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REMINISZENZ - überarbeitet

 
 
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Kino Vollbart
Eselsohr


Beiträge: 236



Beitrag25.05.2007 14:11
REMINISZENZ - überarbeitet
von Kino Vollbart
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Reminiszenz

Der Projektor rattert. Die Luft stickig von der Abluft aus den Kühlschlitzen.
Er blickt mit müden Augen auf die Raufasertapete, auf der die bewegten Bilder seines ersten Geburtstages flimmern. Draußen schneit es. Drinnen leuchtet die Anzeige der Uhr: 03:47. Auf der Tapete steht er einjährig vor dem Schaukelpferd, wackelig, festgekrallt an den Sattel, damit er nicht umfällt. Aber er kommt nicht hoch. Er lacht nicht. Das Pferd war ein Geschenk des Vaters, und der warf es an die Wand, als sein Sohn drei Jahre alt war. Zwei Wochen später war Sperrmüll und dann war es weg.
Der Vater liegt jetzt oben. Eine Frau ist bei ihm und tupft seine Stirn mit einem feuchten Lappen. Es ist nicht die Mutter, sondern eine Krankenschwester. Der Sohn hört das Piepsen der Geräte durch die Wände wie in der Flüsterhalle des St. Peters Doms.
Die Bilder an der Wand sind seltsam verzerrt. Pustelig von der Tapete, schütter von der Zeit. Aber seine Erinnerungen sind nicht vergilbt.
Der Kindergeburtstag. Er soll die Kerze auspusten. Aber er kann es nicht. Der Vater löscht sie mit zwei Fingern. Mutter lächelt nervös in die Kamera, streichelt ihm über den Kopf. Das macht sie sehr oft. Sieben Jahre später ist sie tot. Jetzt sind alle tot. Anstelle des Vaters leben noch die Maschinen.
Als der Einjährige lachend in sein Stück der Torte haut, kann der Dreißigjährige nicht lachen. Der Vater auch nicht. Der nimmt die Hand seines Sohnes und säubert sie mit einer Serviette. Luftballonmuster. Dann stellt er den Teller weg. Er isst sein eigenes Stück. Mutter lächelt nervös in die Kamera.
Die Geräte piepen durch die Wände. Der Vater röchelt. Dann wird das Bild an der Wand weiß. Das lose Ende des Films flattert in der Spule, bis der Projektor abgeschaltet wird. Dann ist die Wand dunkel. Draußen zwitschern die Vögel. Zwei oder drei. Die Straßenlaternen schaukeln gemächlich im Wind. Es schneit. Die Krankenschwester klopft leise an die Tür. So, als wolle sie nicht gehört werden. Aber er hört sie. Er ist noch wach. Sitzt regungslos neben dem ausgeschalteten Filmprojektor, hat die Augen geschlossen. Es klopft erneut, aber nicht lauter.
Ich komme. Er steht auf. Draußen steht eine Frau, die nicht so alt ist, wie sie aussieht. Er blickt sie kurz an, ihre Hüften sind breit, die Augen trüb von der durchwachten Nacht. Dann geht er an ihr vorbei nach oben.
Die Luft schmeckt alt hier. Sie riecht nach Urin und kaltem Schweiß. Die Geräte sind stumm. Auf den grauen Laken liegt der Vater wie Origami. Eine Skulptur aus Papier, ein Geist, der nicht transparent ist. Halb erwartet er, den Vater vor seinen Augen verblassen zu sehen, bis das Laken, das er füllt, leer auf das Bett niedersinkt. Die Augen des Vaters sind bereits geschlossen, seine Hände unpassend gefaltet. Der Brustkorb liegt still. Er wendet sich aus dem Zimmer und geht wieder nach unten, wo die Schwester mit den trüben Augen auf ihn wartet.
Rufen sie den Doktor. Er nimmt Mantel und Schal vom Garderobenhaken und tritt auf die Straße. Nach ein paar Metern trifft er auf einen Zigarettenautomaten, an dem er sich eine Schachtel kauft. Er entzündet die erste Zigarette seit drei Jahren. Er bleibt stehen und raucht. Schnee rieselt leise durch die Lichtkegel der Straßenlaternen. Er gähnt.
Der Einjährige steht wackelig am Schaukelpferd, das der Vater ihm geschenkt hat. Er schafft es nicht hinauf, statt dessen setzt er sich unbeabsichtigt auf die Windel. Sein Blick ist irritiert, hilflos. Als der Vater ihn hoch setzt, lacht der Kleine verwegen. Ein richtiger Cowboy.

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