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Dieses Werk wurde für den kleinen Literaten nominiert Tod eines Musikanten


 
 
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sleepless_lives
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Beitrag04.06.2011 17:14
Tod eines Musikanten
von sleepless_lives
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Dies ist die Geschichte, die ich gern für den FFF in zwei Stunden geschrieben hätte. Ging aber nicht, da ich sie schon jahrelang fertig hatte. Nur die ersten paar Sätze sind neu formuliert. Obwohl der Text um einiges länger als 500 Wörter ist, stelle ich ihn in einem Stück ein. Er lässt sich nämlich nicht unterteilen, ohne entscheidend zu verlieren. Eigentlich sollte der Text nicht einmal Absätze haben, aber das geht für's Lesen am Bildschirm einfach nicht.

Lieber Leser, der du nach leichter Unterhaltung gierst, lies nicht weiter hier, diese Geschichte ist nicht für dich.





Tod eines Musikanten


Da waren Lichtspiegelungen, die über die Wasseroberfläche tanzten und wie Schwalben in schattige Gebäudeeingänge huschten. Da waren Boote mit weißen Segeln, die über den Nil glitten, da waren Stimmen in vielen Sprachen und Tonlagen, Touristen mit Kameras, sonnengebrannt, und Einheimische, wie er selbst, die ihm wie Statisten in einem Film vorkamen, und wenn dies ein Film war, dann war das Mädchen, das nachlässig in ihrer Haltung, nachlässig in ihrer Kleidung, auf der steinernen Flussbefestigung saß und den Jungen zusah, die von der Mauer ins Wasser sprangen, sein Star, sein Zentrum, sein Sinn. Die Kamera hätte sich wohl ihr genähert, lautlos auf sorgsam verlegten Schienen, bis sie ihr hübsches Gesicht in einer Großaufnahme gezeigt hätte, die dunklen Augen, in denen eine Glut schwelte, die nicht gut war. Doch dann wäre es Zeit geworden für weitere Einstellungen und die folgende würde ihn im Blickfeld haben, wie er im Schatten eines Torbogens stand und das Mädchen beobachtete, ohne dass sie sich dessen gewahr war. Die nächste Szene des Dramas wäre vorbereitet, obwohl eine Szene ja eigentlich Zuschauer erforderte und ein Drama einen Blickpunkt, von dem aus es als solches betrachtet werden konnte, den gut gepolsterten Sitz in einem Theater vielleicht, oder das klimatisierte Dunkel eines Kinos, in das man Getränke mitnehmen dufte, aber nicht dieses Dunkel, das ihn jetzt packte und das alles mit sich nahm, das Gesicht des Mädchens in seiner Erinnerung neben dem seiner Tochter und auch die Stimme des Ehemanns auf der Hochzeit, auf der er gespielt hatte, die Worte, die klar machten, dass es besser für ihn wäre, nichts gesehen zu haben, am besten gar nicht da gewesen zu sein, dies Dunkel, das im wahrsten Sinne der Wortes schlagartig kam und auch nicht mehr von ihm weichen mochte, als er das Bewusstsein wiedererlangt hatte, nur irgendwie seine Konsistenz änderte, eher ein nahes, enges Schwarz wurde, wenn man so sagen durfte, so eng wie seine Hand- und Fußketten, das Schwarz von verbundenen Augen, das er sofort erkannte: was für ein Zufall, dass er Jahre seines Lebens gelebt hatte, in Algerien, wo er aufgewachsen war, und dann in hier in Ägypten, wohin er einem seiner Cousins gefolgt war, als das Geschäft mit den Touristen in seiner Heimat vertrocknete, weil keine Touristen mehr kamen, dass er in all dieser Zeit nie die Augen verbunden bekommen hatte, und nun war es schon das zweite Mal innerhalb von ein paar Tagen, wenn man den Hinweg und den Rückweg zu der Hochzeit als einmal zählte, was er für gerechtfertigt hielt.

Ein unangenehmes Brummen füllte seinen Kopf von innen und von außen und manchmal wurde er ganz leicht und kurz darauf schwer wie ein Stein, gepresst in einen gut gepolsterten Sitz, er versuchte, sich zu bewegen, und jemand brüllte ihn an in einer Sprache, die er nicht verstand, aber für Englisch hielt. Er versuchte zu protestieren, und bekam ein paar Schläge versetzt, und das innere Brummen wurde stärker und übertönte beinahe das äußere welches, wie er trotz seiner Benommenheit und des pulsierenden Schmerzes mit Erstaunen feststellte, gelegentlich in seiner Modulation Ähnlichkeit besaß mit der Anfangssequenz  von »Layla«, einem Lied, das er selbst komponiert hatte und das in letzter Zeit sowohl bei den Touristen auf den Nil-Booten als auch bei lokalen Festlichkeiten so etwas wie sein größter Hit geworden war und für das er auch den Text geschrieben ... nun ja, nicht geschrieben, aber verfasst hatte: »Layla, der Weg der Tugend ist schmal und steinig. Er führt durch den Garten der Versuchung. Layla, wandere nicht vom Pfad, die Schönheit der Rosen täuscht das Auge und führt uns vom rechten Wege«. Layla, seine Tochter, für die er das Lied geschrieben hatte, als er sie mit diesem anderen Mädchen gesehen hatte, einer Freundin von ihr, von der die Leute sprachen, nicht nur wegen ihrer Schönheit, sondern mehr weil sie den Männern den Kopf verdrehte, nicht gut, nicht gut, nicht gut, gar nicht gut, die Glut in ihren Augen, gar nicht gut. Vielleicht umso mehr als er sich eingestehen musste, aber nicht wollte, dass auch er angezogen war von dem Mädchen in einer Weise, die sich nicht ziemte, nicht nur weil sie viel zu jung war, dies Mädchen, das sein Tochter nur »mon amie la rose« nannte, als ob sie sich über ihn lustig machen wollte.

