einem nicht minder radikalen Ansatz, der genau aus den Beschränkungen, die ihm auferlegt sind, Neues schafft? |
Da das Thema hinten dran gesetzt wurde, den Text sozusagen nicht durchdringt, wirkt es wie aufgesetzt.
ungefügig: nein
inhaltlich anspruchsvoll: ja
mehrschichtig: ja
Dennoch reicht das nicht aus für Punkte, obwohl mir dein Schreibstil gut gefällt.
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Lapidar Exposéadler
Alter: 61 Beiträge: 2699 Wohnort: in der Diaspora
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07.12.2016 20:26
von Lapidar
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Der Schlaganfall, interessante innere Ansicht. Niemandsland /Neuland.
Spannend auch, wie er das Ganze angeht, Neuland begeht.
_________________ "Dem Bruder des Schwagers seine Schwester und von der der Onkel dessen Nichte Bogenschützin Lapidar" Kiara
If you can't say something nice... don't say anything at all. Anonym. |
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tronde Klammeraffe
T
Beiträge: 522
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T 07.12.2016 21:47
von tronde
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Hallo!
Der Text gefällt mir. Und hätte den erklärenden Schluss nicht gebraucht, aber das Motto braucht noch einen Neuanfang. Das Wiederkehrende vom Motto sehe ich nicht so recht. Spannend finde ich den Widerstreit zwischen erhaltenem Reflexionsvermögen und der Aphasie. Ich merke gerade, ob ich das unter Vergessen fassen würde. Ist die neurologische Schädigung das gleiche wie der physiologische Prozess des Vergessens. Die Frage habe ich mir bei meinem Text zur Demenz nicht gestellt, mmh.
Die Innenansicht finde ich gelungen. Niemandsland= Neuland? Oder er ist in einem Land, in dem sonst niemand ist? Mmh
Gut in den Punkten
Liebe Grüße
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Literättin Reißwolf
Alter: 58 Beiträge: 1836 Wohnort: im Diesseits
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08.12.2016 16:11
von Literättin
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Ja. Dieser hier, der wäre mir eigentlich schon Punkte wert, wenn es dann diesen Widerspruch nicht gäbe, den des Herrn Sprachprofessors, der nach dem Schlaganfall so wortreich an einzelnen Wörtern scheitert. Dass dieser Text mir sprachlich an sich zu gefallen weiß ist genau die Krux, denn so dramatisch stellen sich die paar Holperer im Gedächtnis des Dahinstolpernden Professors gar nicht da, als dass er gleich darüber verzweifeln müsste und sich fragen, was - bei seiner Passion - er nun mir dem Rest seines Lebens anfangen soll, um am Ende bei der Lebenslösung Blog zu landen. Bis zum Schluss bin ich ihm gefolgt und das im Grunde gerne. Der Schleudergang ist schon sehr gut eingefangen, auch nicht zu tränenselig, schön lakonisch und in passende Bilder gesetzt.
Nur reicht mir dieser kurze Weg für eine solche Entscheidung nicht. Auch nicht der Grad der Beschädigung des Gelehrten. Und die wenig spektakuläre und mir irgendwie nicht ins Bild passen wollende "Lebensentscheidung". Da passt so recht das Eine nicht zum Anderen. Ich würde ihn glatt noch einmal auf den Weg schicken, vielleicht mit offenerem Ende, vielleicht mit entweder einer haarfeinen fieseren Wortfindungsstörung, die sich dann wirklich auswirken würde (ja, es ist schon schlimm, wenn ausgerechnet ein Germanist und so, aber dass er gleich so fix aus dem Beruf sein soll? So ohne Reha-Empfehlung?), oder eben mit naheliegenderen Problemen als gleich mit der großen, ganzen "Lebensentscheidung" ringend und das so auf dem Nachhauseweg (warum nimmt er eigentlich kein Taxi?) so lapidar lösend. Schöne Idee eigentlich, sprachlich solide, für mich nicht stimmig genug.