Er solle gelassener sein, so seien Teenager heute, hatten die Deutschen gesagt, die Touristen auf den Nil-Booten, mit denen er sich auf Französisch unterhielt, wenn er mal wieder ein Engagement hatte, aber was wussten sie, sie lebten in einer anderen Welt, weit weg, unermesslich reich, eine Welt, in der selbst einfache Leute ein Vermögen verdienten und wo sie vergaßen, sobald sie zurückgekehrt waren, und auch keinen Brief schrieben, vielleicht dachten sie, wozu, er kann ihn eh nicht lesen, aber das war ja nicht der Punkt. Er wollte ihnen glauben und wieder beruhigt in der Nacht schlafen können, aber es konnte ihn nicht beruhigen, nichts konnte ihn beruhigen; ja, wenn Anippe noch leben würde, dann wäre das was anderes - sie war stark gewesen, ganz anders als er, sie hatte ihre Heirat durchgesetzt gegen den Widerstand der Mutter, weniger des Vaters, der seine Tochter vorbehaltlos vergötterte, hatte den Antrag seines Konkurrenten um ihre Gunst ausgeschlagen, der die Sache schon als ausgemacht angesehen hatte: man lehnt den Antrag eines Beamten aus dem Verkehrsministerium nicht ab, und schon gar nicht, wenn man arm ist. Noch auf ihrer Hochzeit hatte der abgewiesene Beamte geschworen sich zu rächen, nur gut, dass er seine Drohung nie war gemacht hatte, obwohl er seinen tiefsitzenden Groll wohl nie vergessen hatte. Vielleicht weil Anippe ein Jahr später bei Laylas Geburt gestorben war, und hatte er in diesem Moment nicht selbst gedacht, es wäre besser gewesen, wenn sie nie geheiratet hätten, vielleicht wäre sie noch am Leben, wenn jemand das Krankenhaus hätte bezahlen können. An ihrem Grab hatte er ihr unter Tränen versprochen für ihre Tochter alles zu ändern, auch wenn das hieß, sich manchmal von Leuten engagieren zu lassen, die ihm nicht ganz geheuer waren, und die Stimme des frisch gebackenen Ehemanns kam zurück und sagte, dass er all dies nie gesehen habe, dass er am besten gar nicht dagewesen sei.

Und irgendwie fing er wirklich an, sich aufzulösen, als er Stunden später über ein Rollfeld geführt wurde, es war kalt hier und roch nach Kerosin, und in ein anderes Flugzeug verladen wurde, willenlos wie eine Marionettenpuppe der Hand folgend, die ihn dirigierte, immerhin diesmal nicht mit Schlägen, auch als er einmal offensichtlich zu weit lief, die Hand ihn sanft zurückhaltend, die Stimme einer Frau, zu der die Hand gehörte, ihm etwas befehlend, das er nicht verstand, und da war so etwas wie Furcht in ihrer Stimme – Furcht vor wem oder was, dachte er. Er hörte nicht auf  sich aufzulösen, in Richtung auf das große Dunkel zu marschieren, später als er im Lager ankam, und sie nahmen ihm die Augenbinde ab, aber er sah nicht wirklich, denn seine Umgebung machte keinen Sinn, hatte nichts mit ihm zu tun, die Soldaten, die ihn bewachten, die Mitgefangenen, die Gitterstäbe, die Zäune, die Verhöre. Am Anfang erzählte er ihnen alles, was sie wissen wollten, auch wenn sie oft über Dinge sprachen, die er nicht verstand, aber seine Bitten an den Übersetzer, ihm diese Dinge zu erklären, führten zu Verärgerung bei den Soldaten, die ihn verhörten, sie sagten, er sei nicht kooperative, und fragten immer wieder und wieder und wieder. Mit der Zeit verlor, was er erzählte, an Wirklichkeit, wurde flach und farblos, wurde eine Sammlung von Geschichten, die er nur aus formalen Gründen in der ersten Person, singular erzählte, denn die Verbindung zu seinem Leben war abgerissenem, seinem Leben, das jetzt aus unerträglicher  Eintönigkeit bestand, aus totaler Isolation und alles wurde ein graues Einerlei, aus dem nur das leuchtende Orange der Sorge um seine Tochter hervorstach, brennend und hämmernd in seinen Schläfen, und ihn am Leben hielt, er musste hier durch, er musste hier raus, er musste zurück, er musste zurück nach Hause.