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V.K.B. [Error C7: not in list]
Alter: 51 Beiträge: 6155 Wohnort: Nullraum
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08.12.2016 23:08
von V.K.B.
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Hallo Inko (auch wenn ich jetzt Autoren-Raten spielen möchte, lass ich es lieber, wird nur peinlich, wenn ich doch falsch liege),
sehr stark geschriebener Text, für mich einer der besten. Zuerst hielt ich die Vorgaben für nicht oder wenig erfüllt, bis ich beim Lesen immer mehr bemerkt habe, dass sie hier eher fühlbar als explizit sind. Das Thema Niemandsland zum Beispiel, nicht erwähnt, nicht angedeutet, und doch präsenter als in vielen anderen Texten. Tolle Leistung.
Das Vergessen ist nicht gewollt, sondern wird dem Prota vom Schicksal auferlegt, doch die Akzeptanz und der eiserne Wille, trotzdem noch etwas mit dem (Rest)Leben anzufangen. Der letzte Absatz wird dann dem Motto doch halbwegs gerecht.
Somit gibt das Punkte von mir. Und nicht wenige. Dennoch nicht in meine Top Three geschafft, weil ich wegen folgenden Dingen Punkte abziehen muss: 1. Der Text ist zwar sehr gut geschrieben, aber ziemlich straightforward. Abgesehen von dem schönen und sehr zweckmäßigen Stilmittel der Wortketten fehlt mir das Experimentelle und Sperrige. Strukturfanatiker? (Oh, jetzt hab ich doch geraten…) 2. Ich sehe das Motto nur gestreift, aber nicht genau umgesetzt. Es gibt ein Vergessen und einen Neuanfang, von immer wieder kann nicht die Rede sein. Bei wirklich strenger Auslegung wäre die Vorgabe verfehlt und der Text hätte nicht zum Wettbewerb gepasst. Ohne die Vorgabe wäre er mein Platz zwei gewesen. Aber so musste ich schweren Herzens den Texten den Vortritt lassen, in denen ich die Vorgaben genauer umgesetzt sehe. Trotzdem, immer noch ein ganzer Patzen Punkte, weil mir der Text ansonsten so gut gefallen hat.
Auch wenn ich eigentlich nie so genau wissen wollte, wie sich mein Vater nach seinem Schlaganfall gefühlt haben muss. Wobei er noch Glück hatte, dass meine Frau und ich zu Besuch waren ("Nein Mum, das ist kein grippebedingter Schwindelanfall, ruf jetzt endlich den verdammten Notarzt, sonst mach ich das!"). Verdammt, der macht immer solche Sachen, wenn ich zu Besuch bin, erinnere mich noch genau daran, wie er mit zwei Fingerkuppen in der Hand vor mir stand, "Du, ich glaub ich brauch mal eben ein Pflaster, kannst du mir kurz helfen?" - "Ich glaub, wir fahren lieber mal ganz schnell ins Krankenhaus!") Heute merkt man ihm das auf den ersten Blick nicht mehr an (den Schlaganfall, nicht die Tischlerfinger), keine Lähmungen, normale Sprache, aber er sagt selbst, wie dein Protagonist, manche Dinge und auch Erinnerungen sind einfach ausgelöscht. Teile der Erinnerungen an meine Kindheit und die meines Bruders. Muss ein absoluter Horror für einen Vater sein. Und jegliches Verständnis für Winkelberechnung zum Beispiel, bitter für einen Tischler, aber Hut ab, er kriegt das irgendwie trotzdem noch hin, neue Gartenmöbel mit geschwungenen Formen zu bauen.
Hey, warum sind die besten Geschichten eigentlich immer die, die mich an Schicksale in der eigenen Familie denken lassen? Über die man eigentlich gar nicht mehr nachdenken will?