Dann, als er ihnen auch beim tausendsten Mal keine Namen nennen konnte, die sie hören wollten, schnallten sie ihn auf eine Liege, legten ein Tuch auf sein Gesicht und schütteten Wasser darauf und er bekam keine Luft mehr und war überzeugt, dass er sterben würde, jetzt und hier, und seine Tochter nie wiedersehen würde, aber sie hörten immer im letzten Moment auf und sogar ein Arzt war anwesend und stellte sicher, dass er in Ordnung war, aber er war nicht Ordnung, innerlich war er schon ertrunken und hatte seine Frau wiedergesehen und er hätte den Arzt erwürgt, wenn er dazu im Stande gewesen wäre. Von diesem Moment an erfand er Namen und Geschichten, nur um sie zufriedenzustellen und zufrieden waren sie, denn er war gut im Erfinden von Geschichten, und sie sagten, warum denn nicht gleich so. Er wurde besser behandelt und jemand kam zu ihm, und sagte zu ihm, dass er sein Anwalt sei, und er erwiderte, dass er kein Geld habe, ihn zu bezahlen, aber der andere sagte, dass müsse er nicht. Und er konnte ihm einen Brief an seine Tochter diktieren und eine kurze Zeit war da fast so etwas wie Hoffnung, wie ein Segel auftauchend in der Trostlosigkeit, die seine Heimstatt geworden war. Und er dachte an die Boote auf dem Nil und stellte sich vor, wie er zurückkehren würde. Aber kurze Zeit später wurden sie wieder sehr ärgerlich, sagten, dass wenn er sie zum Narren halten würde, dann werde er schon sehen. Sie könnten auch anders. Und anders konnten sie und zogen an den Fäden, an deren anderen Ende er als Marionette hing. Einer in Zivil gekleidet kam zum Verhör dazu und sagte er habe mit seiner Tochter geschlafen für Geld in Kairo, und sagte, sie habe einen Knackarsch gehabt, und sagte, sie sei ganz passabel gewesen, etwas unerfahren vielleicht, aber, so sagte er, das würde sich ja sicher schnell ändern. Und alles in ihm wurde taub und er sagte nichts mehr und er hörte nichts mehr und so verschwand ein weiterer seiner Sinne. Aber er konnte seine Gefühle nicht abschalten und seine eigenen Gedanken quälten ihn wie ein Amok laufendes Heer von Dschins, ob er wach war oder schlief, die Pforten der Schande und Sünde waren so weit aufgestoßen, dass er sie nicht mehr zusammenhalten konnte und er konnte auch sich selbst nicht mehr zusammenhalten und zerfiel in viele kleine Stücke, die Teile der Marionette lösten sich von sich selbst und plötzlich wurde ihm klar, dass er die vielen Fäden durch einen einzelnen Strang ersetzen musste, den er aus seiner Kleidung anfertigte, und vielleicht würden sie auch diesen letzten Strang benutzen, um die kaputte Puppe zu bewegen, wie bei den drei anderen davor, einmal ziehen und er würde einen »Akt asymmetrischer Kriegsführung« begehen, zweimal ziehen und er würde einen »PR Stunt« vollbringen, aber es würde ihn nicht mehr kümmern, er würde entkommen sein, weit, weit weg. Und also beendete er das Drama, wie es begonnen hatte, ohne Zuschauer, und alle seine Sorgen lösten sich mit ihm auf, als den letzten Schritt in das große Dunkel tat. Der Vorhang fiel. Und endlich war Ruhe.



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Murmel
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Beitrag04.06.2011 17:30

von Murmel
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Zitat:
Da waren Lichtspiegelungen, die über die Wasseroberfläche tanzten ]und wie Schwalben in schattige Gebäudeeingänge huschten. Da waren Boote mit weißen Segeln, die über den Nil glitten, da waren Stimmen in vielen Sprachen und Tonlagen, Touristen mit Kameras, sonnengebrannt, und Einheimische, wie er selbst, die ihm wie Statisten in einem Film vorkamen, und wenn dies ein Film war, dann war das Mädchen, das nachlässig in ihrer Haltung, nachlässig in ihrer Kleidung, auf der steinernen Flussbefestigung saß und den Jungen zusah, die von der Mauer ins Wasser sprangen, sein Star, sein Zentrum, sein Sinn.


Ich liebe deine Verwendung der Anapher und des Asyndeton gleich zu Anfang, obwohl es vielleicht einfacher ist, den Protagonisten schneller zu benennen und erst dann die emotionale Aussagekraft der rhetorischen Stilmittel zu wirken zu bringen, denn mit wem sollen wir mitfühlen?

Zu mehr reicht's jetzt leider nicht, werde gerne zurückkommen. smile


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sleepless_lives
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Beitrag04.06.2011 18:05

von sleepless_lives
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Hallo Murmel,
ja, der Sprachrhythmus gewinnt in meinem Schreiben immer mehr an Bedeutung und nicht erst seit ich David Jauss' Buch über das Schreiben "Alone with all that could happen" gelesen habe und sein Essay über Rhythmus und "Flow" (das Buch kann ich übrigens sehr empfehlen). Der Sprachrhythmus korrespondiert hier mit dem Rhythmus der Wahrnehmung der Szenerie, die die des Protagonisten oder die des Erzähler sein mag, das spielt keine Rolle. Auf jeden Fall habe ich ihr bereitwillig und ohne Zögern den Einstieg mit dem Fokus auf die Hauptperson geopfert. Jetzt muss ich mir das erstmal einmal überlegen, wie man das umstellen könnte und ob es dasselbe ausdrücken würde (nur wirksamer).

Freue mich schon auf mehr Feedback.


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Merlin*
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Beitrag05.06.2011 11:54

von Merlin*
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Hallo sleepless_lives,


ich habe Deinen Text gelesen und es ist mir ein wenig schwer gefallen, ob der fehlenden Absätze ...  Sad

aber das ist nur Nebensache, denn ... Deine Sprache ist für mich ein Traum,

ich liebe diesen Singsang, diesen besonderen Rhythmus in der Sprache, der sich unerschöpflich aus sich selbst fort zu setzen scheint, wie Wasser, das immer wieder nach fließt,

schon der Anfang hat mich aufhorchen lassen, ich glaube, für Dich muss es fließen wie aus einem Ganzen ohne Ecken und scharfe Kannten,

Deine genaue Beschreibung der Umgebung und immer wieder das Zurückkehren zu den Gedanken des Protagonisten, das war jetzt für mich ein Freude, es zu lesen ...  

lieben Gruß
Merlin Smile


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seitenlinie
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Beiträge: 1829

Pokapro 2015


Beitrag05.06.2011 14:04

von seitenlinie
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Zitat:
Lieber Leser, der du nach leichter Unterhaltung gierst, lies nicht weiter hier, diese Geschichte ist nicht für dich.

Warum so abgehoben, sleepless lives -  oder ist das die Warnung, dass Du den Leser mit einem Wust aus Schachtelsätzen
erschlagen wirst?