Nach langer Überlegung, ewigen Vergleichen, alles vergessen und immer wieder von vorne beginnen wie neu, meine endgültige Wertung: 7 Punkte.
_________________ Hang the cosmic muse!
Oh changelings, thou art so very wrong. T’is not banality that brings us downe. It's fantasy that kills … |
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Ithanea Reißwolf
Alter: 34 Beiträge: 1062
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10.12.2016 13:25
von Ithanea
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Ja. Mag ich sehr.
_________________ Verschrieben. Verzettelt. |
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Lorraine Klammeraffe
Beiträge: 648 Wohnort: France
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11.12.2016 15:32
von Lorraine
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Sorry, nur eine Platzhalter-Zeile, um bepunkten zu können.
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weltensegler Wortedrechsler
Beiträge: 85 Wohnort: Nürnberg
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12.12.2016 12:49
von weltensegler
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Eine tolle Geschichte. Ich bin voll dabei, freue mich umso mehr, das er gerade seinen Verlust für die Geburt des neuen Lebens nutzen will. Trotzdem bin ich etwas verwirrt:
Nach einem Schlaganfall auftretende Aphasie wird doch eher wieder besser als schlechter oder stagniert? Der befürchtete Verlust des verbliebenen Wortschatzes wäre doch eher typisch für Demenz / Alzheimer?
Das Thema ist für mich nur bedingt umgesetzt, denn er betritt ja kein wirkliches Niemandsland, wenn das akademische Fundament seines bisherigen Lebens die Basis für sein neues Projekt ist?
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rieka Sucher und Seiteneinsteiger
Beiträge: 816
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12.12.2016 14:05
von rieka
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Schlaganfall oder Entsprechendes! Zurückfinden ins Leben oder auch nicht! Eindringlich und mit einem Hauch Humor geschrieben. Diesen so bedrückenden Zustand mit solcher Leichtigkeit, ohne jede Flapsigkeit, und doch genau treffend, zu erzählen, ist Können.
In meinen Augen außerordentlich raffiniert, wie es dir gelingt, die Befindlichkeit des Prota über seine Suche nach Begriffen/Worten zu vermitteln. Muss ich mir merken. Gut auch, wie ich finde, die sehr genauen Beobachtungen in und um ihn herum, die detaillierten Szenenbeschreibungen.
Das Ende verwirrt mich. Nehme ich das richtig wahr? Da entsteht so viel Optimismus und damit plötzlich eine stark erweiterte Sprachfähigkeit? Er redet flüssig nach der Akzeptanz und dem gefundenen Ziel, seinen Zustand zum Arbeitsthema zu machen? Dieser Wechsel, wenn ich ihn den richtig verstehe, er verwirrt mich. Hmmm.
Diese Geschichte gefällt mir ausgesprochen gut.
Nicht ganz sicher bin ich mir bezüglich des Themas Niemandsland . Gut, er war, nach seinem Schwindelanfall/Schlaganfall oder was auch immer im Niemandsland. Ist aus dem Niemandsland zurückgekehrt mit einer halbseitigen Lähmung, die einen Neuanfang erzwingt. Und da er noch nicht weiß, wie es weitergeht, befindet er sich auch, bis zum Aufflackern eines Zieles, noch in einem inneren Niemandsland .
2 Punkte
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Piratin Exposéadler
Alter: 58 Beiträge: 2186 Wohnort: Mallorca
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12.12.2016 18:05
von Piratin
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Hallo Inko,
auch, wenn ich so etwas bei der Themenstellung fast erwartet habe, ist es feinfühlig umgesetzt und die Suche und das Entdecken der Worte, der "alten" Welt des Prota ist bewegend und mir deshalb 10 Punkte wert.
Viele Grüße
Piratin
_________________ Das größte Hobby des Autors ist, neben dem Schreiben, das Lesen. |
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holg Exposéadler
Moderator
Beiträge: 2396 Wohnort: knapp rechts von links
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12.12.2016 18:11
von holg
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Schlaganfallpatient erschließt sich die Welt neu. Beginnt ein neues Leben. Hat der alles vergessen? Nein. Lähmungserscheinungen, Koordinations- und Wortfidungsschwierigkeiten. Er geht nach Hause im Schleudergang. Der Marsch das Niemandsland zwischen Klinik und Neubeginn.
Meist sehr eindrücklich aus der Sicht des Professors geschildert, nur hier und da ("Vermutlich reagieren Studenten auf Behinderungen weit offener als die geschätzten Kollegen, aber er fürchtet sich weniger vor besorgten Gesichtern oder schlecht kaschierter Ungeduld") ein wenig die Perspektive geändert.
Gegen Ende wird nicht nur der Schritt hektisch, auch die Geschichte springt, zieht Schlüsse, wo sie vorher beobachtet, mitgedacht hat.
Ob der Zeichenzähler drängte? Der Abgabetermin?
Ich mag die Geschichte. sie bekommt Punkte.
_________________ Why so testerical? |
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Municat Eselsohr
Alter: 56 Beiträge: 353 Wohnort: Zwischen München und Ingolstadt
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13.12.2016 10:15
von Municat
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Lieber Unbekannter Autor
Ich war zwar selbst noch nie in einer vergleichbaren Situation, aber ich kann mir sehr gut vorstellen, dass Du die Gedankengänge und Empfindungen eines hochintelligenten Menschen, der sich nach einem Schlaganfall plötzlich die einfachsten Dinge des Lebens mühsam erarbeiten muss, auf den Punkt triffst. Der Professor arbeitet sehr hart daran, so viel wie möglich aus seinen geschrumpften Resourcen zu holen. Mit jedem Schritt, mit jedem Blick übt er, sortiert die richtigen Worte zu den Dingen, die ihm begegnen. Und trotzdem taucht es immer wieder auf, das verhasste Ding. Auch die Art und Weise, wie er die Reaktion der anderen Menschen auf ihn wahrnimmt, kommt klasse an. Dass er sich seinen Kollegen so (noch) nicht stellen will, obwohl er nachwievor auf Kongresse eingeladen wir, kann ich absolut nachvollziehen. Der blog, den er zum Leben erwecken will (mit genau dem, was ihm auf dem Weg von der Klinik in seine Wohnung durch den Kopf geht als starter) ist genau das richtige für ihn, denke ich ... der Raum zwischen Vorlesungssaal und Schaukelstuhl.
Umsetzung der Vorgaben
Die Geschichte bleibt zum Großteil in den Gedanken des Professors. Die Gedanken sind frei. Sein ganz persönliches Niemandsland, in dem er einiges neu zu sortieren hat.
Der Neustart liegt auf der Hand, auch wenn es in diesem Fall kein freiwilliger war. Ein Großteil seines Wissens ist zu Brei geschlagen und er muss sehen, wie viel davon er wieder in Ordnung bringen und neu sortieren kann. Wie man an seinem Vorhaben mit dem blog - aber auch an der Stelle, wo er feststellt, dass er sich auch backroads bewegt, die er zuvor nie gesehen hat - erkennen kann, tauchen aus dem Chaos dann völlig neue Möglichkeiten auf, die er nicht gesehen hätte, wenn er nicht gezwungen worden wäre, seine Gedanken neu zu sortieren.
Der Test ist tiefgründig und vielschichtig, geht unter die Haut. Er hebt sich also deutlich von leichter Lektüre ab.
Auch stilistisch gefällt er mir sehr gut. Satzbau und Wortwahl bilden die Stimmungslage des Professors ab.
Meine Bewertung gebe ich erst ab, wenn ich alle Texte kommentiert habe.
_________________ Gräme dich nicht, weil der Rosenbusch Dornen hat, sondern freue dich, weil der Dornbusch Rosen trägt |
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