Was Du als Sprachrhythmus  bezeichnest, erscheint mir wie formale Spielerei auf Kosten von Inhalt und Aussage.

Sätze haben (normalerweise) Anfang, Mitte und Ende. Gedanken brauchen Struktur.
Formulierst Du Deine Sätze um, erkennst Du die kleinen Unsauberkeiten. Der Leser wird eher mitgenommen und
kann das Potential erfassen.

Wenn ich es aufdrösele, ergibt sich aus diesem Satz:

Zitat:
Die nächste Szene des Dramas wäre vorbereitet, obwohl eine Szene ja eigentlich Zuschauer erforderte und ein Drama einen Blickpunkt, von dem aus es als solches betrachtet werden konnte, den gut gepolsterten Sitz in einem Theater vielleicht, oder das klimatisierte Dunkel eines Kinos, in das man Getränke mitnehmen dufte, aber nicht dieses Dunkel, das ihn jetzt packte und das alles mit sich nahm, das Gesicht des Mädchens in seiner Erinnerung neben dem seiner Tochter und auch die Stimme des Ehemanns auf der Hochzeit, auf der er gespielt hatte, die Worte, die klar machten, dass es besser für ihn wäre, nichts gesehen zu haben, am besten gar nicht da gewesen zu sein, dies Dunkel, das im wahrsten Sinne der Wortes schlagartig kam und auch nicht mehr von ihm weichen mochte, als er das Bewusstsein wiedererlangt hatte, nur irgendwie seine Konsistenz änderte, eher ein nahes, enges Schwarz wurde, wenn man so sagen durfte, so eng wie seine Hand- und Fußketten, das Schwarz von verbundenen Augen, das er sofort erkannte: was für ein Zufall, dass er Jahre seines Lebens gelebt hatte, in Algerien, wo er aufgewachsen war, und dann in hier in Ägypten, wohin er einem seiner Cousins gefolgt war, als das Geschäft mit den Touristen in seiner Heimat vertrocknete, weil keine Touristen mehr kamen, dass er in all dieser Zeit nie die Augen verbunden bekommen hatte, und nun war es schon das zweite Mal innerhalb von ein paar Tagen, wenn man den Hinweg und den Rückweg zu der Hochzeit als einmal zählte, was er für gerechtfertigt hielt.


etwa das:

Die nächste Szene des Dramas wäre vorbereitet,
obwohl eine Szene ja eigentlich Zuschauer erfordert und ein Drama einen Blickpunkt,
von dem aus es als solches betrachtet werden kann, wie den gut gepolsterten Sitz in einem Theater
oder das klimatisierte Dunkel eines Kinos, in das man Getränke mitnehmen darf.
Stattdessen peinigte ihn das Dunkel einer Augenbinde;
ihn, der in Algerien geboren war, Jahres seines Lebens dort verbrachte und als das Tourismusgeschäft
in seiner Heimat versiegte schließlich einem seiner Cousins hier nach Ägypten folgte;
ihn, der ein Leben lang nie die Augen verbunden bekam und jetzt zum zweiten Mal innerhalb
von wenigen Tagen diese Erfahrung machen musste, wenn man Hin- und Rückweg zu jener Hochzeit
– was er für gerechtfertigt hielt – separat zählte.
Es war ein Schwarz, das alles an sich riss:
das Gesicht des Mädchens neben dem seiner Tochter,
die Stimme des Bräutigams auf der Hochzeit, auf der er …. gespielt hatte,
jene Worte, die ihm klar machten, dass es besser gewesen wäre, nichts,
absolut nichts gesehen zu haben, und am besten überhaupt nicht dort gewesen zu sein,
und die Erinnerung an eine Dunkelheit, die im wahrsten Sinne des Wortes schlagartig kam und nicht mehr
von ihm weichen wollte, die nur die Konsistenz änderte und zu beengendem Schwarz wurde,
beengend wie die Ketten an seinen Händen und Füßen, als er das Bewusstsein endlich wiedererlangte.


Bei dieser Konstruktion kannst Du optimaler eingreifen und gestalten.

Gruß,
Carsten
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Murmel
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Beitrag05.06.2011 17:04

von Murmel
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Das Einfachste vorneweg:

Zitat:
er sei nicht kooperative

Germlish spieking?

Zitat:
das sein Tochter

Pfui, so etwas könnte mir nie nicht passieren.  Razz

Nun das viel Schwierigere.

Ja, auch ich hätte gerne ein paar mehr Absätze, einfach um dem Auge das Festhalten der Zeilen zu erleichtern, vor allem da du mit den Sätzen Konzentration vom Leser verlangst. Es ist nicht nur der Rhythmus der Sprachmusik, sondern auch das Wandhafte dieser Präsentation, die den Zugang auf die Schnelle erschwert. Nun befindet sich dein Protagonist - und in dem stecken wir ganz tief drinnen - in der Auflösung, Bruchstückweise ("und er konnte auch sich selbst nicht mehr zusammenhalten und zerfiel in viele kleine Stücke, die Teile der Marionette lösten sich von sich selbst"), und dem wirken die langen, verbundenen Sätze entgegen.

Lange Sätze erzeugen das Gefühl der Langatmigkeit, dem Leser geht regelrecht die Luft aus, wenn zu viele hintereinander kommen. Interessanterweise wirken Schlusspunkte eher bremsend - lange Sätze verführen zum Schnelllesen, im Bestreben, den nächsten Punkt (sprich Atempause) zu erreichen. Das Auge des Lesers gleitet ab und überliest so Wichtiges.

Es geht dir an Klarheit der Aussage verloren, was die Konstruktion an audieller Darstellung gewinnt. Nichts, was man auf die Schnelle lesen kann, etwas, das sich erst im Wieder-Lesen erschließt.


Sehr erfrischend der Kontrast der knappen Schlusssätze zu dem Fließen der vorhergehenden. Davon könntest du ruhig öfter Gebrauch machen, denn auch Musik lebt von den Gegensätzen, vor allem, wenn sie Aufwühlen soll. So weiß man heute, das es die Strukturänderungen sind, die den Gänsehauteffekt erzeugen - Filmmusik lebt von ihnen.

Zitat:
Der Vorhang fiel. Und endlich war Ruhe
M.E noch härter:
Der Vorhang fiel.
Endlich Ruhe.

Es finden sich viele Juwelen, vor allem die Anfangssequenz ist sehr stark.

Zitat:
änderte, eher ein nahes, enges Schwarz wurde, wenn man so sagen durfte, so eng wie seine Hand- und Fußketten, das Schwarz von verbundenen Augen

Hier assoziere ich das enge Schwarz mit einem Kleidungsstück, richtig?

Zitat:
das jetzt aus unerträglicher Eintönigkeit bestand, aus totaler Isolation und alles wurde ein graues Einerlei, aus dem nur das leuchtende Orange der Sorge um seine Tochter hervorstach

Sehr gut!

Zitat:
brennend und hämmernd in seinen Schläfen, und ihn am Leben hielt, er musste hier durch, er musste hier raus, er musste zurück, er musste zurück nach Hause.

Auch das hier (habe ich schon gesagt, dass Anaphern, Asyndetons und Polysyndetons meine Lieblingsstilmittel sind? Neben der Inversion ... )

Ich hoffe, du findest etwas Nützliches in meiner Kritik.

Murmel.


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Bananenfischin
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Beitrag05.06.2011 23:55

von Bananenfischin
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Hallo Sleepless,

ich nehme an, die "Vorwarnung" sollte einerseits Enttäuschung und Frustration bei Lesern mit gewissen Präferenzen vermeiden und andererseits Empfehlungen wie "Nur ein Gedanke pro Satz!" oder "Nicht mehr als 15 Wörter in einen Satz!", die für Mainstream als Grundregel durchaus Sinn haben mögen, a priori unnötig machen.

Ich mag Schachtelsätze sowieso, und hier erscheinen sie mir auch angemessen und zur Auflösung passend. Um das Zerbrechen zu verdeutlichen, hätte man zwar z.B. auch Sätze unvollständig abbrechen können, aber zur Verdeutlichung des Phänomens der (Persönlichkeits-)Auflösung, eben des Vermischens von allem, passt das gut.
Ich habe mir den Text außerdem einmal selbst vorgelesen; er lässt sich hervorragend vortragen.

Nur an einer Stelle hat die Verschachtelung wirklich zu Verständnisschwierigkeiten geführt, ich zitiere nur den betreffenden Teil:
Zitat:
was für ein Zufall, dass er Jahre seines Lebens gelebt hatte, in Algerien, wo er aufgewachsen war, und dann in hier in Ägypten, wohin er einem seiner Cousins gefolgt war, als das Geschäft mit den Touristen in seiner Heimat vertrocknete, weil keine Touristen mehr kamen, dass er in all dieser Zeit nie die Augen verbunden bekommen hatte

Der Parallelismus von "dass er Jahre" und "dass er in all dieser Zeit" erscheint mir nicht als stark genug, die Teile zusammenzuhalten. Eine solche Formulierung würde es schon deutlicher machen, denke ich:
Zitat:
ohne dass er in all dieser Zeit die Augen verbunden bekommen hatte
Wobei, ha, während ich das schreibe, fällt mir auf - wie gesagt, Verständnisschwierigkeiten smile - dass sich beides ja auf "was für ein Zufall" bezieht, "ohne dass" also nur bei anderer Lesart passen würde ... Hm. Ich bleibe dabei und finde, dieser Satz dürfte etwas entwirrt werden.

Es gibt ein paar Stellen, an denen du umgangssprachlich wirst/Füllwörter benutzt. Beispiele:

Zitat:
obwohl eine Szene ja eigentlich Zuschauer erforderte
Zitat:
aber das war ja nicht der Punkt.
Zitat:
ja, wenn Anippe noch leben würde, dann wäre das was anderes

Im Grunde würde das wohl zu dem Protagonisten passen - dafür ist das dann aber doch wieder recht sparsam eingesetzt.

Zitat:
ohne dass sie sich dessen gewahr war.
Einmal ist das lautlich doppelte "war" meiner Meinung nach nicht so schön, und zweitens meine ich, dass es eigentlich "gewahr werden" heißt und das nicht reflexiv ist. Der Linguist wird mich sicher aufklären, hoffe ich. smile

Einige Kommata fehlen, z.B. hier vor "weil":
Zitat:
sondern mehr weil sie den Männern den Kopf verdrehte
Zitat:
nicht nur weil sie viel zu jung war
Zitat:
Vielleicht weil Anippe ein Jahr später bei Laylas Geburt gestorben war
Liegt vielleicht auch am Englischen. In den neuen Schulbüchern wird zumindest vor "because" keines mehr gemacht.

Zitat:
dass er seine Drohung nie war gemacht hatte, obwohl er seinen tiefsitzenden Groll wohl nie vergessen hatte.
Kleiner Tippfehler "war/wahr". 2x hatte. Gut, kann man verschmerzen. Aber den Groll könnte man auch im dass-Satz unterbringen.

Zitat:
denn seine Umgebung machte keinen Sinn


"Sinn machen" ist ja im Deutschen schon so weit verbreitet, ich würde trotzdem für ein "ergab keinen Sinn" plädieren. smile

Zitat:
in der ersten Person, singular
Komma weg, Singular groß.

Zitat:
die Verbindung zu seinem Leben war abgerissenem, seinem Leben,
Noch ein kleiner Tippfehler: "abgerissenen"

Zitat:
Einer in Zivil gekleidet
Ich meine, das "gekleidet" kann man hier ohne Bedenken weglassen.

Zitat:
Dschins
Noch ein Tippfehler, verflixt, auf mehr kann man ja auch kaum aufmerksam machen ... Ein "n" fehlt, es sei denn, es gibt noch eine Schreibweise, die mir entgangen ist.

Zitat:
als den letzten Schritt in das große Dunkel tat.
Da fehlt ein "er".

Ich könnte jetzt noch zitieren, was mir gut gefallen hat, aber naja, das wäre halt so ziemlich der ganze Rest. smile

Liebe Grüße
Bananenfischin


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Schriftstellerin, Lektorin, Hundebespaßerin – gern auch in umgekehrter Reihenfolge

Aktuelles Buch: Geliebte Orlando. Virginia Woolf und Vita Sackville-West: Eine Leidenschaft

I assure you, all my novels were first rate before they were written. (Virginia Woolf)
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Beitrag06.06.2011 16:19

von sleepless_lives
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Hallo an alle,
vielen Dank für all die interessanten Kritiken, Einwürfe und Korrekturen. Ich komm heute, Sydney Zeit, nicht mehr zum Antworten, weil das doch ein bisschen länger dauern wird und es hier schon sehr spät des Nächtens ist. Ich melde mich morgen dann in aller Ausführlichkeit.


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Beitrag07.06.2011 17:51

von sleepless_lives
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@Merlin*

Merlin* hat Folgendes geschrieben:
ich habe Deinen Text gelesen und es ist mir ein wenig schwer gefallen, ob der fehlenden Absätze ...  Sad

Ja, ich hätte mehr Abschnitte machen sollen. Man verliert einfach am Bildschirm zu leicht die Zeilenposition.

Danke für die freundlichen Worte und freut mich, dass dir die Geschichte und der Sprachstil gefallen hat.  Das hier:
Merlin* hat Folgendes geschrieben:
ich liebe diesen Singsang, diesen besonderen Rhythmus in der Sprache, der sich unerschöpflich aus sich selbst fort zu setzen scheint, wie Wasser, das immer wieder nach fließt,

trifft sehr gut meine Absichten.




@Seitenlinie

seitenlinie hat Folgendes geschrieben:
Zitat:
Lieber Leser, der du nach leichter Unterhaltung gierst, lies nicht weiter hier, diese Geschichte ist nicht für dich.

Warum so abgehoben, sleepless lives -  oder ist das die Warnung, dass Du den Leser mit einem Wust aus Schachtelsätzen
erschlagen wirst?

Ziemlich genau das letztere. Oder vielleicht doch, dass jeder Text ein Zielpublikum hat (das Ideal, das man alle Menschen erreichen kann, ist uns wohl schon eine Weile lang abhanden gekommen) und jemand, der z. B. einen konventionellen Kurzkrimi (siehe Titel) sucht, nicht finden wird, was er erwartet. Das Witzige ist, dass vielleicht dann doch gerade wegen der Warnung weitergelesen wird und so erreicht man vielleicht dann doch mehr Menschen, als man dachte. Na ja, und eigentlich drückt es Bananenfischin in ihrem Post am besten aus.


seitenlinie hat Folgendes geschrieben:
Was Du als Sprachrhythmus  bezeichnest, erscheint mir wie formale Spielerei auf Kosten von Inhalt und Aussage.

Form und Inhalt müssen aufeinander bezogen sein. Der wahrscheinlich einzige Fundamentalsatz in der Kunst.  Das war auch hier meine Absicht, siehe weiter unten.


seitenlinie hat Folgendes geschrieben:
Sätze haben (normalerweise) Anfang, Mitte und Ende. Gedanken brauchen Struktur.

Welche Struktur?  Der innere Monolog z.B. hat meist sehr wenig Struktur. Redest du nicht eher von einer einfachen Struktur verglichen mit einer komplexen? Du nimmst deinem Schreiben selbst so viel an Ausdruckskraft, wenn du bestimmte Stilmittel von Anfang an verbannst. Nur ein Beispiel, wie willst du mit einfachen klaren Sätzen eine unklare Situation, das Verschwimmen von Grenzen darstellen?
 
Ich sehe keinen Vorteil in deiner aufgedröselten Version. Nur einen Verlust an Sprachmelodie und der Assoziationskette und den Verlust des Gefühls, das alles verschwimmt, das der Protagonist sein Leben nicht mehr strukturieren kann, keine Kontrolle mehr darüber hat.  




@Murmel
Murmel hat Folgendes geschrieben:
Das Einfachste vorneweg:

Zitat:
er sei nicht kooperative

Germlish spieking?

Yep, Sprachverwirrung.


Murmel hat Folgendes geschrieben:
Ja, auch ich hätte gerne ein paar mehr Absätze, einfach um dem Auge das Festhalten der Zeilen zu erleichtern, vor allem da du mit den Sätzen Konzentration vom Leser verlangst.

Wie schon oben gesagt, stimme ich zu. Aber jeder Absatz hat weh getan, weil er auseinanderreißt, was in einander fließen soll. Kind of.


Murmel hat Folgendes geschrieben:
Lange Sätze erzeugen das Gefühl der Langatmigkeit, dem Leser geht regelrecht die Luft aus, wenn zu viele hintereinander kommen. Interessanterweise wirken Schlusspunkte eher bremsend - lange Sätze verführen zum Schnelllesen, im Bestreben, den nächsten Punkt (sprich Atempause) zu erreichen. Das Auge des Lesers gleitet ab und überliest so Wichtiges.

Ich weiß nicht, ob ich Langatmigkeit sagen würde. Ja, im übertragenen Sinne geht dem Leser die Luft aus (in Wirklichkeit stehen wohl eher Limitierungen des Arbeitsgedächtnisses dahinter). Aber diese Atemnot kann auch das Gefühl der Geschwindigkeit der Ereignisse erzeugen. Und darum ging es mir hier, dass es für den Protagonisten keine klare Ordnung mehr gibt, keine für ihn logische Abfolge der Vorgänge. Ein Anfang scheint da zu sein, aber erscheint irreal wie ein Film, und er ist natürlich nicht wirklich der Anfang oder zumindest nicht der einzige.      


Murmel hat Folgendes geschrieben:
Nichts, was man auf die Schnelle lesen kann, etwas, das sich erst im Wieder-Lesen erschließt.

Ein Risiko, das ich eingehe - eingehen muss.


Murmel hat Folgendes geschrieben:
Sehr erfrischend der Kontrast der knappen Schlusssätze zu dem Fließen der vorhergehenden. Davon könntest du ruhig öfter Gebrauch machen, denn auch Musik lebt von den Gegensätzen, vor allem, wenn sie Aufwühlen soll. So weiß man heute, das es die Strukturänderungen sind, die den Gänsehauteffekt erzeugen - Filmmusik lebt von ihnen.

Das gilt wahrscheinlich auch für das Schreiben. Normalerweise würd ich das auch tun. Variieren zwischen lang und kurz. Allein hier können die kurzen Sätze meiner Meinung erst am Schluss kommen. Denn der Anfang mag schwierig auszuloten sein, das Ende jedoch ist klar und definiert.


Murmel hat Folgendes geschrieben:
Zitat:
Der Vorhang fiel. Und endlich war Ruhe
M.E noch härter:
Der Vorhang fiel.
Endlich Ruhe.

Stimmt. Werde ich übernehmen.


Murmel hat Folgendes geschrieben:
Es finden sich viele Juwelen, vor allem die Anfangssequenz ist sehr stark.

Danke. Nur am Rande, die Anfangssequenz ist neu geschrieben, der Rest ist 6 oder 7 Jahre alt.


Murmel hat Folgendes geschrieben:
Zitat:
änderte, eher ein nahes, enges Schwarz wurde, wenn man so sagen durfte, so eng wie seine Hand- und Fußketten, das Schwarz von verbundenen Augen

Hier assoziere ich das enge Schwarz mit einem Kleidungsstück, richtig?

Sollte eigentlich das Schwarz (mangels Farbwahrnehmung in der Dunkelheit) der Augenbinde sein.


Murmel hat Folgendes geschrieben:
Auch das hier (habe ich schon gesagt, dass Anaphern, Asyndetons und Polysyndetons meine Lieblingsstilmittel sind? Neben der Inversion ... )

Da haben wir ganz ähnlich Vorlieben.


Murmel hat Folgendes geschrieben:
Ich hoffe, du findest etwas Nützliches in meiner Kritik.

Definitiv. Diese Art von Diskussion von eher grundsätzlichen Sachen find ich sogar am hilfreichsten.




@Bananenfischin
Bananenfischin hat Folgendes geschrieben:
Ich mag Schachtelsätze sowieso, und hier erscheinen sie mir auch angemessen und zur Auflösung passend. Um das Zerbrechen zu verdeutlichen, hätte man zwar z.B. auch Sätze unvollständig abbrechen können, aber zur Verdeutlichung des Phänomens der (Persönlichkeits-)Auflösung, eben des Vermischens von allem, passt das gut.

Was soll ich da noch sagen. smile  Besser kann ich es mit Sicherheit auch nicht auf den Punkt bringen.


Bananenfischin hat Folgendes geschrieben:
Nur an einer Stelle hat die Verschachtelung wirklich zu Verständnisschwierigkeiten geführt, ich zitiere nur den betreffenden Teil:
Zitat:
was für ein Zufall, dass er Jahre seines Lebens gelebt hatte, in Algerien, wo er aufgewachsen war, und dann in hier in Ägypten, wohin er einem seiner Cousins gefolgt war, als das Geschäft mit den Touristen in seiner Heimat vertrocknete, weil keine Touristen mehr kamen, dass er in all dieser Zeit nie die Augen verbunden bekommen hatte

Der Parallelismus von "dass er Jahre" und "dass er in all dieser Zeit" erscheint mir nicht als stark genug, die Teile zusammenzuhalten. Eine solche Formulierung würde es schon deutlicher machen, denke ich:
Zitat:
ohne dass er in all dieser Zeit die Augen verbunden bekommen hatte
Wobei, ha, während ich das schreibe, fällt mir auf - wie gesagt, Verständnisschwierigkeiten smile - dass sich beides ja auf "was für ein Zufall" bezieht, "ohne dass" also nur bei anderer Lesart passen würde ... Hm. Ich bleibe dabei und finde, dieser Satz dürfte etwas entwirrt werden.

Das werd ich mir noch einmal anschauen. Ich hatte schon vage das Gefühl, dass hier eine Abhängigkeit zu viel drinnen ist, speziell das "weil keine Touristen kamen" und so eigentlich kausale Struktur geschaffen wird, was konträr zu meinen Absichten ist.  


Bananenfischin hat Folgendes geschrieben:
Es gibt ein paar Stellen, an denen du umgangssprachlich wirst/Füllwörter benutzt. Beispiele:

Zitat:
obwohl eine Szene ja eigentlich Zuschauer erforderte
Zitat:
aber das war ja nicht der Punkt.
Zitat:
ja, wenn Anippe noch leben würde, dann wäre das was anderes

Im Grunde würde das wohl zu dem Protagonisten passen - dafür ist das dann aber doch wieder recht sparsam eingesetzt.

Nummer eins werde ich rausnehmen, bei Nummer zwei bin ich mir nicht sicher und Nummer drei erscheint mir notwendig und kein Füllwort.

Bananenfischin hat Folgendes geschrieben:
Zitat:
ohne dass sie sich dessen gewahr war.
Einmal ist das lautlich doppelte "war" meiner Meinung nach nicht so schön, und zweitens meine ich, dass es eigentlich "gewahr werden" heißt und das nicht reflexiv ist. Der Linguist wird mich sicher aufklären, hoffe ich. smile

Nach meinem Sprachgefühl ist es in Ordnung, beides, mit "sein" und reflexiver Gebrauch, und Googlen mit "dessen gewahr sein" gibt auch eine Menge Resultate.

Bananenfischin hat Folgendes geschrieben:
Zitat:
Vielleicht weil Anippe ein Jahr später bei Laylas Geburt gestorben war
Liegt vielleicht auch am Englischen. In den neuen Schulbüchern wird zumindest vor "because" keines mehr gemacht.

Die englischen Kommaregeln sind eine Katastrophe, wenn sie zu Interferenzen mit den deutschen führen, und zumindest in meinem Kopf tun sie das äußerst gerne. Völlig andere Prinzipien trotz manchmal ähnlichem Satzaufbau im Deutschen und Englischen. Ja, im Deutschen gehört, da eindeutig ein Komma hin; im Englischen ist der Fall komplizierter, fürcht ich.

Bananenfischin hat Folgendes geschrieben:
Ich könnte jetzt noch zitieren, was mir gut gefallen hat, aber naja, das wäre halt so ziemlich der ganze Rest.

Freut mich natürlich sehr.





Grüße und nochmals Dank an alle Rezensenten,

- sleepless_lives


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Murmel
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Beitrag08.06.2011 14:39

von Murmel
Antworten mit Zitat

sleepless_lives hat Folgendes geschrieben:
Murmel hat Folgendes geschrieben:
Lange Sätze erzeugen das Gefühl der Langatmigkeit, dem Leser geht regelrecht die Luft aus, wenn zu viele hintereinander kommen. Interessanterweise wirken Schlusspunkte eher bremsend - lange Sätze verführen zum Schnelllesen, im Bestreben, den nächsten Punkt (sprich Atempause) zu erreichen. Das Auge des Lesers gleitet ab und überliest so Wichtiges.

Ich weiß nicht, ob ich Langatmigkeit sagen würde. Ja, im übertragenen Sinne geht dem Leser die Luft aus (in Wirklichkeit stehen wohl eher Limitierungen des Arbeitsgedächtnisses dahinter). Aber diese Atemnot kann auch das Gefühl der Geschwindigkeit der Ereignisse erzeugen. Und darum ging es mir hier, dass es für den Protagonisten keine klare Ordnung mehr gibt, keine für ihn logische Abfolge der Vorgänge. Ein Anfang scheint da zu sein, aber erscheint irreal wie ein Film, und er ist natürlich nicht wirklich der Anfang oder zumindest nicht der einzige.      

Langatmigkeit: eventuell das falsche Wort, da es Langeweile assoziert und die meinte ich nicht, sondern den wortwörtlichen Sinn. Interessanterweise beschleunigen lange Sätze das Lesen, und wie schon gesagt, entsteht dadurch die Gefahr, den Leser zu sehr in Fahrt kommen zu lassen, dass er Einschübe überliest und von daher das Gefühl hat, den Text nicht zu verstehen.

Du willst auf das Zerfliessen hinaus, und ich finde es gut umgesetzt. Nur, das in Bruchstücke zerfallen muss wirklich raus, denn eigentlich gibst du ja die Eindrücke des Erzählers wieder, in diesem Falle er, und er hat das Gefühl des Zerfliessens und nicht des Zerfallens.

Freue mich schon auf deinen nächsten Text. smile


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Beitrag12.06.2011 12:21

von sleepless_lives
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Hmmm, da ich an dem Auseinanderfallen eigentlich festhalten will (denn da sollte nochmal ein Unterschied sein zwischen der tödlichen Situation am Ende und der unsäglichen Situation davor, bei der er aber nicht aufgibt) hier mal auf Probe kurze Sätze für den Schluss des Textes nach der Erwähnung des Zerfallens:

 
Zitat:
... die Pforten der Schande und Sünde waren so weit aufgestoßen, dass er sie nicht mehr zusammenhalten konnte und er konnte auch sich selbst nicht mehr zusammenhalten. Er zerfiel in viele kleine Stücke. Die Teile der Marionette lösten sich von sich selbst. Es wurde ihm klar, dass er die vielen Fäden durch einen einzelnen Strang ersetzen musste. Er  fertigte ihn aus seiner Kleidung. Vielleicht würden sie auch diesen letzten Strang benutzen, um die kaputte Puppe zu bewegen. Wie bei den drei anderen davor. Einmal ziehen und er würde einen »Akt asymmetrischer Kriegsführung« begehen. Zweimal ziehen und er würde einen »PR Stunt« vollbringen. Doch es würde ihn nicht mehr kümmern. Er wäre entkommen. Weit, weit weg. Und also beendete er das Drama, wie es begonnen hatte. Ohne Zuschauer. Alle seine Sorgen lösten sich mit ihm auf, als er den letzten Schritt in das große Dunkel tat. Der Vorhang fiel. Endlich Ruhe.


Ich muss sagen, das hat was. Irgendwie wirkt es noch brutaler und endgültiger so. In gewisser Weise stockt der Sprachfluss plötzlich und das verstärkt die Wirkung auf der Bedeutungsebene.

Andere Meinungen?


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Beitrag12.06.2011 14:03

von Murmel
Antworten mit Zitat

Mir gefällt's sehr, denn nun hast du das Zerfallen visualisiert, endgültisiert.

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Beitrag16.06.2011 13:39

von sleepless_lives
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Dann mach ich das doch so.  smile

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